Vorwort

Inhaltsverzeichnis

Das Vorwort zur Ersten Reihe der »Deutschen Fahrten« unter dem Titel »Aus Anhalt und Thüringen« schließt mit den Worten:

»Dieser ›ersten Reihe‹ meiner ›Deutschen Fahrten‹ soll jedenfalls noch eine zweite, welche die Vogesen schildert, folgen. Ob eine dritte, hängt davon ab, wie lange ich mich noch an der Schönheit dieser Welt erfreuen darf.

Berlin, im Juni 1903.
Der Verfasser.«

Nun muß schon die zweite Reihe unvollendet erscheinen. Es fehlt etwa die Hälfte der geplanten Bilder, vor allem das der »Schlucht«, zu dem eingehende Studien gemacht waren. Am 28. Januar hat das Herz zu schlagen aufgehört, das eben so tief das Leid dieser Welt empfand, wie es dankbar ihre Schönheit genoß.

Berlin, im November 1904.
Ottilie Franzos.

I. Über Heidelberg nach Straßburg

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Da sitz' ich nun seit drei Wochen zu Münster im Elsaß, kenne jeden Winkel im Nest und mindestens jeden dritten Menschen, fühle mich zuweilen wie ein richtiger Münsterer – und knapp eh' ich hierherkam, wußt' ich nur so beiläufig, daß es auch im Elsaß einen Ort dieses Namens giebt. Ohne vorgefaßten Plan bin ich ins Land, und gar nur deshalb, weil man doch irgendwo sein muß, in dies Städtchen geraten. Mich wundert das nicht, ich bin solche Art des Reisens seit Jünglingstagen an mir gewohnt. Nur darf man nicht etwa glauben, ich wäre in meiner Ferienzeit ein Blatt im Winde, das sich beliebig dahin oder dorthin wehen läßt. Planvoll reise auch ich; nur ist's eben täglich ein neuer Plan. Im Ganzen betrachtet, mag es wohl unvernünftig erscheinen, aber im Einzelnen ist's sehr vernünftig. Wie ich z. B., um nur das Letzte zu erzählen, aus einem thüringischen Waldthal plötzlich in den Vogesenwald gekommen bin, ist eine etwas verwickelte Geschichte, aber im Einzelnen eine Geschichte voll Logik und kalter Raison.

Und zwar war das so. Jenes thüringische Thal war das des Rottenbachs, wo sich die herrliche Klosterruine Paulinzelle erhebt. Nächst dem Heidelberger Schloß hat mich keine Ruine deutscher Erde so entzückt – mußt' ich da nicht ans Schloß im Neckarthal denken? Und wessen Herz wäre nicht der Sehnsucht voll, es wiederzusehen, wenn er d'ran denkt?! Nun kam aber noch etwas andres hinzu. Weil ich mir den schönen Säulenbau zwei Tage lang ansah, hielten sie mich dort für einen Baumeister, der gesendet sei, die Ruine fein wieder auszubauen, denn es wird jetzt in Deutschland so viel Geld dran gewendet, aus schönen Ruinen fragwürdige Glanzbauten zu machen, daß selbst die Bauern im Rottenbachthal davon schon gehört haben. Nun, vor mir ist ja Paulinzelle sicher, und vor wirklichen Baumeistern auch, aber von der Heidelberger Ruine ist ja leider nicht das Gleiche zu sagen.

Eine Schar amtlich berufener Architekten verkündet immer wieder, daß das Schloß unter allen Umständen ausgebaut werden müsse, und ob all' das Vernünftige, was das ganze Deutschland dagegen sagt, den Plan aus der Welt schaffen kann, steht noch nicht fest. Denn das ganze Deutschland hat hier nur eben eine Meinung, das Amt aber haben jene Herren. Wie, dacht' ich, wenn du in einigen Jahren nach Heidelberg kommst und findest den Otto Heinrichs-Bau mit blanken, neuen Giebeln, blinkenden Fenstern, einem schönen Dach, die Fassaden nur so blitzend vor Sauberkeit – ob nun mit oder ohne konservierenden Ölanstrich, aber jedenfalls so funkelnagelneu, daß du vor Wonne darüber aus der Haut fährst! Dazu drinnen statt der grauen verwitterten Säle, der zerfallenen Hallen, in die der blaue Himmel guckt, stilvolle Gemächer mit allerneuester Renaissance-Einrichtung aus den feinsten Münchener und Berliner Kunstmagazinen, auch ditto Renaissance-Öfen nach den besten Mustern, heizbare Öfen, in schöne, hohe, blütenweiße Kamine mündend, die weithin ins Neckarthal gleißen – ach, was wird das stilvoll und herzerquicklich sein! Eile dich und sieh es noch einmal so, wie du es seit deiner Jugend nun ein Dutzend Male immer mit gleichem Entzücken gesehen hast! Wer das keinen ausreichenden Grund dafür findet, daß ich von Paulinzelle in einem Zuge nach Heidelberg fuhr, dem ist mit Logik überhaupt nicht beizukommen.

Das heißt – beinahe in einem Zuge. Ich wollte es ja diesmal so machen wie die Zielbewußten, die wie ein Pfeil an ihr Ziel laufen und für Alles, was von Schönheit an ihrem Wege liegt, blind sind, aber gegen seine Natur kann kein Mensch was, und ich bleibe auf Reisen, was der alte Vischer ein »Ständlemännle« nannte, und mache Stationen. In Arnstadt zwar widerstand ich der Versuchung, statt aus einem Zug in den andern lieber ins Städtchen zu gehen und mir die schöne Liebfrauenkirche anzusehen, deren gotische Türme über dem romanischen Schiff mir vorhin verlockend ins Coupé gewinkt hatten. Auch in Oberhof blieb ich im überfüllten Coupé, obwohl die tannenwürzige Luft, die zum Fenster eindrang, sehr verständig mahnte: »Bleib' doch lieber einige Tage auf unserer schönen Höhe, statt mit sechs wohlbeleibten Zukunfts-Kissingern in stickiger Luft ins Flachland zu sausen.« Einige Stunden später aber, wo sich die Sechs längst empfohlen hatten, in Würzburg, war ich richtig draußen.

Das hatte aber seine guten Gründe; an Würzburg kann ich nie vorbeifahren. Erstlich des vielen alten lustigen Rokoko und zweitens eines mir teuren, wenn auch traurigen Menschen wegen. Über das Erste wäre, wenn ich überhaupt davon anfinge, sehr viel zu reden; ich begnüge mich also, jedem, der an diesem Stil Freude hat, zu sagen, daß er hier des Freuens gar kein Ende findet; ist er mit den großen Sachen, der Residenz und der Neumünster- und der Peterskirche fertig, so fängt erst auf Schritt und Tritt die Freude im Kleinen an, denn so unzählige schöne Sachen: Fassaden, Erker, Portale, Statuen, Kandelaber, wie man sie hier findet, mag man in Deutschland lange suchen. Hat derlei hier überhaupt einen Namen, so geht's unter dem des Tilman Riemenschneider, des großen Meisters, den sie jetzt neben Walther von der Vogelweide und Mathias Grünewald auf den Franconia-Brunnen am Residenzplatz gestellt haben; in Wahrheit ist natürlich das Wenigste von ihm und dies selbstverständlich nicht Rokoko, aber ein Tröpflein seines ehrlichen Künstlerbluts war doch in all den Steinmetzen und Holzschnitzern, die der Stadt diesen fromm-fröhlichen Schmuck geschaffen haben. Was aber jenen mir teuren Menschen betrifft, so lernte ich ihn in der traurigsten Zeit meines Lebens kennen; mit der Juristerei war's aus, und von meiner Schriftstellerei wollten die Leute noch nichts wissen; darum verdingte ich mich, um leben zu können, als Reporter und kam im Spätherbst 1874 zum Prozeß Kullmann hierher; so hieß der Böttchergeselle, der einige Monate zuvor in Kissingen auf Bismarck geschossen hatte. Der armselige verhetzte Tropf war die endlosen Telegramme nicht wert, die um seinetwillen in aller Herren Länder gingen; hatte ich meine paar tausend Worte glücklich zum Amt gebracht, so saß ich zur Erholung allein im Theater-Restaurant, bis ich einen Gefährten fand. Auch er saß immer allein hier und las an demselben Tisch dieselben Zeitungen, denn er war ein wenig pedantisch, trotz seiner jungen Jahre, hatte auch ein altes, sorgenvolles Gesichtchen, dazu einen dürftigen Rumpf und ganz kurze Beine – aber innerlich war das ein Prachtkerl: geistvoll, frisch, liebenswürdig und gut – so gut! Freilich, damals war er auch glücklich, ein junger Anwalt, dem alles gedieh, und hatte eine Braut, um die ihn viele beneideten, ein ganz armes, aber sehr schönes Mädchen. Mir wurde bang, als er mir einmal ihr Bild zeigte – die stolze, üppige, hoffärtige Schönheit schien mir schlecht für ihn zu taugen. Er war aber ja guten Muts, und so war ich's auch für ihn; weit mehr Grund hatte er zur Sorge um mich. Sechsundzwanzig war ich und hatte was gelernt, auch schon viel geschrieben – und wie weit war ich noch von einem bischen Erfolg, geschweige denn einem sichern Stück Brot. Wenige haben mich damals ermuntert und vollends keiner aus so teilnahmsvollem Herzen heraus wie er. Einige Monate später schickte er mir seine Vermählungsanzeige, und nun hörte ich an die zehn Jahre nichts mehr von ihm. Da schrieb er mir eines Tags einen langen Brief über meine Bücher – ordentlich wie ein Bruder freute er sich des bischen Sonnenscheins, das nun auf meinen Weg gefallen war. Er sitze, schloß er, noch immer allabendlich im Theater-Restaurant am selben Tischchen; ob ich nicht wieder einmal kommen und ihm Gesellschaft leisten wolle. Das fiel mir auf, er war ja verheiratet; aber erst ein Jahr darauf, als wir endlich wieder dort beisammensaßen, erfuhr ich die traurige Geschichte: nach sechs Wochen hatte ihn das schöne, schlechte Geschöpf betrogen, und er war wieder allein. Aber gut war er auch nun, im Unglück genau so wie einst im Glück, und das will was sagen. Dann war ich noch zwei Male in Würzburg, trieb mich des Tags auf den Straßen und in den Museen herum und saß abends bei ihm. Das letzte Mal hatte ich mich nicht angesagt und mein Lebtag vergeß ich nicht, wie die trüben Augen in dem früh verrunzelten Gesicht sich erhellten, als er mich beim Eintritt plötzlich dasitzen sah. So wollte ich's auch diesmal halten, sogar noch schlauer; ich setzte mich an ein anderes Tischchen in der Ecke und harrte seines Eintritts. Als es sieben geschlagen hatte, sah ich nach der Thüre, ganz verwundert, daß er nicht kam, so pünktlich war er sonst. Aber es schlug halb acht und acht, und sein Platz war immer noch leer. Da fragte ich den Kellner, ob der Doktor Soundso etwa krank sei. Darauf er: nein, dem fehle nichts mehr, der sei seit einem halben Jahr tot. »Er war ein guter Mann«, fügte er bei. Ja, das war er, und mir war er mehr ... Nun schien mir plötzlich alles lustige Rokoko in Würzburg nicht mehr lustig genug, seinetwegen allein dazubleiben, und ich ging zum Bahnhof und fuhr mit dem Nachtschnellzug nach Heidelberg.

Am nächsten Morgen war ich auf dem Schloßberg. Gottlob, der Otto Heinrichs-Bau war noch schön, auch noch eine Ruine, kein Fenster war ein- und kein Dach aufgesetzt und auf dem Dach kein schöner, weißer Kamin. Aber auf dem Friedrichsbau, da – ich traute meinen Augen nicht – da ragten wirklich die neuen häßlichen, weißblinkenden Schlote, wie ich sie bange geahnt, denn der Friedrichsbau war bereits restauriert. Freilich zum Glück nicht ganz so energisch, wie es der kühne Bauleiter geplant hatte, und – oh Jammer! – selbst die hohen weißen Schlote, die seinen Ruhm fernen Geschlechtern verkünden sollten, wurden eben geschwärzt; es mußte sein, die undankbare Mitwelt schimpft gar zu vernehmlich ... Diese Geschichte von der geschwärzten Kamin-Unsterblichkeit ist ja lustig genug, und auch sonst könnte selbst ein Philanthrop nicht ernsthaft bleiben, wenn er sich hier, auch vom Großen abgesehen, so im Einzelnen ausmalte, wie herrlich Alles aussähe, wenn man den kühnen Mann die Ruine in Grund und Boden hinein retten ließe. Die Elisabeth-Pforte z. B., wo heute der Epheu, von Menschenhand gezogen, das Gestein so schön umspinnt, daß man nirgendwo den Verfall sieht und doch den wehmutsvollen Eindruck einer Ruine hat – wie schön wird sie sein, wenn man den Epheu entfernt und mitten in das graue bröckelnde Gestein zur Ausfüllung neue Quadern setzt! Dann die Brunnenhalle mit den Syenitsäulen; die Säulen sind ja beschädigt und dürfen es sein; seit mehr als einem Jahrtausend tun sie ihren Dienst, zuerst zu Ingelheim, dann hier; oh, wie wird das herrlich sein, wenn man die Säulen Karls des Großen endlich fein glatt poliert! Was aber soll mit dem »Gesprengten Thurm« geschehen und was mit dem »Dicken Thurm«? So sehr man sonst die Verwüstung beklagt, hier preist man sie, denn so – halb in Trümmern – ist das plumpe Gemäuer unserm Blick erträglich; ausgebaut müßte es geradezu häßlich aussehen. Indes, muß jener Kühne schon ein Objekt zum Ausbauen haben, so gönnte ich ihm gern den »Dicken Thurm«, – den Otto Heinrichs-Bau jedoch müßte er fahren lassen. Aber das Projekt wird ja ernst genommen also – ein ernstes Wort. Es wäre die größte Geschmacklosigkeit aller Zeiten und eine Barbarei dazu. Freilich: »sonst« – wird gezetert – »ist die Ruine verloren«. Man muß nicht aus Paulinzelle kommen, um dies zu bezweifeln; es giebt ältere Ruinen in Deutschland, aber namentlich auch unter dem weit rauheren Himmel Englands, die prächtig erhalten werden. »Aber wir sind die Sachverständigen«, rufen uns die Herren an, »Ihr die Laien!« Nun, es giebt auch Sachverständige genug, die mit uns stimmen. Und würdet Ihr uns beweisen, daß sie nichts verstehen und Ihr Alles, Ihr hättet uns nicht überzeugt, auch dann würden wir sagen: »Wie die Götter wollen! Wir sind nur Menschen und leben auf einem Gestirn, das auch nicht ewig sein wird! Kann der Otto Heinrichs-Bau nicht als das bestehen, was er jetzt ist, die herrlichste Ruine Deutschlands, so mag er vergehen. Aber daß er zu einem mühselig verneuerten Paradigma der Kunstgeschichte, Stil: deutsche Frührenaissance, wird – und fraglich ist, ob Ihr auch nur das leisten könntet – das wollen wir nicht, davon haben auch unsere Urenkel nichts, gar nichts. Denn den Eindruck, den wir hatten, haben sie nicht, auch wenn Euer Bau wieder in Trümmer sinkt. Sucht Euch andere Stätten, unsterblich zu werden. Hier ist kein Ruhm zu holen, als der eines Melac im Erhalten!«

Es kommt aber, sagt man, zuweilen vor, daß auf Erden die Unvernunft siegt; darum freut' ich mich an jenem Tage des liebvertrauten Anblicks, als wär's zum letzten Mal, und mußte dabei immer des Tags gedenken, da ich's zum ersten Mal gesehen. Das war im Mai 1872, auf der Heimkehr von meiner ersten Reporterfahrt, die zugleich meine fröhlichste geblieben ist, von der Eröffnung der Straßburger Hochschule – ein wunderschöner Lenztag, Sonnenschein und Finkenschlag überall, auch im jungen, damals noch so tapferen Herzen. Das Gemüt hat ein gutes Gedächtnis, ein besseres als die Augen – ich wußte, während ich nun mit ergrauendem Haar dieselben Pfade ging, noch ganz genau, wie damals Alles war. Der Friedrichsbau war noch nicht so fein zugestutzt wie jetzt, und die städtische Altertümer-Sammlung, die schon drin war, gehörte noch einem Herrn v. Graimberg, aber die Ruine war dieselbe geblieben, ja sogar der Text, mit dem die Aufseher ihre Herde während des Dauerlaufs von einem Saal in den andern erbauten; und vor dem hölzernen Perkeo neben dem großen Faß hörte ich, weiß der Himmel, dieselben Witze wie einst. Auch die Kutscher vorm Schloßthor neckten sich nicht feiner, und die Fremdenführer waren nicht bescheidener und die vielen ältlichen Engländerinnen nicht dicker und schöner geworden. Dann ging ich weiter, auf die große Terrasse, und fand auch hier das Bild kaum geändert. Unten die liebe alte Stadt, zwischen Berg und Fluß geschmiegt, zwischen dem ehrwürdigen Grau viel Rot der Dächer und Grün der Bäume, dann die beiden Neckarbrücken und auf dem Fluß kein Kahn – der alte Matthäus Merian, der 1620 das Landschaftsbild in einem herrlichen Stich festgehalten hat, war ein Phantast, als er hier eine ganze bewimpelte Flotille anbrachte, aber alles andere gab er treu wieder; auch das langgestreckte, niedrige Inselchen hat noch keines seiner Eckchen verloren. Nur kann man hier heute daneben Vieles sehen, was selbst vor dreißig Jahren noch nicht da war, geschweige denn zu dieses Künstlers Zeiten: unten die elektrische und den Berg empor die Drahtseilbahn und mehrere Fabrikschornsteine, die fleißig qualmen. Aber wenn der brave alte Merian darüber Neid empfindet, so mag er sich trösten; dafür hat er das Schloß ganz gesehen ... Als ich vor 30 Jahren hier stand, trat ein kleines, altes, dürftiges Männlein auf mich zu und hielt mir ein langes schwarzes Ding hin und fragte mit zitterndem Stimmchen, ob ich nicht Mannheim sehen wollte, es koste nur einen Groschen. So viel war mir Mannheim wert, und ich guckte hinein, sah aber den Dunst der Ebene und sonst nichts. Und jetzt – mir wurde ganz sonderbar zu Mut – sagte plötzlich neben mir die dünne, zittrige Greisenstimme: »Wolle Se net bis Mannem sehe; 's kost nur zwei Grosche« – und er war's und hielt mir das lange schwarze Ding hin. Nun, es wird wohl ein anderer gewesen sein, aber der Erinnerung wegen und weil ich die Verdoppelung des Preises während eines Menschenalters bescheiden fand, guckte ich hinein, sah aber wieder nichts als Dunst. Und aber nach dreißig Jahren – aber was red' ich da – ich bin nicht Chidher, der ewig junge, leider nein!

Als ich vom Aussichtspunkt weiter ging, stieß ich auf etwas, wovon damals selbst wir jungen Leute, die den Dichter so verehrten, uns nicht träumen ließen, auf das Scheffel-Denkmal. Kein Wunder, er war noch in unserer Mitte, frisch und rüstig, kaum sechsundvierzig – in Straßburg hatte ich ihn eben zum ersten Mal im Leben gesprochen. Am 1. Mai 1872, beim Festmahl im großen Saal der »Reunion des Arts«, flüsterte mir der junge Gelehrte, der neben mir saß und auch eine Zeitung bediente, Professor Woltmann aus Karlsruhe, zu: »Das ist Scheffel!« Eine derbe, festgefügte Gestalt mit lebhaft gefärbtem Gesicht; etwas Ursprüngliches, Eckiges war in der ganzen Erscheinung; man hätte auf einen Förster im ungewohnten Frack raten mögen. Dem widersprach freilich bei näherem Besehen der sinnende Ausdruck der Züge, der verschleierte Blick; er sah doch aus wie das, was er war, ein Dichter und Träumer. Er saß an derselben Tafel wie wir, uns schief gegenüber; in den Pausen, wo ich nicht stenographieren mußte, guckte ich immer nach ihm, er sprach wenig, trank aber fest. Das Mahl währte mächtig lange, und geredet wurde mächtig viel; da erhob sich Scheffel und begann auf und nieder zu gehen, trat auch an Woltmann heran, den er kannte. »Viele rede«, hörte ich ihn sagen, »einige schwätze sogar.« Da begann wieder einer, wohl auch ein Schwabe – »Schwingt den Hammer des deutschen Geischtes, schwingt bisch der Mantel schpringt!« zitierte er; der deutsche Kern in seinen elsässischen Landsleuten sei nur durch eine »Chruschte« verhüllt. Ein Elsässer also – aber wie hieß er? Ich wandte mich an meinen Nachbar zur Linken, einen preußischen Professor: »Bitt' schön, wer ist das?« – er wußte es nicht. Darauf Scheffel, der hinter mir stand: »Graf Dürckheim-Montmartin«, und dann neckend: »Bitt' schön, wohl ein Österreicher?« Ich bejahte, worauf er: »Studente oder Schurnaliste?« – »Beides«, antwortete ich. – »Na, wenn nur da der Eine den Andern nit totschlägt!« Nun, etwas von Beiden bin ich dann doch mein Leben lang geblieben, obwohl ich ein Drittes wurde.

An diese Stunde dachte ich, als ich vor seinem Denkmal stand. Mir hat's im ganzen sehr gefallen und der starke Realismus, den Andere tadeln, hat mich nicht gestört. Der Künstler, Adolf Heer, hat Scheffel stehend hingestellt, als Wanderer, der eben wieder einmal ins Neckarthal will, das zu seinen Füßen liegt: in hohen Stiefeln und Lodenrock, die Reisetasche umgehangen, den Schlapphut in der Hand. Diese Tasche ist aus altem Leder und hat verschlissene, verbogene Ränder, der Loden ist gleichfalls arg abgenutzt, auch für den Schlapphut aus Filz gäbe kein Trödler fünf Groschen, und die Stiefel sind zwar ganz, aber ausgetreten und miserabel geputzt. Ich gebe zu, derlei, wie es Heer gethan, in Erz nachzubilden, gehört gewiß nicht ins Gebiet der großen Kunst; meinetwegen mag man's eine virtuos durchgeführte, aber nicht ganz geschmackvolle Spielerei nennen. Darauf jedoch kommt es ja nicht an, sondern auf den Eindruck der Gestalt: sie ist in der Haltung vortrefflich und charakteristisch die Züge – Scheffel ist hier allerdings jünger dargestellt, als ich ihn gekannt habe – sehr ähnlich, namentlich jener sinnende Ausdruck prächtig herausgearbeitet. Die Reliefs hingegen sind nur eben leidlich, eines, »Jung Werners Ausritt« nicht einmal dies: mit verhängten Zügeln sprengt der Reiter in einen Baumstamm und die scharfe Umrandung des Reliefs herein; man denkt unwillkürlich: O weh! im nächsten Augenblick wird's dem armen jungen Menschen übel ergehen.

Ich ging weiter, fuhr dann zur »Molkenkur« empor, fand oben sogar Bekannte, mit denen ich lange plauderte, aber die alte Zeit ließ mich nicht wieder los. Was waren das für herrliche Tage im grauen, winkligen, damals noch halb zerschossenen Straßburg, herrlich und dabei der seltsamsten Eindrücke voll. Vor meinen Augen stand wieder das Münster, das sie eben zurechtflickten, und der Schloßhof mit dem Zeltdach, wo sie die alte Hochschule zu neuem Leben weckten, und der breite Broglieplatz, wo uns die Straßburgerinnen in Trauerflor vor die Füße spieen, wenn sie uns deutsch reden hörten ... Wie sah die Stadt nun aus und welcher Geist lebte in ihr?! Zweimal hatte ich seitdem auf der Reise von Berlin in die Schweiz hier übernachtet, das war alles – und auch diesmal hatte mir dunkel vorgeschwebt, mich auf einen Schweizer Berg zu setzen, wenn mir nichts Besseres einfiele. Nun aber wußte ich Besseres, noch mehr – nach Straßburg, das war das einzig Vernünftige, das mußte sein.

Wär's nicht Heidelberg gewesen und schönes Wetter, ich wäre sofort gegangen. Im Sonnenschein von Heidelberg zu scheiden, ist ganz unmöglich. Am dritten Tage jedoch regnete es – und da fuhr ich nach der »wunderschönen Stadt«.

Aber so jung und enthusiastisch ich war, als ich Straßburg zum ersten Mal sah, mit dem Beinamen des Volkslieds könnt' ich's nicht nennen. Wunderschön erschien mir nur das Münster, schön einzelne Kirchen und Häuser, das Stadtbild aber merkwürdig, überraschend, sogar ergreifend, nur eben nicht schön. Zunächst begriff man's gar nicht; zweihundert Jahre war Straßburg bei Frankreich gewesen, und sah noch so deutsch, so urdeutsch aus, wie wenige Städte im Herzen des Reichs. Die engen, krummen, winkligen Straßen mit den unzähligen Sackgäßchen und Durchgängen, die langen Reihen alter grauer Giebelhäuser, die einen mit durchgehenden Erkern, die andern ein Geschoß über dem andern vorspringend, daß die Straße unten eng genug, das Band des Himmels über ihr gar nur ein schmaler Streifen war; die uralten »Lauben«, überdeckte, durch Bogen und Pfeiler von der Straße geschiedene Gänge, in denen die Kaufläden lagen; die unzähligen Wahrzeichen über den Hausthüren, Inschriften, fromme und derbe Bildchen, wohin man blickte – dies alles gab das Bild einer kleinen alten Stadt jenseits des Rheins, in Schwaben oder der Pfalz, nur daß es hier eben sehr viele Straßen, sehr viele Häuser und sehr viele Menschen gab; gleichsam eine große Kleinstadt, auch darin, daß einem unwillkürlich die ungeheure Menge von Lädchen und das Fehlen großer Läden auffallen mußte, die Unzahl von Handwerksschildern und der Mangel an Fabriken. Daß man eine altberühmte Stadt von über 80 000 Einwohnern durchschritt, merkte man außer dem Münster und einigen andern stolzen Bauten nur daran, daß die Häuser offenbar überfüllt waren; die Stadt war eben durch die Wälle eingeschnürt, die Häuser der Krämergasse rückten dem Münster hart an den Leib; nur auf dem Broglieplatz gab's etwas Luft und Licht. An eine französische Provinzstadt aber erinnerte nichts als, selten genug, ein Denkmal oder ein Haus und auf Schritt und Tritt nur die Sprache vieler Leute.

Ja, viele waren's, aber doch nur eine nicht allzu stattliche Minderheit. Die unteren Sechzigtausend, vom Kleinbürger bis zum Arbeiter, sprachen nur ihr »Dütsch« und einige Brocken französisch; die mittleren Neunzehntausend sprachen zu Hause dütsch, untereinander deutsch oder französisch, wie's eben kam, auf der Straße aber, wenn ein »Schwow« in Hörweite war, immer französisch; die obersten Tausend nur mit dem Gesinde dütsch, sonst stets französisch. Das Hochdeutsche war nur einem winzigen Häuflein strenggläubiger Protestanten (neben dem Französischen) Umgangssprache; der ungeheuren Mehrheit war es eine fremde, aus ihrem »Dütsch« heraus freilich nicht leicht verständliche, jedoch verhaßte Sprache. Aber die Sprache allein charakterisiert ja den Menschen nicht, sondern auch sein Typus, und das waren urdeutsche Leute; natürlich keine reinblütige Rasse – und gab' es die?! – aber eben Mischlinge zwischen Germanen und Kelten, wie so vieler ihrer Vettern in Süddeutschland; romanisches Blut war nicht in ihnen; man hätte sie nicht bloß hier, sondern auf jeder Insel der Südsee und nun gar in Paris als Deutsche erkennen müssen ...

Das war der Gegensatz, der einem damals je nach der Weltanschauung so tragisch oder so komisch erscheinen, aber jedenfalls in Auge, Gemüt und Phantasie dringen mußte: diese urdeutschen Leute in der urdeutschen Stadt waren von kochendem Haß gegen alles Deutsche erfüllt. Auch dies war auf Schritt und Tritt zu erkennen. Der Haß äußerte sich so drastisch, oft auch so kleinlich, daß man immer wieder darüber lächeln mußte, aber die Gründe der Erscheinung gaben ihr den Stempel des Tragischen. Eben die richtige Tragikomödie: die Elsässer haßten Deutschland, weil sie so echte Deutsche waren, weil Trotz und Treue so tief im deutschen Volksgemüt wurzeln. Noch sah man damals die Spuren der sechswöchigen Belagerung: das Münster beschädigt, die »Aubette« mit ihren Gemälden und Skulpturen, die »Neue Kirche« mit der Stadtbibliothek, das Theater und die Präfektur Ruinen, das Viertel ums Steinthor ein Trümmerhaufe. Ich war von Wien her an einen Straßburger Prediger, einen Elsässer empfohlen, der damals seiner Deutschfreundlichkeit wegen bei den eigenen Landsleuten geradezu verfehmt war; er war beim Kommers mein Tischnachbar; als nun ein junger Redner meinte: die Elsässer würden sehr bald das milde Licht der deutschen Wissenschaft schätzen lernen, flüsterte mir dieser Mann bitter zu: »Feuerbomben geben einen noch grelleren Schein, der blendet für lange – und gar so finster war's bei uns früher auch nicht.« Auch daran lag's – das Elsaß hatte sich als Provinz eines Kulturstaats, wie es Frankreich so lange, eines so mächtigen Staats, wie es bis 1870 war, wohl befunden. Aber nicht daran allein, auch die Treue sprach mit. Als Straßburg, vom kurzsichtigen Kaiser um seines Lutherglaubens willen bedrängt, vom Reich verlassen, sich 1681 Ludwig XIV. ergeben mußte, »weil«, wie es in der letzten Resolution des Rats mit dem Lakonismus der Verzweiflung hieß, »vor diesmahl kein Mensch es retten wolle und könne«, da machte es zweifellos einen guten Tausch: es war des Verbands mit einem besiegten ohnmächtigen Staat ledig und kam an einen siegreichen starken Herrn. Dennoch war der »Welsche« durch länger als ein Jahrhundert ein Fremder, ja, ein Feind; noch 1789, wo sie endlich reden durften, stellten die Vertreter des Elsaß die Forderung, als »wirklich fremde Provinz« der Blutsteuer überhoben zu sein und sich selbst zu verwalten; erst im Gluthauch der großen Revolution schmolz es mit Frankreich zusammen. Und nun, wo sie politisch so gute Franzosen geworden, wie sie bis 1681 gute Deutsche gewesen, mußten die Elsässer wieder tauschen, und abermals war's ein guter Tausch; das starke, siegreiche Deutschland hatte mehr zu bieten als das zerrüttete, besiegte Frankreich, aber der »Schwow« war ein Fremder, ein Feind; sie empfanden nach 1870 wie einst nach 1681. Die Frage war nur: wie lange? – und wann wurden sie wieder gute Deutsche?!

In der Stimmung jener Festtage hörte man sehr optimistische Antworten, aber Moltke meinte, erst nach einem halben Jahrhundert werde man da Freudiges erleben. Nun waren's erst dreißig Jahre – wie stand's jetzt darum? Und welche Wandlungen hatte das Stadtbild erfahren?!

Die alten Erinnerungen aufzufrischen und mir Antwort auf diese Fragen zu suchen, war ich nun in Straßburg. Aber das Erste gelang mir besser als das Zweite, und die Wandlung im Stadtbild wieder ist leichter zu fassen als die in der Volksstimmung. Zudem bin ich nur vier Tage dort geblieben. Die Facetten-Augen der Insekten, sagen die Naturforscher, sehen im Fluge besser als in der Ruhe, aber mit unsern Menschenaugen ist's anders. Und darum bescheide ich mich und will im nächsten Aufsatz nur anspruchslos einige Eindrücke geben.

II. Alt- und Neu-Straßburg

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Berlin ausgenommen, kenne ich keine Stadt im Reich, die sich seit einem Menschenalter so gewandelt hätte wie Straßburg. Aber Berlin ist nur eben aus einer unhistorischen, großen, armen eine ebensolche riesige, reiche Stadt geworden; der Grundcharakter ist derselbe geblieben. Anders hier; das alte, nicht überall schöne, aber im Charakter merkwürdig einheitliche Straßburg ist heute ein Gemisch von Alt und Neu; daneben ist im Norden und Osten eine gewaltige, im guten wie im unguten Sinn des Worts moderne Stadt erstanden; mehr als den Namen haben beide nicht gemein.

Natürlich galt mein erster Gang dem Münster. Noch ragt es »herrlich wie am ersten Tag«, trotz der Buntheit im Stil an Schönheit der einzelnen Teile an malerischem Reiz von keinem Dom der Welt übertroffen; noch übt das Innere durch die Größe und den Adel aller Maße, den rosigen Ton des Vogesensandsteins denselben licht-feierlichen Eindruck; noch ist der krähende Hahn der astronomischen Uhr um Mittag die Wonne aller Fremden und Taschendiebe; noch immer überblickt man von der Plattform ein gewaltiges Stück deutscher Erde. Aber das Stadtbild unten ist ein verändertes; in dem einstigen eintönigen Grau der Altstadt schimmert viel neues Weiß; wo sich einst gegen Osten der Festungswall erhob, hinter ihm das kahle Feld dehnte, gleißt nun im Sonnenschein eine Stadt wie von lauter Paläster; der Wall ist gesunken, aber weit draußen ragt auf mehr als eine Meile Entfernung ein neuer, von einem der vierzehn Riesenforts zum andern gespannt; Straßburg ist noch immer, nun erst recht, eine gewaltige Festung. Liebevoll wird das Münster erhalten und neu geschmückt: das Kreuz über der Turmlaterne, das ein Schuß 1870 schief legte, ragt längst wieder aufrecht; der Vierungsturm ist stilvoll abgeschlossen, das Chor mit hübschen Fresken geziert. Freilich, die häßlichen Arkaden unten sind noch nicht beseitigt, die alten Häuser dicht vor der Fassade stehen auch noch. Dicht daneben steht das einst schönste Wohnhaus Alt-Straßburgs, das Kammerzellsche Haus. Als ich es zuerst sah, war das Fachwerk über dem steinernen Erdgeschoß morsch und verwittert; wie eine ehrwürdige Greisin mutete es an, auf deren feinen Zügen doch noch ein Abglanz der einstigen Schönheit liegt. Heute gleicht es seinem Urbild, wie etwa das Liebesduett in einer Oper dem wirklichen Zwiegespräch eines zärtlichen Paars; die alten Fresken am Holzbau sind schrecklich schön erneuert und obendrein das Erdgeschoß bemalt – von Geschäfts wegen, denn was vor einem Menschenalter ein verfallendes Patrizierhaus war, ist nun eine »stilgerecht« hergestellte »altdeutsche« Kneipe. So verkündet das Haus heute nicht so sehr, wie die Inschrift über der Tür besagt, »in erneuter Pracht Alt-Straßburgs Herrlichkeit und Macht«, als vielmehr die traurige Wahrheit, daß alles seine Zeit hat und der Tod zumeist besser ist, als unwürdiges Leben ...

Dann suchte ich die Stätten der unvergeßlichen Feier von 1872 auf. Das alte Bischofsschloß, damals die Universität, steht noch, wird aber nun für das städtische Museum eingerichtet; wie einst, roch's auch heute hier nach frischem Mörtel. Ich trat in den Hof; hier, unter einem Zeltdach, fand die feierliche Eröffnung statt; hier hielt Anton Springer die Festrede, trotz seines deutsch-böhmischen Dialekts die wirksamste, die ich je im Leben gehört habe, dabei in der Zeitdauer so sorglich ausgerechnet, daß bei den Schlußworten: »Möge der Geist der Wahrheit, die Liebe zum Vaterlande nie aus diesen Räumen weichen! Das walte Gott!« die Mittagsglocken des nahen Münsters einfielen, ein Effekt ohne gleichen. Heute sind hier alte Römersteine aufgestellt; einige Herren, die sie besahen, sprachen »dütsch«, als ich näher kam, französisch ... Dann suchte ich das große Haus neben dem früheren Bahnhof auf, wo wir nach der Rückkehr vom Odilienberg am 2. Mai 1872 beim Kommers Scheffels Festlied zuerst gesungen hatten: »Stoßt an drum; Neustraßburg soll leben – Als Straße für geistfrisches Streben – Als Burg der Weisheit am Rhein!« Aber der Bahnhof war eine Markthalle geworden, und das Haus stand nicht mehr; an seiner Stelle erhebt sich die neue Synagoge ... Und als ich den alten, behaglichen Luxhof aufsuchen wollte, wo wir allabendlich gekneipt hatten, da fand ich ihn nicht mehr, er war abgebrannt. Dreißig Jahre! Und wie viele von den Jünglingen, die da mit mir um den kleinen, runden Tisch gesessen, waren nun schon tot. Besonders um einen that's mir leid, einen frischen, lieben, begabten Menschen; hier wurden wir Freunde und blieben es bis zu seinem frühen Tod; Carl Caro hieß er, der Dichter des einst oft aufgeführten Lustspiels »Die Burgruine« und einiger übermütiger Lieder, die noch heut gesungen werden, ohne daß die Leute seinen Namen wissen; am Tisch des »Luxhof« hat er sie uns zuerst vorgesungen. Dreißig Jahre! ... Ganz betrübt ging ich nach der Thomaskirche, wo ich einst eine vortreffliche Festpredigt angehört hatte, und dort endlich konnte ich wieder lächeln. Nicht über das einfache, uralte Kirchlein, auch nicht über das schöne Mausoleum, das seine größte Sehenswürdigkeit ist, aber über die Erklärungen des Sigrists; sie waren noch aufs Wort dieselben, über die Caro und ich einst Thränen gelacht hatten. »Dieses ist das hoch berühmte Mausoleum für den bekannten Marschall Moritz. Er wird von Sachsen genannt, weil ein starker sächsischer König und eine sächsische Gräfin, die ihrer Schönheit wegen Aurora oder Königsmark hieß, seine Eltern waren, aber er war Marschall von Frankreich. Sie sehen, wie er hier traurig die Treppe hinuntergeht, denn unten rechts steht ja leider schon der Tod und öffnet den Sarg, wo er sogleich hinein muß. Die Dame oben rechts, die ihn zurückhalten will, ist das Königreich Frankreich, und der große nackte Herr unten links, der sich betrübt auf seine Keule stützt, ist ein starker Römer, der sich Herkules geschrieben hat, denn dieser Moritz war auch stark.« Dann vor einer andern Sehenswürdigkeit: »Dieses ist der steinerne Sarg des Bischofs Archilochus aus dem IX. Jahrhundert. Weil dies aber eine protestantische Kirche ist, so sage ich ihnen: er war Katholik.« Das Merkwürdige ist nun, daß der Mann, wenn er die Schaustücke seinen Landsleuten »dütsch« oder französisch expliziert, keinen Unsinn schwatzt. Offenbar handelt es sich um eine nach der Eroberung von 1870 zu Geschäftszwecken (es wird Eintrittsgeld erhoben) hastig, vielleicht von einem Schalk hergestellte, hochdeutsche Übersetzung, die nun ein Kirchendiener nach dem andern memoriert. In Erinnerung war mir noch die Erklärung der trauernden Frauengestalt vor dem Denkmal des Professors Jakob Oberlin, weil sie Caro immer zitierte: »Diese Dame ist nicht die Frau Professorin, sondern die Wissenschaft; man erkennt es daran, weil sie so sehr trauert.« Nur in einem hatte sich der Text gewandelt. In einem der Kirchengewölbe wird auch unter Glas und Rahmen die Mumie eines Mädchens aufbewahrt: »Dieses ist die Tochter des Herrn Grafen von Nassau, sie war zwölf Jahre alt. Vor 1870 hatte sie noch Haare auf dem ganzen Kopfe, damals sind sie ihr ausgefallen.« Damals hieß es »vor 1848« und hatte also ein stumpfes Spitzchen gegen die Revolution: jetzt scheint fast eins gegen die Annexion daraus geworden ...

Den Eindruck, daß das letzte Menschenalter das Stadtbild gründlicher gewandelt hat, als die vier oder sechs, die ihm vorangegangen sind, hat man überall. Es sind dieselben Straßen mit denselben Namen, aber bis zur Unkenntlichkeit gewandelt. Wer vom Schloß die Ill entlang geht bis zur »Gedeckten Brücke« hin, mag, wenn er die Ufer übersieht und in die Gäßchen zur Rechten und Linken hineinguckt, getrost glauben, man schreibe etwa anno Domini 1620, wo eben die Furia des Glaubenskriegs losgebrochen; das Auge hat da größere Wonne, als an heißen Augusttagen die Nase, das ist wahr, aber malerisch und merkwürdig ist der Anblick. Und Ähnliches sieht man noch in manchen krummen Gäßchen der Altstadt; nur ist derlei heut die Ausnahme, während es 1872 die Regel war, und die Regel ist heute ein Gemisch von Alt und Neu. Das ist an sich natürlich; noch mehr, es ist höchst erfreulich, daß so zahllose Neubauten mitten zwischen den Giebelhäusern stehen oder sie ganz verdrängt haben; das deutet ja auf Thatkraft, Wohlstand, jähe Entwicklung, rasche Zunahme der Bevölkerung. Die Seelenzahl hat sich seit 1870 nahezu verdoppelt (nun etwa 160 000), der Sterblichkeitsziffer aber von rund 30 pro Tausend auf rund 22 verringert. Wahrlich, das sind Zahlen, die einen den Verlust von tausend alten Häusern verschmerzen ließen! Zudem sind die Kirchen und öffentlichen Bauten fast sämtlich erhalten; außer den schon erwähnten die Alt-St. Peters- und Wilhelmerkirche, das uralte Münsterlein St. Stephan, das Schloß, das schöne, vom Schöpfer des Heidelberger Friedrichsbaus erbaute »Hotel du Commerce« u. s. w., dazu manches stattliche alte Patrizierhaus. Aber dies Alte ist wunderschön, oder doch hübsch und zum mindesten malerisch, und das Neue ist zumeist unhübsch und nüchtern – dies allein finde ich bedauerlich und meine, daß es sich leicht hätte vermeiden lassen. Die Nürnberger z. B. haben es vermieden; sie reißen nun auch die alten, dumpfen Häuser nieder und bauen neue, luftige auf, aber in einem Stil, der, ohne die alten Muster sklavisch zu kopieren, doch gleichsam die Ehrfurcht gegen die greisen Nachbarn wahrt und den Charakter des Stadtbilds nicht zerstört. Hier ist das geschehen; die Neubauten zeigen alle erdenklichen Stilarten und -Unarten, die meisten sind nüchterne Häuser mit etwas protzigem Schmuck oder auch ohne solchen. Die Einheitlichkeit des Stadtbilds von 1870 ist dahin; geht das hier noch ein Menschenalter ebenso fort, dann wird diese Altstadt eine völlig uncharakteristische »moderne« Stadt sein, in der sich die Gotik des Münsters und die Renaissance des »Hotel du Commerce« seltsam ausnehmen werden.

Natürlich hat sich auch das Leben gewaltig verändert. Noch giebts hier vielleicht mehr Handwerker und Krämer als anderwärts, aber ein Wahrzeichen der Stadt ist ihre Zahl nicht mehr, und man findet sie nur noch in den engen krummen Gäßchen, nicht, wie einst, in den Hauptstraßen. Dort giebt's große Bazare, dort stattliche Niederlagen von Kleider-, Stiefel-, Wäsche- und Möbel-Fabriken, dort große Bierlokale und moderne Weinstuben; in den Gäßchen aber führen die armen Meister seufzend die Nadel, den Pfriem oder den Hobel, oder führen ihn auch nicht, sondern jammern mit dem Nachbar-Krämer über die neue, schlechte Zeit, wenn sie nicht eben in den kleinen Wirtsstübchen ihren Kummer und Zorn vertrinken. Es ist dieselbe Erscheinung wie überall, nur hier stärker sichtbar als anderwärts, weil Straßburg die Entwicklung von der altbehaglichen Kleinbürger- zur modernen Handelsstadt so jählings durchgemacht hat. Die Stadt ist heute wohlhabend, nicht allein durch die guten Grundstückgeschäfte mit dem Reichsfiskus, sondern auch durch die wachsende Steuerkraft der Bewohner. Straßburg ist der Hauptstapelplatz der Reichslande für Getreide; Weizen und Hafer wird importiert, Gerste und Hopfen exportiert; die Tabakmanufaktur, die Bierbrauerei, der Blumen- und Gemüsebau, die Schuh- und Kleiderfabrikation blühen; für die berühmten Gänseleberpasteten fließen jährlich etwa drei Millionen Mark in die Stadt. Auch ist sie nicht, wie einst befürchtet wurde, in sinkendem, sondern in steigendem Maße der Vermittler zwischen dem deutschen und dem französischen Handel und wird es erst recht werden, wenn der neue Rheinhafen ausgebaut ist. Dazu das viele, viele Geld, das die starke Garnison, das Beamtenheer, die blühende Universität in die Stadt bringen. Kurz, den Straßburgern geht's heute gut, aber sie rühren sich auch wacker. Welches Hasten in den Straßen! Nicht allein der anstellige, bewegliche Volkscharakter, auch die eiserne Notwendigkeit hat aus dem »Strosburjer Stekelburjer« (Pfahlbürger, wie die Kleinbürger im Gegensatz zu den Patriziern hießen) einen hastenden Großstädter gemacht. Die »verd- Prüße«, die »verfl- Schwowe« gründeten Fabriken, errichteten Bazare und Niederlagen; das Schimpfen nützte nicht dagegen; da machte man's ihnen endlich nach. Freilich – das sagte mir Jedermann – so rastlos wie im Ober-Elsaß wird hier nicht gearbeitet; bei den eigenen Landsleuten steht der Sohn der »wunderschönen Stadt« im Ruf der Gewandtheit, aber auch der Lässigkeit.

Da ist mir das geflügelte Wort wieder aus der Feder geglitten und es paßt doch heut' noch weniger als vor dreißig Jahren. Das gilt auch von den Denkmälern der Stadt, die älteren sind besser als der Nachwuchs. Davids »Gutenberg« (in Straßburg soll seine erste Presse gestanden haben) ist freilich kein Deutscher, sondern ein Franzose, aber doch eine gute Statue; eine stille stolze Entdeckerfreude liegt auf dem Antlitz: »Et la lumière fut«, sagt nicht bloß die Inschrift, sondern auch dieser Ausdruck der Züge. Fein und vornehm wirkt auch das Bronzestandbild Lezay-Marnesias, des besten französischen Präfekten, den Straßburg je gehabt hat, und zum mindesten höchst charakteristisch ist ein anderes Werk desselben Künstlers, Graß, das Kleber-Denkmal am gleichnamigen Platz – ohne Spur von monumentaler Ruhe und Größe, die Sphinx zu Füßen des Generals eine hübsche, aber sehr kokette Französin, die Hauptgestalt voll Pose und das Ganze doch voll Verve; ein redender Beweis, was in der französischen Bildhauerschule des XIX. Jahrhunderts an Gutem und Schlechtem zu lernen war. Nebenbei bemerkt, was alles kann dieser Kleberplatz dem Beschauer erzählen! – hier schlug einst Eulogius Schneider mitten zwischen den uralten Häusern der alten Reichsstadt, die noch wenig von Frankreich wissen wollte, die Guillotine auf und ertränkte den Widerstand der Patrizier in Strömen von Blut; hier, auf dem »Paradeplatz« zettelte Napoleon der Kleine 1836 seinen bald darauf kläglich endenden Putsch an, hier hielt er als Kaiser Heerschau über seine Bataillone; heut' ist's die Stätte rastlosen Lebens, wo sich alle Straßenbahnen kreuzen; in den Anlagen aber, die üppig aus dem blutgedüngten Boden aufsprießen, finden sich des Abends unzählige Liebespaare zusammen, als gelte es heut' die Lücken zu ersetzen, welche die Guillotine einst in die Zahl der Bewohner gerissen hat.

Und die neuen Denkmäler? Fast gilt von ihnen, was man in meiner Jugend von den Wiener Dramatikern sagte: »Gottlob, es sind nicht viele!« Der »junge Goethe« ist ja noch nicht sichtbar, aber das alte Haus auf dem Fischmarkt, gegenüber dem Kittelgäßchen, wo er beim Kürschner Schlag wohnte, haben sie mit einem sonderbaren Medaillonbild geschmückt; es zeigt den Jüngling von sonniger Schönheit als einen unhübschen, langnasigen, melancholischen Menschen. Der Straßburger Litterarhistoriker Froitzheim hat das Haus festgestellt – heut' ist ein »Magazin populaire« drin, ein Fünfzig-Pfennig-Bazar. Hätte Goethe so ausgesehen, die arme, schöne Friederike von Sesenheim hätte nicht ihr Herz an ihn verloren und wäre auch von den seltsamen Forschungen des Herrn Froitzheim über ihre Sittlichkeit verschont geblieben. In der Züricher Straße haben sie einen Brunnen mit der Büste Johann Fischarts hingestellt; ich habe mir die Züge des genialen Straßburger Satirikers eigentlich geistreicher gedacht, aber das steht dahin. Eins jedoch weiß ich: dieser Renaissancebrunnen ist so gemacht, wie jenes Bild des antiken Malers, der von dem einen Modell das schönste Ohr, vom andern die schönste Nase u. s. w. kopierte und dennoch ein fragwürdiges Kunstwerk zusammenbrachte; hier sind mit gleichem Enderfolg alle schönen Brunnen Deutschlands benutzt ... Viel größer noch ist ein Brunnendenkmal am Weinmarktplatz mit den Bildnissen der drei deutsch-elsässischen Dichter Ehrenfried, Adolf und August Stöber. Als ich in den Zeitungen davon las, freute ich mich darüber, denn das waren drei tüchtige Männer und begabte Dichter: Ehrenfried Stöber (1779-1835), der »Eckstein deutschen Wesens im Elsaß«, als Verfasser des Lustspiels in Straßburger Mundart »Daniel« wie als Schilderer heimischer Zustände für seine Landsleute vorbildlich, sein älterer Sohn August (1808-1884), der getreue Sagensammler und Balladendichter der Heimat, der jüngere Adolf (1810-1892), ein feiner Lyriker von edlem, sicherem Nationalgefühl. Auch fand ich's einen hübschen Gedanken, daß man das Denkmal auf dem alten Platz errichtete, wo ihr Familienhaus steht. Aber als ich nun vor dem Denkmal stand –, da freute ich mich wirklich viel, viel weniger.

Auf dem Heimweg vom Stöberdenkmal stieß ich auf ein altes Wahrzeichen Straßburgs, den »Ysere Ma«. Es ist die Erzfigur eines Gewappneten mit Lanze und Schwert, die einst ein Schwertfeger als Schild hoch oben an sein Haus stellte. Ich wäre vermutlich vorbeigegangen, ohne das Wahrzeichen zu bemerken, doch zeigte es eben ein Straßburger Bürger einem Vetter vom Lande; so sah ich's mir denn auch an und fragte den Straßburger, ob sich eine Sage d'ran knüpfe. »Excusez – weiß nix d'rvun«, erwiderte er mit höflichem Bedauern; es giebt thatsächlich keine solche Sage. Dann aber stach ihn der Haber, dem »Schwowe« eins auszuwischen. »Letschte Oschtere«, erzählte er dem Vetter, »isch üns' liewe Ysere Ma üs Paris heimkumme; da isch er uf d'r Exposition universelle gsi; er hat dort groß Sückzeß g'hett. Nadirli packt d'Berliner glych 's Schalusitätsfiewer (»Jalousietäts-Fieber«) un sie wollen ihn partout a kreije (kriegen). Awer m'r saaue (sagen): s' isch uns zu viel Ehr', sie müsschte sie gedulde, bis daß' emol grün schneit.« Die Beiden wollten sich ausschütten vor Lachen und auch ich war nicht betrübt. Wer eben vom Stöber-Denkmal kommt, weiß, daß es unter den Elsässern selbst in Zeiten, wo dies an den Kragen ging, gute Deutsche gegeben hat; nun gar, dacht' ich, wird alles kommen, wie es kommen muß. Zudem hatte der schalkhafte Mann mir zu Ehren die letzte Redensart unvollständig wiedergegeben, denn die vernünftigen Leute hier zu Lande pflegen zu sagen: »Biß daß a mol grün schneit, oder d' Franzose wieder kumme.«

Es wird auch im Elsaß alles kommen, wie es kommen muß; die deutschen Elsässer können und werden in dem für immer deutsch gewordenen Lande nicht ewig im Schmollwinkel stehen, und dann wird auch die soziale Kluft, die heute das Alt-Straßburg der Bürger vom Kaiserlich deutschen Neu-Straßburg trennt, sachte ausgefüllt sein. Heute besteht sie noch, und es ist kaum zu sagen, ob die alte und die neue Stadt, die denselben Namen tragen, sich mehr durch die Gesinnung ihrer Bewohner oder durch ihre Architektur von einander unterscheiden.

Wie aus der Erde gestampft ist dieses Neu-Straßburg in den letzten zwanzig Jahren emporgewachsen: prunkende Paläste, riesige Wohnhäuser, ungeheure Kasernen an breiten, schnurgeraden Straßen und höchst regulär abgezirkelten Plätzen, dazwischen moderne Kirchen und neue Anlagen, kurz eine jählings auf Kommando entstandene Stadt. Aber nicht bloß der Wille der neuen Gewalthaber, ihr berechtigter Wunsch, ihre Macht sichtbar zu verkörpern, auch die Notwendigkeit hat aus der Sand- und Ackerfläche zwischen der Altstadt und dem Festungswall das blinkende Steinmeer erstehen lassen, dessen grelles Weiß das Grau der Altstadt in breitem Gürtel im Norden und Osten, zuletzt auch im Süden umschließt und schon heute eine weit größere Fläche bedeckt als sie. Man brauchte Kasernen für das Besatzungsheer der Festung; die Franzosen hielten hier 1870 rund 18