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Andreas Scheffler

ALLE SPINNEN.
ICH STRICKE.

Geschichten

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ANDREAS SCHEFFLER

wurde 1966 in Gütersloh geboren. Trotz bescheinigter Wehrdienstuntauglichkeit übersiedelte er 1987 nach Westberlin und studierte dort Germanistik, Geschichte und Publizistik. 1989 gründete er mit Kollegen die Zeitschrift für komische Literatur Salbader. Belehrung und Erbauung. Er gilt als einer der Väter der Berliner Lesebühnen und liest noch heute allsonntäglich im »Frühschoppen« seine Texte vor. Seit 2003 schreibt er Kolumnen für die Berliner Zeitung. Zuletzt erschien von ihm »Ausdruckstanz ist keine Lösung« im Eichborn-Verlag (2011).

Andreas Scheffler lebt und arbeitet heute mit Frau und Katzen in dem Dorf Groß Köris in Brandenburg.

E-Book-Ausgabe August 2017

Für Roland und Siegfried

INHALT

Vorwort

1. In vollen Zügen

Die Ansagerin und die Vorleserin

Klare Ansagen

Kontrollierte Defensive

Wandernde Rentner

Platz nehmen

In vollen Zügen

Belphégor und Riesenhamster

Toleranz ist Erfahrungssache

2. Im Dorf

Man ist es nicht mehr gewohnt

Olli aus Halbe

Wenn zwei sich streiten

Unternehmen Erholung

Im Garten ist man nie allein

Vorsicht, Schutzmann!

Positiv denken

Siebzehn geht gar nicht

Stumpfe Gegenstände

Mit Nora Roberts auf dem Klo

Mit Enalapril am Boden

Rotz und Rotwein

Man soll sich wegen Farb- und anderer Symbolik nicht verrückt machen lassen

49, und die Weisheit nimmt kein Ende

3. Hirnschwurbel

Mit Schrauben wär’ das nicht passiert

Natürlich kenne ich Oliver Welke

Junge, hübsche Freundin

Im Sterni-Camp

So denkt man sich die Welt kaputt

Das Denken der Anderen

Ich sage Danke

Ein Nein muss reichen

Wenn der Weihnachtsmann sich mal was gönnt

Lustig sein, wenn man Lust drauf hat

Du kannst mich nicht verstehen

Was halten Sie von Thomas Mann?

4. Alkoholfrei

Wenn Wünsche in Erfüllung gehen

Happy Birthday to Me

Flausen und Erfahrungen

Schokoschnäppchen

Herbert hat Liebeskummer

Grippeschutzimpfung

5. Parerga

Krankenhaus-ABC

50 Vierzeiler

Nachwort

VORWORT

Wie ein Meistertreffen vor Zeugen, so versammelt sich »Der Frühschoppen« an jedem Sonntag um eins im Jazzclub Schlot in der Mitte Berlins, und die Meister lesen sich Geschichten vor, fallen einander fröhlich oder bissig ins Wort, singen gemeinsam ein Lied und nehmen dafür kein Geld, man kann spenden. Es ist dies die älteste Vorlesebühne der Stadt. Phasen der Ermüdung, die von solchen neuer Begeisterung abgelöst wurden, hat es oft gegeben in den 27 Jahren der Tätigkeit und der Themenwechsel, und irgendwann ist die Veranstaltung dann so etwas wie das Zen-Zentrum der Alltagssatire geworden – modenfrei, konkurrenzlos, in Distanz und doch feurig. Das Pathetisch-Grelle, Zickenhafte, Abgedrehte oder Weinerlich-Zynische – all das kommt vor, aber dosiert und immer als Teil eines Spiels.

Andreas Scheffler ist jede Woche als Spieler dabei und schreibt Monat für Monat zwei Texte. Dass sie vorgelesen werden, fordert ihnen eine bestimmte Form ab, und dass sie verstanden werden sollen, ohne penetrant zu sein, eine feste Haltung. Freundlichkeit ist der vordergründige Ton – dahinter geht es aber jäh seitab, zugleich drohend und verlockend: ins Grausame, Irre oder in den Rausch, ins eben noch beherrschte Chaos. Die Auflösung kann schon losgehen, wenn morgens kein Sand auf das Glatteis gestreut wurde. Oder wenn man die Frechheit eines anderen eigentlich gar nicht für möglich hielt. »Die Kruste der Zivilisation« ist kein Neoprenanzug, das wissen diese Geschichten genau und fragen deshalb oft: Wie kann man umgehen miteinander? Aber dass ein perfekter Schutz vor den anderen mit ihren Anmaßungen auch keinen Raum ließe für die Geschichten, die dem Autor dank der Unvollkommenheit dieser Welt einfallen, das weiß der auch. In dem Dilemma muss er es aushalten.

Andreas Scheffler lebt mit Frau und Katzen im Brandenburgischen Groß Köris, er stammt aus Gütersloh und ist jeden Sonntag im Kreis seiner engsten Kollegen zu finden. Drei Formen von Heimat. Drei Schutzzonen – wie man ja immer wieder hofft. Doch das Chaos lauert, von außen wie innen, und lockt. Wie man weiß.

Es ist eine große Freude, sich von der Heiterkeit führen zu lassen, mit der diese Dinge hier berichtet und ausgebreitet werden. In der Stille mitten im Sturm – die vielleicht eine Illusion ist. Denn manchmal kommt alles gefährlich nah – dem Leser, dem Autor, der Welt.

Ich bin dankbar, dass ich dies Schöne einleiten darf.

Obwohl:

»Wenn man sich vorstellt, die Gedanken wären irgendwann mal alle, möchte man die noch vorhandenen nicht mit so einem Unfug füllen.«

Manfred Maurenbrecher

I. IN VOLLEN ZÜGEN

DIE ANSAGERIN UND DIE VORLESERIN

Ich reise gern mit dem Zug. Im Gegensatz zum Auto kann man sich darin entspannen, ein gutes Buch lesen und dabei ein Getränk seiner Wahl zu sich nehmen. Vorausgesetzt, alle Mitreisenden denken so wie ich.

Es ist Sonntagabend. In Gütersloh betrete ich den Intercity nach Berlin-Spandau. Der Großraumwagen ist überfüllt, aber glücklicherweise habe ich eine Platzreservierung. Ich muss auch gar nicht viel Theater machen, bis sich die Oma von meinem Sitz erhebt und mit ihrem Rollkoffer davonschlurft. Der Intercity ist wesentlich weniger geräumig als der ICE, aber ich habe nur kleines Gepäck und genügend Beinfreiheit, um es mir mit meiner Reiselektüre und einem Bier halbwegs gemütlich zu machen.

In Bielefeld steigt ein junger Mann mit einem riesigen Rollkoffer und einer akustischen Gitarre zu. Er sucht verzweifelt nach einer Abstellfläche für seinen Hausrat, lagert das Zeug schließlich auf dem Gang und hockt sich mit seiner Klampfe zwischen den Beinen auf einen gerade frei gewordenen Sitz.

»Ja«, tönt eine Frau, »das sage ich den Leuten von der Bahn auch immer wieder. Dass sie nie genügend Platz für Gepäck zur Verfügung stellen.« – Oha, denke ich, da ist jemand wichtig. Eine Frau in den Sechzigern, die ihre langen, grauen Haare offen trägt; die so viel Natürlichkeit aufbringt, ihre Haare nicht zu färben, aber gleichzeitig ihren faltigen Hals unter einem Seidenschal verbirgt.

Ein Mann hat gerade den Wagen Richtung Toilette verlassen, da kommt von der anderen Seite ein Teenie und will sich auf seinen Platz setzen.

»Hier ist besetzt!«, schallt es durch den Wagen »Der Herr ist vermutlich nur mal eben auf die Toilette gegangen.« – Das Weib kümmert sich um anderer Leute Kram. Wahrscheinlich befürwortet sie auch Auslandseinsätze der Bundeswehr. Weil sie wichtig ist und den Überblick hat. Es ist die Frau, die im überfüllten Supermarkt laut vernehmlich bemerkt, es wäre jetzt an der Zeit, noch eine Kasse aufzumachen; die nicht etwa brüllt: »Kasse bitte!« Dazu ist sie zu vornehm; die explizit ihre Meinung kundtut, für alle deutlich hörbar, und erwartet, dass sie zur Kenntnis genommen wird und man Konsequenzen daraus zieht. Einfach nur, weil sie wichtig ist. – Oh, wie ich diese snobistischen Schreckschrauben verabscheue!

»Herr Schaffner«, wird kurz darauf der Zugbegleiter von ihr begrüßt, »ich gehe doch davon aus, dass ich meinen Anschlusszug in Spandau erreiche.«

»Wir liegen genau in der Zeit«, erklärt er geduldig.

»Ja. Noch«, tönt die Drachenlady. »Aber es kann ja noch viel passieren.«

Ich schlucke meinen Ärger mit einem Bier herunter und realisiere gleichzeitig mit Schrecken, dass ich die Schrapnelle noch eine ganze Weile am Hals haben werde.

Eine knappe halbe Stunde, in der ich mich in mein Buch vertiefe, herrscht Stille, bis eine Mutter beginnt, aus einem Kinderbuch vorzulesen. Sie flüstert nicht, sie liest laut, als wäre sie hier zu Hause. Alle Leute im Abteil können der Geschichte über ein Mädchen, das mit allen gut Freund sein will, zuhören. Aber wollen sie das? – Ich nicht!

»Da sagte das kleine Mädchen zu dem Marienkäfer: ›Wenn du mir nichts tust, tue ich dir auch nichts.‹«

Ich beuge mich ein wenig vor. Das Kind, dem vorgelesen wird, ist etwa fünf Jahre alt. In dem Alter konnte ich schon selbst lesen. Na ja, das ist nicht jedem gegeben, und an sich ist Vorlesen ja auch eine schöne Sache. Aber doch nicht im öffentlichen Raum! Wofür gibt es Tonträger und Kopfhörer?

»Da sagte das kleine Mädchen zu dem Kaninchen: ›Wenn du mir nichts tust, tue ich dir auch nichts.‹«

So ein Schwachsinn! Was sollen ein Kaninchen und schon gar ein Marienkäfer einem kleinen Mädchen schon antun? Ich versuche, mich auf mein Buch zu konzentrieren, aber es geht nicht.

»Da sagte das kleine Mädchen zu der Kuh: ›Wenn du mir nichts tust, tue ich dir auch nichts.‹«

Ich lege mein Buch weg. Es hat keinen Zweck. Niemand beschwert sich, ich auch nicht. Wenn eine Störung mit kleinen Kindern in Zusammenhang steht, ist einzuschreiten immer eine ganz heikle Angelegenheit. Schnell steht man als Kinderhasser da. Dabei kann das Kind gar nichts dafür. Die Mutter ist hier die rücksichtslose Zippe.

»Da sagte das kleine Mädchen zu dem großen Bären: ›Wenn du mir nichts tust, tue ich dir auch nichts.‹«

»Da lachte sich der große, böse Bär kaputt und fraß das kleine Mädchen auf«, sage ich laut.

Schlagartig herrscht im gesamten Waggon eine atemlose Stimmung entsetzter Fassungslosigkeit.

»Was haben Sie da gesagt?«, fragt die Mutter konsterniert in meine Richtung.

»Dass das Blut nur so spritzte«, ergänze ich.

Das Kind schaut interessiert zu mir herüber, alle anderen im Abteil starren mich feindselig an. Die Schrapnelle deklamiert: »Manche Menschen wollen einfach nicht begreifen, dass Kinder unser höchstes Gut sind.«

Ich sage nichts weiter, mache mir ein neues Bier auf und wende mich wieder meinem Buch zu. Für den Rest der Reise habe ich Ruhe. Als die letzten in Spandau aussteigen, würdigt mich niemand eines Blickes. Die Wichtigtuerin hat den gleichen Anschlusszug wie ich. Aber sie steigt bewusst in einen anderen Wagen. – Sehr schön.

KLARE ANSAGEN

Ein Sonntagvormittag in jener gedämpften, aber nicht unangenehmen Stimmung, die man hat, wenn einem am Abend vorher diverse erlesene Single-Malt-Whiskys in die Geschmacksknospen fahren durften. In dieser Verfassung des In-sich-Ruhens ist einem Aufregung und Krawall ein Graus.

Um 11:36 Uhr erreiche ich den Bahnhof Königs Wusterhausen und warte auf den Regionalexpress nach Berlin. Heute sind keine Fußball- oder Eishockeyfans unterwegs, und das ist gut so. Plötzlich aber wird die Ruhe auf andere Weise empfindlich gestört. Ein Mann in den Fünfzigern in Jogginghose und Badelatschen mit einem Flachmann in der Hand beginnt, am Bahnsteigrand zu lamentieren: »Die verarschen einen doch alle! Ständig wird man verarscht. Dauernd wird alles teurer, und was kriegt man? – Zwei Mark fuffzich mehr Rente!« Der Mann ist offenbar Frührentner und lebt noch in der Zeit vor 2002. »Und dieser Fusel ist auch zum Kotzen!«, tobt er, nimmt aber trotzdem einen kräftigen Hieb aus dem Flachmann.

»Ich will euch mal was sagen«, krakeelt er weiter und wendet sich einer Gruppe von Menschen zu, die erschrocken zurückweicht. »Hitler, Adenauer und Merkel – die sind alle gleich, das ist alles eins.«

Oha, denke ich, das ist aber ein sehr gewagter Vergleich. Na ja, bei allen dreien fühlte sich ein Großteil des deutschen Volkes in guten Händen. Aber die in einem Atemzug zu nennen, das kann man nicht machen. Der Mann geht schimpfend den Bahnsteig auf und ab. Wo immer er hinkommt, weichen die Menschen zurück. Keiner sagt was. Ich auch nicht. Wer weiß, ob er dann nicht noch furchtbarer wütet. Dabei wäre die versammelte Bahnsteiggemeinde gegenüber diesem tönenden Troll eindeutig in der Überzahl. Aber man will nicht involviert werden, nicht in Berührung kommen mit dieser spektakulär unseriösen Empörung, die die Sonntagsruhe stört und dem Beginn eines Ausflugs in die große Stadt einen dissonanten Ton verleiht. Schon gar nicht möchte man Subjekt sein an einem Tag, an welchem man geplant hat, allein Objekt und Empfänger der Attraktionen von Deutschlands Hauptstadt zu sein, und dazu schon im Vorhinein weggeblendet hat, welches Pandämonium einen an den Berliner Großbahnhöfen erwartet.

Mir wird es trotzdem langsam zu bunt. Meine schöne, entspannte Stimmung ist wie weggeblasen. Ich fahre nicht zu meiner Unterhaltung nach Berlin, nicht wegen des Reichstages, des Olympiastadions oder des einkaufsfreien Sonntags. Ich weiß, was mich an der Friedrichstraße erwartet, und das ist sehr viel unangenehmer als diese eine bedauernswerte Nervensäge, der ihre Wut aus dem Ruder gelaufen ist. Als der Mann an mir vorbeikommt und anfängt, über seine nicht anwesende Exfrau zu schimpfen, gehe ich einen Schritt auf ihn zu und sage laut: »Warum halten Sie nicht einfach mal die Klappe!?«

Nach einem kurzen Moment der Überraschung höre ich, wie hinter mir applaudiert wird; von wenigen nur, aber ich fühle mich bestätigt. Der Wüterich dagegen hält kurz inne, dreht sich zu mir um, verbeugt sich und ruft: »Danke! Danke! Endlich sagt mal einer was. Vielen Dank!« Dann setzt er sich still auf eine Bank, trinkt noch einen Schluck und wartet wie alle anderen auf den Zug.

Das hatte ich nicht erwartet. War ich hier zusammen mit allen anderen Bahnkunden Objekt eines soziologischen Experiments geworden? Unter dem Motto: »Schwellenängste. Wie stark und wie lange muss man dem Normalbürger auf den Keks gehen, bis dieser einschreitet?«

Als ich aber wenige Minuten später im Zug an dem Mann vorbeigehe, rieche ich deutlich seine Schnapsfahne und verwerfe den Gedanken. Meine eigenen Überlegungen schließe ich mit dem Fazit: Menschen, die es gelegentlich an sozialer Kompetenz vermissen lassen, brauchen zu gegebener Zeit einfach mal eine klare Ansage.

KONTROLLIERTE DEFENSIVE

Samstagabend. Es ist der Tag des Revierderbys Dortmund gegen Schalke. Dortmund hat am Nachmittag mal wieder zu Hause gegen den Nachbarn gewonnen; kein Zittersieg, sondern eine klare Sache, locker mit 2:0 drei Punkte eingefahren.

Vorm Bielefelder Bahnhof spricht mich ein älterer Bettler mit einer Flasche Gorbatschow-Wodka in der Hand an und fragt nach zwei oder fünf Euro für »was zu essen«. Wir sind in Ostwestfalen. Da ist mit einem Euro kein Staat zu machen. Ich gebe ihm drei und den Rat, beim nächsten Einkauf eine andere Wodkamarke zu wählen, da Gorbatschow neben der in Kauf genommenen Zirrhose auch noch Kopfschmerzen verursache. Er nickt und fragt mich, wo ich denn mit meinem Koffer hinwolle. Als ich Berlin angebe, hellt sich sein bärtiges Gesicht auf: »Ah, Reichshauptstadt, Hitler …«

Ich sage, dass ich davon nichts hören möchte, und verschwinde im Bahnhofsgebäude. Es ist eindeutig nicht die Zeit für eine intellektuelle Auseinandersetzung.

Am Bahnsteig trifft ein Zug aus Dortmund mit Bielefelder Borussia-Fans ein. »Bambule, Randale – Dortmund kriegt die Schale!«, schallt es über den Perron. – Wieder so eine für mich schwer verständliche Äußerung. Was für einen Grund gibt es zu randalieren, wenn die eigene Mannschaft gerade locker gewonnen hat? Oder ist so ein Reim tatsächlich alles?

Ein total besoffener Bielefelder im schwarz-gelben Trikot spricht mich aus einem fast zahnlosen Mund an: »Dortmund wird Meister!«

»Das ist gut möglich«, sage ich und verschweige, dass nach einer halben Saison noch viel möglich ist.

»Weißt du, wie Bielefeld gespielt hat?«

»Bielefeld hat 1:0 gewonnen«, sage ich und verkneife mir die spöttische Bemerkung, dass Arminia Bielefeld trotz des heutigen Sieges im unteren Drittel der zweiten Liga herumdümpelt.

»Du bist in Ordnung«, lacht er und schlägt mir auf die Schulter. »Wo willst’n hin?«

»Passau«, fällt mir spontan ein, obwohl auf der Anzeigetafel am Bahnsteig eindeutig »Berlin, Hauptbahnhof« steht.

»Polen?«, fragt er interessiert.

»Ja, genau«, sage ich, »zum Zigarettenkaufen.«

Er haut mir noch mal lachend auf den Rücken, und da kommt endlich mein Zug.

Ich hatte schon einen Monat vorher gebucht. Mit Platzreservierung im Ruhebereich. Mir gegenüber sitzt ein Mann in den Sechzigern mit schütterem Haar, einem rot-grauen Bart, randloser Brille und einem Thomas-Mann-Erzählband vor sich. Ohne aufzusehen, grüßt er mich automatisch murmelnd zurück, als ich »Guten Abend« sage. Auf dem Platzreservierungskärtchen lese ich, dass er auch bis nach Berlin will. Immerhin scheint er ein ruhiger Mensch zu sein.

Der Waggon ist überfüllt mit deprimierten Menschen in Schalke-Trikots, aber mit VfL-Wolfsburg-Schals. – Offenbar Wolfsburger Schalke-Fans, was nicht unbedingt für Wolfsburg spricht.

Es gibt verschiedene Arten, eine Depression auszuleben. Man leidet still vor sich hin, oder man säuft und leidet noch stiller, oder man säuft und tobt dem gegebenen Schicksal trotzig entgegen. Hier im Ruhebereich sind die beiden letzten Varianten vertreten; die tobende ist in der Überzahl. Der Fahrkartenkontrolleur sieht sich offenbar außerstande, dem Prädikat »Ruhebereich« eine Berechtigung zu geben. »Wir kriegen euch!«, grölt es mehrfach sinnfrei durch den Wagen. Mein Gegenüber murmelt etwas von »Kretins« vor sich hin. Ich mache mir ein Bier auf und vertiefe mich in meine Stephen-King-Reiselektüre. Wenig später stampfen zwei Menschen in Borussia-Dortmund-Klamotten in Richtung Klo durch den Wagen und schreien: »Loser, loser!« Was soll ein gedemütigter Schalke-Fan darauf anderes antworten als: »Willste eins auf die Fresse, Alter?!« Der Thomas-Mann-Freund mir gegenüber murmelt: »Ruhebereich. Dies ist der Ruhebereich.« Im Wagen pendeln »Loser«- und »Arschloch«-Rufe hin und her. Ich spüre, dass mein Tischgenosse drauf und dran ist, unvernünftig einzuschreiten und sage ruhig, dass eine dritte Stimme jetzt nur noch Öl in Feuer gießen würde.

Ein Schalke-Freund stimmt an: »Scheiß BVB-e, scheiß BVB-e!« Weitere gesellen sich dazu, und nach zehn Sekunden dröhnt der Wagen vor Dortmund-feindlichen Gesängen. Die zwei im gelben Trikot verlassen den Waggon. Es wird trotzdem weitergesungen. In der Niederlage ist man tröstlich vereint in seinem Hass. Das Gesicht meines Gegenübers ist mittlerweile dramatisch rot angelaufen. Auf seiner Stirn droht eine anschwellende Ader zu platzen. »So was Unkultiviertes«, sagt er. »Und dann auch noch im Ruhebereich!« Nur ich kann ihn hören.

»Die sind enttäuscht«, sage ich, »die müssen mal Luft rauslassen. Und solange sie nur singen …«

Im nächsten Augenblick tauchen etwa fünfzehn Dortmund-Fans auf und grölen: »Am Tag, als der FC Scheiße starb!« Beide Gesänge überlagern sich.

»Das kann man doch nicht dulden!«, schreit der schlaganfallgefährdete Herr.

Nur ich kann ihn hören und brülle zurück: »Man muss es dulden! Das ist Kultur! Wenn jetzt einer dazwischengeht, fliegen Fäuste!« Er schüttelt nur verständnislos den Kopf.

Von den fäkalorientierten Texten befeuert, oder warum auch immer, drängt es mich auf die Toilette. Die Sänger machen mir höflich Platz. Weit hinter mir höre ich ein undeutliches Schreien, welches in Gesängen und Sprechchören untergeht. Als ich zurückkomme, ist der Thomas-Mann-Leser verschwunden. Auch nachdem die meisten Fußballfreunde in Wolfsburg ausgestiegen sind, taucht er nicht wieder auf. Ich mache mir Gedanken. Vielleicht ist er umgestiegen. In den Zug nach Passau. Zum Zigarettenkaufen.

WANDERNDE RENTNER

Eigentlich soll man für seine eigene Zukunft ja nichts ausschließen, aber eines kann ich mit Gewissheit sagen: Ich werde niemals Rentner werden. Solange mein Verstand es zulässt, werde ich mehr oder weniger arbeiten. Das heißt, ich werde auch niemals mit Rucksack, Wetterjacke, Wanderschuhen und anderen Rentnerinnen und Rentnern in der Regionalbahn sitzen, um zu meinem Rundwanderausgangspunkt zu gelangen. Wandernde und zunächst zugreisende Rentner geben sich extrem leutselig, obwohl sie nur Mineralwasser oder Apfelsaftschorle trinken. Wenigstens jeder zweite Satz in ihrer Konversation beinhaltet einen Scherz oder ist zumindest in scherzhaftem Ton ausgesprochen. Sie lachen viel, aber der unbeteiligte Beobachter bemerkt den Krampf unter der Fassade. Einmal, vielleicht zweimal im Jahr gehen sie zusammen wandern, da muss man gute Laune haben, es besteht geradezu die Verpflichtung dazu. Einer ist immer dabei, der hat wirklich gute Laune, denn er hat vorher ordentlich einen getrunken, weil er es sonst nicht aushält. Diese aufgesetzte Heiterkeit, diese ab und an durchschimmernden Blicke des gesamten Frohsinnsvereins, die sagen: »Scheiße, schon wieder mit diesen Pfeifen wandern, wo ich doch auch in Ruhe mit einer Flasche Wein gemütlich im Garten sitzen könnte. Aber nein, es muss gewandert werden. Und diesmal hat auch noch die dumme Gertraud den Weg ausgewählt. In der Niederlausitz, weil es da flache Strecken gibt und sie mit ihren kaputten Knien keine großen Probleme bekommt. Trotzdem werden wir an jeder zweiten Ecke halten müssen. Und Herbert ist doch schon wieder besoffen. Aber andererseits: Eigentlich macht der es genau richtig. Nüchtern ist das Ganze ja nicht auszuhalten. Hätt’ ich mir doch auch einen Flachmann eingesteckt.«

So oder so ähnlich denken die wandernden Rentner, noch bevor das eigentliche Wandern losgegangen ist. Und ich sehe mir das in der Regionalbahn an und bin froh, dass ich niemals wandern muss, weil ich nämlich niemals Rentner werde und außerdem Hühneraugen habe.

Zehn Minuten bevor sie ihren Endbahnhof erreichen, schultern die Rentner ihre Rucksäcke und halten ihre Spazierstöcke parat. Eine der Frauen muss »noch mal eben aufs Klöchen«. Nicht etwa aufs Klo, den Pott, Lokus oder die versiffte Eisenbahntoilette; nein, aufs »Klöchen«, eventuell noch »Örtchen«, auf jeden Fall aber mit »ö« und »chen«. Sie geht auch nicht »pinkeln«, geschweige denn »schiffen« oder gar »einen Chinesen abseilen«. Wenn sie überhaupt ihr Vorhaben begründet, dann geht sie mal eben »ihre Nase pudern«.