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ISBN 978-3-7065-5884-6

Buchgestaltung nach Entwürfen von hoeretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol

Umschlag: Karin Berner

Satz: Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig

Umschlagabbildung: Zeichnung von Thomas J. Richter aus: Beutin, Wolfgang/Klenner, Hermann/Spoo, Eckart (Hg.): Lob des Kommunismus. Alte und neue Weckrufe für eine Gesellschaft derFreien und Gleichen. Ossietzky 2013, S. 187.

Abbildungen auf den S. 37, 93 und 147: Zeichnungen von Thomas J. Richter aus: Beutin, Wolfgang/Klenner, Hermann/Spoo, Eckart (Hg.): Lob des Kommunismus. Alte und neue Weckrufe für eine Gesellschaft der Freien und Gleichen. Ossietzky 2013.

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Gerhard Oberkofler

Vatikanideologie und Marxismus

Texte über Aspekte einer ­historischen Konfrontation

Es gibt Vergangenheiten, die ›Totengräber‹ der Geschichte

und Ketten sind, die gefangen halten. Und es gibt – so meine ich –

Vergangenheiten, die die Geschichte erst ›freisetzen‹, die als ›Triebfedern‹ dienen und vorantreiben.

Jon Sobrino SJ (*1938)1

Vorwort

Das ideologische Zentrum der katholischen Kirche lässt sich mit Papsttum und Glaubenskongregation über die Jahrhunderte hinweg eindeutig definieren. Schwieriger ist die Bestimmung des Marxismus. Als umfassende wissenschaftliche Weltanschauung hat sich der Marxismus seit dem 19. Jahrhundert aufgrund neuer Einsichten entwickelt und er bleibt auch in der Gegenwart nicht auf der Stelle stehen. Für die Vatikanideologie gilt der Marxismus seit jeher als unvereinbar mit ihren Dogmen, andererseits lehnt der Marxismus jeglichen Dogmatismus ab. Die politische Ökonomie ist nicht alles vom Marxismus, aber das von Karl Marx entdeckte Grundgesetz der Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol und der Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol kann gewiss nicht ignoriert werden.2 Vatikanideologie und Marxismus spiegeln die Interessengegensätze der Gesellschaft wider, in der sie existieren. Der Vatikan stellte sich, angezogen von imperialer Macht und Geld, mit seiner Ideologie bis in die Gegenwart herauf in den Dienst des kapitalistischen Systems und ging über apostolische Verlautbarungen allgemeiner Gemeinplätze des Bedauerns über die schreckliche Realität der Welt nicht hinaus. Die erzreaktionäre Auffassung des polnischen Papstes Johannes Paul II. und seines deutschen Nachfolgers Papst Benedikt XVI., der Marxismus sei das Böse und könne niemals ein Weg zum Guten sein, war in der Vatikanideologie immer präsent. Fatal ist, dass der Vatikan mit seiner Leitungsvollmacht der Weltkirche eine Null-Toleranz-Politik gegenüber marxistischen Bewegungen obligatorisch gemacht hat.

Das von Johannes XXIII. einberufene Konzil ermöglichte für einige Länder Europas in den 1960er und 1970er Jahren einen Dialog zwischen christlichen und marxistischen Intellektuellen, welcher über Deklarationen des gegenseitigen Respekts nicht wirklich hinausgelangt ist. Aber für Befreiungstheologen wie Ignacio Ellacuría SJ wurde die marxistische Analyse ein wirksames Instrument zur Entschleierung der kapitalistischen Barbarei. Weil die Befreiungstheologen mit ihrem prophetischen Christentum zu einer revolutionären Kraft der Umkehr der Geschichte geworden sind, wurden sie von der Vatikanideologie isoliert, verfolgt und geopfert.

Die Zielvorstellung einer Gesellschaft ohne Armut und Ausbeutung, ohne Krieg und Elend und letztlich einer, wie es im Kommunistischen Manifest heißt, „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“3, ist keine Illusion, sie ist Hoffnung. In der Gegenwart wird diese von Papst Franziskus in Erinnerung gebracht. Aber gegen revolutionäre Rufe aus dem Vatikan mobilisieren im Interesse der globalen Eliten ebenso einflussreiche wie korrumpierte katholischen Organisationen.4

Die hier zusammengestellten Skizzen wurden in den letzten Jahren im Kontext meiner Beschäftigung mit dem schweizerischen Marxisten Konrad Farner5 verfasst. Gewidmet ist das Buch Walter Hollitscher, der einen wesentlichen Beitrag zum marxistischen Verständnis von Religion geleistet hat. Günther Grabner (Vöcklabruck) hat Texte mit seiner Kritik bereichert und das Namensregister angefertigt. Männe Grüß (Berlin) danke ich, dass er mir das Nachrichtenportal der Deutschen Kommunistischen Partei geöffnet hat. Herbert Hörz (Berlin) und Hermann Klenner (Berlin) haben mich zu speziellen Fragestellungen ermuntert. Beat Glaus (Zürich) hat meine Arbeit mit freundschaftlichem Interesse verfolgt, Karin Oberkofler (Innsbruck) hat wie seit mehr als fünfundvierzig Jahren auch diese Arbeit begleitet. Jesuitenpatres in Wien und in Zürich waren ohne dogmatische Absicherung gesprächsbereit, wofür ich besonders danke. Thomas J. Richter (Berlin) hat den Abdruck von Zeichnungen erlaubt, die auch in dem Buch Lob des Kommunismus Verwendung gefunden haben.6 Markus Hatzer (Innsbruck) danke ich für seine schon über zwei Jahrzehnte anhaltende freundschaftliche Verbundenheit, die es mir überhaupt erst ermöglicht, solche dem Zeitgeist zuwiderlaufende Monographien zu veröffentlichen.

Gerhard Oberkofler, Wien.

I. Karl Marx als Gegenspieler. Aufgelesenes aus den Schriften der Deutschen Bischofskonferenz und aus dem Evangelisationsmagazin der Societas Christi

Aber ein Zweck, der unheiliger Mittel bedarf,

ist kein heiliger Zweck.

Karl Marx (1818–1883)7

Der Marxismus ist das vom dialektischen und historischen Materialismus aus­gehende weltanschauliche System ökonomischer, philosophischer und politischer Schlussfolgerungen, das den Menschen bei allen Zweifeln zur wirklichen Hoffnung ermutigt. Die Gegenwart ist gekennzeichnet von verheerenden negativen, von den Weltreligionen in der Regel ideologisch gestützten realkapitalistischen Weltverhältnissen. Der Marxismus ist in der Lage, die gesellschaftlichen und historischen Zusammenhänge von Reichtum und Armut in ihrer Dialektik zu analysieren und Anleitungen zum praktischen Handeln für deren revolutionäre Umkehrung zu vermitteln.8

Der Marxismus fußt auf Wissen, Religion fußt auf Glauben. Der Marxismus kennt im Gegensatz zu Religionen kein mit einer Vielzahl von Synonymen definiertes Wesen außerhalb der Welt, das für alle Erscheinungen in Natur und Gesellschaft prima causa allen Werdens einschließlich seiner leidvollen Ergebnisse ist. In der Philosophie wird nach wie vor die Frage nach einem Gott mit klaren Pro und Contra debattiert.9 Mit der „Grundverwiesenheit des Menschen auf Gott selber“10 kann der Marxismus gar nichts anfangen. Im System religiöser Weltanschauungen gilt auch der „Höllenfürst“ samt seinem Reich „Hölle“ als existent und ihre Ideologen bieten diesen Aberglauben „als entäußertes menschliches Selbstbewußtsein“11 wider aller Vernunft in unterschiedlicher Intensität an.12 Die „Entfremdung“ ist eine zentrale Kategorie des historischen Materialismus.13 Sie wird aber von Marxisten nicht so wie vom einflussreichen französischen Jesuiten Jean-Yves Calvez SJ (1927–2010), der Verfasser einer vom sowjetischen Philosophen Teodor Iljitsch Oiserman (*1914) aufmerksam gelesenen Marx-Darstellung ist,14 oder von Papst Franziskus (*1936, Papst seit 2013) als säkularisierter Ausdruck der grundlegenden religiösen Entfremdung des Menschen mit seiner Abkehr von Gott gesehen, sondern letztlich als Ergebnis der auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln basierenden Klassengesellschaft. Nach Auffassung von Lucien Sève (*1926) würde die Aufgabe dieser marxistischen Sichtweise eine Selbstentwaffnung der revolutionären Theorie bedeuten.15 Dabei gehören für Marxisten bei der realen Analyse die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte aus dem Jahre 1844 von Karl Marx (1818–1883) bleibende, von Wladimir I. Lenin (1870–1924) weiterentwickelte und vertiefte Ausgangsgedanken.16

In der Gehorsam einfordernden Ideologie der katholischen Kirche ist Satan Gegenspieler von Gott. Im etwa 70 n. u. Z. entstandenen Evangelium nach Markus heißt es (1,12–13): „Danach trieb der Geist Jesus in die Wüste. Dort blieb Jesus vierzig Tage lang und wurde vom Satan in Versuchung geführt. Er lebte bei den wilden Tieren und die Engel dienten ihm“.17 In einer für den Tourismus aufbereiteten Sonderausgabe des Markusevangeliums in deutscher, englischer und französischer Sprache Ende der 1960er Jahre, die in Hotels, Krankenhäusern und Sanatorien europäischer Länder aufgelegt wurde, kommentiert Johannes Leppich SJ (1915–1992): „Satan ist nicht ein Kinderschreck mit Pferdefuß, sondern eine grausige Realität, die uns in tausend Gesichtern begegnet. Wer zu Christus gehört und ihn in der häufigen Schriftlesung immer wieder erlebt, hat Satans Bannkreis durchbrochen“.18

Der Gegenspieler tritt als „Teufel“ auf, als das „Böse“, als „Oberster der Dämonen“ oder als „Vater der Lüge“. Die an den „Teufel“ anknüpfende Literatur und Kunst ist selbst für Spezialisten unübersehbar. Generationen von Kindern werden im deutschen, von den Brüdern Jacob Grimm (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859), überlieferten Märchen Hänsel und Gretel mit der teuflischen Hexe konfrontiert und in Angst versetzt. Herausgegriffen seien als kennzeichnende Beispiele für den Teufelspuk bei Malern Hieronymus Bosch (1450–1516) oder der Roman The devils of Loudon (1952) von Aldous Leonard Huxley (1894–1963). Die Idee von „Faust“ bei Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) spiegelt einen Weg „Vom Himmel durch die Welt zur Hölle“ wider.19 Zu den Lieblingsmärchen von Nelson Mandela (1918–2013) gehört eine moderne Erzählung über den Pechvogel Asmodeus, einem Jungteufel, der aus der Hölle entsandt wurde, um am Kap eine Filiale zu eröffnen: „Jeder kennt ja Geschichten von Fischern, die Zauberflaschen voller Dschinnen öffnen – aber wenn man’s recht bedenkt, dann ist das Herauslassen der Geister ein Kinderspiel; die Tücke besteht darin, sie hineinzubekommen“.20 Unter privilegierten katholischen Theologen in Europa ist die der Ideologie des Imperialismus dienliche Obskurantenphilosophie des langjährigen Kulturprofessors in Stanford René Girard (1923–2015) über „Satan“ in Mode gekommen.21 Das soll „Gottsuchern“ eine spirituelle Erleuchtung über die bewegenden Kräfte der Weltgeschichte bringen. Mitte des vorigen Jahrhunderts predigt der antikommunistische Leppich SJ: „Die Hölle ist nicht nur ein transzendenter Ort: sie ist mitten unter uns. Schon in diesem Leben gibt es Höllen, wo Satan Alleinherrscher ist“.22 Girard bleibt die befreiungstheologische Exegese des christlichen Glaubens fremd, er will das für die Mehrheit der Menschheit spürbare Imperium der Hölle als Schicksal aus der Unterwelt rechtfertigen: „Doch das Ganze scheint mir ein Beweis dafür zu sein, dass die Kräfte, die – aus geheimnisvollen Gründen, die ich nur zu verstehen mich bemühen kann – vielfältige Gewalt in die Welt bringen, nun einmal, so wie die Welt angelegt ist, in gewissem Maße mächtiger sind als Harmonie und Einheit. […] Und genau das steckt hinter der Idee des Teufels, bzw. hinter der Vorstellung des Satans, mimetische Kraft, von welcher uns die Evangelien erzählt“.23 Die Klassengegensätze, der Gegensatz zwischen Reaktion und Fortschritt, zwischen Krieg und Frieden wird reduziert auf den Widerspruch zwischen Gott und Satan und die realen Inhalte des gesellschaftlichen Lebens werden auf den Kopf gestellt. Antonio Gramsci (1891–1937) hat eine Bemerkung über die Tendenz zu einer eigenen Weltauffassung gemacht, „die in der Hauptsache darin besteht, dass, wenn die Dinge schlecht laufen, der Teufel seine Hand im Spiel hat […]. Wenn schließlich herauskommt, dass ein Politiker Hörner trägt, wird alles klar“.24 Mit Wladimir I. Lenin ist vor allem die Frage zu stellen „Wem nützt es?“25, wenn solches intellektuelles Geschwätz über das negative Weltgeschehen angeboten wird. Es widerspricht nicht zuletzt dem Denken von Papst Franziskus, für den zwar die Existenz eines Satan evident ist, der aber auffordert, diesem „offen entgegenzutreten“.26

Seit 1231 hatten die Päpste Inquisitoren meist aus dem Dominikaner- und Franziskanerorden ernannt. Im katholischen Österreich war es schon im 13. und 14. Jahrhundert im Bündnis mit den aus Machtkalkül römisch-katholischen Habsburgern zu exzessiven Ketzerverfolgungen mit Anwendung der heute noch von den USA praktizierten Folter gekommen. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts wurde von zwei Dominikanern, für die es außer Engel und Menschen nichts anderes gab als Dämonen, der Hexenhammer als von der 1542 gegründeten Inquisitions-Kardinals-Kommission (seit 1588 Inquisitions-Kongregation) approbiertes Handbuch für die Treibjagd nach vermeintlichen Hexern und Hexen verfasst.27 Es galt als höchste Ketzerei, an Hexerei nicht zu glauben. Vor allem Frauen wurden mit diffusen Beschuldigungen, mit dem Teufel in Verbindung zu stehen, verbrannt. Der schreckliche Aberglaube ist für das sadistische Zusammenspiel der Herrschaftsklasse mit Angehörigen der unterdrückten Klassen kennzeichnend. Johannes Leppich SJ rechtfertigt mehr oder weniger diese grausamen Blätter der Kirchengeschichte seinen ihm von westdeutschen Leitmedien wie vom Renommiermagazin Der Spiegel mit Titelbild28 in den Städten zugetriebenen Massen so: „Aber die Sitten im Mittelalter waren auf vielen Gebieten hart und roh. Man darf die Kirche nicht mit Hypotheken belasten, wo ihr Strafmaß der Auffassung der Zeit entsprach“.29 Im Mittelalter hätte man „gläubiger“ gefühlt und „hatte noch keine religiöse Knochenerweichung. Irrlehren galten als Angriff auf die Gemeinschaft, als Verbrechen und Hochverrat“.30 Die 8. These von Marx über Ludwig Andreas Feuerbach (1804–1872) erschließt mit wenigen Worten den realen historischen Hintergrund für solche Hexenjagden: „Das gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus verleiten, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis“.31 Der französische Dominikaner Claude Gérest (*1921) hofft Mitte der 1970er Jahre, dass die aus dem Handbuch der Inquisitoren hervor leuchtende „Spiritualität niedrigsten Grades […] als Gegenschlag das Empfinden für eine echtere Spiritualität wecken möge – und in Empfinden für die wirkliche Gegenwart und die wirkliche Rolle des Dämons: eines Dämons, dem wir im Eingeständnis unserer eigenen Dunkelheiten begegnen; in der Entdeckung der menschlichen und kosmischen Dimensionen der Befreiung in Jesus Christus [Jesus von Nazareth +30 u. Z.]; in der Pflicht der Kirche, wachsam zu sein beim Kampf gegen den ›Fürsten dieser Welt‹ außerhalb und innerhalb der Kirche selbst“.32 Die Unterwerfung unter den Dogmatismus der Kirche war dem als Jüngling verstorbenen Dichter und Wissenschaftler Georg Büchner (1813–1837) fremd, auch wenn er sich janusgesichtig die Frage gestellt hat: „Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet? Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst!“33 In der Antwort darauf finden wir jene revolutionäre Weltsicht, die uns im „Kommunistischen Manifest“ entgegentritt.

1641 hatten die vor den intoleranten Anglikanern nach Massachusetts emigrierten Puritaner in ihrer Freiheitserklärung unter Zitierung von Bibelstellen Hexen, Gotteslästerer, Sodomiten, Mörder, Diebe von Sklaven – nicht aber deren Käufer oder Verkäufer – sowie diejenigen mit der Todesstrafe bedroht, die „any other God but the Lord God“ durch Kulthandlungen verehrten.34 Durch Siedler fand in den nordamerikanischen Regionen nicht nur dieser Aberglaube mit Hilfe der durch die Bibel geheiligten Gier nach Reichtum weite Verbreitung. Das bekannte Theaterstück „The Crucible“ („Hexenjagd“) von Arthur Miller (1915–2005) greift die fanatischen Hexendenunziationen in der Kleinstadt Salem in Massachusetts im Frühjahr 1692 auf, um die mit dem Namen des Senators Joseph R. McCarthy (1908–1957) verknüpfte Kommunistenhatz der USA zu brandmarken.35 Junge Mädchen hatten in einem bigotten Umfeld behauptet, ohne eigene Schuld vom Teufel besessen zu sein, was die Hexenjagd ausgelöst hat. Zur Premiere seines Stücks in Paris mit Yves Montand (1921–1991) und Simone Signoret (1921–1985) in den Hauptrollen durfte Miller wegen eines Ausreiseverbots nicht anreisen. Die Marxistenjäger der USA markierten jeden Antikapitalismus und jeden Protest am herrschenden Establishment als gottlos und als teuflischen Verrat an der US-amerikanischen Nation und ihren Werten. Auch die Nazis schätzten Scheiterhaufen als Leuchtfeuer ihrer Bewegung und verbrannten nach ihrer Machtübernahme die Schriften des Marxismus. Die Religion bot ihnen dazu die Maske und forderte im Übrigen im Interesse der herrschenden Gesellschaftsklassen die Unterdrückten zu Demut und Geduld auf.

Religionen greifen, wann immer möglich, in der ganzen Welt aus dem Elend geborene Wahnvorstellungen auf. Deshalb können auch in der Gegenwart Mädchen und Frauen der Hexerei beschuldigt werden. In der ehemaligen britischen Kolonie Ghana mit mehrheitlich christlichen und muslimischen Einwohnern existieren mit den Dörfern Gnani und Nabuli eigene Lager für Menschen, die der Hexerei beschuldigt wurden. Die enormen Rohstoffvorkommen Ghanas werden vom kosmopolitischen Raubkapital ausgebeutet. Die breiten Massen des ghanesischen Volkes werden mit Hilfe der korrumpierten, in kapitalistischen Institutionen ausgebildeten Eliten für Sklavenarbeit vergewaltigt, das ghanesische Volk gehört zu den ärmsten Völkern der Welt.36 In dem von Deutschland mit modernster Waffentechnologie hochgerüsteten Saudiarabien wurde 2011 eine „Hexe“ enthauptet,37 in Indien wurden 2015 fünf Frauen als Hexen gelyncht.38

In vielen Redewendungen ist in der Gegenwart die „Hölle“, der „Höllenfürst“ oder der „Teufel“ präsent, auch wenn es für gewöhnlich verschwiegen wird.39 Die katholische Kirche hat immer dann, wenn es um fundamentale Entscheidungen im Kampf um die Zukunft des Menschen gegangen ist, marxistische Bewegungen als vom Satan und seinen Abgesandten aus der Hölle inspiriert mit Hass verfolgt. Die bluttriefende Verteufelung des Marxismus ist eine Wurzelsünde, die der Vatikankirche anhaftet und sie selbst vergiftet hat. Diese Kirche verfälschte und verfälscht wegen ihrer vielfältigen Interessen an der Herrschaft des Reichtums und wegen ihrer Habgier das Wesen des christlichen Glaubens. Solches Verhalten von Religionen hat es in der Geschichte immer gegeben, was die Sache nicht besser macht. Insbesondere wenn alte Kulturen vergehen oder dem Untergang geweiht sind, leben Gespenster wie der Glaube an Satan und Dämonen immer wieder auf.40

„Der Marxismus ist ein Anti-Evangelium“ – dieses doktrinäre Diktum hat Kardinal Joseph Höffner (1906–1987), seit 1969 Erzbischof von Köln und Kardinal, von 1976 bis 1987 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, der Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda am 21. September 1981 in seinem Eröffnungsvortrag über das „Friedensproblem im Licht des christlichen Glaubens“ als Leitgedanken mitgegeben.41 „Die marxistische Pseudo-Eschatologie“, so Kardinal Höffner die von Karl Marx und Friedrich Engels (1820–1895) begründete dialektisch materialistische Weltanschauung diffamierend, „bezeichnet die Weltgeschichte bis zum Sieg des Kommunismus als eine Epoche der geknechteten, unerlösten Menschheit. Der Erlöser, der allen Völkern das Tor zum irdischen Paradies öffnen wird, ist das Proletariat, dem Karl Marx die Züge eines säkularisierten ›Gottesknechtes‹ (vgl. Jes 53, 1–12)42, eines kollektiven ›Ecce-homo‹ gibt“.43 Aber nirgends stellt Marx die antidialektische Behauptung auf, der Kommunismus sei das Ende der weiteren Entwicklung, vielmehr ist ihm die Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln Grundlage für die nachfolgende progressive Entwicklung der Menschheit. Der Marxismus befreit den Menschen gerade deshalb aus der Selbstentfremdung, weil er, wie der marxistische Wissenschaftsphilosoph Herbert Hörz (*1933) in seinem letzten Buch zur Frage Ist Marxismus noch zeitgemäß? schreibt, „auf Fortschritt orientiert und das Bestehende kritisch auf seine Entwicklungspotenzen untersucht“.44 Bertolt Brecht (1898–1956), der zu den größten Marxisten des vorigen Jahrhunderts zählt, hat ein Denken vorgeschlagen, „das alle Dinge und Vorgänge nach ihrer vergänglichen und veränderbaren Seite fragt“.45 Ein solches eingreifendes Denken steht im Widerspruch zum Dogmatismus der Vatikanideologie, zumal es mit jenem Motto von Marx verknüpft ist, das er seiner Tochter Jenny Marx (1844–1883) in ihr Album geschrieben hat: „De omnibus dubitandum“.46 Dieser Kardinalgedanke von Marx korrespondiert mit nachdrücklichem Hinweis von Friedrich Engels, dass man Marx nicht dort definieren kann, wo er entwickelt: „Es versteht sich ja von selbst, dass da, wo die Dinge und ihre gegenseitigen Beziehungen nicht als fixe, sondern als veränderliche aufgefasst werden, auch ihre Gedankenabbilder, die Begriffe, ebenfalls der Veränderung und Umbildung unterworfen sind; dass man sie nicht in starre Definitionen einkapselt, sondern in ihrem historischen resp. logischen Bildungsprozess entwickelt“.47

Am 24. September 1984 hält Kardinal Höffner wieder das Eröffnungsreferat zur Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz.48 Diesmal gibt er Antwort auf die Frage „Soziallehre der Kirche oder Theologie der Befreiung?“ Wie ein Staatsanwalt vor dem katholisch deutschen Volksgerichtshof bietet Höffner vor den „Hochwürdigsten Herren“ sein ganzes kirchliches Strafrechtswissen zur Verurteilung der Theologie der Befreiung auf. Leonardo Boff (*1938) habe „die materiell Armen als die eigentlichen Träger der Utopie des Reiches Gottes“ benannt.49 Für Höffner sind Boff und die Befreiungstheologen Bolschewisten: „Die materiell Armen sind nicht gleichsam Heilsbringer – eine Ideologie, die auf Karl Marx zurückgehen dürfte, der dem Proletariat den Heilsauftrag zugewiesen hat, die ganze Menschheit in das sozialistische irdische Paradies zu führen“.50 Höffner wusste von seinem in Rom nach Vatikanschädlingen Ausschau haltenden Mitbruder Ratzinger, dass gegen Boff ein Verfahren vor der Kongregation für die Glaubenslehre im Gange war. Ratzinger notifizierte 1985 in der Tradition deutscher Bücherverbrennungen, dass die Aussagen von Boff „die gesunde Glaubenslehre gefährden“, es müsse das Glaubensgut „in seiner Reinheit bewahrt werden, ohne im Sinn eines dialektischen Prozesses der Geschichte und in Richtung des Primats der Praxis ins Gleiten zukommen“.51

Die Herrschaftsordnung des Diesseits mit ihrem Produktionsmitteleigentum habe seine Herkunft vom Jenseits, diese asoziale Auffassung war der Vatikan­ideologie stets präsent. Für den Marxisten Konrad Farner (1903–1974), der die überlieferten Worte von Jesu immer wieder studiert hat, war das Wort „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ eine Aufforderung an die Christen, sich von der Welt mit ihrem Reichtum und Eigentum abzuwenden und sich einem neuen Leben hier auf Erden hinzuwenden: „Keine Spur ist zu finden von einem Reich in einem Jenseits, einem Leben nach dem Tod; ein von Grund auf neues Leben alsbald im Diesseits, das ist das Gebot Jesu in seiner Stunde“.52 Höffner bezieht sich auf die Schrift von Marx „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, in der Marx vom Proletariat als „Klasse mit radikalen Ketten“ schreibt, die „einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt und kein beson­dres Recht in Anspruch nimmt, weil kein besondres Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird“ und „welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat.“53 Diese Konzentration auf das Wesentliche der Klassen­gesellschaft bot Höffner Gelegenheit, an die traditionellen antijüdischen Affekte des deutschen Katholizismus anzuknüpfen: „Karl Marx hat das Schicksal des jüdischen Volkes – die Knechtung in Ägypten und den Aufbruch in das Gelobte Land – sowie die alttestamentliche Erwartung des messianischen Heils säkularisiert und in unsere Zeit verlagert: eine bestürzende Verkürzung und Nachäffung des der ganzen Menschheit in Jesus Christus geschenkten Heils“.54 Und weil es dem Kardinal passend erschien, glaubte er Marx als „wohlhabenden Bürgersohn“ diskreditieren zu können, wenn er dessen seinem Mitstreiter Engels mitgeteilte Erinnerung an seine für die katholische Kirche aus dem bäuerlichen Umfeld rekrutierten und deshalb älteren Mitschüler am trierischen Gymnasium zum Besten gibt.55

Karl Marx gehört zu den bedeutendsten Denkern der Weltgeschichte. Niemand außer den Ideologen des Kapitalismus kann jenes von ihm entdeckte Gesetz der kapitalistischen Akkumulation bestreiten, das er 1867 im ersten Band seines ökonomischen Hauptwerkes so niedergeschrieben hat: „Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralische Degradation auf dem Gegenpol, d. h. auf Seite der Klasse, die ihr eignes Produkt als Kapitals produziert“.56 Zwanzig Jahre zuvor schreibt er: „[…] dass in denselben Verhältnissen, in denen der Reichtum produziert wird, auch das Elend produziert wird; […]“.57 In seinem zu Lebzeiten nicht gedruckten Vortrag auf den Sitzungen des Zentralrates am 20. und 27. Juni 1865 über Lohn, Preis und Profit spricht er davon, „dass das gegenwärtige System bei all dem Elend, das es über sie verhängt, zugleich schwanger geht mit den materiellen Bedingungen und den gesellschaftlichen Formen, die für eine ökonomische Umgestaltung der Gesellschaft notwendig sind“.58 Der Marxismus besagt nicht, dass die ökonomische Umgestaltung der Gesellschaft automatisch aufgrund der materiellen Bedingungen erfolgt. Lenin hat 1920 in der Schrift Der ›linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus festgestellt: „Erst dann, wenn die ›Unterschichten‹ das Alte nicht mehr wollen und die ›Oberschichten‹ in der alten Weise nicht mehr können, erst dann kann die Revolution siegen“.59 Lenin hat damit auch die Bedingungen einer siegreichen Konterrevolution formuliert.60

Die revolutionäre Praxis des Marxismus beruht auf der revolutionären wissenschaftlichen Theorie. Die kapitalistische Produktionsweise erfasst die Gesamtheit der gesellschaftlichen Prozesse. Da lässt sich in Krisenzeiten mit Jürgen Habermas (*1929) lamentieren, der während der Finanzkrise von „einer hemmungslosen Unterwerfung der Lebenswelt unter Imperative des Marktes“ spricht und vorschlägt, das ganze System auf den „Prüfstand“ zu stellen.61 Die Theologie der Befreiung geht mit ihrer Kritik der Dialektik von Reichtum und Armut über die akademische Problemorientierung hinaus, sie moralisiert nicht, sondern denkt und handelt marxistisch. Die Befreiungstheologen vermittelten kein intellektuelles Opium, sie haben das politische Engagement angestoßen und waren gerade deshalb andauernd Angriffen innerhalb und außerhalb der Kirche ausgesetzt. Der Marxismus mit seiner im Kommunistischen Manifest festgelegten Zielvorstellung von einer „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“,62 gilt für die ebenso reiche wie korrumpierte Vatikankirche als Ausgeburt des Bösen. Papst Johannes Paul II. (1920–2005, Papst ab 1978), vormals als Józef Wojtyla polnischer Kardinal, erinnert sich in seiner Ansprache in Ayacucho in Peru am 3. Februar 1985 nicht an jenen Vatikangott, in dessen Namen seine katholischen Spanier und Portugiesen die Indios niedergemetzelt und versklavt haben, auch nicht an jenen Vatikangott, mit dem die lateinamerikanischen Morddiktatoren wie Augusto Pinochet (1915–2006) gesegnet wurden. Johannes Paul II. fordert die vom Terrorismus der herrschenden Eliten niedergedrückten Lateinamerikaner auf, sich in ihr Schicksal einzufügen und auf keinem Fall den revolutionären bewaffneten Kampf zu Veränderung der Verhältnisse zu eröffnen, wie das die Theologie der Befreiung in ihrer christlichen Option für die Armen offen lässt. Die Kirche lehne das, so der im Eilverfahren heilig gesprochene Papst, ab: „Das Böse ist niemals ein Weg zum Guten!“.63

Es sei hier daran erinnert, dass die marxistischen Bewegungen sich weder in der Geschichte noch in der Gegenwart auf Gewalt kapriziert haben. Wladimir I. Lenin (1870–1924), von der katholischen Kirche als Synonym für Gewalt missbraucht, hat 1902 in seiner Schrift Was tun? sich gegen den Terror als Kampfmittel von Sozialisten ausgesprochen und noch Anfang November 1917 die Sowjets als „Organisation der vollen Freiheit des Volkes“ bezeichnet und das régime de ­terreur abgelehnt. Erst später rechtfertigt er den durch den weißen Terror notwendig gewordenen roten Terror.64 Walter Markov (1909–1993), Gründer einer Widerstandsgruppe gegen die Nazis und marxistischer Historiker in der Deutschen Demokratischen Republik, hat während seines Aufenthaltes als Gastprofessor in Valparaiso seinen Studenten auf deren Nachfrage über Gewalt und revolutionären Weg mit Blick auf Lenin und Josef Stalin (1879–1953) erläutert: „Unter bürgerkriegsartigen Umständen, in einer Revolution auf Leben und Tod, könne Terror als Abschreckung ein Mittel sein: zur Verkürzung des Kampfes um die Macht, zur Abschmetterung bewaffneter Konterrevolutionen und damit zur Verhinderung noch heftigeren Blutvergießens – Lenin 1918“.65 Stalin, unter dessen Leitung die Sowjetunion den Krieg gegen Deutschland gewonnen hat – Markov unterstreicht: „immerhin“66 – hat die rhetorische Frage gestellt, ob „eine so radikale Umgestaltung der alten, der bürgerlichen Verhältnisse ohne eine gewaltsame Revolution, ohne die Diktatur des Proletariats [zu] bewerkstelligen [ist]“, und gibt die Antwort: „Es ist klar, dass man das nicht kann. Zu glauben, dass man eine solche Revolution friedlich, im Rahmen der bürgerlichen Demokratie, die der Herrschaft der Bourgeoisie angepasst ist, durchführen kann, bedeutet, entweder den Verstand verloren und die normalen menschlichen Begriffe eingebüßt zu haben oder sich in grober Weise und offen von der proletarischen Revolution loszusagen“.67

Lenin war sich immer der kritischen Haltung von Marx zu seiner eigenen Theorie bewusst. Marx war im Herbst 1870 nicht der Meinung gewesen, dass man in Paris zu den Waffen für den Aufstand greifen solle. Als aber die Pariser Kommune eine Tatsache geworden war, „da sagte er“, was Louis Aragon (1897–1982) in seinem mehrbändigen Roman „Die Kommunisten“ beeindruckt hat, „es sei unmöglich, nicht mit dem Volke zu gehen, es sei unmöglich, und sollte es auch den eigenen Untergang bedeuten, sein Schicksal vom Schicksal des Volkes zu trennen …“.68 Für Befreiungstheologen in der Nachfolge von Jesus wie Óscar Romero (1917–1980) und Ignacio Ellacuría SJ (1930–1989) ist der Friede die Grundthese ihres Handelns. Sie konnten, weil sie den Menschen in christlicher Liebe verbunden waren, keine kompromisslosen Pazifisten. Beide ließen den legitimen Aufstand zu, Christen müssten Zeugnis ablegen und könnten im Kampf gegen die Unterdrücker nicht, um rein zu bleiben, die „schmutzige“ Arbeit anderen überlassen. Jon Sobrino SJ (*1938) zitiert diese Auffassung von Ellacuría als dessen Testament69 und stellt, wenn es um die Parteilichkeit in dieser brutalen Welt geht, fest: „Was zählt, ist das Tun selbst“.70

Benedikt XVI. (*1927) hat in seiner Enzyklika Spe Salvi (30. November 2007)71 ein bei aller deutschen Gelehrsamkeit ziemlich infames päpstliches Lehrschreiben gegen den Marxismus hinausgegeben. Die Höffners und Ratzingers sind keine Nazis, aber auch Adolf Hitler (1889–1945) hat in Mein Kampf geschrieben: „Siegt der Jude mit Hilfe seines marxistischen Glaubensbekenntnisses über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totentanz der Menschheit sein […]. Die ewige Natur rächt unerbittlich die Übertretung ihrer Gebote. So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: In dem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn“.72 In einer längeren Passage bewertet Benedikt XVI. in Begleitung von Bibelzitaten nach seinem überheblichen nordatlantisch-deutschen Geschichts- und Gegenwartserklärungsmuster den Denkeinsatz von Karl Marx. Er bleibt in seinem spießbürgerlichen deutschen Lehrkanzeldenken, wenn er die en vogue diskutierte Frankfurter Schule mit Max Horkheimer (1895–1973) und Theodor W. Adorno (1903–1969) als Referenz zitiert, zumal die Philosophen der „Kritischen Theorie“ sich schon erkennbar mit den imperialistischen Verhältnissen „akkomodiert“ haben.73 Deren Abgang vom Marxismus hin auf die andere Seite der Barrikade im Klassenkampf sollte Ratzinger irgendwie intellektuell bestätigen und seine Passage über einen vietnamesischen Märtyrer seines Glaubens im 19. Jahrhundert sein Ego als Papst erhöhen. Da blieb notwendigerweise kein Platz für ein Mitgefühl für die Menschen in Indochina. Durch Napalm, Streubomben und Granaten mit weißem Phosphor kamen Millionen in Indochina, meist Landarbeiter, ums Leben und noch heute sind die Folgen für die geschundenen Völker spürbar. Für Benedikt XVI. ist das ein individuelles religiöses Problem: „Das Leid, die Qualen bleiben furchtbar und nahezu unerträglich. Aber der Stern der Hoffnung ist aufgegangen – der Anker des Herzens reicht bis zum Thron Gottes. Nicht das Böse wird im Menschen entbunden, sondern das Licht siegt: Leid wird – ohne aufzuhören, Leid zu sein – dennoch zu Lobgesang“. Marx habe einfach vorausgesetzt, dass „mit der Enteignung der herrschenden Klasse und mit dem Sturz der politischen Macht, mit der Vergesellschaftung der Produktionsmittel das neue Jerusalem da sein werde“. Marx habe bei all dem vergessen, einen Blick in die Zukunft zu tun, „er hat vergessen, dass die Freiheit immer auch die Freiheit zum Bösen bleibt“. Das Weltsystem des Imperialismus ideologisch rechtfertigend meint Benedikt XVI., die von Marx propagierten Revolutionen hin zum Kommunismus hätten nur das Böse hervorgebracht. Im Ergebnis fordert Benedikt XVI., dessen Apostolische Verlautbarungen überall und in allen möglichen Sprachen verbreitet wurden, die Christen auf, sich abzufinden mit den Gegebenheiten der Zeit, denn „eine Welt, die sich selbst Gerechtigkeit schaffen muss, ist eine Welt ohne Hoffnung“. Der Christ Ernesto Cardenal (*1925) sieht das anders: „Vom Kommunismus kommen wir her. Unsere heiligen Quellen, die Kirchenväter, sind kommunistisch. […] Wie kann man dann behaupten, dass wir am Ende der Utopien angelangt seien?“.74 Konrad Farner hat ein kleines Büchlein „Worte der Kirchenväter“ verfasst, in der solche von Cardenal angesprochene „sozialen“ Texte allgemein verständlich aufbereitet hat.75 Über die marxistische Forderung nach grundsätzlicher sozialer Gerechtigkeit haben sich führende deutsche Politiker mehrmals abfällig geäußert, auch wenn sie nicht ganz die Wortwahl von Adolf Hitler ergriffen haben, der propagierte: „Denn unter diesem Mantel rein sozialer Gedanken liegen wahrhaft teuflische Absichten verborgen, ja, sie werden mit frechster Deutlichkeit auch wohl in voller Öffentlichkeit vorgetragen. Diese Lehre stellt ein unzertrennliches Gemisch von Vernunft und menschlichem Aberwitz dar […] Dieses ist der wahre innere Kern der marxistischen Weltanschauung, sofern man diese Ausgeburt eines verbrecherischen Gehirns als ›Weltanschauung‹ bezeichnen darf“.76

Benedikt XVI. und die privilegierten Vatikanideologen wenden sich von den sozialen Kerngedanken von Jesus Christus zur Abkehr von Reichtum, Eigentum und Macht ab, sie predigen den unterdrückten und versklavten Menschen zur Stabilisierung der brutalen Herrschaftsverhältnisse die Hoffnung auf ein angebliches Himmelreich. Die Vatikanideologie vermittelt die Illusion, es könnte unter kapitalistischen Bedingungen gerechte Verhältnisse geben, aber, so stellt Marx als Kommunist fest: „Das Kapital ist konzentrierte gesellschaftliche Macht, während der Arbeiter nur über seine Arbeitskraft verfügt. Der Kontakt zwischen Kapital und Arbeit kann deshalb niemals auf gerechten Bedingungen beruhen“.77 Jon Sobrino SJ sieht die Realität, wenn er schreibt: „Ohne die Armen reden die universalen Bewegungen, von der Globalisierung bis zur religiösen Ökumene, in Gemeinplätzen: ‚für das Gemeinwohl arbeiten, den allgemeinen Frieden fördern, uns zu einem gemeinsamen Gott oder zu einem menschlichen Ideal bekennen; ich weiß nicht, ob wir damit weit kommen. Das ist alles schön und gut, aber nicht ausreichend‘.“78 Die Vatikanideologie verschließt sich grundsätzlich der Utopie eines „neuen“ Menschen, von dem in der von ihr schon längst als Großinquisitor mundtot gemachten Befreiungstheologie und in den marxistischen Bewegungen konkret die Rede ist. Die ersten Versuchen der Menschheit, einem solchen Menschen zur Wiedergeburt seiner eigentlichen Natur zu verhelfen, werden von diesen deutschen Repräsentanten der Gegenrevolution ignoriert und niedergemacht, sie fordern als korrumpierte und vermeintliche Sieger des Kalten Krieges von den Menschen christlicher Konfession den Totalgehorsam und suggerieren, die menschliche Natur könne sich eben nicht ändern. Befreiungstheologen wie Ignacio Ellacuría SJ ermuntern in der Nachfolge von Jesus dagegen die Menschen, sich nicht von der Utopie, die negative Welt ändern zu können und Partei für die revolutionären Kräfte zu nehmen, abzuwenden, denn „eine Utopie, die nicht auf irgendeine Weise inspirierend wirkt und zu geschichtlichen Realisierungen anstiftet, ist keine christliche Utopie, noch nicht einmal eine ideale Vision vom Reich Gottes, sondern eine idealistische und ideologisierende Sicht desselben“.79 „Der Mensch ist“, wie der österreichische Marxist Walter Hollitscher (1911–1986) formuliert hat, „Schöpfer seiner selbst, nicht Opfer eines für unabänderlich erklärten tierischen Erbes“.80 Hollitscher hat viele junge Marxisten mit seinem enzyklopädischen Wissen von den Wesenszügen des marxistischen Materialismus beeinflusst. Hans Heinz Holz (1927–2011) erinnert sich in seinen Abschiedsvorlesungen gerne daran.81

Das vierteljährliche Magazin Liebt einander! ist eine Katholische Evangelisationszeitschrift, sie betreibt eine internet Seite http://­www.­liebt-­einander.­org/ und wird 2016 in siebzehn Sprachen in Poznań (Polen) herausgegeben von der 1932 von August Kardinal Hlond (1881–1948) gegründeten Societas Christi pro Emigrantibus Polonis. Der Redaktion in Bochum gehören polnische Patres und Ordensbrüdern an, sie beten laut der in den Heften abgedruckten Redaktionsmitteilungen jeden Tag den Rosenkranz und den Barmherzigkeitsrosenkranz. Das sind römisch-katholische, sich wiederholende Gebetsrituale, durchaus vergleichbar mit den Formeln im Lamaismus. Darüber hinaus ist der persönliche Rosenkranz ein Amulett.

1837 hat der noch nicht zwanzigjährige Karl Marx seinem „theuren Vater zu seinem Geburtstag 1837, als schwaches Zeichen ewiger Liebe“ ein paar Gedichte gewidmet, unter diesen ein in der Gegenwart nicht nur von polnischen Erz­katholiken als satanisch eingeschätztes Jugendgedicht:

Des Verzweiflenden Gebet.

„Hat ein Gott mir alles hingerissen,

Fortgewälzt in Schicksalsfluch und Joch,

Seine Welten – alles – alles missen!

Eines blieb, die Rache blieb mir doch.“

„An mir selber will ich stolz mich rächen,

An dem Wesen, das da oben thront,

Meine Kraft sei Flickwerk nur von Schwächen,

Und mein Gutes selbst sei unbelohnt!“

„Einen Thron will ich mir auferbauen,

Kalt und riesig soll sein Gipfel sein,

Bollwerk sei ihm übermenschlich Grauen,

Und sein Marschall sei die düst’re Pein!“

„Wer hinaufschaut mit gesundem Auge,

Kehre todtenbleich und stumm zurück,

Angepackt vom blinden Todteshauche,

Grabe selbst die Grube sich sein Glück.“

„Und des Höchsten Blitze sollen prallen

Von dem hohen, eisernen Gebäu,

Bricht er meine Mauern, meine Hallen,

Trotzdem baut die Ewigkeit sie neu“.82

2013 hat Liebt einander! „Eine kurze Geschichte der atheistischen Bewegungen“ in drei Teilen abgedruckt.83 Teil drei gibt als katholische Wahrheit kund, dass der Kommunismus, der Satanismus und Karl Marx zusammen gehören. Karl Marx habe mit seinem Jugendgedicht ›Des Verzweiflenden Gebet‹ seine schriftstellerische Tätigkeit mit dem Satanismus begonnen.84 Das wird für diese katholische Societas freilich nicht überraschend sein, weil nach ihrer erzkatholischen Auffassung Marx als Sohn eines konvertierten Juden ohnehin einen „Teufel zum Vater“ hatte.85 Ist eine solche Herangehensweise eine extravagante Schrulle polnisch orthodoxer Geistlicher? Karl Löwith (1897–1973) spricht in den 1950er Jahren in der Bundesrepublik von einem aufgrund der Abstammung von Marx rassisch bedingten Messianismus86 und spricht ihm dort, wo der Klassenstandpunkt und der Materialismus von Marx deutlich wird, den Humanismus ab.87 Und noch Mitte der 1960er Jahre gibt Johannes Leppich SJ der antimarxistischen Doktrin der katholischen Kirche einen rassistischen Hintergrund: „Der Kommunismus ist die größte und gefährlichste Häresie der Weltgeschichte. […] Hier lebt die alte Messiasidee auf. War nicht Karl Marx ein Jude!“88

Als wissenschaftliche Autorität zitiert die polnische Geistlichkeit in ihrer Liebeszeitschrift den polnischen Philosophieprofessor Marian Zdziechowski (1861–1938), der, bald nach der Machtübernahme des Nationalsozialismus in Deutschland, 1934 in der Sowjetunion alle Symptome einer „direkten Einflussnahme der dunklen Mächte aus dem Reich der Finsternis“ gesehen hat. Mit dem heute in Polen wieder entdeckten und kultisch verehrten Zdziechowski wird erläutert, dass „die Religion, auf die der Bolschewismus hinsteuert, nichts anderes als der Kult Satans in der blutigen Person Lenins sein wird“.89 Im historischen Kontext sind solche religiös verbrämten reaktionären Einschätzungen nicht ungewöhnlich.

Die Societas Christi Liebt einander! hält sich nicht lange mit theologischen Diskursen über den Teufel oder über den Marxismus und dessen Bemühungen um die Umkehr der Geschichte auf. Vielmehr wird an den von der Kirche dogmatisch vermittelten „Volksglauben“ angeknüpft, es würden mit dem Schöpfergott sowohl Engel wie Teufel existieren und der Teufel sei die Personifizierung des Bösen in der Welt.90 Und wie ist dem zu begegnen? Jene „Unterscheidung der Geister“ bei Ignatius von Loyola (1491–1556) und den Jesuiten im Sinne der Hinführung zu einer Geisteshaltung mag sensiblere Intellektuelle ansprechen, im Prinzip ändert sich nichts an der Aufspürung des von der Kirche benannten Teuflischen. Die vom Antikommunismus vergiftete, von der Vatikankirche anerkannte Societas Christi ruft im Widerspruch zum Christentum statt zu einem friedlichen Dialog mit dem Marxismus zu dessen Ausrottung auf und beruft, sich, falls ihr das notwendig erscheint, auf eine einseitig interpretierte neutestamentliche Satanologie: „Zieht die Rüstung Gottes an, damit ihr den listigen Anschlägen des Teufels widerstehen könnt. Denn wir haben nicht gegen Menschen aus Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern gegen die Fürsten und Gewalten, gegen die Beherrscher dieser finsteren Welt, gegen die bösen Geistes des himmlischen Bereichs. Darum legt die Rüstung Gottes an, damit ihr am Tag des Unheils standhalten, alles vollbringen und den Kampf bestehen könnt“.91 Relikte aus der Vergangenheit? Bis heute gelten in der katholischen Kirche die im Rituale Romanum 1614 kodifizierten Kriterien „dämonischer Besessenheit“ mit genauen Angaben über den Exorzismusvorgang.

Das Magazin Liebt einander! liegt in vielen römisch-katholischen Kirchen in Wien zur freien Entnahme auf. Das ist eines der vielen Dokumente über die geistige Verelendung der Gegenwart, eines der Dokumente über den dialektischen Zusammenhang von Reichtum und Armut.

II. Non omnis moriar. Hoffnung in der Todeszelle

Die Zukunft allein ist unser Zweck.

Blaise Pascal (1623–1662)92

Noch zu Beginn der 1970er Jahre wurde jene Geschichtsdarstellung über die „Opfer verlorener Zeiten“ mit staatlichen Subventionen vorangetrieben, die bei den edierten Justizdokumenten die Namen der Nazijuristen ebenso verschwinden ließ wie die in jedem Urteil auf die Mitwirkung der NS-Richter und NS-Staatsanwälte an der Hauptverhandlung und am Schuldspruch hinweisenden Namen. Über die Vielzahl der nach 1945 im Justizbereich verbliebenen Täter hat der Wiener Widerstandskämpfer, Kommunist und Jurist der Arbeiterklasse Eduard Rabofsky (1911–1994) viele, aber von der offiziellen politischen Kaste nicht zur Kenntnis genommene Arbeiten veröffentlicht.93 Das 1963 vom Kommunisten Herbert Steiner (1923–2001) gegründete Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) war lange Zeit bemüht, den von der „Moskauer Deklaration“ der Alliierten (Großbritannien, USA und Sowjetunion) vom 30. Oktober 1943 geforderten Beitrag zur Befreiung des Landes zu dokumentieren.

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