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HerausgeberInnen:

Waltraud Kannonier-Finster, Horst Schreiber, Meinrad Ziegler

Die Buchreihe transblick veröffentlicht Arbeiten, die der sozialwissenschaftlichen Aufklärung verpflichtet sind.

Ein Blick richtet sich auf Phänomene und Verhältnisse, die wenig beachtet oder im Dunkeln gehalten werden.

Ein anderer Blick bietet Beschreibungen und Analysen, die eine unkonventionelle Sichtweise auf das soziale Leben eröffnen.

transblick thematisiert gesellschaftliche Widerspruchserfahrungen und Dominanzverhältnisse und fragt, was wir als vernünftig, gerecht und der menschlichen Würde angemessen erachten.

transblick will Denkprozesse fördern und auf Handlungsperspektiven verweisen. Die Bücher sollen in Inhalt und Form aufregen und einem Transfer sozialwissenschaftlicher Sichtweisen in interessierte Öffentlichkeiten dienen. transblick benutzt eine Sprache, die auch jenen Personen und Gruppen das Mitdenken und Mitreden ermöglicht, die außerhalb des akademischen Diskurses leben und handeln.

transblick soll Frauen und Männer ansprechen, die sowohl dem „Darüberhinaus“-Schauen als auch dem „Hindurch“- oder „Quer-durch“-Denken etwas abgewinnen können.

www.transblick.com

 

 

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MARIE

JAHODA

Lebensgeschichtliche Protokolle
der arbeitenden Klassen 1850–1930
Dissertation 1932

Mit Beiträgen von Helga Nowotny, Georg Hubmann, Meinrad Ziegler,
Josef Ehmer, Rainer Bartel, Christian Fleck und Reinhard Müller

StudienVerlag

Innsbruck
Wien
Bozen

Inhaltsverzeichnis

Helga Nowotny

Marie Jahoda und Wien als City of the Century

Georg Hubmann

Ein historischer Text in aktueller Annäherung

Editorische Notiz

Marie Jahoda

Anamnesen im Versorgungshaus.

Ein Beitrag zur Lebenspsychologie

Meinrad Ziegler

Die Dissertation von Marie Jahoda

Josef Ehmer

Kontextualisierung der Lebensgeschichten. Sozial-ökonomische Entwicklung Wiens 1850–1930

Rainer Bartel

Chronik zur Lebensspanne der Befragten

Christian Fleck

Marie Jahoda – ein Porträt

Reinhard Müller

Lebenslauf und Bibliografie Marie Jahoda

Danksagung

Bildnachweise

Autorin und Autoren, Herausgeberin und Herausgeber

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Marie Jahoda, um 1959 in England

 

Helga Nowotny

Marie Jahoda und Wien als
City of the Century – eine Einleitung

In ihrer Doppelausgabe zum Jahresende 2016 veröffentlichte die Zeitschrift The Economist einen ausführlichen Artikel, der Wien als die ‚Stadt des Jahrhunderts‘ feiert. Die durchgängige These für diese hohe Auszeichnung sind die Ideen, die von der Hauptstadt des früheren Kaiserreiches am Anfang des letzten Jahrhunderts ausgegangen sind. Wien wird als die intellektuelle Wiege des Modernismus und Faschismus bezeichnet. Ebenso war sie Ausgangspunkt für Liberalismus und Totalitarismus. Dies sind, so der Economist, die Strömungen, die weitgehend das westliche Denken und die Politik seit dem Untergang der Habsburgermonarchie bis zum heutigen Tag geprägt haben.

Selbst wenn die Blütezeit des liberalen Wiens nur von kurzer Dauer war, so war sie doch bereits von den Spannungen und Konflikten geprägt, die sich bald in virulentem Nationalismus und Antisemitismus austobten. Auf das Ende des Ersten Weltkriegs und nach dem kurzen Intermezzo des progressiven „Roten Wiens“ folgten Austrofaschismus und die Machtübernahme durch Hitler. Das liberale, kosmopolitisch und großteils jüdische Wien wurde zur Flucht gezwungen oder ermordet. Viele der Vertriebenen fanden in den USA und in Großbritannien Zuflucht und Aufnahme. „Die wertvollste Seite des Wiener Gedankenguts für den Westen zur damaligen Zeit“, so der Artikel, „lag in der Anwendung der allerjüngsten ‚wissenschaftlichen‘ Methoden auf Gebiete, die früher einem amateurhaften Theoretisieren überlassen blieben oder vernachlässigt wurden“. Dies führte zur Transformation vieler Aspekte des Lebens.

Interessanterweise findet die Rettung des intellektuellen Gedankenguts, das von Wien ausging und den Westen noch über Jahrzehnte prägen sollte, fast ausschließlich durch die wissenschaftlich-methodischen Neuerungen in den Sozialwissenschaften statt. Dies trifft vor allem auf die Ökonomen der Wiener Schule zu, deren intellektuelle Leistungen, so der Economist, vor allem darin bestand, das wirtschaftsliberale Denken für den Westen bis in die 1980er Jahre bewahrt zu haben. Doch auch den anderen Sozialwissenschaften wird durch die methodisch-empirische Arbeitsweise eine hohe wissenschaftliche Innovationskraft attestiert.

So etwa erhält Charlotte Bühler, die 1922 mit ihrem Mann Karl an der Universität Wien die moderne experimentelle Psychologie begründete, einen prominenten Platz. Andere Wiener Intellektuelle verstanden es, ihr in die USA mitgebrachtes Wissen und rigoroses Training in empirischen Methoden mit Erfolg auf neue Gebiete zu übertragen. Sie erwiesen sich als indifferent gegenüber engstirnigen akademischen Besitzstandwahrungen und schöpften die Gelegenheiten aus, die das amerikanische Umfeld für industrie- und businessfreundliches Forschen bot. Dies traf sogar für Freudianer zu; ebenso für Ernest Dichter, der auch aus der Bühler-Schule stammte. Besonders hervorgehoben wird jedoch Paul F. Lazarsfeld, der als Gründer der amerikanischen Soziologie apostrophiert wird (City of the Century. The Economist, 24th December 2016: 28–30).

In der Auflistung der aus Wien vertriebenen Pioniere, die in den USA und Großbritannien in den Sozialwissenschaften reüssiert haben, fehlt jedenfalls ein Name: Marie Jahoda. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass der vorliegende Band ausschließlich ihr gewidmet ist. Die erwähnte Leerstelle mag vielerlei Gründe haben. Vielleicht liegt es an der lebenslangen Zurückhaltung von Marie Jahoda, die sich selten in den Medien zu Wort meldete und einmal in einem Interview von sich sagte: Ich habe die Welt nicht verändert. Ungewöhnlich hoch ist auch die Zahl ihrer nicht veröffentlichten Forschungsergebnisse. Die Gründe für beides lagen oft in ihrer prekären Arbeitssituation. Diese führte zur Abhängigkeit von ihren Auftraggebern, deren Zustimmung für die Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse sie benötigte.

Auch der von Robert K. Merton beschriebene Matthäus-Effekt mag verantwortlich dafür sein, ihr Wirken zu übergehen. Wissenschaftliche Leistungen und Anerkennung wachsen überproportional denjenigen zu, die bereits erfolgreich sind und über Sichtbarkeit und Reputation verfügen. So wird im oben zitierten Artikel Paul F. Lazarsfeld als Ko-Autor einer ‚revolutionären Untersuchung über die vernichtenden sozialen und psychologischen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit‘ genannt. Unerwähnt bleibt, dass Marie Jahoda die Erstautorin der Arbeitslosen von Marienthal war und die Studie großteils von ihr verfasst wurde.

Vielleicht liegt es aber auch an ihrer Wissenschaftsauffassung. Zentral für ihr wissenschaftliches Ethos war immer die Relevanz der Fragestellungen für die Menschen, deren Lebensumstände sie untersuchte. Obwohl sie den angewandten empirischen Methoden große Wichtigkeit einräumte und ihre persönlich durchgeführten Befragungen genauestens belegte und analysierte, blieb sie dennoch Zeit ihres Lebens skeptisch gegenüber jedem Methodenfetischismus.

Ein weiterer Grund mag sein, dass die zentrale Fragestellung, der rote Faden, der ihr gesamtes wissenschaftliches Werk durchzieht, ein Thema ist, das nicht so recht in das wirtschaftsliberale Credo passt, das die Ökonomen der Wiener Schule vertraten. Marie Jahodas Thema war und blieb das Thema der Arbeit, deren manifeste Zwecke und latente Konsequenzen. Dazu zählte insbesondere die verheerende Wirkung von Arbeitslosigkeit für die Betroffenen. Die von ihr befragten Menschen waren meist am unteren Rand der Gesellschaft angesiedelt. Bereits in ihrer Dissertation war es eine bewusste und begründete Entscheidung, nicht die Lebensgeschichten von Angehörigen der bürgerlichen Schichten zu untersuchen, sondern 52 Frauen und Männer in den Versorgungshäusern der Stadt Wien zu befragen.

Dies führt direkt zum vorliegenden Band. In ihm wird erstmals die Dissertation der damals 24-Jährigen veröffentlicht einschließlich des von ihr gesammelten Materials von lebensgeschichtlichen Reportagen.

Im Detail rekonstruiert wird die Entstehung der Dissertation von Meinrad Ziegler. Sein einfühlsamer Beitrag analysiert den institutionellen und organisatorischen Kontext, in dem die Fragestellungen der Dissertation und die verwendeten Methoden, einschließlich der von Marie Jahoda originär erbrachten Leistungen, erarbeitet werden. Ziegler führt uns in das pädagogisch-psychologische Laboratorium ein, das von der Stadt Wien dem Psychologischen Institut unter der Leitung von Charlotte Bühler zur Verfügung gestellt wurde. Er erläutert das wissenschaftliche Theoriegebäude von Charlotte Bühler, deren Forschungsverbund dazu diente, den empirischen Nachweis für ihre Psychologie des Lebenslaufs zu erbringen. Wir erhalten Einblicke in die Reformbestrebungen im Bildungssektor, die von der Stadt Wien getragen werden, und in den Stellenwert der Forschungsstelle nicht nur für die wissenschaftliche, sondern auch für die praktische, angewandte Seite. Ziegler geht im Detail auf Marie Jahodas Studium und die Abfassung ihrer Dissertation ein, einschließlich ihrer damaligen persönlichen Lebensumstände und ihres politischen Umfelds.

Was sagen uns heute die Lebensgeschichten der 52 Frauen und Männer, die Marie Jahoda im Versorgungshaus der Stadt Wien in ‚offenen Erinnerungsinterviews‘ als Gegenstand ihrer Dissertation befragt hatte? Sie sind weder statistisch repräsentativ, noch geben sie Auskunft über die erlebte Lebenszeit einer bestimmten Klasse oder Gruppe. Die Auswahl beruhte auf ihrer Zugehörigkeit zu einer Geburtenkohorte, ihrer Lebensdauer und ihrer Unfähigkeit in diesem Lebensabschnitt für ihren Unterhalt selbst zu sorgen. Josef Ehmers großes Verdienst ist es, diese Sammlung von Lebensgeschichten als eine einmalige historische Quelle zu nützen. Souverän beleuchtet er die Sozialstruktur und den Arbeitsmarkt in Wien zwischen 1870 und 1930, die Wohnformen und das Familienleben, Migration und Mobilität, den demografischen Wandel ebenso wie den Mangel an sozialer Sicherung. Durch die von Marie Jahoda erhobenen Lebenserinnerungen erhalten die sozialhistorischen Befunde und Zahlen ein menschliches, männlich und weiblich geprägtes, Gesicht. Es ist nicht direkt den gewaltigen historischen Veränderungen und Umbrüchen der durchlebten Epoche zugewandt, doch umso stärker indirekt davon gezeichnet.

Als ich im Februar 2015 eingeladen wurde, an der University of Sussex die dort jährlich stattfindende Marie Jahoda Annual Lecture zu halten, hatte ich Gelegenheit, eingangs an einige meiner persönlichen Begegnungen mit ihr zu erinnern. Am meisten beeindruckten mich jedoch die berührenden Gespräche, die ich nach meinem Vortrag mit einigen Kollegen hatte – Menschen, die entweder bei ihr studiert oder an der Universität mit ihr zusammengearbeitet hatten. Sie, die als akademisch Spätberufene erst mit 58 Jahren als Gründungsprofessorin für Sozialpsychologie an die neu gegründete University of Sussex berufen wurde, hatte während der Zeit bis zu ihrer Emeritierung im Jahr 1973 und darüber hinaus entscheidende Eindrücke und Impulse im Leben vieler Menschen hinterlassen. Für viele, die sie persönlich kannten, blieb sie ein anerkanntes Vorbild. Ich konnte nicht umhin, an all das zu denken, was ihrer Heimatstadt Wien, in die sie 1946 zurückkehren wollte, für immer verloren gegangen war.

Der Band endet mit einer umfangreichen und geglückten Biografie, verfasst von Christian Fleck. Es ist seinem archivarischen Geschick, gepaart mit fundiertem soziologischen Wissen, zu danken, dass hier erstmals eine Biografie vorliegt, die sowohl den persönlichen Lebensweg Marie Jahodas wie ihren wissenschaftlichen Werdegang in deren unzertrennlichen Verschränkungen nachzeichnet. Die zahlreichen persönlichen Gespräche und Begegnungen, die Fleck über Jahre hinweg mit Marie Jahoda während ihrer kurzen, aber wiederholt stattfindenden Besuche in Wien geführt hat, sind einfühlsam wiedergegeben.

Es ist das Verdienst dieses Buches, eine bedeutende Sozialwissenschaftlerin in Erinnerung zu rufen, deren Leben und wissenschaftliches Werk in einzigartiger – und teilweise schmerzlicher – Weise die politische Geschichte Österreichs widerspiegelt. Marie Jahodas Dissertation als Einstieg in die wissenschaftliche Arbeit, widmete sich dem Thema ‚Lebensgeschichten‘, deren wissenschafts- und sozialgeschichtliche Verortung vorgenommen wird. Darüber hinaus wird ihr eigenes Leben, A Life, wie man in Großbritannien sagt, nachgezeichnet. In seinem Resümee kommt Fleck zum Schluss, dass Marie Jahoda ihr ganzes Leben hindurch ihrer Auffassung von Sozialwissenschaften treu geblieben ist: ‚Die reale Welt als Herausforderung zu betrachten, die durch gemeinsame Anstrengung ein wenig lebenswerter gemacht werden sollte‘. In ihren eigenen Worten: „Die Aufgabe der Human- und Sozialwissenschaften (ist es), das nicht Sichtbare sichtbar zu machen … Das Offensichtliche – das, was man mit dem bloßen Auge sieht – darf man nicht einfach so hinnehmen. Darin scheint mir die Hauptaufgabe der Sozialwissenschaften zu liegen“.

Heute stehen die Sozialwissenschaften erneut vor einer Fülle von Herausforderungen. Sie alle haben mit den realen Problemen des sozialen Zusammenlebens, diesmal in einem globalen Kontext, zu tun. Marie Jahoda hat in ihrem langen und teilweise schwierigen Leben gezeigt, dass das ‚Wiener Jahrhundert‘ eine Fülle von auch anderem Denken und wissenschaftlichem Arbeiten hervorgebracht hat, die über die Zeit ihrer Entstehung fortwirken. Sie sind es wert, weitergedacht zu werden.

 

Wir Frauen von heute

Mitzi Jahoda

Wir Frauen von heute sind lebensfroh

und lassen die Alten sich grämen.

Wir zeigen den andern: es geht auch so!

Man braucht sich nicht mehr zu schämen.

Wir Frauen von heute sind arbeitsgewohnt

und nehmen, wie’s kommt, das Leben.

Was nützt es schließlich, wenn man sich schont?

Dann lebt man nicht ganz, nur daneben.

Wir Frauen von heute gehen doch

auf die Straße, auch wenn es regnet.

Nur leider sind wir allzu oft noch

Männern von gestern begegnet.

 

Arbeiterzeitung vom 2. 2. 1930

Georg Hubmann

Ein historischer Text in aktueller Annäherung

Marie Jahoda wollte nie als Klassikerin einer wissenschaftlichen Disziplin gesehen werden, sie drängte nicht in den Vordergrund. Sie musste 1937 Österreich verlassen und hat den Großteil ihres Lebens im Ausland verbracht, auch deshalb ist von ihr in Österreich abgesehen von der Studie über Die Arbeitslosen von Marienthal wenig bekannt.

Ihre Dissertationsschrift 85 Jahre nach der Niederschrift zu veröffentlichen, hat gute Gründe: Zum einen ist die Dissertation wissenschaftshistorisch interessant. Marie Jahoda ist eine international anerkannte Sozialpsychologin und Sozialforscherin, deren Einstiegsarbeit in die wissenschaftliche Laufbahn Aufmerksamkeit verdient. Zweitens geht es auch darum, sie in diesem Zusammenhang als Wissenschaftlerin zu würdigen, die an ihre Forschung, von der Themenauswahl bis zur konkreten Umsetzung, stets mit Achtung vor dem Untersuchungsgegenstand und einer starken gesellschaftspolitischen Verpflichtung herangegangen ist. Drittens zeigt das empirische Material der Dissertation ein eindrückliches Bild von den Lebensbedingungen der arbeitenden Klassen während der Jahre 1850 bis 1930, die am Ende ihres Lebens aus unterschiedlichen Gründen in Wiener Versorgungshäuser gelebt haben. Die lebensgeschichtlichen Protokolle thematisieren Arbeit, Wohnen, Familie und Ehe sowie Lebenssinn und Lebenszufriedenheit unter gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen soziale Sicherheit und die Hoffnung auf sozialen Aufstieg weitgehend unbekannt waren. Sie zeigen das Alltagsleben lohnabhängiger Frauen und Männer in einem Kapitalismus vor der Institutionalisierung des Sozialstaates.

Ich verstehe dieses Projekt nicht nur als ein In-das-Gedächtnis-Rufen einer großen österreichischen Forscherin, sondern auch als Einladung, zwei aktuellen Fragen der Sozialwissenschaften nachzugehen, der Frage nach der Rolle von Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern und der Frage nach gesellschaftlichen und sozialstaatlichen Rahmenbedingungen, die es für ein erfüllendes Arbeitsleben braucht.

Die Haltung bewahren: als Sozialwissenschaftlerin ein Vorbild

Marie Jahoda könnte für viele Sozialwissenschaftler und Sozialwissenschaftlerinnen ein reference individual, eine vorbildliche Person, oder ein role model sein (vgl. Christian Fleck, in diesem Band: 349ff.). Sie war nicht nur Wissenschaftlerin und an der Erforschung von bloßen Fakten interessiert, sondern richtete ihren Fokus immer auch auf die realen Probleme der Betroffenen. Das zeigt ihre Forschung sowohl was die Themenwahl aber auch die Umsetzung betrifft. Diese Einstellung zur Arbeit als Wissenschaftlerin ist im heutigen Wissenschaftsbetrieb selten geworden. Immer mehr fokussiert sich die Sozialwissenschaft auf die Erforschung von Detailfragen, die ohne weiteren Kontext untersucht werden, und damit kommen sowohl die Situation der Betroffenheit als auch die Analyse der gesellschaftlichen Auswirkungen zu kurz.

Die Biografie von Marie Jahoda erklärt, warum sie immer unter einem breiteren, oft auch politischen Blickwinkel geforscht hat. Aufgewachsen und sozialisiert im „Roten Wien“ der 1920er Jahre, engagierte sie sich schon mit fünfzehn Jahren beim Verband sozialistischer Mittelschüler. Das Thema der gerechten Bildungschancen unabhängig von der individuellen Herkunft war eines ihrer ersten politischen Interessenfelder. Ein Auftritt als Rednerin zu Fragen der Schulreform – Ziel war die allgemeine Mittelschule – beim großen Maiaufmarsch der Wiener Sozialdemokratie im Jahr 1926 am Rathausplatz brachte ihr eine Rüge der Schuldirektorin und in weiterer Folge eine schlechte Betragensnote im Abschlusszeugnis ein. Diese Begebenheit steht für ihren bereits als Jugendliche ausgeprägten Mut, für eine Sache öffentlich aufzutreten. Schon früh zeigt ihr Einsatz für eine gerechte Gesellschaft und einen gerechten Umgang im Zwischenmenschlichen ihren inneren politischen Antrieb (vgl. Jahoda o.J.: 122f.). Als Vorsitzende des sozialistischen Mittelschülerverbandes kam sie zwanglos in Kontakt mit den führenden Sozialdemokraten der Zeit. Besonders prägend erlebte sie damals den Nationalökonom Otto Neurath und den sozialdemokratischen Austromarxist Otto Bauer.

Die Idee, dass „es nichts Wichtigeres als die allgemeine Erziehung gibt“ (ebd.: 128f.), war Jahodas Motivation für ihre Studienwahl. Sie belegte das Fach Psychologie an der Universität Wien und begann eine Ausbildung zur Volksschullehrerin. Ihr eigentliches Lebensziel zu der Zeit war, Unterrichtsministerin zu werden, um am Aufbau einer neuen sozialdemokratisch geprägten Gesellschaft mitzuwirken, gerade dafür schien ihr die Ausbildung zweckmäßig. Sie war während ihrer Studienzeit stets in der politischen Bildungsarbeit aktiv, jedoch spitzten sich in den 1930er Jahren die politischen Verhältnisse in Österreich immer weiter zu. In der Diktatur von Engelbert Dollfuß wurde sie mit ihrem Engagement für die Sozialdemokratie zuerst in die Illegalität und dann ab 1937 ins Exil gezwungen.

Die Aktivistin Marie Jahoda ist erst durch den politischen Umsturz in Österreich und ihrer Vertreibung zu einer Sozialforscherin geworden, die diesen Beruf auch als Lebensmittelpunkt betrachtete. Die Prägung aus dem politischen Engagement und den damit verbundenen Fokus auf die realen Probleme der Gesellschaft hat sie in ihren Forschungsarbeiten immer behalten. In einem Artikel für die damals verbotene sozialdemokratische Schrift „Der Kampf“ schrieb sie: „Tatsachen sind nur an Hand von Kenntnissen und Wissen erkenntnismäßig bewältigbar, Wissen führt nur in ständiger Konfrontation mit den Tatsachen von der Interpretation zur Handlung“ (Mautner 1937: 21). Auch wenn das Zitat ursprünglich in diesem Text einen politischeren Bezugspunkt hatte, steht es rückblickend für die Haltung, die Jahoda in ihrer Forschungsarbeit angeleitet hat.

Die Auswahl des Untersuchungsgegenstandes ihrer Dissertation zeugt von Jahodas Bemühen, ihre persönlichen Überzeugungen in der wissenschaftlichen Arbeit unterzubringen. Sie erweiterte den methodischen Zugang ihrer Betreuerin Charlotte Bühler, die ihre Theorie über systematische Aspekte des menschlichen Lebenslaufes vorwiegend aus Biografien gut situierter Männer erarbeitet hatte, um zu überprüfen, ob diese Theorie auch unter den Lebensbedingungen der einfachen Leute funktioniert. Dazu führte sie Interviews mit 52 Menschen in Wiener Versorgungshäusern. Das verdeutlicht das Interesse Marie Jahodas an der konkreten Lebenssituation der Menschen, eine durchgängige Haltung in ihrer wissenschaftlichen Arbeit (vgl. Jahoda o.J.: 128).

Ähnliches gilt für die Forschungsarbeit in Marienthal. Schon der Schritt, wie es zur Wahl des Themas kam, zeigt Jahodas starken Bezug zu politischgesellschaftlichen Fragestellungen. Ursprünglich wollte die Forschungsgruppe um Paul Lazarsfeld das Freizeitverhalten der Menschen untersuchen. Im Gespräch mit Otto Bauer, einem Vordenker der Sozialdemokratie, schlug dieser jedoch vor, in Zeiten der wachsenden Arbeitslosigkeit die konkreten Auswirkungen der Arbeitslosigkeit zu untersuchen und dies in Marienthal zu tun (vgl. Knight 1985). Auch die Methodik zur Durchführung der Studie war nie ein bloßes Beobachten der Zustände, sondern mit verschiedenen Initiativen zur Unterstützung der Betroffenen in Marienthal verbunden. So organisierte die Forschungsgruppe Schnittkurse und Kleideraktionen oder Gesundheitsuntersuchungen für Kinder im Zuge der Feldarbeit in Marienthal (vgl. Fleck 2001).

Ein anderes Beispiel für Jahodas Zugang zur wissenschaftlichen Arbeit liegt in den 1950er Jahren, als sie an der New York University forschte. Es war der Höhepunkt der McCarthy-Ära, benannt nach jenem Senator, der im beginnenden Kalten Krieg Wortführer der antikommunistischen Bewegung in den USA war. Marie Jahoda war als politischer Flüchtling aus Österreich sicherlich nicht unverdächtig und wurde möglicherweise selbst überwacht. Das hinderte sie aber nicht daran, sich als eine der ersten Sozialwissenschaftlerinnen systematisch mit den Auswirkungen dieser Politik und der gesellschaftlichen Stimmung in den USA auseinanderzusetzen (vgl. Fleck 2001). Sie kritisierte in einer Studie gemeinsam mit Stuart W. Cook die Schaffung eines geistigen Klimas, das ideologische Unterwürfigkeit und Konformität erzeugt (vgl. Jahoda 1997: 130). Es zeigt sich, dass Marie Jahoda auch als politischer Flüchtling nicht von ihrer politischen Grundhaltung und dem Fokus auf ganz konkrete, gesellschaftlich relevante Fragestellungen in ihrer Arbeit als Wissenschaftlerin abrückte.

Marie Jahoda vertritt mit ihrem Zugang zur Forschung eine Nützlichkeitsperspektive für die Lebensrealität derer, die erforscht werden (vgl. Rothschild 2003). Dieses Selbstverständnis zeigte sich auch, als sie in England tätig war und eine Studie über asiatische Flüchtlinge aus Uganda, einer ehemaligen britischen Kolonie, nicht veröffentlichte, weil sich aus den Ergebnissen folgern ließ, dass die Geflüchteten selbst gegenüber den Schwarzafrikanern rassistisch eingestellt waren. Es bestand die Gefahr, dass eine Publikation in der Öffentlichkeit Schaden hätte anrichten können, und das war für sie der Beweggrund, diese Forschungsarbeit nicht zu publizieren.

Diese besondere Haltung gegenüber dem Forschungsgegenstand und die Kreativität in der Methodenwahl zeichnen Marie Jahoda als Wissenschaftlerin aus. Eigenschaften, die im heutigen Wissenschaftsbetrieb aus systemischen Zwängen immer seltener werden, aber gerade der sozialwissenschaftlichen Forschung im Sinne ihrer Praxisrelevanz sehr gut täten.

Lebensverläufe 1850–1930 und ihre Aktualität

Die Dissertation von Marie Jahoda aus 1931 liefert in den Lebensverläufen der 52 interviewten Frauen und Männer einen detaillierten Blick auf die Lebensverhältnisse im Zeitraum von 1850 bis 1930. Die Lebensgeschichten eröffnen nicht nur die subjektive Dimension des Lebens einzelner, sondern in ihrer Unterschiedlichkeit auch die Möglichkeit zu einer Einschätzung dieser bewegten Zeit, denn gemeinsam haben die Personen, dass sie im Jahr 1930 in einem der Wiener Versorgungshäuser gelandet waren. Damit wird ein breiter historischer Kontext gespannt, der eine Vielzahl an politischen und ökonomischen Umwälzungen fasst.

Beide Ebenen beeinflussen die Umstände, unter denen die Befragten ihr Leben verbracht haben. Die Erzählungen in der Dissertation zeugen also vom Leben in Zeiten des gesellschaftlichen Wandels. Für viele der Befragten änderte sich die ökonomische und familiäre Situation mehrmals in ihrem Lebensverlauf. Das Profil der Lebensgeschichten gleicht in vielen Fällen einem ständigen Auf und Ab, beeinflusst durch wechselnde Ehen, meist infolge von Todesfällen, durch Schicksalsschläge in der Familie, Verfügbarkeit von Arbeit oder Ortswechseln. Das verwundert nicht, betrachtet man die Zeit, in der die Leben geführt wurden. Die Periode von 1850 bis 1930 ist geprägt von ökonomischen und politischen Veränderungen in einem Ausmaß, das für junge Erwachsene, die nach 1945 in einem westeuropäischen Land geboren sind, kaum mehr denkbar scheint. Im Folgenden wird skizziert, wie gesellschaftliche Veränderung mit den wechselnden Lebenslagen der Befragten verbunden ist und sich exemplarisch in Lebensverläufe einschreibt. Dabei wird zuerst auf politische Veränderungen geblickt und anschließend nach Verbindungen zu ökonomischen Umbrüchen geforscht.

Zum Zeitpunkt der bürgerlichen Revolution 1848 sind die meisten der Befragten noch nicht geboren, die älteren F 12 und F 29 gerade mal 6 Jahre alt.1 So bedeutsam diese als politisches Ereignis in der Zeit war, in den Lebensverläufen der Menschen spiegelt es sich nicht wider. Die Einführung des Versammlungsrechts und die Konstituierung der ersten Arbeiterbildungsvereine 1867 oder die Gründung der Sozialdemokratie 1889 und der Gewerkschaften 1893 spielen in den Erzählungen der Menschen nur eine geringe Rolle, schaffen aber Rahmenbedingungen, die ein späteres politisches Engagement Einzelner überhaupt erst ermöglichen.

In den Lebensgeschichten im Anhang der Dissertation steht meist am Ende des jeweiligen Protokolls ein Satz zum Interesse der befragten Person an Politik im Generellen oder zum persönlichen Engagement. Erwähnung findet das Feld Politik meist deshalb, weil Marie Jahoda in den Interviews gezielt danach gefragt hat. Der erste Blick zeigt, die meisten Befragten, vor allem die Frauen, sind an Politik desinteressiert, obwohl gerade sie in den letzten 10 Jahren ihres Lebens von den sozialen Fortschritten und der Politik im „Roten Wien“ profitiert haben und auch die Zeit keineswegs eine unpolitische war. Vielmehr waren die 1920er Jahre geprägt von politischen Auseinandersetzungen zwischen Sozialdemokraten und Christlichsozialen. Bei den meisten Befragten waren es die oft widrigen Lebensumstände und soziale Notlagen, begleitet von den vielen Alltagssorgen der Zeit mit Kindersterblichkeit, ständigen Finanznöten, dem preußisch-österreichischen Krieg von 1866 und dem Ersten Weltkrieg sowie und vielen weiteren Unsicherheiten, die andere Fragen in der Wahrnehmung der Menschen wichtiger machen als das Feld der Politik.

Aber es gibt auch Menschen, wie M 10, M 13 oder M 20, die Parteimitglieder sind, auch wenn nur M 10 Funktionär in der Sozialdemokratie war und die anderen beiden wenig bis gar kein Interesse an der Politik selbst hatten. Bei den Frauen findet der Bezug zur Politik entweder als Engagement in der Jugendzeit (vgl. F 13) oder an der Seite des Mannes (vgl. F 19) beziehungsweise über das Engagement der Kinder (vgl. F 24) Eingang in die Berichte der Befragten.

Ein Desinteresse vieler Befragter an Politik überrascht nicht, wenn man zusätzlich zu den widrigen Lebensbedingungen die historischen Entwicklungen berücksichtigt. So waren viele Befragte zwischen 10 und 15 Jahre alt, als 1867 das politische Versammlungsrecht zugestanden und noch einmal gut 20 Jahre älter als die Sozialdemokratie und damit politische Parteien, die für jedermann offen standen, gegründet wurde. Das allgemeine Wahlrecht, also die Möglichkeit, selbst die politischen Verhältnisse mitzubestimmen, wurde für Männer erst 1907 und für Frauen 1919, mit der Gründung der Ersten Republik, Realität. Die meisten der Befragten waren zu diesem Zeitpunkt schon 60 Jahre oder älter, für die längste Zeit ihres Lebens konnten sie politisch nicht mitbestimmen oder politische Aktivitäten waren gar verboten. Die Vorstellung, die eigenen Lebensbedingungen durch persönliches Engagement zu ändern, lag daher vielen der Befragten fern und das erklärt auch die geringe Bedeutung der politischen Wahrnehmung.

Die ökonomischen Verhältnisse prägen die Erzählungen der Menschen in den Interviews. Das verwundert nicht, die Habsburgermonarchie steht erst am Anfang der Industrialisierung und die wirtschaftlichen Entwicklungen sind starken Schwankungen unterworfen. Die Zeit ab 1860 bringt zuerst einen wirtschaftlichen Aufschwung mit steigender Beschäftigung durch die fortschreitende Industrialisierung und den Eisenbahnbau. Spätestens ab dem Börsencrash 1873 folgt aber eine 20-jährige Phase der Rezession mit geringen Wachstumsraten. Dies zeigt sich exemplarisch am Fall M 20, der als Kutscher in Wien arbeitete und seine wichtigste Kundschaft, einen Börsianer, der durch den Börsencrash 1873 sein Vermögen verlor, einbüßte und es danach viel schwerer hatte, seine Familie durchzubringen. Die ökonomische Unsicherheit wird in der Folgezeit durch die sozialen Probleme verstärkt. Die Wohnungsnot in Wien ist groß, die Arbeitsbedingungen für Arbeiter und Arbeiterinnen durchwegs schlecht, die Einkommen sehr niedrig, Sozialleistungen gab es so gut wie keine. Der Erste Weltkrieg und die nachfolgende Phase der Hyperinflation verschärfen die Lebensbedingungen in der damaligen Zeit zusätzlich. Die ständigen Unsicherheiten zeigen sich bei vielen Befragten in der Antwort auf die Frage nach ihren glücklichsten Zeiten im Leben: Das war dann gegeben, wenn jemand eine sichere Stelle mit ausreichendem Einkommen und privates Glück in der Familie hatte, wie es M 18 beschreibt. Vor allem für die Frauen war die Lebenssituation sehr eng mit der Heirat und dem Status des Mannes verknüpft, denn das bestimmte für viele ihre wirtschaftlichen Verhältnisse. Auch deshalb werden selbst nicht realisierte Chancen auf mögliche Heiraten in vielen Lebensläufen erwähnt und die meisten Beziehungen im Nachhinein vor allem nach der damit verbundenen ökonomischen Situation bewertet.

Aus den Lebensverläufen der Menschen lassen sich die Lebensbedingungen in der Zeit zwischen 1850 und 1930 nachvollziehen. Parallelen zu heute sind auf den ersten Blick nicht erkennbar, denn die gesellschaftliche und technologische Entwicklung hat ein anderes Niveau erreicht. Aber die grundsätzliche Frage nach den Rahmenbedingungen für ein glückliches Leben wird damals wie heute ähnlich beantwortet: privates Glück, beruflicher Erfolg und gesellschaftliche Teilhabe sind immer noch oft genannte Gründe in entsprechenden Befragungen. Es macht für die Suche nach Vergleichen in den Lebensbedingungen zwischen damals und heute aber Sinn, auf die Frage zu fokussieren, die Marie Jahoda am Ende der Dissertationsschrift aufwirft: die Frage nach den Grundvoraussetzungen für ein erfülltes und selbstbestimmtes Leben.

Unter den von Marie Jahoda befragten Personen sind es nur wenige (wie zum Beispiel M 22, F 26 und F 30), die zielstrebig lebten und versuchten, trotz immer wieder auftretender Unsicherheiten selbstbestimmt ihren Platz in der Gesellschaft zu finden.

Blickt man in die heutige Zeit, dann ist es der ausgebaute Sozialstaat, der breiten Bevölkerungsschichten ermöglicht, ihr Lebensglück selbst zu gestalten. Grundvoraussetzung dafür ist die soziale Absicherung, die Schutz vor plötzlich auftretenden Notlagen gewährt. So haben nach 1945 eine professionalisierte Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung, das entwickelte Bildungssystem, die Emanzipation der Frau, der technologische Fortschritt und vieles mehr die Lebensbedingungen gewaltig verbessert. Damit sind auch die Möglichkeiten der Menschen, ein stärker selbstbestimmtes und interessengeleitetes Leben zu führen, gewachsen und die Bedrohung durch Schicksalsschläge ist weniger wahrscheinlich geworden. Aus dieser Perspektive sind also die Chancen auf ein erfülltes Leben deutlich gestiegen.

Auf den zweiten Blick sind es mehrere Entwicklungen, die zeigen, dass in der modernen Gesellschaft dennoch viele Unsicherheiten zu Tage treten können, die die Chancen auf Lebenserfüllung schmälern: Befragt man beispielsweise arbeitslose Jungakademikerinnen und Jungakademiker in Spanien, die seit der Finanzkrise ab 2007 trotz Zielstrebigkeit und persönlichem Engagement wenig Chancen haben, sich die unmittelbaren Wünsche im Leben nachhaltig zu erfüllen, dann erinnert das an die Ausgeliefertheit an die allgemeinen Rahmenbedingungen, die auch die Erzählungen der Befragten in der Dissertation von Marie Jahoda ausstrahlen. Selbst in einem gut ausgebauten Sozialstaat wie Österreich gilt, dass die Frage der Lebenszufriedenheit stark vom verfügbaren Einkommen abhängt. In Österreich sind über eine Million Menschen armutsgefährdet (BMASK 2017: 186ff.). Ihre Lebenssituation lässt größere Ausgaben nicht zu und oft reicht ein Schicksalsschlag, um die Teilhabe an der Gesellschaft zu gefährden. Darunter sind beispielsweise viele Alleinerzieherinnen, die sich trotz vollem Einsatz im Leben ob ihrer oft prekären Erwerbsbiografien sorgen müssen, später eine ausreichende Alterssicherung zu haben. Dazu ließen sich noch viele weitere Szenarien konstruieren, die – vor allem in Hinblick auf politische Entwicklungen in Europa, den USA aber auch anderen Ländern der Erde – zeigen, dass es viele Menschen gibt, deren Chancen auf ein abgesichertes, glückliches Leben im Vergleich zu den Schicksalen der Befragten in der Dissertation von Marie Jahoda nicht wesentlich gestiegen sind.

Das zeigt, dass die Frage nach Teilhabe an der Gesellschaft und sozialer Absicherung nichts an Aktualität verloren hat und auch heute eine immanent politische und gesellschaftliche Herausforderung bleibt. Der Fokus auf diese realen Probleme der Menschen, den Marie Jahoda mit ihrer Forschungsarbeit entwickelte, ist auch heute noch aktuell. Das muss uns gerade dann bewusst sein, wenn wir Marie Jahoda folgen wollen und danach streben, dass eines Tages die Lebenschancen so verteilt sind, dass allen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft ein gutes Leben ermöglicht ist. Wenn wir die damit verbundenen politischen Herausforderungen bewältigen wollen, dann wird klar, wie wichtig es heute ist, dass sich Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler Marie Jahoda zum Vorbild nehmen und mit den gleichen Haltungen an die realen gesellschaftlichen Problemstellungen herangehen. Marie Jahoda ist und bleibt mit ihren Forschungsthemen, dem methodischen Zugang und in ihrer politischen Haltung ein großes Vorbild.

 

Literatur

Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz. 2017. Sozialbericht. Sozialpolitische Entwicklungen und Maßnahmen 2015–2016. Wien: BMASK.

Fleck, Christian. 2001. Marie Jahoda – ein Rollenmodell für heutige Sozialwissenschaftler und Sozialwissenschaftlerinnen? Unveröffentl. Transkript eines Vortrages an der Johannes Kepler Universität Linz im Juni 2001.

Jahoda, Marie. O.J. [2008]. Interview mit Hubert Christian Ehalt in Keymer (Sussex), 1996. In: Ich stamme aus Wien. Kindheit und Jugend von der Wiener Moderne bis 1938, hrsg. Hubert Christian Ehalt, 116–130. Weitra: Bibliothek der Provinz.

Jahoda, Marie. 1997. Biographisches Interview mit Marie Jahoda. In: „Ich habe die Welt nicht verändert“. Lebenserinnerungen einer Pionierin der Sozialforschung, hrsg. Steffani Engler und Brigitte Hasenjürgen, 101–169. Frankfurt a. M.: Campus.

Knight, Robert. Interview mit Marie Jahoda am 28. August 1985. Quelle: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, zitiert nach: http://agso.uni-graz.at/jahoda/1024+/index.htm.

Mautner, M. [i.e. Marie Jahoda]. 1937. Die Intellektuellen und die revolutionäre Bewegung in Österreich. Der Kampf. Internationale Revue. 4 (1): 16–22.

Rothschild, Thomas. 2003. Anachronistisch und vorbildlich – Marie Jahoda: ein Leben für die Unterprivilegierten. In: Wien und der Wiener Kreis. Orte einer unvollendeten Moderne. Ein Begleitbuch, hrsg. Volker Thurm unter Mitarbeit von Elisabeth Nemeth, 230-232. Wien: Facultas WUV.

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Marie Jahoda, Dissertation 1932, Handschriftliche Darstellung von Lebensphasen

 

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1   In der Dissertation werden zur Anonymisierung der Gesprächspartnerinnen und -partner die Kürzel „F“ für Frauen und „M“ für Männer verwendet.

 

 

Editorische Notiz

Marie Jahoda verfasste ihre Dissertation im Jahr 1931, im Jahr 1932 wurde sie approbiert. Die im Folgenden wiedergegebene Fassung weicht in einigen wenigen Punkten vom Original ab:

Der Text ist in die neue Rechtschreibung übertragen, orthografische Fehler wurden dabei korrigiert. Er enthält viele Begriffe und Phrasen, die heute kaum mehr Verwendung finden, aber durchaus verständlich sind. In diesen Fällen fühlen wir uns nicht veranlasst, Jahodas historische Ausdrucksweise zu modernisieren. Begrifflichkeiten jedoch, die heute völlig unbekannt sind und deren Bedeutungen sich auch nicht aus dem Zusammenhang erschließen, werden in eckigen Klammern kurz erläutert. Wörter oder Textpassagen, die im Original durch Unterstreichungen hervorgehoben sind, werden hier kursiv gesetzt.

Der Titel der Dissertation lautet „Anamnesen im Versorgungshaus. Ein Beitrag zur Lebenspsychologie“. Wenn wir in der Terminologie der heutigen Sozialforschung einen Begriff für Jahodas „Anamnesen“ suchen, könnten wir sie mit „lebensgeschichtliche Protokolle“ übersetzen. In diesen Protokollen sind Lebensdaten und Lebensgeschichten der von Jahoda befragten Frauen und Männer zusammengefasst. Die Arbeit enthält rund 50 dieser Protokolle. Sie sind mit dem Kürzel „F“ für „Frau“ und „M“ für „Mann“ und einer Nummer bezeichnet und finden sich teilweise im Haupttext der Dissertation, teilweise in deren Anhang.

Im Anhang der Dissertation finden sich auch mit Hand gezeichnete grafische Darstellungen, mit denen Jahoda die Abfolge von Ereignissen und Phasen in jeder Lebensgeschichte zu veranschaulichen versuchte. Diese Grafiken haben wir neu gestaltet. Bei einigen Grafiken ließen sich die Eintragungen Jahodas nicht eindeutig rekonstruieren und musste dabei interpretierend vorgegangen werden. Lebensgeschichtliche Ereignisse – wie beispielsweise „Tod der Ehefrau“ – sind in kursiver Schrift, lebensgeschichtliche Phasen – wie beispielsweise eine über Jahre andauernde Tätigkeit als Hausgehilfin – in normaler Schrift eingetragen. Die von Jahoda konstruierten Abgrenzungen der Lebensphasen nach dem theoretischen Modell von Charlotte Bühler sind vertikal mit fetten Strichen gekennzeichnet und rechtsbündig durchnummeriert. Einige im Anhang abgebildete Faksimile aus dem Original der Dissertation sollen einen unmittelbaren Eindruck von Jahodas Grafiken geben. Im Kopf jeder Grafik kennzeichnen wir mit einem Seitenverweis jene Stelle, wo das lebensgeschichtliche Protokoll zu finden ist.

Diesem Buch liegt ein Lesezeichen bei, dem auch eine hermeneutische Funktion zukommt. In einem zeitlichen Raster über die Jahre von 1848 bis 1930 sind einige, für Österreich bedeutsame sozialgeschichtliche und politische Daten eingetragen. Der Zeitrasten des Lesezeichens stimmt mit dem Zeitraster der Grafiken zu den lebensgeschichtlichen Daten der von Jahoda Befragten überein. Wird das Lesezeichen so an jede Grafik gelegt, dass das Geburtsjahr der Befragten mit der Jahreszahl auf dem „Chronik-Lineal“ übereinstimmt, kann jede Lebensgeschichte historisch kontextualisiert und für weiterführende Interpretationen geöffnet werden.

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Marie Jahoda, Dissertation 1932, Deckblatt

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Marie Jahoda, 1940 in London

Marie Jahoda

Anamnesen
im Versorgungshaus

Ein Beitrag
zur Lebenspsychologie

Dissertation
Universität Wien 1932

Inhaltsverzeichnis

I.   Einleitung

1. Der Zusammenhang der Arbeit mit dem System Charlotte Bühlers

2. Die Methodik der Erhebungen

II.  Das Normalleben

1. Die psychische Lebenskurve; Expansion und Restriktion

a. Definition des Normallebens

b. Expansion und Restriktion im Normalleben der Frau

c. Expansion und Restriktion im Normalleben des Mannes

2. Der Phasenablauf

3. Die Lebensformen der fünften Phase

a. Über die Art der Erinnerung

b. Der Inhalt der fünften Phase

4. Biologische und ökonomische Grundlagen

III. Strukturmerkmale des Einzellebens

1. Verschiebungen der Expansions- und Restriktionskurve

2. Das Anforderungsniveau; maximale und minimale Anforderungen

3. Lebenserfüllung

IV. Anhang

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Versorgungshaus Hütteldorferstraße 88, Wien 13, im Generalstadtplan Wien (1925)

 

I.
Einleitung

 

1. Der Zusammenhang der Arbeit
mit dem System Charlotte Bühlers

Die vorliegende Arbeit versucht, Material beizubringen für das lebenspsychologische System, das Charlotte Bühler im Lauf der letzten Jahre konzipiert und entwickelt hat.

Dieses System schließt an die Methoden an, die sich in „Kindheit und Jugend“ bewährt haben, und versucht, für das ganze Leben Prinzipien zu finden, die seinen Ablauf regeln, Phasen, die ihn gliedern, und Einheiten, die ihn im Einzelnen zu beschreiben vermögen.

In „Kindheit und Jugend“ ist an einer Fülle von Material aus jeder Altersstufe bewiesen, dass man zumindest für die Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen eine ganze Reihe von allgemein gültigen Entwicklungsgesetzen aufstellen kann. Die Weiterführung der dort verwendeten Methoden beim Erwachsenen schien nur dadurch unterbunden, dass es nicht abzusehen war, woher man Material nehmen sollte, das geeignet wäre, mit der nötigen Exaktheit Aufschluss über einen ganzen Lebensverlauf zu geben. Dass das reine Experiment, das in dem zitierten Werk so viel Material geliefert hatte, hier wohl fast gar keine Bedeutung haben werde, schien von allem Anfang an erwiesen. Auch die Zufallsbeobachtung konnte im besten Fall unbeweisbare Anregungen liefern. Beide – Experiment und Beobachtung – müssten sich wohl über Jahre, in Wirklichkeit in jedem Einzelfall eben über das ganze Leben erstrecken, um hier verwertet werden zu können. An dieser Schwierigkeit der Materialbeschaffung liegt es wohl, dass diese Fragen bis jetzt kaum untersucht, ja, nicht einmal als ein einer Untersuchung würdiges Problem aufgestellt worden sind.

Charlotte Bühler löste die Materialfrage, indem sie ihre Untersuchungen an ausführlichen Biografien berühmter Menschen begann, die durch Heranziehung etwaiger Äußerungen des Betreffenden (Briefe, Tagebücher, Werke et cetera) ergänzt wurden. Selbstverständlich wurden vor allem Lebensbeschreibungen von solchen Menschen in die Untersuchung einbezogen, über die ein möglichst reichhaltiges Material vorlag, wie zum Beispiel Goethe, dessen Leben sich vor allem wegen seiner Harmonie, Reichhaltigkeit und langen Dauer besonders zur lebenspsychologischen Untersuchung eignete. Ein kleiner Kreis von Mitarbeitern hat dann eine ziemlich große Anzahl von Biografien studiert. Das wichtigste Ergebnis dieser Arbeit war die Feststellung von Begriffen, die die Beschreibung des Lebensablaufs in wissenschaftlicher Weise ermöglichen. Charlotte Bühler wird die Resultate ihrer Untersuchung in kurzer Zeit in Buchform veröffentlichen.

Die fast verblüffende Handlichkeit dieser Begriffe und ihre Anwendbarkeit auf jedes Leben, das an Hand der Biografien untersucht wurde, brachten mich auf den naheliegenden Gedanken, ihre Verwendbarkeit im Alltagsleben zu erproben. Das Material dazu beschloss ich, durch die Untersuchung der Lebensdaten alter Menschen aus den Versorgungshäusern zu gewinnen.

Bevor ich auf die Untersuchung selbst eingehe, möchte ich Frau Professor Charlotte Bühler meinen Dank aussprechen für die Förderung, die diese Arbeit durch sie erfahren hat; nicht nur dadurch, dass ich ihre Ansätze schon vor der Publikation für die Bearbeitung meines Materials verwenden durfte; sie hat außerdem in wohlwollendster Weise meine Versuche Schritt für Schritt überwacht und erst durch ihre Anweisung die sinnvolle Zusammenfassung des Materials ermöglicht.

2. Die Methodik der Erhebungen

Die Erhebungen fanden in den Versorgungshäusern der Gemeinde Wien, XX. Meldemannstraße, III. Rochusgasse, XIII. Baumgarten und in dem privaten Versorgungshaus, IX. Seegasse statt. Ich möchte an dieser Stelle dem Wiener Magistrat und der Leitung des Hauses in der Seegasse für die mir gebotene Arbeitsmöglichkeit danken.

Die Pfleglinge wurden ohne jeden Auswahlgesichtspunkt vorgenommen; es wurde ihnen kurz der wissenschaftliche Zweck der Arbeit erklärt, und, wenn sie ihre Zustimmung zur Anamnese gaben, sofort damit begonnen. Die meisten erzählten mit merkbarem Vergnügen und sehr breit und ausführlich ihre Lebenserinnerungen. Der Zweck der Erhebung war ihnen ziemlich gleichgültig. Nur sechs von 52 ließen sich die Arbeit näher erklären. Eine glatte Ablehnung der Anamnese erfolgte in etwa 20 Fällen, vor allem bei Frauen. Die Gründe dafür waren nicht ganz durchsichtig. Die Formulierung der Ablehnung lautete etwa: „Ich will mich nicht mehr an die Vergangenheit erinnern müssen“ oder: „Das hat für mich gar keinen Zweck“.

Die Erhebung dauerte im Einzelfall zwischen einer halben und fünf viertel Stunden. Nur die ersten drei Protokolle wurden von mir aus dem Gedächtnis aufgeschrieben, bei den folgenden wurde mitstenografiert.

Die Art, wie gefragt wurde, ist charakteristisch für die Verwendung von Recherchen auf einem Gebiet, das neu bearbeitet wird. Begonnen wurde mit der Frage nach den Geburtsdaten, dem Beruf des Vaters, eventuell der Mutter und der Anzahl der Geschwister. Die nächste Frage war die nach der frühesten Erinnerung und dann, da darauf in vielen Fällen die Antwort ausblieb, die Frage nach der Schulzeit. Erstrebt war nun weiterhin eine möglichst geschlossene Erzählung, bei der nur durch eine Frage unterbrochen wurde, wenn etwas unklar war oder große Zeiträume übersprungen wurden. Die ersten freien Erzählungen dienten als Ausgangspunkt, um zunächst die Gesichtspunkte herauszuholen, die den Berichtspersonen selbst geläufig waren, das heißt also, jene Probleme herauszustellen, die den einzelnen subjektiv für ihren Lebensablauf wichtig erschienen. Die Rekonstruktion dieser Lebensläufe war aber für den Beobachter nach diesen Gesichtspunkten allein noch nicht möglich; man wurde fast von selbst zu einer Reihe von Fragen gedrängt, auf die am nächsten Tag nochmals eingegangen werden musste. Auf diese Weise wurde Schritt für Schritt jenes System von Gesichtspunkten erarbeitet, die berührt werden mussten, um einen Bericht für uns brauchbar zu machen. Es gab dann natürlich Fälle, wo sogar der übliche Darstellungsumfang von selbst nicht erreicht wurde und nach jedem Satz neue Fragen gestellt werden mussten. Umgekehrt gab es einige wenige Versuchspersonen, die spontan alles sagten, was uns notwendig erschien. Für die große Zahl der dazwischenliegenden Fälle hatten wir uns eine Reihe von Formulierungen und Bemerkungen zurechtgelegt, mit deren Hilfe jedem Bericht die notwendige Gegenstandsbreite verschafft wurde. Die sachlichen Gesichtspunkte, auf die es ankam, wird man im Verlauf der Arbeit kennenlernen. Die Ergänzungsfragen, die sich befragungstechnisch als nützlich erwiesen, sind die folgenden: Fragen nach Krankheiten, Beschäftigung in der Freizeit, Rolle der Religion, Lektüre, Politik, Konflikt mit dem Gesetz, Freunde, Feinde, Todesfälle, Vereinszugehörigkeit, Theater, Musik, Tanzen, Reisen, sonstigen Interessen, Wohnungsgröße, Zufriedenheit mit Beruf, schönste Zeit, schwerste Zeit, die Frage nach Plänen, die man einmal gehabt hat, was die Betreffenden täten, wenn sie noch einmal auf die Welt kämen, und ob sie gern oder ungern in die Versorgung gegangen seien. In den Protokollen wurden nur die Fragen vermerkt, auf die eine verständliche Antwort gegeben worden war; da alle gestellt wurden, kann man sich durch den Ausfall über das Niveau des Einzelnen informieren.