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Jürgen Siegmann

Schattenmensch

Roman

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.

Copyright © 2017 by Edition 211, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage

Lektorat: Martina Kuscheck

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

E-Book: Mirjam Hecht

Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Made in Germany

ISBN 978-3-95669-087-7

www.bookspot.de

Prolog

München, 26. September 1980

Irgendwann tut man alles zum letzten Mal.

Irgendwann küsst man ein letztes Mal.

Irgendwann liebt man ein letztes Mal.

Irgendwann lacht man ein letztes Mal.

Und irgendwann stirbt man ein erstes Mal.

Es war der Tag vor Elenas zwanzigstem Geburtstag. Und als sie beim Frühstück in ihrer kleinen Studentenbude saß, ahnte sie nicht, dass ihr nur noch wenige Stunden zu leben blieben.

Es war schon kurz vor zwölf und sie stellte rasch ihre Kaffeetasse in den Ausguss, zog ihre roten Schuhe an und eilte aus dem Haus. Sie musste sich sputen, um an die Uni zu kommen. Elena studierte Kunstgeschichte und verbrachte den Nachmittag in der Bibliothek, um eine Semesterarbeit vorzubereiten. Gegen 19:00 Uhr traf sie sich mit einer Freundin in einer
Pizzeria, von wo aus sie sich um kurz vor 22:00 Uhr
mit dem Fahrrad zur Theresienwiese aufmachte, um ihren Freund Ulrich abzuholen, der beim Oktoberfest einen Aushilfsjob als Bierzapfer ergattert hatte.

Elena kettete ihr Fahrrad am Bavariaring an einem Verkehrsschild an und überquerte die Straße in Richtung des Haupteingangs. In Kürze würden die Festzelte schließen und es kamen ihr viele Menschen entgegen, die den Platz verließen.

Es war die reinste Völkerwanderung an diesem Abend. Millionen von Besuchern kamen jedes Jahr aufs Oktoberfest. Und Elena begegneten Asiaten in Lederhosen, einem verliebten Pärchen, bei dem sie einige Brocken Italienisch aufschnappte, ein paar skandinavischen Männern, die sich singend in den Armen lagen, Eltern, die ihre übermüdeten Kinder im Arm hielten.

Elena blieb mitten im Gewühl stehen, aus Angst, Ulrich zu verpassen. Im Hintergrund leuchteten die bunten Lichter des Riesenrads und der anderen Fahrgeschäfte und aus den Bierzelten drang Blasmusik und begleitete die Menschen auf ihrem Nachhauseweg.

Sie sah auf ihre Armbanduhr. 22:18 Uhr. Ulrich hatte offiziell um 22:15 Uhr Feierabend und musste jeden Moment auftauchen. Sie reckte den Kopf und hielt in der Menschenmenge nach ihm Ausschau. Und sobald sie ihn entdeckte, würde sie ihm entgegenfliegen, ihre Arme um seinen Hals schlingen und ihn küssen, auch wenn er nach Bier, Tabak und Schweiß stinken würde.

Mit Ulrich war alles so leicht. Wie eine kühle Brise an einem heißen Sommertag. Vom ersten Moment an hatten sie sich auch ohne Worte verstanden, und wenn sie zusammen waren, dann fühlte es sich einfach richtig an. Alles, was sie miteinander taten.

Sie drehte unbewusst eine Locke ihres dunkelbraunen Haares um den Finger, wie sie es oft tat, wenn sie an Ulrich dachte, und senkte den Blick auf ihre Schuhe. Er hatte sie ihr voriges Jahr zum Geburtstag geschenkt. Was würde er ihr wohl in diesem Jahr schenken?

Es war der letzte Gedanke in Elenas kurzem Leben. Nur wenige Meter neben ihr war in einem Abfallkorb eine Bombe deponiert worden, die in diesem Moment explodierte. Die gewaltige Explosion riss mehr als ein Dutzend Menschen in den Tod und auch Elena war auf der Stelle tot.

Die ungeheure Druckwelle erzeugte kaum Sachschaden, aber im Umkreis von mehr als 20 Metern lagen Tote und Verletzte und den herbeieilenden Helfern bot sich ein schreckliches Bild. Abgerissene Arme und Beine, verstümmelte Leichen und Menschen, die blutüberströmt umherirrten.

Später würden die Helfer einen von Elenas roten Schuhen finden. Der andere blieb auf ewig verschwunden.

1

Köln, August 2016

Einschlafen ist wie sterben. Der Unterschied besteht im Aufwachen. Und in letzter Zeit wünschte sich Maundu Odera immer öfter, nicht mehr aufzuwachen.

Einen Moment lang war er völlig orientierungslos. Über ihm der blaue Himmel. Genau wie zu Hause. Doch dann schreckte er hoch. Wie lange hatte er geschlafen?

Er hatte seinen schlaksigen Körper doch nur einen Augenblick auf den Rechen gestützt und die Augen geschlossen. Wieso lag er jetzt hier im Gras? Maundu wusste, dass er sofort rausfliegen würde, wenn der Anwalt ihn erwischte. Aber er bekam einfach zu wenig Schlaf.

Um drei Uhr morgens war er aufgestanden und hatte den ganzen Tag in dem Hotel in der Innenstadt geschuftet. Spülen, Schuhe putzen, Wäschesäcke schleppen. Zehn Stunden lang. Nach Feierabend waren ihm nur ein paar Minuten geblieben, um den Bus zu erwischen. Die Fahrt raus aus der Stadt war die erste Pause des Tages gewesen.

Von der Bushaltestelle musste Maundu noch einige Minuten in der brütenden Hitze laufen bis zum Anwesen des Anwalts, bei dem er zweimal in der Woche einen Job als Gärtner hatte.

Und dann half er noch an zwei Abenden in einem Restaurant aus. Doch das Geld, das er verdiente, reichte gerade, um nicht zu verhungern und seiner Familie jeden Monat eine kleine Summe zu schicken. Hatte er dafür seine Heimat verlassen und die lange Reise von Kenia nach Europa auf sich genommen?

Aber warum war er aufgewacht? Ängstlich wie ein gehetztes Tier sah Maundu sich um. Da war niemand. Mühsam rappelte er sich hoch. Irgendein Geräusch hatte ihn geweckt. Hinten beim Haus. Es war hier immer so unwirklich still, dass man jedes Türenschlagen wahrnahm. Diese Gärten der reichen Leute erinnerten ihn an Friedhöfe. Es gab dort kein Leben. Kein Lachen, kein Streiten, kein Kindergeschrei. Höchstens mal einen Hund, der bellte, und das Zwitschern der Vögel. Aber wenigstens gab es Arbeit für Menschen wie ihn. Mehr interessierte ihn nicht.

Das Anwesen zog sich in einem sanften Schwung einen kleinen Hügel hinauf und Maundu ging mit seinem Rechen zu der Rasenfläche oben beim Haus. Besser, wenn der Chef sah, dass er was tat für sein Geld, auch wenn es ein schlechter Witz war, was er hier verdiente. Aber er musste froh sein, dass es überhaupt Leute gab, die jemanden wie ihn beschäftigten. Menschen, die es eigentlich gar nicht gab. Die es nicht geben durfte. Die aber trotzdem da waren. Illegale. Schattenmenschen. Wie Maundu, der gezwungen war, ein unsichtbares Leben in Deutschland zu führen.

Es machte ihn nervös, wenn der Anwalt zu Hause war. Er hatte immer etwas an seiner Arbeit auszusetzen und noch nie ein freundliches Wort für ihn übrig gehabt. Aber zum Glück bekam Maundu ihn nur selten zu Gesicht. Meist war bloß seine Frau da, die viel Zeit telefonierend am Swimmingpool verbrachte.

Oft sonnte sie sich auch mit nackten Brüsten, während er den Rasen mähte. Aber nur, wenn der Anwalt nicht zu Hause war. Vielleicht wollte sie ihn provozieren oder sich über ihn lustig machen. Vielleicht existierte er für sie aber auch einfach nicht. Dieses schamlose Verhalten widersprach all seinen Moralvorstellungen. In Maundus Augen war diese Frau nichts anderes als eine Hure. Aber wenigstens hatte sie nie etwas an seiner Arbeit auszusetzen.

Im Moment war allerdings weder der Anwalt noch dessen Frau zu sehen. Sein kleines Schläfchen war also folgenlos geblieben. Die Terrassentür des Hauses stand offen und die weiße Gardine bewegte sich leicht im Wind. Maundu harkte gewissenhaft die letzten Grasreste zusammen, die nach dem Mähen zurückgeblieben waren. Wer wusste schon, ob er vom Haus aus beobachtet wurde? Dann hörte er sie. Erst ihn, kurz darauf auch sie. Die beiden hatten Sex. Sehr gut, so waren sie eine Weile beschäftigt. Maundu verschwand wieder in den schattigen Teil des Gartens, um in aller Ruhe eine Hecke beim Eingang zu beschneiden.

Nach wenigen Minuten fielen ihm erneut die Augen zu. Eine Stunde musste er noch durchhalten. Im Bus würde er ein wenig schlafen können. Da hörte er den lauten Gong der Türklingel. Sofort legte Maundu einen Zacken zu. Und im nächsten Augenblick kam auch schon der Anwalt den Weg herunter, um seinen Besuch persönlich in Empfang zu nehmen. Die Männer begrüßten sich und gingen den Weg hinauf, ohne den Gärtner auch nur eines Blickes zu würdigen.

Als er beinahe mit seiner Hecke fertig war, hörte Maundu Schreie vom Haus her. Er wandte den Kopf und da stürmte der Anwalt auch schon mit hochrotem Kopf auf ihn zu. Sofort wusste er, dass ihm Ärger bevorstand, auch wenn er keinen Schimmer hatte, warum.

Kaum hatte der Anwalt ihn erreicht, brüllte er los. Maundu verstand kein Wort und guckte ihn nur verständnislos an. Obwohl sein Gegenüber einen Kopf kleiner als Maundu war, packte der ihn am T-Shirt und schüttelte ihn. Wenn die verdammten Deutschen ruhig und langsam sprachen, kapierte er inzwischen einiges. Aber das taten sie ja nie.

Der Anwalt war wütend, das war unübersehbar. In einer solchen Verfassung hatte er ihn noch nie erlebt. Er tobte. Er brüllte. Und seine Arme wedelten wie die eines verrückt gewordenen Mganga, eines mächtigen Zauberers. Ganz nah sah er das Gesicht des älteren Mannes vor seinem. Die roten Äderchen auf der Nase, die Tränensäcke unter den Augen. Was wollte der Anwalt von ihm? Warum bedrängte er ihn? Was hatte ihn so wütend werden lassen?

Maundu hob die Arme und sprach beschwichtigend in Kisuaheli auf ihn ein. Doch der Anwalt schrie immer weiter. Schnell. Laut. Aggressiv. »Koffer« war eines der Worte, das er aus dem Wortschwall heraushören konnte. »Geld« ein anderes. Aber er wusste beim besten Willen nicht, von welchem Koffer und von welchem Geld hier die Rede war. Also verhielt er sich ruhig und hoffte, dass der Anwalt bald fertig war.

Dass Maundu nur dastand und den Anwalt teilnahmslos anstarrte, machte diesen aber nur noch wütender. Ein Schlag auf die Brust. Maundu wich verängstigt zurück, bis er die Hecke in seinem Rücken spürte. Er könnte diesen alten Mann mit einem Hieb niederstrecken, aber er wusste, dass alle weißen Männer eine Macht hatten, die weit über ihre körperlichen Kräfte hinausgingen.

Verzweifelt versuchte er, den Anwalt zu beschwichtigen. Doch er musste hilflos mit ansehen, wie der Mann immer wütender wurde. Er schrie und schubste ihn erneut. Er sah den Zorn in den Augen des weißen Mannes. Aber er sah noch etwas anderes. Angst. Und das verstand Maundu überhaupt nicht.

»Geld! Geld! Geld!«

Immer wieder schrie der Anwalt dieses Wort. Glaubte er, dass Maundu irgendwelches Geld genommen hatte? Warum sollte er so verrückt sein? Aber natürlich war es der schwarze Mann, der als Erster verdächtigt wurde.

Maundu hatte nichts getan, doch außer ihm war hier niemand weit und breit. Wer hätte denn irgendwelches Geld stehlen sollen? Und wo überhaupt? Im Haus? Er war doch nicht mal in die Nähe des Hauses gekommen und der Anwalt und seine Frau waren die ganze Zeit zu Hause gewesen.

Maundu kapierte immer weniger. Aber eines war ihm klar. Er steckte in der Klemme. Wenn der Anwalt glaubte, dass er etwas gestohlen hatte, spielte es keine Rolle, ob er es tatsächlich getan hatte. Das Ergebnis wäre das Gleiche.

Wenn der die Polizei rief, wäre es Maundus kleinstes Problem, dass ihm niemand glauben würde. Wenn die Polizisten kamen, drohte ihm die Abschiebung, egal, ob er etwas verbrochen hatte oder nicht.

Wieder und wieder stieß ihn der Anwalt vor die Brust und brüllte dabei: »Wo ist mein Geld?« Und dann hörte Maundu in dem Wortschwall etwas heraus, das jeder afrikanische Einwanderer schnell lernte: »Dreckiger Neger.«

Unvermittelt schlug er zu und sofort wurde es himmlisch still. Der Anwalt sackte stöhnend zu Boden. Blut lief aus seiner Nase und besudelte sein weißes Hemd. Maundu trat ihm in den Bauch. Das war für den dreckigen Neger.

Als er merkte, dass der Anwalt sich nicht mehr rührte, hielt Maundu erschrocken inne. Hatte er ihn umgebracht? Maundu stupste den Anwalt mit der Fußspitze an. Der stöhnte leise, rührte sich aber immer noch nicht. Gott sei Dank, er lebte! Erst jetzt wurde Maundu klar, was er getan hatte. Wenn der Anwalt wieder bei Bewusstsein war, würde er die Polizei rufen. Polizei bedeutete Abschiebung. Er musste weg von hier. Sofort! Ohne sich noch einmal nach dem Anwalt umzusehen, rannte Maundu los.

Die Straße lag einsam in der Hitze des späten Nachmittags. Links und rechts hohe Mauern, Hecken, massive Eisentore, Videokameras. Maundu lief so schnell er konnte in seinen alten Schuhen, die ihm eine Nummer zu groß waren. Zurück in Richtung Hauptstraße, einen anderen Weg gab es sowieso nicht. Dort unten war die Bushaltestelle. Wenn er erst im Bus saß, würde alles gut werden. Dann konnte ihn der Anwalt nicht mehr finden. Er wusste ja nicht mal Maundus vollen Namen, er war immer nur der Gärtner gewesen.

Die Straße lag still vor ihm. Nur das Zirpen der Grillen und das Platschen seiner Sohlen auf dem Asphalt waren zu hören. Bis er hinter sich das Aufheulen eines Automotors hört. Maundu lief schneller. Hier konnte man nirgends abbiegen oder sich verstecken.

Er lief so schnell er konnte. Das Auto war noch nicht zu sehen, aber der Motorenlärm kam immer näher. Und er wusste, dass er keine Chance hatte, zu entkommen. Er spürte, dass dieses Auto nicht zufällig die Straße entlangfuhr.

Seine Lunge schmerzte und der Schweiß lief ihm übers Gesicht. Verzweifelt blickte er sich um. Und da war es. Groß, schwarz und aggressiv. Der silberne Kühler wie ein aufgerissenes Maul. Die Scheinwerfer wie Augen. Dieser Wagen machte Jagd auf ihn. Wie ein Tier. Groß, wild und ausgehungert. An den Fahrer verschwendete er keinen Gedanken, es war dieses dunkle Raubtier, das ihm Todesangst bereitete.

Er wusste, dass das Tier ihn gesehen, ihn gewittert hatte. Der Motor heulte auf. Wie das Fauchen einer Raubkatze. Das Tier machte einen Sprung nach vorne und raste auf ihn zu.

Lauf schneller!, schoss es Maundu durch den Kopf. Achte nicht auf die Schmerzen. Renn!

Da vorn, die nächste Kurve auf der engen Straße. Nur noch wenige Meter. Er musste diese Kurve erreichen, weiter konnte er im Moment nicht denken. Maundu schleuderte seine Schuhe von sich und rannte so schnell ihn seine Füße trugen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.

Doch das Tier kam unbarmherzig näher. Völlig mühelos. Die Kurve … nur noch drei Meter, noch zwei. Er hört das Brüllen des Motors in seinem Rücken. Das Raubtier war direkt hinter ihm, bereit zum Sprung. Noch ein Meter … die Kurve … geschafft! Die Straße machte hier eine scharfe Wendung und das verschaffte ihm ein paar Sekunden. Aber Maundu kannte den Weg und wusste, dass es noch weit war bis zur rettenden Kreuzung. Viel zu weit. Dennoch rannte er einfach weiter.

Er kam um die Kurve und plötzlich tauchte vor ihm dieser weiße Lieferwagen auf. Es war viel zu eng für zwei Wagen, was meist kein Problem war, weil es kaum Verkehr gab. Aber wenn sich doch einmal zwei Wagen trafen, musste einer von beiden bis zur nächsten Einfahrt zurücksetzen. Der Mann in dem Lieferwagen schien sich hier aber nicht auszukennen und Maundu hörte, wie er eine Vollbremsung machte, um eine Kollision zu vermeiden.

Maundu drückte sich auf dem schmalen Fußweg an dem Transporter vorbei und drehte sich kurz um. Er sah, wie sich die Augen des Fahrers weiteten und wie er fluchte. Und er hörte, wie im Inneren des Wagens bei der Bremsung etwas mit lautem Geschepper zu Bruch ging.

Panisch schaute sich Maundu um. Sein Verfolger hatte mitten in der Kurve gestoppt. Einen winzigen Moment lang schien die Zeit eingefroren zu sein. Alles war in der Schwebe. Dann öffnete sich die Tür des Geländewagens.

Ohne wirklich zu wissen, was er tat, setzte Maundu einen Fuß auf das Hinterrad des weißen Lieferwagens. Er drückte sich hoch und bekam den Rand der anliegenden Grundstücksmauer zu fassen. Ein unglaublicher Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen, als die Glasscherben auf der Mauerkrone sich in seine Hände bohrten. Aber er ließ nicht los. Mit letzter Kraft zog er sich nach oben. Die Glassplitter hatten sich tief in beide Hände gebohrt, aber er ignorierte die Schmerzen und fiel auf der anderen Seite der Mauer in ein Blumenbeet.

Nur noch gedämpft vernahm er das wütende Geschrei des Lieferwagenfahrers. Motorengeräusche. Der Geländewagen setzte zurück. Einen kurzen Moment lang fühlte Maundu sich in Sicherheit. Bis er das Knurren eines großen Hundes hörte. Eben, auf der Straße, da war er panisch gewesen. Vor lauter Angst nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Doch jetzt beim Anblick dieser grauen Dogge überkam ihn eine tiefe Ruhe. Mit Hunden kam Maundu schon immer besser klar als mit Menschen. Sie waren die harmloseren Raubtiere. Ganz langsam erhob er sich und ging beschwichtigend auf den Hund zu. Maundu murmelte beruhigende Worte in seiner Muttersprache. Er wusste, dass er sich diese Zeit nehmen musste, sonst würde ihn der Hund zerfleischen. Zum Glück konnte man sich darauf verlassen, dass die Hunde reicher Leute gut genährt waren. Er fasste in die Tasche seiner Hose und holte das halbe Brötchen heraus, dass er sich für den Nachhauseweg aufgehoben hatte. Er streckte dem Hund die Hand entgegen. Der schnuppert kurz und schon verschwand das Brot in seinem Maul. Vorsichtig kraulte Maundu das Riesenvieh hinter den Ohren. Der Hund ließ ihn gewähren.

Maundu schaute sich wachsam um, ob jemand etwas von seinem Eindringen bemerkt hatte, aber der Garten lag verlassen vor ihm. Noch einmal tätschelte er den Hund, dann schlich er sich vorsichtig die Mauer entlang. Der Hund folgte ihm, bellte aber nicht. Das Grundstück schien riesig zu sein, aber schließlich kam er zu einer niedrigen Hecke, die die Grenze zum Nachbargrundstück markierte. Untereinander waren die Gärten durch kleine Zäunchen oder Gebüsche getrennt. Nur zur Außenwelt schotteten sich die Reichen mit massiven Mauern ab.

Er vergewisserte sich, dass auch beim Nachbarn niemand zu sehen war und schlüpfte durch die Hecke. Hoffend, dass nicht gleich der nächste Hund angerannt kam. Aber der wäre längst da gewesen.

Die Dogge blieb auf ihrer Seite und blickte ihm unschlüssig hinterher. Doch plötzlich spitzte der Hund die Ohren und begann zu knurren. Geräusche von dort, wo Maundu über die Mauer geklettert war. Der Hund raste los und Maundu machte, dass er wegkam.

So schnell er konnte lief er im Schutz einiger Bäume entlang der Mauer, ohne sich auch nur einmal umzuwenden. Hinter sich das Fluchen eines Mannes. Bellen. Wahrscheinlich hatte sein Verfolger versucht, den gleichen Weg zu nehmen, beim Anblick des Hundes aber aufgegeben. Maundu war inzwischen an der Ecke des nächsten Grundstücks angekommen und lauschte. Ein Moment der Stille, dann hörte er, wie der Geländewagen angelassen wurde und sich langsam entfernte. Höchste Zeit für Maundu, zu verschwinden.

2

Der Wecker klingelte und wie jeden Morgen brauchte Tarek Bajari eine kleine Ewigkeit, um zu realisieren, wo er war. Wie jede Nacht im Sommer träumte er den gleichen Traum. Nur im Sommer, wenn die brütende Hitze, die über der Stadt lag, ihn so schmerzlich an sein Daheim erinnerte.

Im Traum war er ein kleiner Junge und schlief in seinem Zimmer in der Villa am Stadtrand von Tripolis. Vom Meer wehte ein angenehm kühler Wind herüber und bewegte sanft die weißen Vorhänge. Er war bereits wach, hatte aber die Augen noch geschlossen und lauschte dem Wind, der durch die Blätter des großen Gummibaums vor seinem Fenster strich. Gleich würde seine Mutter das Zimmer betreten, ihn sachte an der Schulter berühren und ihn ermahnen, dass es Zeit sei, aufzustehen, wenn er nicht zu spät zur Schule kommen wolle.

Er liebte und fürchtete diesen Traum gleichermaßen. Denn außer seinen Erinnerungen war ihm nichts geblieben von der Heimat. Je mehr diese im Laufe der Jahre verblassten, desto kraftvoller wurden die Bilder in seinen Träumen.

Doch auch an diesem Morgen würde er seine Mutter nicht zu Gesicht bekommen. Denn immer, wenn in seinem Traum der Moment kam, in dem sie das Zimmer betrat, klingelte sein Wecker, der ihn schmerzhaft zurück in die Wirklichkeit holte. Und das Rauschen des Gummibaums verwandelte sich in den Lärm der nahen Hauptverkehrsstraße, die ins Zentrum Kölns führte.

Er stellte den Wecker ab und öffnete die Augen. Vor dem Fenster zeigten sich bereits die ersten Lichtstrahlen des neuen Tages, der die Stadt mit Temperaturen weit über 30 Grad lähmen würde.

Der Wecker seines Nachbarn klingelte ebenfalls und Tarek hörte ihn wie jeden Morgen fluchen. Die Wände der Wohnungen waren so dünn, dass sie sich eigentlich auch einen Wecker teilen könnten. Seine beiden Mitbewohner, die er nur selten zu Gesicht bekam, schliefen noch, sodass er das winzige Badezimmer für sich hatte.

Zu dritt wohnten sie in dieser kleinen Hochhauswohnung am Stadtrand. Tarek aus Libyen, Mohamed aus Marokko und Khaled, der Ägypter, der als Einziger eine offizielle Aufenthaltsgenehmigung besaß und deshalb diese Wohnung gemietet hatte. Und aus dem gleichen Grund zahlten Tarek und Mohamed auch die komplette Miete und waren für sämtliche häuslichen Arbeiten zuständig. Nicht die Basis für eine große Freundschaft, aber dafür funktionierte das Zusammenleben der drei Männer erstaunlich gut.

Keine halbe Stunde später stand Tarek bereits an der Bushaltestelle. Hinter sich die triste Hochhaussiedlung Kölnberg, gebaut aus Beton und geplatzten Träumen. Wer hier wohnte, für den war das Leben ganz sicher kein Zuckerschlecken. Auf der anderen Straßenseite, zwischen der vierspurigen Straße, die in die Innenstadt führte und einem Aldi-Supermarkt, hatten sie vor ein paar Tagen einige Holztafeln aufgestellt. Seit gestern reihten sich dort die Konterfeis von Politikern aneinander, die mit ihrem falschen Lächeln für Tarek alle gleich aussahen. Er interessierte sich nicht für Politik. Warum auch? Wählen durfte er sowieso nicht. Und keiner von diesen Männern, die da um sein Vertrauen warben, würde je etwas für ihn tun.

Eine weitere halbe Stunde später betrat Tarek das vornehme Hotel in der Nähe des Kölner Doms unauffällig durch den Hintereingang. Hier arbeitete er seit fast einem Jahr für einen lächerlichen Lohn sechs Tage in der Woche. Illegal natürlich.

Aus ständiger Angst vor der Abschiebung nach Libyen versuchte Tarek, so unsichtbar wie möglich zu leben. Und genauso arbeitete er auch in diesem Hotel. Er hatte hier schon jede erdenkliche Arbeit gemacht. Koffer geschleppt, Zimmer geputzt und Duschen repariert. Aber mit einem der Gäste war er noch nie in Kontakt gekommen.

An diesem Morgen war eines der Zimmermädchen nicht zur Arbeit erschienen, was bedeutete, dass sie sich einen neuen Job suchen konnte. Denn Krankheit oder Urlaub waren Vokabeln, die Tareks Arbeitgeber ebenso wenig kannte wie er selbst.

Also war er an diesem Vormittag nach seiner Arbeit in der Küche für sie eingesprungen und durfte nun das blaue Jäckchen des Zimmerservice tragen. Darin sah er aus wie die Bediensteten, die ihm in seiner Kindheit jeden Wunsch von den Augen abgelesen hatten. Aber er war sich nicht zu schade dafür, nun selbst in so einer Jacke herumzulaufen. Seinen Stolz hatte er schon vor langer Zeit irgendwo auf der langen Überfahrt nach Europa verloren. Aber die Erinnerungen, die dieses Kleidungsstück weckte, schmerzten stets aufs Neue. Damals wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, dass er zu den Privilegierten gehörte. Heute wusste er, dass zum luxuriösen Leben der einen immer die harte Arbeit der anderen nötig war.

Er war inzwischen mit seinem Wagen voller Handtücher und Putzmittel im letzten Zimmer seines Flurs im dritten Stock angekommen. Tarek staubsaugte den Fußboden, machte das Bett, putzte das Waschbecken und leerte den Mülleimer. Als das Zimmer fertig war, warf er einen raschen Blick auf den Flur hinaus, dann lehnte er die Tür an und schaute sich die Gegenstände auf dem kleinen Mahagonischreibtisch an, die dem Gast gehörten. Ein goldenes Feuerzeug, Zigaretten, ein französisches Buch und ein Bündel Geldscheine, das von einer silbernen Geldklammer zusammengehalten wurde. Tarek schätzte, dass es mehr war als er im ganzen Jahr verdiente, aber er war nicht so dumm, im Hotel zu klauen. Wenn ein Gast sich beschwerte, konnte er sich eine neue Arbeit suchen, egal, ob er wirklich etwas eingesteckt hatte oder nicht.

Sanft strich er mit den Fingern über die Gegenstände, die vor ihm ausgebreitet lagen, und versuchte, sich das Leben vorzustellen, das sie repräsentierten. Wenn er in den Zimmern der Gäste war, malte er sich immer aus, was das für Menschen waren, die hier vorübergehend wohnten. Was arbeiteten sie? Wo kamen sie her? Was machten sie in Köln? Waren sie verheiratet? Jung oder alt? Glücklich oder unglücklich? Groß? Klein? Dick? Dünn?

Er erstellte ein Profil der Person, schlüpfte im Geiste in deren Rolle und stellte sich vor, wie es wäre, dieses Leben zu leben. Ein kleiner, sentimentaler Luxus, den er sich gestattete. Noch einmal vergewisserte er sich, dass sich niemand auf dem Flur befand, ging zum Schrank, öffnete die Türen und durchsuchte mit flinken Fingern die Taschen der beiden Anzüge, die dort hingen. In der Innentasche des zweiten wurde er fündig. Er hielt ein silbernes Etui in der Hand, aber das interessierte ihn überhaupt nicht. Rasch warf er einen Blick auf die Visitenkarten, die sich darin befanden. Ein Anwalt aus Paris! Perfekt. Zwei der Visitenkarten verschwanden in seiner Tasche, dann steckte er das Etui zurück in den Anzug und schloss die Tür des Schrankes. Keine Sekunde zu früh. Denn in diesem Moment öffnete sich die Tür des Zimmers.

»Verdammt, Maundu. Was hast du denn hier zu suchen?«, fluchte Tarek, dem das Herz fast stehen geblieben wäre, als die Tür aufging. Einen Moment lang hatte er geglaubt, es wäre der Anwalt, dessen Visitenkarten er gerade eingesteckt hatte. Maundu und er hatten fast am gleichen Tag mit ihrer Arbeit in dem Hotel begonnen und in dieser Zeit war beinahe so etwas wie eine Freundschaft zwischen ihnen entstanden. Soweit das möglich war bei all den Sprachproblemen und kulturellen Gräben.

Tarek wusste sofort, dass Ärger in der Luft lag, als er Maundus Gesichtsausdruck sah. Der schloss die Tür hinter sich und schaute unschlüssig umher. »Ich Problem. Groß Problem. Du mir helfen.«

»Halt!« Tarek hob abwehrend die Hand. »Ich will davon nichts wissen, Maundu. Was auch immer du für Ärger hast, ich will da nicht mit reingezogen werden.« Wie ein Blitz die Dunkelheit erhellte, tauchte vor seinen Augen ein Bild auf und verschwand gleich wieder.

Die Hitze flimmerte in der Ferne über der Wüste. Das Einzige, was die Einöde hier unterbrach, war ein Grenzposten im Niemandsland. Vor ihm stand ein Wagen und die zwei Minuten, die die Grenzer brauchten, um ihn abzufertigen, waren die längsten seines Lebens gewesen. Er hatte die Hand an der Pistole im Seitenfach und fürchtete, dass man ihm seine Nervosität schon von Weitem ansah. Aber die Libyer warfen nur einen gelangweilten Blick ins Wageninnere, dann winkten sie ihn durch. Und als der Beamte auf der tunesischen Seite einen Stempel in seinen gefälschten Pass drückte und ihn weiterfahren ließ, hatte er sich geschworen, nie wieder seine Nase in fremde Angelegenheiten zu stecken.

Das Bild verschwand. Maundu leider nicht.

»Bitte.« Maundu hob den Blick und sah ihn flehend an.

»Verdammt, Maundu, was auch immer du für ein Problem hast, ich kann dir dabei nicht helfen. Ich bin genauso illegal in diesem Land wie du. Wenn du Ärger hast, tut mir das leid für dich. Aber zieh mich da nicht mit hinein.«

»Du mir helfen. Ich sonst tot.« Wie zum Beweis hob Maundu seine Hände und zeigte die blutverschmierten Verbände.

»Ach, verdammt!« Tarek schlug wütend gegen die Schranktür. »Also gut, erzähl schon. Was ist passiert?«

Und Maundu erzählte ihm die ganze Geschichte. Wirr, unzusammenhängend und mit den wenigen Brocken Deutsch, die er sprach. Aber am Ende hatte Tarek halbwegs verstanden, was vorgefallen war. Hoffte er zumindest. Denn das alles klang völlig absurd. Sollte wirklich jemand versucht haben, Maundu umzubringen? Dass ihn ein großer Geländewagen verfolgt hatte, glaubte Tarek ja noch. Aber dass der Fahrer ihn umbringen wollte, war wohl eher Maundus überdrehter Fantasie entsprungen. Wahrscheinlich nur ein arrogantes Arschloch, das es spaßig fand, einen Schwarzen ein wenig durch die Straßen zu jagen. Und von was für einem Koffer hatte Maundu geredet? Diese ganze Geschichte ergab keinen Sinn. Dass Maundu den Anwalt geschlagen hatte, war das Einzige, was sicher zu sein schien.

Doch am Ende hatte Tarek sich überreden lassen, beim Haus des Anwalts vorbeizuschauen. Maundu war vor Angst völlig aus dem Häuschen gewesen. Nicht nur wegen des Wagens, der ihn verfolgt hatte, sondern vor allem, weil er fürchtete, den Anwalt getötet zu haben.