Archibald Leach und die Monstrositäten des Marquis de Mortemarte

Archibald Leach und die Monstrositäten des Marquis de Mortemarte

 

Markus Cremer

 

 

Information zur Archibald Leach Reihe

Teil 1. Archibald Leach und die Monstrositäten des Marquis de Mortemarte

 

Teil 2 erscheint bald im Art Skript Phantastik Verlag

 

 

Impressum

 

Copyright © 2017 Art Skript Phantastik Verlag

Copyright © 2017 Markus Cremer

 

 

Lektorat » Susanne Pavlovic | www.textehexe.com

Korrektorat » Melanie Schneider

 

Gestaltung » Grit Richter | Art Skript Phantastik Verlag

Cover-Illustration » Martin Schlierkamp | www.martinschlierkamp.de

 

Der Verlag im Internet » www.artskriptphantastik.de

 

Alle Privatpersonen und Handlungen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Es werden Ihnen jedoch diverse historische Personen begegnen.

 

 

 

Content Note/Inhaltshinweis

Für die Kapitel 33 und 34 gibt es eine Content Note zum Thema Tod / Sterbehilfe / Experimente an Menschen. Die Szenen werden sehr emotional und detailreich dargestellt.

 

Über den Autor

 

Der aus dem Rheinland stammende Markus Cremer wurde 1972, im Jahr der Ratte, geboren. Vor seiner derzeitigen Beschäftigung in der Wissenschaft betätigte er sich als Sanitäter, Erfinder und Inhaber eines Ladens für Okkultismus. Er lebt mit seiner Frau und seinem Sohn, sowie zwei Ratten in einem alten Haus in der Nähe von Aachen. Die Initialzündung für seine schriftstellerischen Ambitionen waren Fantasy-Rollenspiele und die Geschichten von H. P. Lovecraft, Michael Moorcock und Robert E. Howard. Er war an der Geschichtensammlung »Steampunk Akte Deutschland« und »Die dunkelbunten Farben des Steampunk« beteiligt, welche 2015 und 2016 den Deutschen Phantastikpreis für die beste Anthologie gewonnen haben. Ob dies trotz oder wegen seiner Story geschah ... bleibt ein Rätsel.

 

Mehr über Markus Cremer erfahrt Ihr auch online

Website: markuscremer.jimdo.com

Facebook: www.facebook.com/Autor.MarkusC

 

 

Über den Roman

 

Archibald Leach und die Monstrositäten des Marquis de Mortemarte ist Gewinner des Leser-Votings von Phantastik Couch zum »Buch des Jahres 2017«

 

Archibald Leach und die Monstrositäten des Marquis de Mortemarte wurde 2018 für die folgenden Preise nominiert:

- SERAPH Literaturpreises in der Kategorie Bestes Debüt

- Deutscher Phantastik Preis in der Kategorie Bestes Debüt

- Skoutz-Award in der Kategorie Science Fiction

- Skoutz-Award in der Kategorie Cover

- Buch des Jahres von Phantastik Couch

 

 

Bisher veröffentliche Geschichten mit Archibald Leach & Sarah Goldberg

 

»Archibald Leach und die Monstrositäten des Marquis de Mortemarte«

Roman | Art Skript Phantastik | 2017

 

Vorwort/Einleitung mit Szenen von Archibald Leach zum Roman »Erasmus Emmerich & die Maskerade der Madame Mallarmé« von Katherina Fiona Bode Art Skript Phantastik | 2016

 

»Archibald Leach und die gelbe Pute von Neuguinea«

Anthologie »Der Dampfkochtopf« | OhneOhren-Verlag | 2016

 

»Archibald Leach und das Rätsel der Grotten« | Anthologie »Geistermaschinen«

Aether-Manufaktur/Steampunk-Chroniken | 2015/16

 

»Archibald Leach und das Grauen in Orange« | Anthologie »Die dunkelbunten Farben des Steampunk« | Art Skript Phantastik | 2015

 

»Archibald Leach und der Angriff der Stille«

Anthologie-TB: »Stille« | Storyolympiade/Verlag Torsten Low | 2014

 

»Archibald Leach und die verschollenen Irrlichter«

Anthologie »Irrlichter« | Verlag Torsten Low | 2015

 

»Archibald Leach und der Plan des Kaisers«

Anthologie »Steampunk Akte Deutschland« | Art Skript Phantastik | 2014

 

»Archibald Leach und die Invasion vom Mars«

Anthologie »Mars« | XUN-Verlag | 2013

 

»Archibald Leach und die Rache des Toten«

Anthologie »Steampunk 1851« | Art Skript Phantastik | 2013

 

 

Widmung

 

Dieses Buch ist in besonderer Weise meiner Frau Sandra gewidmet, deren Unterstützung und Duldsamkeit ich beim Verfassen dringend benötigte. Von ihrer Liebe ganz zu schweigen. Seit Jahren erträgt sie (mich und) die Tatsache, dass ich beim Schreiben an vielen Abenden geistig abwesend und kaum ansprechbar bin. Danke.

 

Auch möchte ich Samuel danken, der mir Zeit und Gelegenheit gelassen hat, um diesen Roman überhaupt schreiben zu können. Keine Kleinigkeit, wenn man noch so klein ist und seinen Vater mit einem Haufen Papier teilt.

 

 

Ein Fort von einem Wort

ein Vorwort von Katharina Fiona Bode

 

Das glasbeschichtete Faultier hing etwa 21 ½ Sekunden kopfüber von der Hotelzimmerdecke, bis es herunterfiel und am Boden klirrend in tausend winzige Scherben zersprang. Eine schwarze Lache überschwemmte die Dielen, bevor die Tinte in den Ritzen zwischen den Brettern versickerte.

»Warum mussten Sie ausgerechnet ein Faultier als Schreibassistenten bauen?«, fragte die Qualmfee. Sie stand mit verschränkten Armen und rauchendem Schopf in weitmöglichster Entfernung zum Tatort, ergo auf dem Bett in der Zimmerecke. »Sollten die Briefe so langsam geschrieben werden, dass die Nachricht schon veraltet ist, bevor sie zum eigenen Ende gelangt?«

»Sie haben es erfasst, Marie!« Erasmus Emmerich drehte sich zu der grauen Dame um. Er zückte ein Schnupftuch, mit dem er die Tintensprenkel in seinem Gesicht verwischte.

Die Qualmfee biss sich auf die Lippen. Das Zebramuster auf den Wangen stand dem deutschen Detektiv und Ehrenmann gar nicht schlecht, zumindest nicht schlechter als die Schmierölspuren, die dort sonst bevorzugt residierten.

Nun schritt der Zebramann vor ihr auf und ab. Fehlte nur noch, dass er mit den Hufen scharrte, während er sprach. »Ein Faultier war genau die treffende Wahl, meine Liebe.« Marie errötete unter ihrem rußigen Teint, doch der sensible Emmerich bemerkte davon wie immer … nichts. »Schnellschrift lebt in der steten Gefahr zu verschmieren. Außerdem weist so ein Tier die genau richtige Armlänge auf, um vom Kronleuchter herab bis über das Papier auf dem Schreibtisch zu reichen«, dozierte er.

»Nun ja, sie hätten auch einfach einen Orang-Utan bauen und auf den Stuhl davor setzen können.«

Beinahe wäre dem Tüftler bei dieser Bemerkung die Kinnlade heruntergeklappt, doch er besann sich noch rechtzeitig seiner Manieren. »Einen Schreib-Orang-Utan? Marie, ich muss doch sehr bitten. Welchen Sinn hätte das denn gehabt? Einen Affen, also wirklich …«

Die Qualmfee grinste in sich hinein. »Ja, es ist mir schleierhaft, wie ich nur auf eine derart abwegige Idee kommen konnte.« Sie schüttelte den Kopf und senkte die Lider, nur um verstohlen darunter hervorzublinzeln. Sie beobachtete den Ehrenmann.

Prompt blieb der stehen und verengte die Augen zu Schlitzen. Dann musterte Emmerich sie genau und wich vorsichtshalber einige Schrittlängen aus ihrer Reichweite. Wenn die rauchende Dame so schnell einlenkte, war etwas faul. Seine Nase zuckte. Er konnte es förmlich riechen. Schwefel.

Und da, ihre Lippen öffneten sich und der Gegenschlag kam. Er, Emmerich blieb eben der formidable Detektiv, für den ihn alle hielten. Sein tadelloser Verstand erahnte die Widerworte, wenn sie noch gar nicht gefallen waren.

»Und warum aus Glas?«, hakte Marie prompt nach.

Emmerich seufzte und verfiel wieder in sein Stolzieren. »Das hält die Tinte so schön.«

»Ja, das haben wir gesehen.« Die Qualmfee ließ ihren Blick vom getigerten Erasmus über den beklecksten Boden schweifen und zuckte die Schultern. Wenigstens passten die beiden jetzt zu den mottenzerfressenen Vorhängen und dem rostroten Fleck auf dem Bettvorleger.

Emmerich murmelte zur Antwort nur undeutlich vor sich hin.
Marie verdrehte die Augen und stieg mit einem Quietschen von der federnden Matratze herunter. Dabei achtete sie sorgsam darauf, der eingetrockneten Blutlache vor dem Bett auszuweichen. »Können wir Archie denn wenigstens jetzt, wo ihr Faultier … verunglückt ist, doch auf die herkömmliche Weise einen Brief schreiben? Nur ausnahmsweise?«
Mitten im Nicken hielt Emmerich inne. »Archie?« Seine Augen trübten sich als zögen Regenwolken darüber hinweg.

»Nun ja, der Glatzkopf mit dem lockeren … Gewinde. Sie wissen schon, Ihr Kollege.«

»Ich weiß sehr wohl, wer Archibald Leach ist. Mir war allerdings nicht klar, wann wir zu diesem ungenierten, ja, geradezu frivolen Kosenamen übergegangen sind, der noch dazu klingt, als habe er sich erkältet. Es wird ihm sicherlich nicht recht sein, wenn sie ihn mit einem Nieser vergleichen.«

»Ich vergleiche ihn doch gar nicht …« Marie schüttelte den Kopf und gab vorerst auf, als sie sah, dass Emmerich sich brav an den Schreibtisch setzte.

Er tunkte die dort liegende Feder in eine tintengeschwärzte Ritze des Fußbodens und schrieb:

An Herrn Bromten

Westminster Abbey

Weiter kam er nicht, weil ihn die Qualmfee von der Seite anfunkelte und tief seufzte.

»Was brennt Ihnen nun wieder auf der Seele, meine Teure? Schließlich war es doch ihr eigener Vorschlag‒«

»Meiner? Ich dachte, dass wir … also, können wir denn nicht endlich Archi…bald schreiben?«

»Was glauben Sie denn, das wir hier tun?

»Warum ist der Umschlag dann nicht an ihn adressiert? Hm?« Marie stemmte die Hände in die Hüften.

»Ganz einfach, unser feiner Herr Leach ist eben etwas …«

»… paranoid?«, half Marie aus. »Oder möchte er Ihnen seine wahre Anschrift bloß nicht verraten?«

Emmerich brummte und schrieb weiter. Die Qualmfee stellte sich auf die Zehenspitzen, sah nicht genug, hob ein paar Zentimeter vom Boden ab und konnte endlich hinter Emmerichs Rücken schwebend jedes Wort Buchstabe für Buchstabe mitverfolgen.

Gigantische Kübel … kupfervoll … Quelle in Berlin uns unterrichtet …

»Sagen Sie ihm doch, dass es Frau Oppenheimer war…«

Für diesen Einwurf erntete die Qualmfee jedoch nur ein »Sh sh scht« und verfiel daraufhin in finsteres Schweigen. Ihre Stirn runzelte sich, bis sie es nicht mehr länger aushielt.

Eben kritzelte Emmerich – … weilen auf geschäftlicher Reise in fernen Landen, weshalb wir den Fall nicht selbst … –, als Marie schnaubte. »Sooo weit ist Frankreich auch gar nicht vom Deutschen Reich weg.«

»Das braucht Leach nicht zu interessieren.«

»Aber sie prahlen ja!« Marie kicherte.

»Ach, Paperlaquatschmit- wo war ich?« Wieder kratze die Feder über das Papier.

Haben daher in mehr als passender Weise meinen alten Studienkollegen Kupferstich auf diese Kupferfährte angesetzt.

Bei diesem Absatz wandte Emmerich den Kopf und strahlte Marie ob seiner Witzbrillanz an. Sie rang sich ein Lächeln ab und tätschelte ihm die Schulter. »Ja, ja, amüsant. Apropos, schlechter Witz, was ist eigentlich mit Archibalds Freundin?«

»Wieso schlecht? Und welche Freundin? Ich nahm an, Fräulein Goldberg sei seine Assistentin.«

»Dafür sind sie zu vertraut, würde ich meinen.« Marie vergeudete ein Zwinkern an Emmerich, der mit deutlicher Geste seinen Glauben daran verriet, dass sie etwas im Auge habe.

»Ich habe nichts dergleichen bemerkt«, sagte er schließlich.

»Ach was!« Marie schüttelte den Kopf, und wunderte sich, dass sie vom ständigen Geschüttel noch keine Muskelkater hatte.

»Sie sind auch keine Frau«, fuhr sie fort. »Und außerdem ein echter Emmerich in solchen Belangen.«

»Was soll denn das nun wieder heißen, ein echter Emmerich?«

»Na, eben jemand wie Sie.«

Emmerich brummelte und tunkte die Feder erneut zwischen die Dielen. »Schön, bin ich eben keine. Sie dann aber auch nicht.«

»Keine was?« Marie stieg in der Luft noch ein wenig höher. So braute sie sich neben Emmerich auf. Ihr Blick verfinsterte sich dazu um weitere dreizehn Nuancen.

»Frau«, antwortete Emmerich ohne Notiz von dem dünnen Eis unter seinen Füßen zu nehmen, das am dampfenden Zorn der Qualmfee zu schmelzen drohte.

»Erasmus, dieses Mal bin ich es, die doch sehr bitten darf.«

»Na, Sie bestehen doch immer darauf, eine Fee zu sein und kein Mensch.« Emmerich schüttelte die Feder.

»Ja, und? Auch Feen können Frauen seien, oder meinen Sie vielleicht, man wird dann automatisch zu einer Biene, Bache, blöden Hexe?«

»Na ja, bei letzterem bin ich mir nicht so …« Er schüttelte fester.

»Das wagen Sie nicht, Erasmus! Ihr Anstand als Ehrenmann verbietet es, dass Sie das ...«

Just in dem Moment regnete ein ganzer Schwarm schwarzer Kleckse zu Papier.

Marie ließ sich auf den Boden sinken, stupste Emmerich in die Seite und fischte die Feder aus seinem Griff. »Ach, lassen Sie mich mal. Husch, husch! Wie Sie sich ausdrücken, versteht das doch sowieso kein Mensch.«

Emmerich schabte mit dem Stuhl zurück und bot der Qualmfee seinen Platz. Dann grinste er wohl dosiert.

»Wozu ist dieser Leach denn Detektiv?«

Marie schmunzelte, verbarg den Umstand jedoch gekonnt unter zusammengepressten Lippen. Nach der angedeuteten Frechheit eben würde Sie ihrem Emmerich nicht den Triumph eines Schmunzlers gönnen.

Die Qualmfee senkte die Feder und begann mit der Hoffnung, nach Emmerichs Kauderwelsch noch ein paar sachdienliche Hinweise ergänzen zu können, die Ihnen, Archibald und Sarah, bei Ihrem gegenwärtigen Problem weiterhelfen können.

Schnell beschrieb sie eine Seite, schloss mit den Worten

Frau Oppenheimer sprach von Machenschaften und Vorkommnissen, die nicht anders zu interpretieren sind, als dass das Reich sich rüstet und setzte soeben den letzten Punkt, als der zinnoberrote Zinnsoldat Zinnoberius III. zur angelehnten Zimmertür hereinstürzte.

Augenblicklich drückte er mit beiden zahnstocherdürren Ärmchen dagegen, um sie hinter sich ins Schloss zu schieben. »Wir müssen fliehen! Sofort!«, keuchte er und strich sich die Feder, die von seinem Tee-Ei-Helm herabbaumelte, aus der schweißnassen Stirn.

»Wieso?«, fragte Emmerich noch, während Marie schon den Brief zusammenfaltete und samt Umschlag in ihr Korsett wandern ließ.

»Allem Anschein nach hat das französische Küchenmädchen meine dichterischen Avancen ein klein wenig zu ernst genommen«, gestand Zinoberius und wurde noch zinnoberroter.

»Oh, eine heiratswütige Frau? Dann nichts wie raus!« Emmerich stürzte zur Tür und war im Begriff sie erneut zu öffnen, als Zinbi dazwischenquietschte.

»Neeeiiin! Nicht da entlang! Es gibt keinen Weg zurück. Da lauern schon ihre Verwandten. Aus dem Fenster!« Der teelöffellange Zinnsoldat rannte zum Fenster und kletterte an den ausgefransten Vorhängen auf das Sims.
Die Qualmfee folgte ihm mit Emmerichs Koffer und schob das Fenster hoch. Ehe der Ermittler sichs versah, flog sein Reisegepäck auf die Straße.

Marie schwang ihre Beine über das Fensterbrett und sprang hinterher. Dann fing sie Zinoberius auf.

»Mhm, riecht es hier nach Fischsuppe?«, fragte Emmerich, als hinter ihm Fäuste gegen die Tür hämmerten und sie in den Angeln beben ließ.

»Kommen Sie schon«, quietschte Zinbi von draußen.

Bevor die Tür unter den Schlägen nachgab, ergriff Emmerich seinen Spazierstock und kletterte ebenfalls aus dem Fenster. Erst ließ er seine Beine hinab, dann den restlichen Körper, und baumelte schließlich an seinen eingehakten Stock geklammert nur wenige Zentimeter über dem Gehsteig, unfähig nach unten zu blicken.

»Es ist nicht tief, Erasmus! Ich musste nicht mal fliegen. Lassen Sie einfach los«, rief Marie bereits aus einigen Metern Entfernung.

Er zögerte. Kaum hatte Emmerich sich jedoch zu Boden hinabgelassen und seinen Stock mit einem Ruck vom Fensterrahmen gelöst, sauste eine Waschschüssel an seinem Kopf vorbei und schlug klirrend auf dem Kopfsteinpflaster auf.

In einer Hand den Spazierstock, die andere am Zylinder rannte der Privatier und Ehrenmann los. Da bohrte sich eine Gabel zwischen zwei Fingern hindurch in seine Hutkrempe. Der Detektiv schielte nach oben auf drei kuchenverschmierte Zinken, die um Haaresbreite vor seiner Stirn glänzten. Die daraus gewonnene Schlussfolgerung reichte, um seine Schritte in verdreifachter Geschwindigkeit über das Pflaster klappern zu lassen. Schon ging weiteres Besteck neben ihm nieder. Um Emmerich herum hagelte es Kochlöffel, Kerzenhalter, miefende Muschelschalen und Fischgerippe, während er seinen Gefährten hinterherstürmte.

Er hielt seinen aufgegabelten Hut gut fest und schrie durch den Geschirrschauer: »Vorwärts zum Postamt!«

 

Kapitel 1

Die alten Jäger und die Bestie

 

Die drei alten Männer starrten auf die zerrissene Leiche ihres Freundes. Das Moos glänzte von frischem Blut. Der nächtliche Regen fiel beständig und glitzerte im Licht der anbarischen Leuchte. Es kam Lloyd Collins so vor, als klagten ihn die blicklosen Augen von Sir Charles Baskerville an. Der Unterleib des Toten steckte zur Hälfte in einem Moorloch. Das Gesicht war entstellt und der Brustkorb in einem Akt bestialischer Gewalt aufgerissen worden. Der Zeigefinger seiner rechten Hand umkrampfte noch den Abzugsbügel der nutzlos gewordenen Spektralpistole.

»Der arme Charles«, brach Lloyd das Schweigen. Der Blutgeruch erzeugte einen metallischen Geschmack in seinem Mund.

»Das war kein normaler Mensch«, sagte Sir Ian Turner und entsicherte die schwere Jagdflinte in seiner Armbeuge. Zischend füllten sich die Plasmakammern der Waffe. Das Geräusch hatte auf Lloyd eine beruhigende Wirkung, denn Sir Turner war nicht nur ein leidenschaftlicher, sondern auch exzellenter Jäger.

»In nomine patris et filii et spiritus sancti«, rezitierte Nathan Sinclair und schloss dem Toten die Augen. »Wir beten für deine Seele, armer Freund.« Der weiße Kragen an Nathans Hemd blitzte hervor und erinnerte Lloyd an die ursprüngliche Berufung seines stets dunkel gekleideten Partners.

»Er hätte nicht alleine gehen dürfen«, sagte Lloyd und senkte den Kopf.

»Nach der angeblichen Sache mit dem schwarzen Hund wollte er wohl sein Gesicht nicht verlieren«, sagte Sir Turner und drehte sich vorsichtig um die eigene Achse. Die Anspannung des Jägers war für Lloyd körperlich spürbar. In dieser Haltung glich Sir Turner einem Mungo kurz vor dem Sprung auf die Königskobra.

»Im letzten Gespräch hat er mir von einem großen Wolf erzählt«, berichtete Lloyd.

»Pah«, meinte Sir Turner und deutete auf die sumpfige Landschaft. »In diesem Teil Englands gibt es keine Wölfe.«

»Schon seit sieben Jahrzehnten nicht mehr«, pflichtete ihm Lloyd bei, »ich habe es recherchiert.«

»Darauf wette ich«, meinte Sir Turner.

»Das Böse wandelt durch dieses Moor«, sprach Nathan mit eindringlicher Stimme. »Es verdient unsere Aufmerksamkeit und …«

»Leuchte mal hier hin, Lloyd«, unterbrach Sir Turner und deutete auf längliche Mulden im morastigen Untergrund. Neugierig trat Lloyd näher und betrachtete die fraglichen Stellen. Zwischen den Heidekrautbüscheln erkannte er im kalten Licht der Leuchte deutlich die Formen von nackten Füßen. Sein Haar mochte grau sein, aber auf seine Augen konnte Lloyd sich verlassen. Die Abdrücke führten in ein Feld aus gelbem Stechginster. Für ihn sah diese ganze Moorlandschaft völlig gleich aus.

»Wie frisch?«, fragte Lloyd und blickte Sir Turner an.

»Sehr frisch«, war Sir Turners Antwort. »Der torfige Untergrund hat sie noch nicht mit Flüssigkeit gefüllt.«

Lloyd schaute auf seine eigenen Fußspuren und konnte keine nennenswerten Unterschiede erkennen.

»Die Jagd beginnt«, sprach Sir Turner. Seine Augen blitzten unter den buschigen Augenbrauen hervor. »Wir nehmen die Verfolgung auf.«

»Was ist mit Sir Charles?«, fragte Nathan aufgebracht. »Wir können ihn nicht hier liegen lassen. Es ist unsere Pflicht als gute Gottesmenschen, seine sterblichen Überreste unverzüglich …«

»Zuerst bringen wir seinen Mörder zur Strecke. Danach trauern wir um den Toten«, erklärte Sir Turner mit Nachdruck.

»Denn mein ist die Rache, sprach der Herr«, sagte Nathan laut. »Ich möchte nicht, dass die Mächte der Finsternis sich unseres Freundes bemächtigen.« Nathan schlug seinen Ledermantel zurück. Neben dem Holster mit dem schweren Plasma-Colt trug er einen schlanken Köcher mit dünnen Eichenstiften von der Länge seines Unterarms.

»Ist dies wirklich nötig?«, fragte Lloyd.

»Es muss getan werden, sonst wird unser Freund möglicherweise selbst ein Werkzeug des Satans«, erklärte Nathan. Betend zog er den Eichenstift heraus und kniete sich neben dem Toten. Mit einem Ruck stieß er das Holz durch den offenen Brustkorb in das Herz.

Lloyd wandte sich ab. Das schmatzende Geräusch brachte seine Magensäure in Wallung.

»Schnell jetzt«, sagte Sir Turner. »Das Ding hat einen knappen Vorsprung.«

»Dort hin?«, fragte Lloyd und deutete mit seinem Regenschirm in die Richtung eines aufgerichteten Megalithen. Der mannshohe Fels gehörte zu einem prähistorischen Steinkreis, wie sie überall im Moor zu finden waren. Legenden und Geschichten von Menschenopfern kamen ihm in den Sinn. Er schüttelte die düsteren Gedanken ab.

»Von jetzt an bleiben wir zusammen«, bestimmte Sir Turner. »Ich will nicht noch einen Freund verlieren. Wir wachsen nicht so rasch nach.«

»Amen«, stimmte Nathan ein.

Lloyd unterdrückte ein hysterisches Kichern.

Schweigend folgten sie der Spur durch das nächtliche Moor.

Jetzt fehlt nur noch Nebel, dachte Lloyd.

»Erinnert mich an die Treibjagd auf diesen Geistertiger in Burma«, flüsterte Sir Turner.

»Ich glaube, es war in Bengalen«, meinte Nathan.

»Der Geistertiger war eine scheußliche Angelegenheit«, ergänzte Lloyd und fuhr sich über den Schnurrbart.

»Scheußlich, aber auch aufregend«, fügte Sir Turner an, »eine wirklich gute Jagd.«

»Wir werden alt«, sagte Nathan leise. »Unsere Knochen heilen nur noch langsam und unsere Reflexe lassen nach.«

»Jeden Tag ein Stück mehr«, stimmte Turner zu, »aber für dieses Vieh sollte es reichen.«

»Was auch immer es für eine Wesenheit darstellt«, fügte Lloyd hinzu und begab sich an die Seite von Sir Turner. Flüsternd meinte er: »Wäre es nicht klüger, diese Jagd zu verschieben?«

»Weshalb?«, zischte Sir Turner und blieb stehen, um weitere Spuren zu untersuchen.

»Sir Charles ist tot und unser anderer Freund sitzt in Princetown ein, während wir hier herumschleichen.«

»Er befindet sich freiwillig in diesem Zuchthaus.« Sir Turner hustete trocken.

»Dabei ist er der Intelligenteste von uns«, warf Nathan von vorne ein und hob seinen Plasma-Colt.

Wieder einmal wurde Lloyd bewusst, dass er lediglich den Regenschirm und die anbarische Leuchte trug.

»Wir sollten die Lampe jetzt ausschalten, sonst wird aus dieser Hatz nichts«, sagte Sir Turner und sog die Luft durch seine Nase ein.

»Witterung aufgenommen?«, fragte Nathan spöttisch.

»Raubtiergeruch«, antwortete Sir Turner. Hastig drehte Lloyd am Knopf der Leuchte. Während sich seine Augen an das schwächere Licht gewöhnten, fiel sein Blick auf einen weiteren Megalithen in der Nähe. Auf der Wetterseite war etwas Moos abgefallen.

»Dort«, flüsterte er und deutete auf die Stelle.

»Tatsächlich«, zischte Sir Turner anerkennend.

Mit der Zeit habe ich wohl doch von unserem großen Jäger gelernt, dachte Lloyd überrascht.

»Mit Licht wäre mir wohler«, murmelte er. »Böse Kreaturen lieben die Finsternis.«

»Abergläubischer Unsinn!«, herrschte ihn Nathan an. »Mit Gottes Hilfe werden wir jede Ausgeburt des Teufels besiegen.«

»Sir Charles dachte dies auch«, antwortete Lloyd scharf.

»Ruhe, sofort!« Sir Turner hob seine schwere Jagdflinte schussbereit an die Schulter. »Wir kriegen gleich Besuch.«

Lloyd duckte sich hinter den erfahrenen Jäger. Seine eigenen Fähigkeiten waren nur in einer Bibliothek nützlich oder wenn es galt, seine Gefährten zusammenzuflicken.

»Ich kann nichts erkennen«, flüsterte Nathan, während er sich im Kreis drehte.

»Es ist hier!«, sprach Sir Turner mit fester Stimme.

»Dort oben fehlt Moos an dem Megalithen«, sagte Lloyd, um wenigstens einen kleinen Beitrag zu leisten.

»Ich weiß«, antwortete Sir Turner und machte einen Schritt auf das dichte Farnkraut zu.

Ein Schatten glitt mit unheimlicher Geschwindigkeit daraus hervor. Sir Turner schoss. Der Knall der schweren Büchse war ohrenbetäubend. Lloyd sah, wie das Wesen der dampfenden Ladung entging. Fauchend wandte es sich von Sir Turner ab und sprang auf Nathan zu.

»Achtung«, rief Lloyd. Die haarige Kreatur fiel Nathan mit einem grotesken Sprung an. Nathans Arm wurde brutal zur Seite gerissen und die Plasmawaffe feuerte in die Luft. Das Wesen verbiss sich im Hals seines Opfers und riss Nathan zu Boden. Blut spritzte aus der Wunde. Fassungslos beobachtete Lloyd, wie es Nathan trotzdem schaffte, in eine Position über der Kreatur zu gelangen.

»Dreh dich um!«, schrie Sir Turner. Hilflos verfolgte Lloyd den Versuch des Jägers, ein freies Schussfeld zu bekommen. Gurgelnd kreischte Nathan auf und aus seiner Waffe lösten sich mehrere Ladungen. Kein Schuss traf das wolfsähnliche Wesen.

»Herr im Himmel«, flehte Lloyd.

»Verdammt!«, schrie Sir Turner auf. Lloyd drehte sich um und sah, wie Sir Turner sich an den blutenden Hals griff.

Sofort ließ Lloyd den Regenschirm und die Leuchte auf den aufgeweichten Morast fallen.

»Was soll ich tun?«, fragte Lloyd und blickte über die Schulter auf den blutigen Kampf. Sir Turner drückte ihm das Jagdgewehr in die zitternden Finger.

»Los jetzt!«, brachte der Verletzte zischend hervor. Mit der Waffe in den Händen wandte Lloyd sich dem ungleichen Kampf zu. Nathan lag auf dem Rücken. Seine Bewegungen wurden unter den brutalen Krallenhieben des Wolfswesens immer kraftloser. Für Lloyd sah es so aus, als wühlte die Kreatur in Nathans Brustkorb. Weniger als zehn Schritte trennten ihn von dem blutrünstigen Wesen. Er hob das Gewehr, schloss die Augen und drückte ab. Der heftige Rückstoß ließ ihn nach hinten stolpern. Die schwere Ladung traf das Geschöpf in die Seite. Die Wucht riss es vom reglosen Nathan herunter. Mühsam erhob es sich auf die Hinterläufe.

Es trägt die Überreste einer blauen Uniform, dachte Lloyd. Er blendete den Gedanken aus, da er völlig unsinnig war. Die Kreatur machte einen schwankenden Schritt auf ihn zu. Blut lief aus der großen Austrittswunde an der Seite und tropfte von seinen Krallen. Der Kopf war im Dunkeln verborgen.

»Nachladen«, kam es stöhnend von Sir Turner.

»Wie?«, schrie Lloyd und reichte dem Verwundeten das Gewehr. Sir Turner riss seinen Revolver aus der Gürteltasche und winkte Lloyd zur Seite. Einhändig richtete der Jäger die Mündung auf die Kreatur und drückte ab. Immer wieder, bis nur noch metallisches Klicken ertönte.

Der Pulverdampf erschwerte die Sicht, doch Lloyd sah, wie das Wesen zusammenbrach. Ein weiterer Blick zeigte ihm, dass für Nathan jede Hilfe zu spät kam.

»Halleluja!«, brachte Sir Turner hervor und ließ den Revolver fallen. Lloyd gefiel die Ironie nicht, da ausgerechnet der Gottesfürchtigste unter ihnen gefallen war.

Mit Verbandszeug aus seiner Tasche versorgte er zuerst die Halswunde Turners. Die Plasmaladung hatte ihn gestreift und die Wunde war tief.

»Die Halsschlagader ist nicht betroffen«, erklärte Lloyd schließlich und setzte sich neben seinem Freund.

»Danke«, sagte Sir Turner und hob mühsam seinen Revolver auf.

Lloyd lehnte sich gegen den moosbedeckten Stein des Megalithen. Die Nässe kümmerte ihn nicht. Jetzt nicht mehr.

»Ihm konnte ich nicht helfen«, meinte Lloyd und deutete auf Nathans Leichnam. Er war für die verhüllende Dunkelheit dankbar.

»Trotz aller Fehler …« Sir Turner hielt inne.

»Er war einer von uns«, sagte Lloyd und zog eine Metallflasche aus seiner Tasche.

»Medizin?«, fragte Sir Turner. Sein Atem ging schwer.

»Scotch«, antwortete Lloyd und nahm einen Schluck. Der Alkohol brannte, doch die Wärme tat gut. »Auf unsere gefallenen Freunde.« Er reichte die Flasche an seinen verletzten Gefährten weiter.

»Wäre uns dies vor zehn Jahren auch passiert?«, fragte Sir Turner mit Bitterkeit in der Stimme.

»Es ist nicht das Alter«, antwortete Lloyd, »es ist die Anzahl der erlittenen Narben.«

»Darauf trinke ich und auf die Seelen unserer Toten«, sagte Sir Turner.

»Sei ein guter Patient und ruhe dich aus«, sagte Lloyd. Mit einem Seufzen stand er auf und drehte die Leistung der anbarischen Leuchte hoch. Die Umgebung wurde schlagartig erhellt.

Vorsichtig näherte er sich dem toten Wolfswesen.

»Welche Munition war im Revolver?«, fragte Lloyd.

»Silbernitratfüllung, was sonst?«, kam die prompte Antwort von Sir Turner.

»Dann ist es kein Werwolf«, sagte Lloyd und hielt die Leuchte vor das blutverkrustete Gesicht des Kadavers.

Erinnert mich an die Mischwesen aus der Antike, dachte Lloyd.

»Was soll es sonst sein?«, fragte Sir Turner gereizt.

»Ich weiß es nicht«, gab Lloyd zu, »ich sehe teilweise Haut und teilweise Fell … in den Resten einer blauen Uniform.«

»Wieso ist es dann kein klassischer Werwolf?«, fragte Sir Turner. »Moment, ich sehe es mir selber an.« Stöhnend richtet er sich an dem Stein hoch.

»Sturkopf. Warte, ich helfe dir.« Lloyd führte seinen Freund zum toten Wolfswesen und ließ ihn dort ins Heidekraut sinken.

»Keine Rückverwandlung«, murmelte Lloyd und ging in Gedanken die möglichen Erklärungen dafür durch. Ihm fiel nichts dazu ein.

»Wirklich komisch«, gab Sir Turner zu, »aber was ist dieses Vieh? Eine Idee? Du hast schließlich mehr Bücher gelesen, als Nathan je verbrannt hat.«

Die Erwähnung des gestorbenen Kameraden versetzte Lloyd einen Stich.

»Einen Augenblick noch.« Sein Blick fiel auf Nathans verstümmelten Leichnam. Er zog seinen Mantel aus, ging hinüber und breitete ihn über dem Toten aus. »In nomine patri et filii et spiritus sancti«, flüsterte Lloyd und machte das Kreuzzeichen über den sterblichen Überresten.

Sir Turner fügte hinzu: »Gott sei bei uns!«

Mehrere Minuten lang verharrte Lloyd vor dem Toten. Gemeinsame Erlebnisse kamen ihm in den Sinn. Okkulte Fälle und bizarre Wesenheiten. Vielfach waren sie mit dem Tod konfrontiert worden, doch nie war ihnen etwas geschehen.

»Amen«, sagte Lloyd und kehrte zu Sir Turner und dem Kadaver zurück.

»Es erinnert mich an eine misslungene Züchtung«, nahm Lloyd den Faden wieder auf.

»Eine Kreuzung aus Mensch und Tier?« Sir Turner schüttelte den Kopf, keuchte auf und griff sich an den Hals.

»Die Wunde ist verbunden und nicht verheilt«, schalt ihn Lloyd. »Diese blaue Uniform stammt aus Princetown«, erklärte er und deutete auf einen entsprechenden Aufnäher.

»Klingt nicht gut.« Sir Turner lud seinen Revolver neu. Lloyd entging nicht, wie oft ihm hierbei die Patronen aus den Händen glitten.

»Was auch immer dahinter steckt, unser Freund Heisenberg hatte recht«, fuhr Lloyd fort und umkreiste dabei den Kadaver. »Die Ätherkraft ist in Aufruhr.« Sir Turner seufzte.

Irritiert blickte Lloyd auf eine Stelle am Rücken der Bestie, die nicht von Haaren verdeckt wurde. Er stellte die Leuchte davor und zog den blutverschmierten Stoff zur Seite. Die Angst war von ihm gewichen. Er befand sich in seinem Element. Auf der haarlosen Haut des Wesens entdeckte er eingeritzte Bildzeichen und verschlungene Male. Jeder Zoll war damit bedeckt.

»Die Wunden sind relativ frisch. Ohne Narbengewebe. Was zur Hölle ist das nur?«, murmelte Lloyd.

»Du könntest recht haben«, sagte Sir Turner, »diese Symbole erinnern mich an das dunkelste Afrika und …«

Überrascht beobachtete Lloyd, wie ein weißer Faden aus einem der Zeichen herauswuchs und schließlich darüber schwebte. Es erinnerte ihn an einen bleichen Wurm. Kaum dicker als ein Bindfaden.

»Nicht gut«, entfuhr es Lloyd und wich zurück. »Eine Emanation der Ätherkraft.«

Weitere Fasern lösten sich und formten in der Luft ein spinnennetzgleiches Gebilde. Ehe er sich fassen konnte, flog das Phänomen in der Dunkelheit davon.

»Was für eine Teufelei ist das?«, fragte Sir Turner mit belegter Stimme.

»Ich denke, dies ist die ektoplasmatische Energie der Verstorbenen, von der unserer verschrobener Freund Heisenberg so oft gesprochen hat.«

Wenn er jetzt nur mit seinem Äther-O-Meter hier wäre, dachte Lloyd. Genaue Messungen wären hilfreich.

»Diesem Unfug, dem er schon seit ewigen Zeiten nachjagt?«, fragte Sir Turner und gewann etwas Sicherheit zurück. »Dieser Humbug mit der dunklen Magie?«

»Ich denke, diese Zeichen zeigen Übereinstimmungen mit gewissen Abbildungen düsterer Kulte auf Haiti«, fügte Lloyd hinzu. »Diese Energieform steckte in seiner Haut. Irgendwie.« Er schwenkte die Leuchte und der Lichtschein enthüllte in all dem Chaos aus verschlungenen Symbolen eine lesbare Botschaft in einfachen Buchstaben.

»Da ist noch was.« Lloyd bewegte die Lampe, um einen besseren Winkel zum Lesen zu erhalten. »Schwer zu entziffern, aber ich würde sagen da steht …« Er beugte sich weiter vor. »Benachrichtigt Archibald Leach in London. Sein Onkel braucht ihn und seinen Kompass. Dringend.«

 

 

Kapitel 2

Ausgerechnet Whitechapel?

 

»Erneut landete ich in einer dieser Unternehmungen, die Archibald Leach stets eine kindische Freude bereiten. Diese Dinge passieren ihm nicht einfach, nein, er zieht sie förmlich an. Ich berichtete in früheren Schriften, wie wir vor einigen Jahren die Entführung des Schriftstellers Jules Verne aufklärten oder die Weltausstellung 1851 in London retteten. Alles Unterfangen, die sinnvoll und ehrenwert waren, doch diesmal … diesmal trieb dieser Archibald Leach es fraglos zu weit.«

 

Persönliches Vorwort von Sarah Goldberg zur achten Auflage ihres autobiographischen Romans, der 1897 unter dem Titel »Meine Abenteuer mit Archibald Leach« erschienen ist.

 

Heute ist mein großer Tag, dachte Sarah Goldberg und verschnürte das Korsett ihres smaragdgrünen Abendkleides. Eine Komposition aus raffinierter Spitze und Schleifen. Sie selbst lehnte dieses unpraktische Monstrum aus überflüssigem Stoff ab. Zu wenig Taschen und kein Jota robust. Immerhin hatte die Verkäuferin ihr versichert, dass dieses Gewand die Männer sprachlos machen würde.

Sprachlos wäre zu viel, dachte Sarah lächelnd. Fassungslosigkeit sollte reichen.

Zumindest bei der Rechnung war dieser Effekt eingetroffen. Sie hatte ihre Ersparnisse dennoch geopfert, um endlich einen Schritt in die bessere Gesellschaft machen zu können. Die Gleichung war denkbar einfach. Mehr Prestige und Anerkennung bedeutete mehr zahlungskräftige Kunden.

Und endlich keine Kombination aus Wohnraum und Werkstatt mehr.

Nur die Tatsache, dass die Wohnung ein Erbstück war, hatte sie davor bewahrt, mit ihrer Reparaturwerkstatt im East End zu landen. Sie zog einen seidenen Handschuh über ihre linke Handprothese. So wurde sie auf der Straße wenigstens nicht angestarrt. Viele ehemalige Kunden ihres Vaters gingen mittlerweile zu anderen Mechanikern. Die meisten Auftraggeber hatten bereits Probleme damit, eine unverheiratete Frau alleine aufzusuchen.

Ihr Blick blieb bei einem weiteren unerledigten Auftrag hängen. Das filigrane Uhrwerk mit wassergetriebenem Zahnrad wartete auf ihre fachkundige Behandlung.

Mit Sicherheit ist das Problem der Möbiuswandler. Eigentlich sollte ich daran werkeln, statt auszugehen.

Der alte Rabbi Sterngood und seine Freunde kamen nur deshalb noch zu ihr, da sie ihren Vater sehr geschätzt hatten. Sie konnte es sich nicht leisten, den Rabbiner als Kunden zu verlieren. Ihr Blick fiel auf den Stapel mit unbezahlten Rechnungen.

Soll ich nicht besser arbeiten, statt mich sinnlosen Tagträumen hinzugeben?

Sie verzichtete auf eine Antwort und schnürte sich das schmale Halsband aus Brokat um.

Der Kolben ihres dampfgetriebenen Motoreinrads lag demontiert auf der Werkbank. Es juckte sie in den Fingern, die Reparatur fortzusetzen, doch im letzten Moment zügelte sie sich. Es hatte eine Stunde gedauert, die Ölränder unter ihren Fingernägeln zu entfernen. Von dem Anziehen des Kleides ganz abgesehen. Seufzend wandte sie sich um und setzte die Brille auf. Neben der Prothese eine weitere Unzugänglichkeit, die sie nicht an sich mochte.

Big Ben schlug zum siebten Mal. Ein Geräusch, das sie für gewöhnlich beruhigte. Ihre Familie hatte an dem Bau des Uhrwerks maßgeblichen Anteil gehabt. Jetzt jedoch brach ihr der kalte Angstschweiß aus. Hektisch sah sie sich um.

Wo steckt der verdammte Hut?

Sie kannte den Aufbewahrungsort sämtlicher Schraubenschlüssel in ihrer Wohnung, die ihr gleichzeitig auch als Werkstatt diente, doch dieser vermaledeite Hut ließ sich nicht auffinden.

Ihr schwand bereits der Atem, woran das ungewohnt straff geschnürte Korsett sicher seinen Anteil hatte.

Warum dürfen Frauen eigentlich in der Öffentlichkeit keine bequeme Kleidung tragen?

Sie fand den kleinen Hut auf einem anderen Erbstück ihres Vaters. Noch immer war ihr unklar, wozu der handgroße Daffke-Automat mit seinen zahlreichen Anzeigen und Spulen diente. Sie hatte schon Tage mit seiner Entschlüsselung vertan. Ohne Erfolg. Manchmal kam es ihr so vor, als würde sie erst zur vollwertigen Tochter ihres Vaters, wenn sie das Geheimnis löste. Zu jeder Maschine hatte er ihr Skizzen hinterlassen, doch es fand sich – außer der Bezeichnung - kein Fetzen Papier über den Daffke-Automaten.

Draußen wurde der Türklopfer schwungvoll betätigt und lenkte sie von dem seltsamen Gerät ab.

»Er ist endlich da«, murmelte Sarah und lächelte. Angeblich sollte dies die Anspannung aus den Gesichtszügen nehmen. Sie war skeptisch, was diese Tipps aus der High Society anging. Aus dem gleichen Benimm-Fundus stammte auch der Hinweis, dass ein züchtiger Zopf die beste Frisur war, um nicht für ein liederliches Frauenzimmer gehalten zu werden.

Sie war gespannt, was Archibald Leach organisiert hatte. Seine Botschaft hatte gelautet: »Machen Sie sich schick, ich habe alle Hebel in Bewegung gesetzt, um Ihnen Zugang zur Gesellschaft zu ermöglichen. Es wird ein unvergesslicher Abend. Ich hole Sie ab.« Darunter befanden sich sein Name, das Datum und die Uhrzeit. Vor ihrem geistigen Auge fuhren sie mit der Dampfdroschke vor einen feinen Salon im schicken Stadtteil Mayfair. Adelige und Reiche würden zugegen sein und sich um einen Tanz mit ihr reißen. Dabei könnte sie beiläufig ihre Werkstatt erwähnen und ihr gesellschaftlicher Aufstieg kam ins Rollen. Nebst lukrativen Aufträgen.

Hoffentlich, dachte sie und seufzte tief. Bei Archibald wusste man nie, was er im Schilde führte.

Sie setzte den lächerlichen Hut auf und verzichtete auf den Blick in den Spiegel. Jetzt konnte sie ohnehin nichts Entscheidendes mehr verändern. Sie hatte die Türklinke bereits berührt, als sie umdrehte und noch einmal zur Werkbank ging. Vorsichtig wegen der Öllachen holte sie aus der oberen Schublade eine Dillinger Spektralpistole mit Doppellauf hervor. Sie hob die verschiedenen Schichten ihres Unterrocks und verstaute die handliche Waffe am verstärkten Strumpfband.

Bei einem Abend mit Archibald Leach war selbst das Unmögliche möglich. Zumal er meist nur diesen lächerlichen Stockdegen trug. Wenigstens hatte sie ihn überreden können, die filigrane Waffe mit einer schnittfähigen Miniaturschneide auszustatten.

Vor ihrer Tür lehnte Archibald an der Wand des Korridors und lüpfte seinen Zylinderhut. Der Backenbart war die einzige Behaarung auf seinem Kopf. In der Hand hielt er seinen Gehstock. Seine Körperhaltung erinnerte sie an einen lauernden Greifvogel. Charmant, aber bereit, bei Gefahr sofort furchtlos zuzuschlagen. Schon als sie Kinder waren, hatte sie diese Eigenschaft vor allen anderen beeindruckt. Neben der nervtötenden Fertigkeit, auch die robusteste Maschine zum vorzeitigen Erlahmen zu bringen.

»Guten Abend, Sarah, ich hoffe, Sie sind bereit, mir in die Finsternis der Nacht zu folgen?«

»Wenn dies die versprochene Einladung ist, dann nehme ich sie gerne an«, antwortete sie.

»Ihre Aufmachung ist ausgesprochen … extravagant«, stellte er mit betont gelangweiltem Blick fest. Gespielt, wie sie hoffte.

»Es soll ja auch ein besonders schöner Abend werden. Wer weiß, vielleicht fordern Sie mich ja zum Tanz auf?«, neckte sie ihn.

»Wer weiß«, wiederholte er und lächelte.

»Wäre eine schöne Premiere«, meinte Sarah. »Nicht einmal in unserer Kindheit haben Sie mit mir getanzt und jetzt arbeiten wir immerhin seit zwei Jahren zusammen.«

»Die Dampfdroschke steht unten bereit.« Er griff ihre künstliche Hand. »Nächster Halt ist Whitechapel.«

In ihrem Kopf ging Sarah sämtliche Restaurants oder Theater durch. In Whitechapel befand sich vieles, aber kein Etablissement, das sich für einen feierlichen Anlass eignete. Die armen Bewohner des East End mochten dies anders sehen, aber die hatten sich auch in den letzten Jahrzehnten an die ausufernde Kriminalität gewöhnt. Die Aussicht nach Whitechapel zu fahren, verpasste ihrer Hochstimmung einen Dämpfer.

»Moment. Was ist mit der Einladung zu einem unvergesslichen Abend geworden?«, fragte sie. Dann dämmerte es ihr. »Sicher wollen Sie mich nur reinlegen?«

Er lachte nicht, was sie etwas verunsicherte.

Die Fahrt mit der ratternden Dampfdroschke führte über schlechte Straßen zu noch schlechteren Straßen. Die geräumigen Sichtscheiben des Maceron-Fabrikats waren vergittert und die Türen von innen verriegelt. Außen angebrachte Spiegel erlaubten auch den Blick nach hinten und vorne. Die Innenbeleuchtung war offenkundig defekt.

»Wir fahren wirklich ins East End?«, stellte sie resigniert fest. Sie blickte an sich herunter und fragte sich, ob sie heute noch ein besseres Restaurant von innen sehen würde.

»Pferde haben diese Aufgabe des Transports zufriedenstellender gelöst«, bemerkte Archibald, ohne auf ihren Einwurf einzugehen. »Die Versteifung auf mechanische oder dampfbetriebene Technik dient - nach meiner Meinung - oft nur der Eitelkeit des Menschen.«

Sarah hob wortlos ihre Handprothese.

»Einverstanden, einige Dinge sind nützlich, doch letztlich ist die Dampfkraft in ihren Möglichkeiten begrenzt.«

»Vor der von Ihnen so verachteten Technik machten Pferde diesen Job. Erinnern Sie sich noch an den Gestank der Hinterlassenschaften?«

»Ätherkraft hätte dieses Manko nicht«, warf Archibald ein.

»Jetzt fangen Sie nicht schon wieder mit Ihrer Theorie der unbegrenzten Ätherkraft an«, warnte Sarah.

»Die Energie der Verstorbenen ist um ein Vielfaches größer, als es jede Verbrennung sein könnte«, warf Archibald ein. »Ich habe erst neulich wieder einen Artikel darüber veröffentlicht und …«

»In diesen Revolverblättern, die kein Honorar zahlen und jede abstruse Behauptung ungeprüft drucken«, fiel ihm Sarah ins Wort.

»Diese paranormalen Erkenntnisse werden eines Tages die gesamte Welt auf den Kopf stellen. Mehr noch, als es die technischen Errungenschaften der Menschheit könnten.«

»Solche Veröffentlichungen lesen nur Narren«, erwiderte Sarah.

»Viele Narren stellten sich später als Pioniere eines neuen Zeitalters heraus«, beharrte Archibald.

»Sie wohl kaum, denn sonst hätten ihre Ideen auch praktischen Nutzen«, sagte Sarah und fuhr zusammen, als Glas an ihrer Seite der Droschke zerbarst. Gelächter war zu hören. Der Kutscher fluchte etwas Unverständliches.

»Sicher nur eine leere Flasche«, erklärte Archibald.

»Whitechapel, wir kommen.« Sarah schüttelte den Kopf.

Er ignorierte ihren Sarkasmus und sagte: »Mein Onkel Heisenberg und mein Vater haben einige Artefakte erschaffen, deren besondere Eigenschaften aus der Ätherenergie gespeist …«

»Ich bitte Sie, es soll doch ein schöner Abend werden«, unterbrach ihn Sarah. Gerne würde sie mehr über seinen Vater erfahren und wohin er mit dem jungen Archibald im Alter von sechszehn Jahren verschwand, doch in diesem Punkt schwieg Archibald sich aus.

»Verderben Sie unseren Ausflug nicht, bevor er begonnen hat.« Sie süßte den Tadel mit einem strahlenden Blick durch ihre Brillengläser. »Zumindest nicht mehr, als es Whitechapel bereits kann.«

Er öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder. Es rumpelte heftig.

Der Kutscher rief zu ihnen hinunter: »Toter Hund mitten auf der Straße. Kommt vor.«

»Reizend«, steuerte Sarah säuerlich bei.

»Ich möchte unseren Ausflug nicht verderben, aber ich habe beunruhigende Nachrichten erhalten«, unterbrach Archibald das Rattern des Motors.

»Beunruhigend?«, fragte Sarah und richtete sich im Sitz auf.

»Viele Medien, also echte Medien mit Kontakt zum Jenseits, berichten, dass sich die Wesen im Äther in Aufruhr befinden«, erklärte er. Vergeblich suchte sie nach einem Anzeichen für einen Scherz.

»Also beunruhigend finde ich, dass Sie an solchen Mumpitz glauben«, sagte Sarah und blickte demonstrativ aus dem Fenster. Ein gepanzerter Stahlkrabbler der Bürgerwehr bewegte sich schneckengleich auf der anderen Seite. Von den Männern in seinem Inneren waren nur die Köpfe zu erkennen.

»Warum sollte man nicht daran glauben?«, fragte er irritiert.

»Weil es ausgemachter Unsinn ist«, murmelte Sarah. Die Zeichen mehrten sich, dass der Ausflug sich als Reinfall erweisen könnte. Die Bremsen kreischten schrill auf und das Fahrzeug ging in eine gewagte Rechtskurve.

»Kanalbruch!«, schrie der Kutscher und in diesem Augenblick überflutete der Fäkaliengestank der Hölle das Innere der Droschke.

»Bemerkenswert«, kommentierte Archibald und zeigte auf eine bräunliche Fontäne, die mannshoch aus dem Boden schoss. Passanten schrien und rannten davon. Im nächsten Moment fuhr die Droschke um eine Ecke und das schauerliche Schauspiel verschwand aus ihrem Blickfeld.

Diese Idioten, dachte sie, pumpen mit Überdruck die Abwässer in die Kanäle. Irgendwann muss jeder Hohlraum gefüllt sein. Das Verbrennen der anfallenden Fäkalien wäre eine Option, doch dazu würde mehr Hitze erforderlich sein, als …

»Ich hatte bereits überlegt«, unterbrach er ihre Gedanken, »unseren Freund in Berlin zu kontaktieren.«

»Diesen findigen Erasmus Emmerich?«, fragte Sarah. Sie mochte den Anhänger des skrupellosen Bismarcks, auch wenn Erasmus ihr immer völlig unorganisiert erschien. »Mit dieser geheimnisvollen Freundin Marie?«

»In der Tat.« Er klopfte mit dem Gehstock auf den Boden des Wagens. »Die politische Lage in Preußen ist derzeit angespannt, insbesondere was das Verhältnis unserer Länder angeht, doch ich könnte mir vorstellen, dass ein Brief mittels dieser modernen mechanischen Tauben es doch nach Berlin schafft.«

»Auf einmal mögen Sie Technik?«, fragte Sarah mit einem Lächeln.

»Wenn sie nützlich ist und ihren Zweck erfüllt, dulde ich sie gerne.«

Nachdenklich grübelte Sarah über diese Worte nach. Beschrieb diese Äußerung auch ihr eigenes Verhältnis zu diesem glatzköpfigen Exzentriker mit Backenbart?

Der Bart steht ihm nicht, dachte sie.

 

Schlussendlich hielt das stampfende und qualmende Gefährt in einer Gasse voller stinkendem Unrat, dessen Ursprung unmöglich auszumachen war.

»Raus hier!«, brüllte der Droschkenfahrer ungeduldig. Sarah stöhnte auf und verdrehte die Augen.

Es hätte so schön werden können.

Fröhlich pfeifend öffnete Archibald ihr die Wagentür und bot seine Hand an. Sarah wollte sie zuerst ignorieren, überlegte es sich aber anders. Hier auszurutschen, erschien ihr keine gute Idee zu sein.

Der Geruch hinterließ einen pelzigen Nachgeschmack auf ihrer Zunge. Ein kurzer Blick sagte ihr, dass dies sogar für die Verhältnisse in Whitechapel eine schäbige Gegend war.

Der bulldoggenähnliche Fahrer hatte ein angespitztes Gitter rund um seinen Sitzplatz hochgeklappt. In seinen Händen hielt er eine doppelläufige Plasmaflinte.

Er erhielt seinen Lohn, dann startete er mit durchdrehenden Rädern. Zurück blieb eine Rußwolke, die ihr Kleid einhüllte und sicher irreparablen Schaden darauf verursachte.

Soviel zu meinem großen Auftritt, dachte sie verärgert.

»Also gut«, begann sie, »jetzt offenbaren Sie endlich, warum wir ausgerechnet hier gelandet sind?« Sarah deutete auf die Abfallberge an den Ziegelsteinmauern und die gierigen Blicke einiger ausgemergelter Gestalten an der nächsten Straßenecke.

Sollten manche der bizarren Gerüchte über diese Gegend stimmen?

Eine liederliche Dirne stemmte die Hände in dei Hüften und rief »Schau an, der feine Pinkel bringt sein eigenes Fleisch mit.«

Einige der Herumtreiber lachten mit ihren zahnlosen Mäulern.

»Großer Stecher, ich kann dir Dinge zeigen, von denen hat deine dralle Braut noch nie was gehört. Jede Wette!«

Archibald winkte ab und Sarah fragte: »Also?«

»Hier findet eine Séance statt«, offenbarte er und strahlte sie an. »Die berühmte Madame Florence soll eine wahre Seherin sein, die mit den Geistern der Verstorbenen in Kontakt tritt.«

»Was Sie nicht sagen«, gab Sarah zurück, »und wegen dieses Unsinns befinden wir uns in der übelsten Gegend Londons?«

»Ich gebe zu, dass diese Wohngegend grundlegende Schwierigkeiten hat, allerdings würde ich nicht so weit gehen, dass es die Schlimmste ist.«

»Nicht?«, fragte Sarah und deutete auf einen wieselartigen Mann, der sich langsam näherte und der aus seinem schmierigen Mantel ein schlankes Messer zog.

»Jetzt wird es spannend, kühner Stecher!«, rief die Dirne.

Am Ende der Gasse warteten offenkundig zwei Spießgesellen und starrten hinüber. Von ihnen ging keine Gefahr aus. Zumindest noch nicht. »Wie nennen Sie denn diese Begrüßung? Freundlich?« Sie ließ ihre Hand unauffällig ihren Rocksaum herunterwandern. Die Dillinger Spektralpistole würde jeden Strauchdieb in die Flucht schlagen.

»Liebste Sarah, ich darf Ihnen versichern, dass ich …«, begann Archibald, doch das Wiesel unterbrach ihn.

»Netter Abend, wa?«, sprach der Mann mit dem schweren Akzent des East End. Sein Grinsen offenbarte schwarze Zahnstümpfe.

»Die Lady knöpft den Rock hoch. Ein schöner Anblick.«

»Halten Sie die Klappe!«, fuhr ihn Sarah an, höflich sagte sie zu Archibald: »Fahren Sie ruhig fort, lassen Sie sich nicht unterbrechen.«

»Hey Lady, ich war noch nicht fertig nicht, wa?«, schrie das Wiesel empört und hob die Klinge in die Höhe. Ein scheppernder Hustenanfall schüttelte den Mann durch. »Sie können mit dem Freier quatschen, wenn ich abkassiert habe, klar?«