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Ein Leben ohne Grenzen

 

 

 

Für meine Familie. Meine Stiftung.
Meine Siege und auch Eure.

 

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »A Life Without Limits. A World Champion’s Journey« bei Center Street, Hachette Book Group, 237 Park Avenue, New York, NY 10017.

 

© Chrissie Wellington

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

2. Auflage 2013

© der deutschsprachigen Ausgabe: spomedis GmbH, Hamburg 2012, 2013

 

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten. Dieses Buch oder Teile dieses Buchs dürfen nicht ohne die schriftliche Genehmigung des Verlags vervielfältigt, elektronisch gespeichert oder auf andere Medien übertragen werden.

 

Übersetzung aus dem Englischen: Torsten Walter

Übersetzungslektorat: Gabi Hagedorn

Umschlaggestaltung, Layout und Satz: Gertje Dixius-Klack

ISBN: 978-3-95590-028-1 (ePUB)
ISBN: 978-3-95590-033-5 (Kindle)

www.spomedis.de

Einleitung

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Fast 160 Kilometer war ich nun schon mit gleichmäßigem Tempo auf dem Rad unterwegs. Die trostlose Straße schnitt sich ihren Weg durch die dichten schwarzen Lavafelder, die nur wenig keimendes Leben zwischen ­ihren Felsen duldeten. Hier und da wurde die Ödnis durch einen einsamen Bougainvillea-Busch am Wegesrand unterbrochen; davon abgesehen war die lange weiße Linie der Fahrbahnbegrenzung mein einziger Begleiter. Die tropische Sonne stand hoch am Himmel, so hoch, dass mein Schatten fast unter meinem Rad verschwand. Und die Straße dehnte sich vor mir aus – leer, ohne andere Athleten, denn ich lag in Führung.

Ich gönnte mir einen Augenblick, um dieses Gefühl zu verinnerlichen. Ich war nicht sicher, wer die beiden Mädels gewesen waren, die ich gerade überholt hatte, denn ich kannte so gut wie niemanden in diesem Rennen. Es mochten die Weltmeisterschaften im strapaziösesten Eintages-Wettkampf des Sports sein, für mich war alles neu! Der Pazifik rechts von mir war von königlichem Blau, und zu meiner Linken zeichnete sich der wolkenverhangene Gipfel des hochaufragenden Hualalai-Vulkans ab. An glücklicheren Tagen erstreckt sich die Wolkenschicht schattenspendend hinunter bis zur Küste, aber so gut meinte es das Schicksal nicht mit uns: Die Hitze hing über dem schwarzen Asphalt wie ein böser Geist und ließ die Straße vor unseren Augen verschwimmen.

Mittag war gerade vorüber. Vor fünfeinhalb Stunden hatte unser Rennen im Ozean begonnen. Falls alles glatt lief, sollte ich in vier Stunden im Ziel sein. Offiziell waren es über 32 Grad im Schatten, aber hier draußen auf diesem schatten- und gnadenlosen Highway waren es über 38. Und der Wind war grausam. Die Böen, die die Hänge des Vulkans ­hinunterfegten, hatten mich schon einmal auf den unbefestigten Seitenstreifen der Straße abgedrängt. Das Radfahren bei solchen Querwinden war furchterregend, aber es fegte auch alles Überflüssige weg. Das Ganze war wie ein Rennen in einem Hochofen. Und in ein paar Stunden würde ich erneut hier unterwegs sein – dann zu Fuß, mitten im ­Marathon, der den Abschluss des Wettkampfs bildete. Dann würde es noch heißer sein. Ob ich das Feld dann auch noch anführte?

Es war ein Ironman-Triathlon, der Ironman-Triathlon. Jeden Oktober finden in Kona auf Hawaii die World Championships unseres Sports statt. Der Ironman stellt die längste Triathlondistanz dar, die innerhalb eines Tages absolviert wird – 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer auf dem Rad und zum Schluss ein kompletter Marathon.

Was ich nicht wusste: Vier vormalige Sieger waren an diesem Tag schon ausgestiegen. Ein Ironman stellt selbst die Besten der Welt vor die Herausforderung, überhaupt ins Ziel zu kommen. Und nun war ich in der Poleposition. Das konnte doch einfach nicht wahr sein!

Ich glaube nicht, dass mir irgendjemand das Zeug zum World Champion zugetraut hat. Das fängt schon mit meinem Spitznamen an: Muppet, der Tollpatsch. Und, ja: Er lautet genau aus dem Grund so, an den Sie jetzt gerade denken. Ich war schon immer ein Bruchpilot und gern unvernünftig. Als Kind war ich verrückt nach Sport, Anzeichen für ein besonderes Talent gab es aber keine.

Solange ich mich erinnern kann, drängte es mich, das Beste aus mir zu machen, und das auch mit der Welt um mich herum zu versuchen. Vor acht Monaten hatte ich meinen Job im öffentlichen Dienst aufgegeben, um Profi-Triathletin zu werden. Internationale Zusammen­arbeit und Entwicklungspolitik waren meine Leidenschaften. Doch wenn Büro­kratie und Amtsschimmel mich deprimierten, bot sich der Sport als perfekte Methode an, festgefahrene Dinge wieder in Bewegung zu bringen – ­sowohl für meine eigene persönliche Entwicklung als auch für meine Ambi­tionen, anderen zu helfen. Ich habe selbst gesehen, wie der Sport Menschen neue Energie verleihen und die Grenzen überschreiten kann.

Mir hat er immer Energie gegeben, doch erst jetzt, da sich vor mir die Straße klar bis zum Horizont erstreckte, spürte ich meine große einmalige Chance. Das Mädchen, das aus dem Nichts aufgetaucht war, der Tollpatsch, der die Führung übernommen hatte! Ich musste unbedingt dafür sorgen, dass dies nur der Anfang war. Der Weg, den ich noch zu gehen hatte, war höllisch weit, so viel mehr gab es noch zu bewältigen. Aber wenn ich das schaffen würde …

Der Ironman

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Der Ironman. Schon allein der Name reizt mich. Kaum ein Sportereignis flößt größere Ehrfurcht ein. Schon bei meiner ersten Begegnung verliebte ich mich in diesen Wettkampf, und da war ich bloß Zuschauer – weniger als fünf Monate zuvor.

Es ist eine Frage der Größenordnung. Das Größte ist nicht immer das Beste, sagt man, im Ausdauersport aber schon. Der Marathonlauf ist schon wegen seiner Länge von einem besonderen Nimbus umgeben, doch beim Ironman ist er lediglich die letzte Etappe, die man durch­stehen muss.

Einen Vorgeschmack auf ein Ironman-Rennen bekam ich im Juni 2007 beim Ironman Switzerland in Zürich. Ich hatte dort tags zuvor an einem Triathlon über die olympische Distanz teilgenommen und ihn auch gewonnen (von der Länge her gerade einmal ein Viertel der Ironman-Distanz). Sofort erkannte ich, dass der Ironman das Hauptereignis an diesem Wochenende war. Die Intensität des Wettkampfs steigt einfach überproportional zu seiner Länge.

Es hängt eine besondere, fast schon hörbare Energie in der Luft, als wenn das beste Team der Welt in die Stadt kommt. Diese Veranstaltung motiviert die Menschen zu außergewöhnlichen Dingen – außergewöhnliche Aufregung bei den Zuschauern, außergewöhnliche Leistungen bei den Teilnehmern.

Was jedoch den Ironman von allen anderen sportlichen Wettkämpfen unterscheidet, ist die Körperlichkeit des Kampfes gegen einen felsenfesten und unnachgiebigen Feind: der Kampf gegen das Rennen selbst! Hier lernt man das Menschsein in seiner rohesten, in seiner besten und seiner schrecklichsten Form kennen.

All das fördert der Ironman in uns zutage. Schon das Finish ist beim Ironman wie ein Sieg: Viele müssen sich am Straßenrand übergeben, manche verlieren die Kontrolle über ihre grundlegenden Körperfunk­tionen, andere kollabieren, laufen sich ins Delirium, stürzen sich in den Endspurt, wenn die Ziellinie manchmal noch meilenweit entfernt ist. Dieser (Wett-)Kampf ruft heftige Emotionen hervor und zwingt einen, tief zu schürfen – physisch und psychisch. Dazu kommt die Euphorie und Erleichterung, wenn man es bis ins Ziel geschafft hat. Inspirierend ist das einzig richtige Wort, um es zu beschreiben. Das können Kricket oder Fußball nicht bieten!

Der allererste Ironman-Triathlon fand an meinem ersten Geburtstag, dem 18. Februar 1978, statt und entstand aus einem Streit, wer denn die fitteren Sportler wären, Läufer oder Schwimmer. Heiß diskutiert wurde diese Frage an einem Tisch bei der Siegerehrung einer Laufveranstaltung auf Oahu, Hawaii. Navy-Commander John Collins brachte noch Rennradfahrer in die Debatte ein, da er von dem belgischen Radprofi Eddy Merckx gelesen hatte, der über die höchste jemals bei einem ­Athleten gemessene Sauerstoffaufnahmefähigkeit verfügte. Dann überkam ihn die Erkenntnis: Die Kombination des Waikiki Roughwater Swim mit dem Around Oahu Bike Race und dem Honolulu Marathon würde doch den ultimativen Test ergeben, um ihren Streit beizulegen. Der Gesamtsieger sollte dann den Titel „Ironman“ tragen. Also sprang Collins auf die Bühne, griff sich das Mikrofon, verkündete seine Idee – und wurde ausgelacht!

 

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Der Ironman: Ein unbarmherziger Sport.

Allem Hohn und Spott zum Trotz wurde ein Jahr später der erste Ironman von Collins und seinen Freunden in Angriff genommen. 15 Athleten versammelten sich an der Startlinie, zwölf kamen ins Ziel. Gewonnen hat damals der Taxifahrer Gordon Haller, der die drei Dis­ziplinen über insgesamt 226 Kilometer in knapp unter zwölf Stunden absolvierte. Collins selbst finishte in 17 Stunden.

Im Folgejahr erregte das Rennen die Aufmerksamkeit eines Journalisten auf der Durchreise, der in einem Artikel für „Sports Illustrated“ seine Erfahrungen als Augenzeuge schilderte. Dieser Bericht inspirierte 1980 Hunderte, sich der Herausforderung zu stellen. 1981 wechselte das Rennen von Oahu zu seinem jetzigen Austragungsort, dem weniger dicht bevölkerten Hawaii Island, besser bekannt unter seinem liebevollem Spitznamen „Big Island“. Der US-Fernsehsender ABC äußerte Interesse an einer Berichterstattung über den Wettkampf. Und 1982 schließlich war die Legende geboren.

In jenem Jahr entschloss sich eine junge Studentin namens Julie Moss im Rahmen ihrer Abschlussarbeit für ihr Sportstudium am Ironman teilzunehmen – und sollte Geschichte schreiben! Abgesehen von ihrem leidenschaftlichen Hobby Wellenreiten hatte sie wenig Erfahrung mit dem Wettkampfsport. Doch so unglaublich es klingt, bei Kilometer 13 des Marathonlaufs lag Julie an der Spitze des Frauenfeldes. Je länger sie diese Position verteidigte, umso entschlossener war sie, den Sieg zu erringen – und umso mehr schwanden ihre Kräfte, das auch durchzustehen: Mit jedem Schritt trieb sie weiteren Raubbau an ihren Körper­reserven.

Das erste Mal brach sie ein paar Hundert Meter vor dem Ziel zusammen. Sie schaffte es wieder auf die Füße und schleppte sich weiter, ihre gefährlichste Konkurrentin lag noch einige Minuten zurück, aber ihr Körper war am Ende seiner Kräfte. Die Zuschauermenge bildete eine Gasse und feuerte sie frenetisch an, während freiwillige Helfer herbeieilten. Doch Julie wehrte sie ab, wohlwissend dass ihr bei der Annahme fremder Hilfe laut Reglement die Disqualifikation drohte. Inzwischen war die Dunkelheit hereingebrochen und im gnadenlosen Scheinwerferlicht hielten die ABC-Kameras ihren Kampf in schonungslosen ­Bildern fest. Nur zwanzig Meter vor dem Ziel kollabierte sie erneut – Helfer versuchten, sie wieder auf die Füße zu stellen, aber sie ließ sich nicht helfen. Zu diesem Zeitpunkt lief die Zweitplatzierte, Kathleen McCartney, in Unkenntnis des Dramas an Julie vorbei und stolperte ins Ziel, wo sie zur Siegerin erklärt wurde. Julie Moss legte die verbleibenden Meter auf allen Vieren zurück und erreichte mit blutenden Händen und aufgeschürften Knien 29 Sekunden später das ersehnte Ziel – nach über elf Stunden Renndauer.

Das Drama zog Millionen Amerikaner in seinen Bann und ist Teil des Mythos unseres Sports geworden. Heute schießen Ironman-Rennen weltweit wie Pilze aus dem Boden. Das ursprüng­liche Rennen auf ­Hawaii ist zur alljährlichen Weltmeisterschaft geworden, bei der sich 1.800 Athleten vor Tausenden jubelnder Zuschauer am zweiten Wochenende im Oktober miteinander messen. Jedes Jahr wollen sich mehr als 50.000 hoffnungsvolle Kandidaten für dieses Rennen qualifizieren.

Die Energie eines jeden Ironman, ganz zu schweigen von den World Championships im Pazifik, ist mit Händen greifbar: Nervös fragen sich die Athleten, was wohl vor ihnen liegen mag. Für die Spitzensportler stellt sich natürlich eher die Frage: Werde ich heute gewinnen? Und für alle stellt sich die große Frage: Komme ich überhaupt ins Ziel – und zu welchem Preis? Selbst wenn der Körper nicht aufgrund purer Erschöpfung aufgibt, droht ein breites Spektrum an unerwarteten Verletzungen, sei es im Getümmel auf der Schwimmstrecke, bei hoher Geschwindigkeit auf dem Rennrad oder durch die erbarmungslosen Stöße auf dem harten Asphalt des Marathons. Die Wirkung ansonsten harmloser Erkrankungen vervielfacht sich, wenn wir unseren Körper im Wettkampf bis an seine Grenzen treiben. Und dazu könnte ständig ein mechanischer Defekt am Rad, eine Rebellion des Magen-Darm-Trakts, eine Dehydrierung oder Überhitzung kommen.

Daher sind die Rituale eines Ironman-Athleten pedantisch. Nach dem Frühstück noch vor der Morgendämmerung geht es zum Startbereich, wo sich bereits Hunderte von anderen Athleten versammelt haben, um dem exzessiven Gebrauch von Vaseline zu frönen. Das hat nicht nur zeremoniellen Charakter, sondern ist durchaus empfehlenswert. Wunde Stellen sind einer der schlimmsten Feinde des Ironman-Athleten. Es zwingt Sie vielleicht nicht zum Stehenbleiben, aber es tut höllisch weh, besonders im Schritt, im Bereich der Achseln und an den Brustwarzen. Diese Bereiche müssen ausgiebig geschmiert werden. Je mehr Sie dabei Ihr Schamgefühl ausblenden, umso besser für Ihren Rennverlauf.

Idealerweise begeben Sie sich schon 15 Minuten vor dem Start ins Wasser und schwimmen sich ein. Bei Ironman-Wettkämpfen findet das Schwimmen fast immer im offenen Wasser statt. Je nach Wassertemperatur sind Neoprenanzüge zugelassen oder untersagt. In den letzten ­Minuten vor dem Start schwimmen Sie auf der Stelle, bleiben in Bauchlage und möglichst startbereit an der Wasseroberfläche. Bei einigen Veranstaltungen, wie zum Beispiel in den tropischen Gewässern vor Hawaii, kann das Schwimmen zu einem der erhabensten und schönsten Augenblicke des ganzen Jahres, auf jeden Fall aber des Tages werden.

Sobald der Starter den Abzug gedrückt hat, bricht die Hölle los! Jeder versucht, die Füße der schnellen Schwimmer zu erwischen, um von ihrem Strömungsschatten zu profitieren. Es ist tatsächlich ein Kampf. Gliedmaßen schlagen aus und um sich und können Sie überall treffen. Langsamere Schwimmer werden buchstäblich „überschwommen“. Das Wasser kocht und schäumt, das Atmen wird schwer. Bei kabbeliger See im Meer ist die Situation noch schlimmer. Man fühlt sich wie in der Waschmaschine!

Die Elite der Triathleten erledigt die erste Disziplin in weit unter einer Stunde. Alle anderen, die das Rennen anschließend an Land fortsetzen wollen, haben zwei Stunden und zwanzig Minuten Zeit, sich ans Ufer zu retten. Und hier liegt eine weitere Grausamkeit, mit der Ironman-Starter fertig werden müssen: Zeitlimits (cut-off times), über deren sekundengenaue Einhaltung streng gewacht wird. Da gibt es kein Pardon und kein Vertun! Das Gleiche gilt für die beiden anderen Disziplinen: Wer zehneinhalb Stunden nach dem Start noch mit dem Rad unterwegs ist, wird aus dem Rennen genommen. Und um Mitternacht, lange nach dem letzten Daylight-Finisher und 17 Stunden nach dem Startschuss, machen sich die sogenannten Lumpensammler auf den Weg und holen jene Athleten von der Strecke, die es diesmal nicht geschafft haben.

Dabei kommt es zu herzzerreißenden Szenen. Die Betroffenen empfinden keineswegs Erleichterung, dass ihnen die weitere Strafe auf der Strecke, die sie so eindeutig besiegt hat, erspart bleibt. Das ist nicht die Denkweise der Ironmänner und -frauen. Sie sind verzweifelt und untröstlich, dass man ihnen das ersehnte Finish verwehrt, dass sie nicht zu Ende bringen dürfen, was sie begonnen haben – nicht nur ein paar Stunden zuvor am Schwimmstart, sondern schon vor Jahren, als sie begannen, davon zu träumen. Jeder Athlet hat seinen eigenen Grund, an einem Ironman teilzunehmen. Da gibt es niemanden, der nicht mit ganzem Herzen bei der Sache wäre!

Sobald Sie Ihr Rad in der Wechselzone gefunden und in Ihre Rad­klamotten gewechselt haben, was nicht länger als circa zwei Minuten dauern sollte, geht es hinaus auf die Landstraße. Die Besten der Besten kämpfen während der nächsten viereinhalb bis fünf Stunden mit den 180 Kilometern Radstrecke. In dieser Rennphase steigt die Sonne am Himmel immer höher. In heißen Ländern wird das Rennen dann wirklich zur Qual. Doch auch Regen bringt seine ganz eigenen Probleme mit sich, und widrige Winde, insbesondere in Kombination mit Hitze oder Regen, können sämtliche Pläne und Ziele zunichtemachen. Rückenwind ist willkommen, doch Gegenwind macht das Fahren so schwer wie am Berg. Querwinde sind noch übler: Wirklich starke Querwinde sind zermürbend, denn sie erschweren die Kontrolle über das Rad und können ­einen sogar von der Strecke pusten.

Auf dem Rad entsteht auch zum ersten Mal das Bedürfnis, eine Toilette aufzusuchen. Da darf man nicht zimperlich sein. Natürlich gibt es allenthalben die bekannten Toilettenhäuschen entlang der Strecke, doch die zeitsparendste Lösung ist meines Erachtens die, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte (und die kein Absteigen vom Rad erfordert). Auf der Laufstrecke ist eine schnelle Hocke am Straßenrand ja noch akzeptabel, doch auf der Radstrecke bringt mich nichts aus dem Sattel außer einer Reifenpanne. Bei diesem Szenario erfüllt die zuvor reichlich aufgetragene Vaseline ihre wirklich wichtige Rolle. Und letztlich ist auch die Verwendung von Urin als Waffe nicht zu unterschätzen. Auf dem Rad herrscht ja im Gegensatz zum Schwimmen Windschattenverbot, denn das sogenannte Drafting, also das dichte Auffahren auf den Vordermann bzw. die Vorderfrau, ist nicht nur gefährlich, es ist unsportlicher Betrug und wird durch eine ganze Reihe von offiziellen Strafen (penalties) geahndet. Trotzdem kommt es manchmal vor, unbemerkt von den Kampfrichtern (race marshals). Wenn mir jemand auf dem Rad im Nacken hängt, reicht meist ein warmer Strahl, um ihn oder sie abzuschütteln. Auch hierbei kommt Ihnen eine gute Hydrierung zugute, also ein intakter Flüssigkeitshaushalt des Körpers durch regelmäßiges Trinken.

Auf dem letzten Rennabschnitt schließlich müssen auch die Besten mit ihren Dämonen kämpfen. Nachdem man 180 Kilometer lang auf ­einem unnachgiebigen Sattel gesessen, sich aerodynamisch optimal über dem Lenker zusammengekrümmt und mit den Beinen gnadenlos gepumpt hat, als gäbe es kein Morgen, kann der Wechsel zum Laufen, noch dazu über die volle Marathonstrecke, eine seltsame Erfahrung sein. Ihre Beine werden sich während der ersten Minuten wie Pudding anfühlen, doch das geht vorüber – bald werden sie sich wie Blei anfühlen!

Es ist unmöglich, fast den ganzen Tag mit Schwimmen, Radfahren und Laufen zuzubringen und dabei nicht auch Tiefpunkte und Momente der Schwäche zu erleben. Übelkeit, Dehydration und physische Unannehmlichkeiten, ganz zu schweigen von ernsthaften Verletzungen, kommen und gehen die ganze Zeit über. Dazu die mentalen Qualen durch die endlose Ausdehnung der Straße vor Ihnen mit Landmarken, die einfach nicht näher kommen wollen.

Sie können keine Musik hören. Das Hämmern des Pulsschlags im Kopf ist Ihr einziger Begleiter, und jede unbeseelte Faser Ihres Körpers schreit nach einem Abbruch des Rennens. Das ist der Punkt, an dem der Geist die Kontrolle übernehmen muss. Ironman ist ebenso sehr eine mentale Herausforderung wie eine physische.

Doch all das wird belohnt durch den Anblick der Zielgeraden. Die vielen Zuschauer mit ihren Anfeuerungen entlang der Strecke richten so manchen ermüdenden Körper und Geist wieder auf, indem sie die ganze Energie auf den letzten Metern bündeln. Ganz gleich ob Sie als Erster oder Eintausendster ins Ziel kommen: Das Publikum macht Sie zum Champion! Mag Ihr Körper noch so zerschunden, Ihre Muskeln verkrampft, die Haut wund gescheuert, die Zehennägel ausgefallen und die Füße voller Blasen sein: Sie sind Mitglied in einer ganz besonderen Gemeinschaft geworden, der Ironman-Community! Für mich ist es nach all meinen Rennen Ehrensache, bis in die Nacht an der Ziellinie zu stehen, um die letzten Finisher zu begrüßen. Da will ich nirgendwo anders sein! Wir Profis sind ja nur mit Essen, Schlafen und Trainieren für diese Events beschäftigt, doch die Tausenden von Finishern, die den Ironman nicht wegen der Endzeit oder Platzierung, sondern aus Liebe zu diesem Wettkampf angehen, inspirieren mich am meisten.

Julie Moss war die erste große Heldin unseres Sports. Seitdem hat es zahllose weitere gegeben, doch die meisten kommen nicht einmal in die Nähe des Siegerpodests. Athleten, die gegen das Alter, eine Krankheit oder Behinderung kämpfen, all jene, die sich von einer schlimmen Verletzung erholen, und schließlich auch diejenigen, die einfach „nur“ neben dem Sport mit den tagtäglichen beruflichen Anforderungen ringen müssen – das sind alles Ironman-Helden.

Sport verfügt über die einzigartige Fähigkeit, Menschen zu inspirieren und Kraft zu verleihen. Wenn Sport richtig eingesetzt wird, kann er eine enorme Kraft für das Gute in der Welt entwickeln. Triathlon ist eine relativ junge Sportart und trotz der alljährlichen exponentiellen Wachstumsraten ein Minderheitensport. Vielleicht bezieht er aus dieser Frische seine Energie; aber irgendetwas scheint den Strapazen eines Ironman inne­zuwohnen, das die Menschen dazu inspiriert, das Beste aus sich und anderen herauszuholen. Denn, das kann man nicht leugnen, genau das tut dieser Sport. Der Ironman trat ziemlich plötzlich in mein Leben und hat es für immer verändert.

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Hawaii: Die Sonne geht nach elf Stunden unter, das Ziel schließt nach 17 Stunden.

Raus aus Norfolk

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