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Falko Löffler

Politthriller

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Bei der Herstellung des Werkes haben wir uns zukunftsbewusst für umweltverträgliche und wiederverwertbare Materialien entschieden.

Titel: Tiefe Saat

Autor: Falko Löffler

Lektorat: Kerstin Fricke

Satz: Ralf Berszuck

Umschlagsgestaltung: Britta Jansen

eBook-Umsetzung: SiMa Design

ISBN 978-3-939994-41-1

  1. Auflage 2017

www.eyfalia.de

E-Mail: contact@eyfalia.com

Telefon: +49 2253 / 92822-90

Telefax: +49 2253 / 92822-99

Spreeside ist ein Imprint der

© 2017 Eyfalia Publishing GmbH

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»Die jüngsten Entwicklungen in Afghanistan sind ermutigende Erfolge im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. In weiten Teilen des Landes sind die Menschen aus dem Würgegriff des menschenverachtenden Talibanregimes befreit worden. Die Terroristen des Netzwerks von Osama bin Laden sind nun auch in Afghanistan weitgehend isoliert und in ihrer Bewegungsfreiheit erheblich eingeschränkt.«

d Bundeskanzler Gerhard Schröder,

Vertrauensfrage im Bundestag

November 2001

»Die NATO-geführte Ausbildungs-, Beratungs- und Unterstützungsmission ›Resolute Support‹ ist keine Kampfmission. Etwa 600 bis 800 deutsche Soldaten sollen ab 2015 in Nordafghanistan und im Raum Kabul zunächst für zwei Jahre zum Einsatz kommen. Landesweit könnten es bis zu 12.000 Soldaten der internationalen Gemeinschaft werden.«

f bundesregierung.de

August 2014

»Wir haben jetzt die Chance, das Leben von Menschen zu retten und weitere Massenmorde zu verhindern.«

n Bundeskanzlerin Angela Merkel im Bundestag

zur Waffenlieferung an Kurden im Irak

August 2014

Inhalt

ERSTER TEIL - Stille Nacht

Berlin, 15. Dezember. Heute

Berlin, 16. Dezember. Heute

Zweiter TEIL - Kriegsähnliche

Zustände

Berlin, 3. August. Vor sechzehn Monaten

Termez, 4. August. Vor sechzehn Monaten

Kabul, 4. August. Vor sechzehn Monaten

Kabul, 5. August. Vor sechzehn Monaten

5. und 6. August. Vor sechzehn Monaten

Berlin, 6. August. Vor sechzehn Monaten

Dritter TEIL - Wunden

Berlin, 16. Dezember. Heute

Berlin, 18. Dezember. Heute

Berlin, 19. Dezember. Heute

Berlin, 20. Dezember. Heute

Berlin, 21. Dezember. Heute

Berlin, 23. Dezember. Heute

Berlin, 24. Dezember. Heute

Berlin, 31. Dezember. Heute

VIERTER TEIL - Eskalationsziel

Berlin, 1. Januar. Heute

Berlin, 2. Januar. Heute

Berlin, 3. Januar. Heute

EPILOG

Sieben Monate später

Berlin, 12. August. Heute

Berlin, 13. August. Heute

E N D E

ERSTER TEIL -
Stille Nacht

Berlin, 15. Dezember. Heute

»Von hier könnten Sie ihn auch einfach erschießen, oder?« Frau Baumhain stand im Türrahmen, eine blaue Thermoskanne in der einen, einen Teller mit Keksen in der anderen Hand.

»Wir erschießen niemanden«, sagte Langberg. »Wir beobachten nur.«

»Aber wenn der wirklich was plant! Sie würden das doch hier nicht machen, wenn der nicht gefährlich wäre!« Nun hatte Frau Baumhains Stimme nicht nur den entrüsteten Tonfall angenommen, den die BKA-Beamten in den vergangenen Tagen schon öfter gehört hatten, wenn es um die Zielperson ging, sie verfiel außerdem auch in den starken Berliner Dialekt, den die Endsechzigerin ansonsten zu unterdrücken versuchte, als sei er ihr vor Vertretern des Rechtsstaates peinlich. Angesichts möglicher Terroristen vor ihrer Haustür schien sie die Zurückhaltung zu verlieren – und ihr Hochdeutsch.

Langberg stand von seinem Beobachtungsposten am Fenster auf. »Das hier ist reine Routine. Eine Vorsichtsmaßnahme.« Er schaute streng auf die Thermoskanne und die Kekse. »Sie müssen uns wirklich nicht versorgen«, meinte er – und schob sich schnell einen Keks in den Mund, dann stellte er Kanne und Teller auf die Anrichte neben dem Fenster. »Danke. Ich verspreche Ihnen, Frau Baumhain …« Langberg senkte die Stimme. »Wenn wir ihn doch erschießen müssen, sage ich Ihnen rechtzeitig Bescheid.«

Aufgeregt nickte die Dame.

Peter Sander grinste breit in dem Wissen, dass sie es nicht sehen konnte, weil er den beiden den Rücken zugewendet hatte. Er schaute nach unten auf den Bürgersteig und ließ gelegentlich den Blick zu den Fenstern der Wohnung der Zielperson schweifen, die jeden Augenblick zurückkommen sollte.

Frau Baumhain trat hinaus, schloss bemüht leise die Wohnzimmertür hinter sich, und Langberg setzte sich wieder auf den Stuhl am Fenster. »Das wäre wohl der absolute Höhepunkt fürs nächste Kaffeekränzchen«, sagte er und aß noch einen Keks. »Sie könnte den anderen Damen genau zeigen, von wo der böse Terrorist erschossen wurde. Vielleicht sollten wir ihr auch eine Waffe geben – für alle Fälle.«

»Wir können froh sein, dass sie so kooperativ ist«, erwiderte Sander. »Der Kollege in München musste letztens eine Zwangsräumung anordnen lassen, um seinen Posten einrichten zu können. Und dann war es auch noch falscher Alarm …«

Sanders Handy klingelte, und er ging sofort ran. »Er kommt«, meldete Olbert und legte sofort wieder auf.

Sander steckte das Handy ein, nahm sein Fernglas und rückte ein Stück zur Seite und vom Fenster weg. Kurz schaute er zum Himmel, der bewölkt war – so brauchte er keine Reflexion des Fernglases zu befürchten, und im Dämmerlicht des Nachmittags würde die Zielperson die beiden nicht hinter den Fensterscheiben auf der anderen Straßenseite sehen können. Langsam schob Sander den Vorhang zur Seite.

Sie befanden sich auf einer Höhe mit der Wohnung, die sie observierten. Wohnzimmer und Küche konnten sie zum größten Teil einsehen, außerdem ein Stück des Flurs, nur das Schlafzimmer, der Flur direkt vor der Eingangstür und das Bad waren verborgen. Zum Glück hatte die Zielperson die dünnen Vorhänge nicht ausgetauscht, und bei guten Lichtverhältnissen konnte Sander sehen, was in der Wohnung passierte.

Sie hatten vor einiger Zeit Wanzen in der Wohnung angebracht. Die davon übertragenen Geräusche kamen aus den Lautsprechern des Notebooks, das sie auf dem Tisch aufgebaut hatten. Nun war zu hören, wie das Türschloss der Wohnung entriegelt wurde. Inzwischen war es für Sander ein vertrautes Geräusch – sie observierten den Mann seit fast drei Wochen. Er richtete das Fernglas auf den hinteren Abschnitt des Flurs, und nach einigen Augenblicken trat die Zielperson in seinen Sichtbereich und ging in die Küche. Der Mann stellte einen großen, braunen Karton auf dem Küchentisch ab, dann atmete er tief durch, streckte die Arme in die Höhe und ließ den Kopf kreisen, um den Nacken zu entspannen. Offenbar war der Karton nicht mit Wattebäuschen gefüllt.

Mit einem kurzen Seitenblick vergewisserte sich Sander, dass Langberg die Aufnahme gestartet hatte.

Schwungvoll wurde hinter Sander die Tür aufgestoßen, und Olbert eilte herein. »Salpeter!«, rief der junge Beamte triumphierend aus. »Und nicht nur eine Haushaltspackung, er hat in der Apotheke Steglitz einen Rieseneinkauf gemacht. Insgesamt 15 Liter; alles, was die auf Lager hatten. Und er hat sogar noch mehr bestellt.«

»Was macht das insgesamt?«, fragte Langberg.

Olbert trat an den Tisch, auf dem einige Unterlagen ausgebreitet waren, zückte einen Stift und trug etwas auf einer Liste ein. »37 Liter Salpeter, 45 Liter Aceton und 56 Liter Wasserstoffperoxid.«

Langberg stieß einen Pfiff aus. »Nicht schlecht.«

Sanders Smartphone klingelte, und er holte es aus seiner Hosentasche. »Übernimm du mal«, winkte er Olbert an seinen Platz, und der nickte dienstbeflissen und setzte sich auf den Stuhl beim Fenster.

Sander warf einen Blick aufs Display, wo er den Namen »Horst Uhlmann« sah und das Bild von Daffy Duck, das er dem Kontakt zugewiesen hatte. Er hätte seinen Chef jetzt sowieso anrufen müssen, dachte er, als er den Anruf annahm, sich mit Namen meldete und in den hinteren Teil des Zimmers ging, wo er sich an die Wand lehnte.

»Und?«, wollte Uhlmann ohne Umwege wissen.

»Die Zielperson war wieder einkaufen«, erwiderte Sander. »15 Liter Salpetersäure.«

»Hm. Immer noch keine illegalen Chemikalien?«

»Nein«, antwortete Sander. »Aber genug legales Zeug, um einen netten Knallkörper zu basteln.«

»Kontakte?«

»Weiterhin keine. Wenn ihm die Berliner Zelle das alles aufträgt, bekommen wir es nicht mit. Sieht immer noch so aus, als würde er alleine agieren.«

»Dann wäre er schon sehr ambitioniert oder sehr naiv, wenn er glaubt, er könnte alleine was reißen. Aber wenn ich versuche, einen Durchsuchungsbeschluss zu bekommen, haut mir der Richter wieder alles um die Ohren. Ist ja noch nicht illegal genug. Großartig, oder? Zwei Wochen bis zur Sicherheitskonferenz, für die wir zuständig sind, während wir so nebenbei sieben Terrorverdächtige observieren müssen.« Uhlmann wurde immer lauter. »Jeder von denen könnte ein Attentat planen, und wir sollten eigentlich jeden von denen direkt hochnehmen, aber nein, das dürfen wir nicht, NUR OBSERVIEREN!«

Sander hatte sein Smartphone immer weiter vom Ohr weggehalten, und die letzten beiden Worte konnten auch seine beiden Kollegen nicht überhören. Langberg grinste. Als Sander halbwegs sicher sein konnte, dass sein Chef sich so schnell wie immer wieder unter Kontrolle hatte, führte er das Gerät wieder ans Ohr.

»Entschuldigen Sie«, sagte Uhlmann.

Sander schwieg und wartete.

»Wir müssen bald mit den Vorbereitungen für die Konferenz und der Absicherung des Hotels Opitz beginnen. Ich will doch hoffen, dass wir die Observation der Verdächtigen überhaupt aufrechterhalten können.«

»Ratsam wäre es«, meinte Sander.

»Ich muss mit dem Ministerium reden. Machen Sie erst mal so weiter.«

»Bestätigt.«

Es klickte. Sander steckte das Handy wieder ein.

»Und? Sollen wir hier die Zelte abbrechen?«, erkundigte sich Langberg.

»Noch nicht. Aber ewig bleiben wir wohl nicht mehr hier.«

»Da wird Frau Baumhain aber traurig sein.«

Ein zweifacher Piepton verkündete, dass jemand eine SMS erhalten hatte.

»Wer von euch hat denn noch so ein Uralt-Handy?«, fragte Langberg.

»Das kam aus dem Lautsprecher«, antwortete Olbert. »Also war es bei dem Kerl.«

»Bist du in sein Handy eingeloggt?«

Olbert widmete sich dem Notebook neben sich. »Das Handy hat zuletzt vorgestern eine SMS empfangen.« Er klickte sich durch verschiedene Listen. »Nein, da ist definitiv nichts, das gerade bei ihm angekommen ist.«

»Der hat noch ein anderes Handy«, stellte Sander fest. Er ging in die Hocke, um durch das Objektiv der Kamera zu blicken.

Er sah die Zielperson wie erstarrt in der Küche stehen. Der Mann blickte auf ein Klapphandy, das er unvermittelt schloss. Er hob den Kopf, und sein Blick huschte hin und her. Einen Augenblick lang glaubte Sander, die Zielperson würde ihn sehen. Dann hastete der Mann in den Flur, und Sander konnte nur noch sehen, wie er dort seine Jacke vom Haken riss und aus dem einsehbaren Bereich verschwand. Durch den Lautsprecher war zu hören, wie die Zielperson die Tür öffnete und geräuschvoll schloss.

Sander und Langberg warfen sich einen Blick zu und eilten nach draußen.

Frau Baumhain trat in den Flur, als sie durch die Wohnungstür gingen. »Ist etwas passiert?«, rief sie ihnen hinterher.

Der Winterwind verjagte augenblicklich jede Wärme aus Sanders Wangen und er schlug den Mantelkragen höher. Nach dem Kälteeinbruch vor zwei Tagen hatte es vergangene Nacht geschneit, doch statt weißer Pracht war nur grauer Schneematsch auf den Straßen zurückgeblieben. Jedes Auto, das die Allee entlangschoss, spritzte Wasserfontänen auf den Bürgersteig. Ein ganz normaler Winter in Berlin: grau, kalt und nass.

Auf der anderen Straßenseite trat Marcel Jehner auf den Bürgersteig. Er war in der Frankfurter Allee in einem fünfstöckigen Haus abgestiegen. Vor drei Wochen war er dort über einem graffitiverschmierten Handyladen eingezogen. Der Mann trug Jeans, eine alte schwarze Lederjacke und eine Wollmütze. Er hatte die Hände in den Jackentaschen vergraben und hastete den Bürgersteig entlang.

Sander und Langberg warteten an der Ampel auf die Grünphase, die sogleich kam, und folgten der Zielperson dann in sicherem Abstand.

»Verstärkung?«, fragte Langberg.

»Wir wissen noch nicht mal, wohin er unterwegs ist.«

Jehner ging die Treppen hinab zur U-Bahn-Station Samariterstraße. Am Bahnsteig lief er auf und ab und schien völlig in Gedanken versunken zu sein. Nach wenigen Minuten kam die Bahn in Richtung Alexanderplatz, und Jehner stürzte hinein, sobald sich die Türen geöffnet hatten. Sander und Langberg stiegen am anderen Ende des gleichen Waggons ein und setzten sich auf freie Plätze. Es war halb elf morgens und ziemlich leer in der Bahn. Als sie sich in Bewegung setzte, schickte Sander eine SMS an Olbert: »brauche leute am alex und kontaktperson bei schupo.« Der Alexanderplatz war die Endstation der U5, und falls Jehner schon vorher ausstieg …

Nach vier Zwischenstopps wurde die Endstation durchgesagt, und Jehner stieg aus. Am Gleis des Alexanderplatzes herrschte Gedränge, und auf der Rolltreppe verloren die beiden ihre Zielpersonen einen Augenblick aus den Augen, konnten sie jedoch wieder ausfindig machen.

Er stand neben einem Hotdog-Stand und sprach mit einem älteren Mann.

»Zugriff?«, wollte Langberg noch auf der Rolltreppe wissen.

Sander beobachtete, wie der ältere Mann in eine Richtung deutete und dann mit dem Finger nach oben wies, während Jehner immer wieder nickte.

»Nein«, antwortete Sander. »Die kennen sich nicht. Er fragt nach dem Weg.«

Schließlich war der ältere Mann fertig, und Jehner eilte weiter und tauchte wieder in der Menschenmenge unter.

»Schnell«, sagte Sander und schob Langberg die Rolltreppe hoch.

Draußen entdeckten sie ihn an einer Fußgängerampel. Gerade ruckelte eine Straßenbahn über die Kreuzung.

Die beiden blieben neben dem Ausgang des Bahnhofs stehen, Sander zückte sein Handy und rief Olbert an. »Haben wir Leute hier?«, fragte er.

»Ich hab die Bilder von Jehner rausgegeben. Schupo ist schon auf dem Platz unterwegs, und von uns rücken auch noch ein paar Leute an.«

»Sie sollen keinen großen Auftritt machen.«

»Hab ich durchgegeben. Trifft der sich mit der Zelle?«

Genau darauf spekulierte Sander. Seit Monaten jagten sie einem Phantom hinterher, das keine greifbaren Spuren hinterließ. Sie wussten nicht, wer dieser Zelle angehörte, wie sie vorging – oder ob es gar keine gab und es sich nur um Einzeltäter handelte. Jehner war der bislang heißeste Kandidat, den sie observierten, denn seine Vergangenheit legte nahe, dass seine Reise nach Berlin kein Zufall war. »Ich hoffe es«, antwortete Sander. »Hast du eine Kontaktperson hier am Alex für mich?«

»Ich warte noch auf Antwort von der Leitstelle.«

»Okay. Soll mich gleich anrufen.« Sander legte auf.

»Vielleicht hat der sich auch selbst das Handy beschafft«, meinte Langberg. »Und trifft nur einen Kumpel …«

Sander beobachtete, wie Jehner an der Fußgängerampel von einem Fuß auf den anderen trat. »Nee. Hier steckt mehr dahinter.«

Die Ampel schaltete auf grün, und Jehner war als Erster auf der anderen Seite. Sander und Langberg hasteten hinterher.

Der Mann ging auf den Alexanderplatz in Richtung der Urania-Weltuhr. Das zehn Meter hohe Metallkonstrukt stammte noch aus DDR-Zeiten und bestand aus einer Säule, einer Rotunde mit den vierundzwanzig Zeitzonen der Welt und einer sich drehenden Darstellung des Sonnensystems.

Die Menschen verliefen sich auf dem Platz, nur wenige Touristen ließen sich mit der Uhr fotografieren. Die Kälte trieb die Leute zu den Einkaufsmöglichkeiten und Cafés in der Nähe.

Jehner blieb direkt unter der Uhr stehen und drehte den Kopf immer wieder ruckartig hin und her.

Er wartete auf jemanden. Vielleicht hatten sie Glück. Vielleicht nahm die Berliner Zelle wirklich mit ihm Kontakt auf …

»Nicht so nah«, sagte Sander, und die beiden schlenderten zu einem der Gebäude in die Nähe einer Touristengruppe.

Sander ließ den Blick über die Menschen schweifen, die über den Platz flanierten, und versuchte, einen möglichen Kontakt auszugucken.

Die Minuten zogen zäh dahin. Jehner begann, unter der Uhr im Kreis zu gehen – passenderweise im Uhrzeigersinn. Er holte das Klapphandy heraus, warf einen Blick darauf und steckte es wieder ein.

Niemand kam in seine Nähe. Einige Touristen stellten sich zu der Uhr, fotografierten sich gegenseitig, schenkten ihm jedoch keine Beachtung, und er hielt Abstand zu ihnen.

Ein Mann im schwarzen Mantel erregte Sanders Aufmerksamkeit. Zuerst dachte er, der Mann hätte sich einen Schal um den Mund gewickelt, bis er erkannte, dass es sich dabei um einen dichten Vollbart handelte. Der Mann trug eine Mütze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte, und eine Sonnenbrille, wodurch Sander die Gesichtszüge nicht ausmachen konnte. Er schritt schnell aus und schwang die Arme dabei hin und her.

Und er hielt direkt auf die Uhr zu.

»Der ist es«, murmelte Sander. Und er war sich dessen sicher. Er holte sein Handy heraus und rief Olbert an. Der meldete sich, bevor der erste Klingelton verklungen war. »Ich brauche hier Unterstützung«, sagte Sander ins Handy.

»Ist schon da … fürchte ich«, kommentierte Langberg neben ihm.

Nun sah Sander sie auch. Zwei Polizisten, eine Frau und ein Mann. Letzterer schaute auf ein Smartphone in seiner Hand – und zu Jehner.

»Ich hab hier den Kontakt zum Einsatzleiter am Alex«, meinte Olbert, aber Sander hörte schon nicht mehr hin. Er kniff die Augen zusammen und fixierte den Mann im schwarzen Mantel, dem das Näherkommen der beiden Polizisten nicht entgangen war und dessen Schritte langsamer wurden.

Auch Jehner hatte die beiden Polizisten entdeckt. Er verharrte.

Der Polizist steckte sein Smartphone ein und bewegte die Hand langsam zu seiner Waffe.

»Schnapp dir Jehner«, sagte Sander und rannte los.

Sekundenbruchteile später wirbelte der Mann im schwarzen Mantel herum und eilte in die Richtung, aus der er gekommen war.

Auch Jehner war losgelaufen, und die Polizistin hatte die Verfolgung aufgenommen. Sander rannte fast in ihren Kollegen, der nicht so schnell geschaltet hatte und nun im Weg stand. »PLATZ DA!«, schnauzte er den Polizisten an, was diesen nur noch mehr aus dem Tritt brachte.

Jehner war nun egal. Ob Langberg und die beiden Polizisten ihn schnappten, kümmerte Sander nicht. Er wollte den Mann im schwarzen Mantel. Alles andere verschwand aus seiner Wahrnehmung. Die letzten Jahre hatte er gewissenhaft Sport getrieben. Das lag allerdings weniger an seinem plötzlich erwachten olympischen Geist, sondern hatte eher damit zu tun, dass er nur noch wenige Jahre davon entfernt war, ein halbes Jahrhundert alt zu werden, aber nun zahlte es sich aus. Früher wäre er nach fünf Schritten aus der Puste gewesen – nun beschleunigte er, fletschte die Zähne, warf die Arme vor und zurück und hatte das Gefühl, einen neuen Hundertmeterweltrekord aufstellen zu können.

Gleichzeitig arbeitete sein Verstand auf Hochtouren und wägte aus nüchterner Distanz die Optionen ab. Sollte er die Waffe ziehen, für den Fall, dass er den Flüchtigen aufhalten oder einen Warnschuss abgeben wollte? Nein. Sie würde ihn beim Rennen behindern, und es waren zu viele Passanten unterwegs. Ein Warnschuss würde Panik und Chaos auslösen, ein Querschläger womöglich jemanden verletzen. Abgesehen davon konnte er dem Mann bisher nichts vorwerfen und vertraute nur auf seine Instinkte. Sollte er ihn anschießen und käme dann heraus, dass er auch nur ein Passant war, der in Panik geraten war …

Verstärkung anzufordern, während er ihn verfolgte, kam auch nicht in Frage. Sander konnte nur darauf hoffen, dass Langberg es tat … idealerweise, nachdem er Jehner geschnappt hatte.

All dies schoss Sander in wenigen Sekunden durch den Kopf, während er hinter dem Mann herrannte, dessen schwarzer Mantel in der Luft flatterte. Er lief rechts neben einer Tram, die über den Platz fuhr, erreichte den Triebwagen und stürzte nach links, um direkt davor die Schienen zu überqueren.

Bremsen kreischten. Das Geräusch bohrte sich in Sanders Ohren, der etwa auf halber Höhe der Bahn war. Ruckartig hielt die Tram an. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die Insassen nach vorn geschleudert wurden. Sander zog nun seine Waffe, auch wenn es ihn aus dem Laufrhythmus brachte, machte vorne an der Tram einen Ausfallschritt und richtete den Lauf dorthin, wo er den verletzten – eher toten – Mann erwartete.

Aber vor der Tram lag niemand.

Der Fahrer riss das Fenster auf. »Der ist weitergerannt. Da lang!« Er wies quer über den Alexanderplatz in Richtung des Brunnens.

Sander konnte zwischen den Passanten einen schwarzen Mantel entdecken und rannte los.

Der Mann verschwand in der U-Bahn-Unterführung.

Fast prallte Sander mit einem Pärchen zusammen, das gerade die Treppe hochkam, und rutschte mit der Ferse von einer Treppenstufe. Ein stechender Schmerz schoss durch seinen Knöchel, und einen Augenblick lang befürchtete er, sich etwas gebrochen oder einen Bänderriss zugezogen zu haben, doch der Schmerz verschwand so schnell, wie er gekommen war. Er stürzte die Treppe hinab.

Von dem anderen Mann war nichts mehr zu sehen.

»Wo ist er lang? Schwarzer Mantel!«, brüllte er in Richtung der Passanten. Niemand reagierte, alle starten ihn nur an, als sei er verrückt geworden, also benutzte er das Zauberwort. »Polizei!«

Eine Frau deutete zögerlich nach links.

Sander rannte in diese Richtung, im Slalom zwischen verwirrte Passanten hindurch, eine weitere Treppe hinab – und sah noch die Rücklichter der im Tunnel verschwindenden U-Bahn.

Schwer atmend blieb Sander stehen. Bis zur nächsten Haltestelle war es nicht weit, daher war es sinnlos zu versuchen, die Bahn vorher anhalten zu lassen. Und bis er über die Zentrale die Einsatzkräfte an der nächsten Station informiert hatte, wäre die Bahn längst weitergefahren. »Schwarzer Mantel« als Personenbeschreibung war nicht gerade aussagekräftig. Er hatte ihn verloren.

Schon fuhr der nächste Zug ein. Die Türen öffneten sich. Menschenmassen strömten heraus und hielten auf die Treppe zu, auf der er stand.

Sander hatte das Gefühl, dass alle genau auf ihn zukamen. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Er eilte den Weg zurück, den er gekommen war. Oben angekommen lehnte er sich unter freiem Himmel an ein Schild und atmete einige Male tief durch. »Scheiße«, murmelte er. »Scheiße, scheiße, scheiße.«

Inzwischen war die Verstärkung aufgetaucht, die Sander mit seiner SMS angefordert hatte. Leider ein klein wenig zu spät …

Vier Einsatzwagen und ein Kleinbus standen mitten auf dem Alex. Und damit die Passanten auch was zu gucken hatten, drehte sich auf allen Fahrzeugen das Blaulicht. Neugierige versammelten sich im Sicherheitsabstand ringsherum und machten Handyfotos. Sander trat zu den Wagen, woraufhin sich ihm zwei Polizisten näherten, die er mit seinem Dienstausweis verscheuchte.

Er entdeckte Langberg neben dem Kleinbus. Sein Kollege richtete sich auf und sah ihn fragend an. Sander schüttelte den Kopf, als er ihn erreichte. »Abgehauen. Hab keine Beschreibung. Schwarzer Mantel, Vollbart. Konnte nicht mal seine Hautfarbe erkennen.«

»Immerhin haben wir den hier.« Langberg deutete mit dem Daumen auf den Kleinbus, und Sander sah Jehner mit hängendem Kopf darin sitzen.

»Schon sein Handy geprüft? Kennen wir den Anrufer?«

»Die Nummer haben wir. Kam von einem geklauten Handy, das über eine Funkzelle hier am Alex eingeloggt war. Also vermutlich der Typ in Schwarz. Würde mich nicht wundern, wenn es schon in der Spree verrottet …«

Die beiden stiegen ein und setzten sich Jehner gegenüber. Erst durch die Wärme der Standheizung wurde Sander bewusst, wie kalt es draußen war.

Jehners Handgelenke waren mit Kabelbinder fixiert. Er reagierte nicht auf die beiden und starrte zu Boden, als wäre er in ein Gebet versunken.

»Wer war das?«, wollte Sander wissen.

Der Mann blieb stumm.

»Fangen wir halt mit Ihnen an, Herr Jehner. Sie sind aufgewachsen in Minden und Osnabrück. Eltern geschieden. Realschulabschluss. Lehre zum Zerspanungsmechaniker abgebrochen. Umgezogen nach Berlin, bei Freunden in Pankow untergeschlüpft. Hartz IV bekommen, neue Freunde gefunden, die viele lustige Vorstellungen über Ungläubige haben, Kontakt zu den Eltern abgebrochen, vierwöchige Reise nach Islamabad, danach viele interessante Mails geschrieben, die bei uns rote Flaggen aufgezogen haben. Dann wieder hier aufgetaucht und in eine Wohnung in der Frankfurter Allee eingezogen, die Sie von irgendwem bekommen haben. Tja, von wem?«

Nun hob Jehner den Kopf und starrte Sander an. In seinen Augen lag Wut, aber auch noch etwas anderes: Angst.

»Sie haben noch nichts Schlimmes getan«, stellt Sander sachlich fest. »Nur kommuniziert. Vielleicht ein paar Botengänge erledigt. Na ja … Ein paar sehr suspekte Botengänge. In Apotheken. Solange nichts passiert, haben Sie sich nicht mal der Beihilfe schuldig gemacht. Und wenn Sie uns jetzt dabei unterstützen, dass weiterhin nichts passiert – umso besser für Sie!«

Jehner lächelte. Doch er verzog nur den Mund, das Lächeln erreichte nicht seine hellen Augen. Langsam schüttelte er den Kopf.

Sander zuckte mit den Schultern. »Dann besten Gruß an den Haftrichter.«

Er stieg aus und knöpfte seine Jacke wieder zu.

Langberg folgte ihm. »Ich rufe Olbert an, dass er den Posten bei Frau Baumhain abbauen kann.«

»Sag ihm, er soll sich bei ihr für die Kooperation bedanken. Und noch ein paar Kekse mitnehmen.« Er schwieg für einen Augenblick. »In welcher Apotheke war der Jehner vorhin?«

»Irgendwo beim Strausberger Platz. Warum?«

Der Verkehr schob sich in beide Richtungen der Karl-Marx-Allee. Die Kälte und glitschigen Straßenverhältnisse sorgten für Nervosität bei den Fahrern. Es herrschte viel Betrieb, obwohl nicht einmal Rushhour war. Unablässiges Hupen hallte durch die Straßen, und die mit Abgasen geschwängerte Luft schien stillzustehen.

So viel zur Feinstaubverordnung, dachte Sander. Überall grüne Plaketten, aber es stank immer noch zum Himmel.

Am Strausberger Platz entdeckte Sander das große Rote »A«, und Langberg hielt direkt davor an. Die beiden stiegen aus.

»Kannst ruhig warten«, sagte Sander über das Autodach hinweg.

Langberg kniff die Augen zusammen. »Du machst nur wieder Scheiß.«

»Aber du nicht, wenn du hierbleibst.«

»Wir können den auch melden.«

»Können wir. Morgen. Steig wieder ein.«

Langberg trommelte mit den Fingern auf das Autodach. Dann setzt er sich wieder in den Wagen.

Sander schlug die Fahrertür zu und betrat die Apotheke.

Ein helles Klingeln verkündete seine Ankunft, doch niemand beachtete ihn, da alle Angestellten mit Kunden beschäftigt waren. Geduldig stellte sich Sander an, schob die Hände in die Manteltaschen und wartete, bis die ältere Dame vor ihm damit fertig war, über die erhöhten Zuzahlungen zu schimpfen, herumwirbelte und nach draußen stampfte. Dann trat er zu der jungen Apothekenhelferin an den Tresen. »Guten Tag. Ich hätte gern mit dem Chef gesprochen«, bat er sie.

»In welcher Angelegenheit, bitte?« Keck schaute sie ihn an.

»Es geht um die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung.« Sander sagte das so beiläufig, als würde er Aspirin bestellen.

Die Frau riss die Augen auf. Dann blinzelte sie zwei Mal sehr schnell und eilte nach hinten. Sander studierte scheinbar interessiert die Halstabletten in der Auslage neben der Kasse. Es war sehr still geworden in der Apotheke, alle Angestellten und Kunden starrten ihn an.

Der Apotheker war so dürr, als würde er schon längere Zeit Selbstversuche mit seinem Abführmittelsortiment durchführen. Er war einen Kopf größer als Sander, sah allerdings so aus, als könnte ihn ein Windstoß davonpusten. Mit demonstrativer Entschlossenheit trat er an den Tresen, als würde er mit einem einzigen Wort alle Beschuldigungen wegwischen können. »Sie sind von der Polizei?«, herrschte er Sander an.

Sander genoss den Moment und wartete einige Wimpernschläge lang, bis er etwas erwiderte. »Salpetersäure?«, fragte er unschuldig.

Der Apotheker schaute ihn an, als habe er in fremden Zungen gesprochen. »Was?«

»Salpetersäure.« Sander griff in die rechte Manteltasche, holte eine braune Apothekenflasche heraus, die mit einer Flüssigkeit gefüllt war, und stellte sie auf den Tresen. »So was verkaufen Sie doch, oder?«

»Natürlich. Blöde Frage.« Der Apotheker runzelte die Stirn, dann schien ihm etwas einzufallen. »Zeigen Sie mir erst mal Ihren Dienstausweis.«

Mechanisch griff Sander in die Jackentasche, holte die Ledermappe mit dem Ausweis raus und hielt sie lange genug hoch, damit der Apotheker ihn lesen konnte. »BKA?«, hakte der Mann nach.

Sander ignorierte die Frage und steckte den Ausweis ein. »Wie viel hätten Sie denn so auf Lager? Hochkonzentrierten Salpeter, meine ich?«

Der Apotheker rückte seine Brille zurecht. »Äh … Hochkonzentrierten müsste ich erst bestellen«, antwortete er.

»Wie lange würde das denn dauern?«

»Könnte morgen hier sein.«

»Mhm«, ließ Sander vernehmen und senkte den Blick, als müsste er darüber intensiv nachdenken. Er nahm die Flasche, hielt sie in der Hand und wog sie ab. »Sie wissen, dass man hochkonzentrierten Salpeter auch für die Herstellung von Sprengstoff verwenden kann?«

Der Apotheker konnte den Blick kaum von der Flasche abwenden. »Ähm … ja. Und für viele andere Dinge. Worauf wollen Sie hinaus?«

»Wenn ich nun eine größere Menge hochkonzentrierten Salpeter bestellen würde … Was würden Sie tun?«

»Wenn die Menge handelsüblich ist, würde ich ihn bestellen und Ihnen verkaufen.«

»Handelsüblich heißt?«

»Ähm … jedenfalls nicht im hohen Literbereich.«

»Gilt das pro Tag oder pro Woche?«

»Das liegt im Ermessen des Apothekers.«

»Dann würden mich mal Ihre Maßstäbe interessieren.«

Der Gesichtsausdruck des Apothekers verfinsterte sich. »Ich glaube nicht, dass ich Ihnen Rechenschaft darüber schuldig bin, wie ich mein Geschäft führe. Wenn ich mich irgendwie strafbar gemacht haben sollte, wenden Sie sich an meinen Anwalt.«

Nachdenklich nickte Sander, warf die Flasche ein paar Zentimeter hoch und fing sie wieder auf. Der Apotheker und die Helferin waren zurückgezuckt und hielten die Luft an. »Wem würden Sie es denn melden, wenn jemand bei Ihnen so große Mengen Salpeter bestellt, dass es verdächtig ist?«

Nun rückte der Apotheker mit beiden Händen seine Brille zurecht, hielt aber immer noch Sicherheitsabstand zum Tresen. »Ähm … der Polizei, schätze ich.«

»Der Polizei. Mir hat keiner was gemeldet. Und wenn ich etwas auf den Preis draufschlage, damit keiner was erfährt?«

»Das würde ich sofort der Polizei melden.«

»Ach, tatsächlich?« Sanders Stimme triefte nur so vor Sarkasmus.

Der Apotheker verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie verdrehen mir die Worte im Mund. Ich muss Sie bitten zu gehen.«

Wieder warf Sander die Flasche hoch. Sie beschrieb in der Luft einen Salto, dann fing er sie mit der flachen Hand wieder auf.

Der Apotheker war erneut zusammengezuckt und wirkte, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er nach vorne hechten und nach der Flasche greifen oder zurückweichen sollte. »Mensch, lassen Sie das! Das Zeug ist hochgiftig!«

Sander redete weiter, als hätte er diesen Einwand gar nicht gehört, und wiegte die Flasche hin und her, sodass die Flüssigkeit darin hörbar umherschwappte. »Natürlich können Sie sich nicht um alles kümmern. Und harmlose Mitbürger verdächtigen. Sie sind auch nicht dafür verantwortlich. Sie verkaufen ja nur Hausmittel. In handelsüblichen Mengen. Sie sind fein raus, nicht wahr?«

»Wenn Sie Ihren Job richtig machen, haben wir ja ohnehin nichts zu befürchten, nicht wahr?«

»Das stimmt«, entgegnete Sander. »Deswegen ist es einfach nur guter Service, wenn Sie einem Kunden das Zeug gleich in Fässern verkaufen, ohne es uns zu melden. Sie müssen ihm ja nicht gleich unterstellen, dass er zu einer Terrorzelle gehört.«

Der Apotheker blinzelte ertappt. »Das ist doch Quatsch«, erwiderte er schwach.

»Quatsch?«, fragte Sander und warf die Flasche wieder in die Höhe. Als sie ihren Scheitelpunkt erreichte, zog er die Hand zurück.

Der Apotheker erstarrte und verfolgte gebannt, wie die Flasche auf den Tresen stürzte. Die Helferin, die bislang in seiner Nähe gestanden hatte, stürzte zur Seite und öffnete den Mund zu einem stummen Schrei.

Die Flasche knallte auf den Tresen und zerplatzte. Flüssigkeit und Glasscherben spritzten in alle Richtungen. Im gleichen Augenblick packte der Apotheker seine Helferin am Hemdkragen und schob sie in Richtung Ausgang. »RAUS!«, brüllte er. »ALLE RAUS! SCHNELL!«

Hastig und verängstigt drängten die Kunden und Angestellten durch den Ausgang hinaus auf die Straße.

Sander blieb ungerührt stehen, versenkte wieder beide Hände in die Manteltaschen und beobachtete, wie die Flüssigkeit vom Tresen auf den Boden tropfte. Schließlich drehte er sich um. Der Apotheker stand an der Eingangstür, hielt diese offen und hatte wohl gerade die Helferin nach draußen geschoben. Nun schaute er wie erstarrt zu Sander, der noch immer am Tresen stand. Dann setzte der sich in Bewegung und trat durch die Tür. »Danke«, sagte er im Vorübergehen zum Apotheker, der den Türgriff mit der Hand umschlossen hielt und mit angehaltenem Atem den Tresen fixierte.

Vor der Tür hatte sich eine kleine, neugierige Menschentraube versammelt. Die Helferin stand darin. »Der da hat Gift verschüttet!«, rief sie und deutete auf ihn, woraufhin sich die Menge vor ihm teilte wie das Meer vor Moses. Sander griff in linke Manteltasche und fischte eine halbvolle Plastikflasche heraus. Darin befand sich Apfelsaft. Sander warf sie der Helferin zu, die sie reflexhaft auffing und dann musterte, als hielte sie eine Handgranate in der Hand.

»Den Rest können Sie gern trinken«, meinte Sander und ging zum Wagen. Dann stieg er ein, ließ den Motor an und fuhr los.

Langberg hielt den Blick auf den Außenspiegel geheftet. »Und was hat das jetzt gebracht?«

»Mir geht‘s besser«, murmelte Sander.

»Schön für dich. Willst du noch mal rein, oder soll ich dich nach Hause bringen? Oder hast du Lust, noch eine Apotheke zu verunsichern? Die andere hatte es sicher auch noch nicht erlebt, dass jemand dort eine leere Flasche requiriert …«

»Mir reicht‘s für heute. Ich gehe nachher mit Finn auf ein Konzert. Dann morgen die Weihnachtsfeier … das ist mehr als genug.«

»Dieses Jahr kommst du?«

»Muss ich wohl. Wenn ich wieder schwänze, geht Uhlmann endgültig an die Decke.«

»Nach dem Auftritt eben … tut er das sowieso.«

Sander gehörte ins Bett.

Er hatte an diesem Donnerstag die Frühschicht der Jehner-Observation übernommen, danach den Papierkram im BKA erledigt und war zurück zur Observation geeilt, als Olbert ihn benachrichtigt hatte, dass der Verdächtige wieder in der Stadt unterwegs war. Als er nun seine Wohnung betrat, fühlte er das Verlangen, heiß zu duschen, ins Bett zu fallen, die Welt auszuschließen, Kopfhörer aufzusetzen, laute Musik zu hören und keinen Menschen mehr zu sehen. Und das wenigstens einige Stunden lang. Den Fehlschlag aus dem Kopf vertreiben. Dann wären seine Batterien wieder aufgeladen.

Aber an diesem Abend hatte er einen Termin – einen, den er unbedingt einhalten musste, wenn es nicht der letzte seiner Art sein sollte. Und er konnte nicht rumtrödeln, also duschte er schnell und schlüpfte in eine ältere Jeans, die ihm endlich wieder passte, ein einfaches schwarzes T-Shirt und entschied sich dann für seine abgetragene Lederjacke, auch wenn er wusste, dass Finn sie zu bemüht jugendlich finden würde und es ihm peinlich war, mit seinem Vater in diesem Outfit unterwegs zu sein. Zu Sanders Glück konnte der Junge es sich nicht aussuchen … zumindest dieses und vielleicht nächstes Jahr noch nicht. Danach würde er keine Begleitperson mehr benötigen und definitiv auch keine mehr wollen.

Auch nach 19 Uhr war der Verkehr immer noch dicht, und er war schon verflucht spät dran. Ina würde das nicht kommentieren und ihn nur vielsagend anblicken. Das hatte sie in den wenigen Jahren ihrer Ehe perfektioniert.

Es war schon Viertel vor acht, als er an der Eingangstür des Mehrfamilienhauses in Zehlendorf klingelte. Sofort wurde der Summer betätigt, als habe jemand direkt neben dem Türöffner gewartet.

Sander stieß die Tür auf und rannte die beiden Flurtreppen hoch. In der Wohnungstür stand Finn, hatte die Arme verschränkt und sah Sander missgelaunt an. Der Vierzehnjährige trug Schwarz – von oben bis unten. Seine dunkel gefärbten Haare hingen strähnig an den Schläfen herab. Neben seinen Füßen standen sein Rucksack, fertig gepackt für den morgigen Schultag, und eine Sporttasche mit Wäsche. Finn beäugte kritisch die Lederjacke seines Vaters. »Wenigstens ist es diesmal nicht die alberne Kutte«, sagte er. »Was meinst du, was ich mir letztes Mal in der Schule anhören musste …«

»Albern? Rob Halford hat sie damals nur kurz angeguckt und gesagt: fucking cool

»Wer?«

»Egal. Können wir? Tut mir leid, aber der Verkehr war die Hölle. Du weißt schon. Also los.« Eigentlich drängte die Zeit gar nicht so sehr – er wollte nur vermeiden, Ina zu begegnen und sich dadurch noch mehr zu verspäten.

Hinter der Wohnungstür waren Schritte zu vernehmen, und Ina erschien hinter Finn. Sie sagte nichts, sondern schaute ihn nur vielsagend an.

»Wir sind schon weg«, meinte Sander schnell.

»Ich weiß«, erwiderte Ina, »deine Spezialität.« Sie legte Finn einen Arm um die Schultern. »Wenn dein Vater in seinem Beruf etwas beherrscht, dann schnell aus einer brenzligen Lage zu verschwinden.«

Finn schaute zu seiner Mutter. »Als ich klein war, dachte ich, er wäre so ein richtiger Agent – wie James Bond«, gestand er. »Das wäre wirklich fucking cool

»Finn!«, zischte Ina und zog den Arm zurück, als hätte sie einen Stromschlag bekommen. »Hast du ihm das beigebracht? Das hat er von dir, oder? Hört das denn nie auf?«

Hilflos zuckte Sander mit den Schultern und sah aus dem Augenwinkel Finns Grinsen, als der an seinem Vater vorbei- und die Treppe hinabging.

»Bis morgen«, sagte Sander einfach und folgte Finn.

»Um acht Uhr muss er in der Schule sein!«, rief Ina ihm hinterher. »Verstanden? Acht Uhr! Keine Minute zu spät!«

Sie schwiegen sich an.

Der Verkehr floss zäh dahin, und sie konnten nur hoffen, dass die Vorgruppe sich Zeit ließ. »Ich hab Rob Halford 1988 getroffen«, berichtete Sander, als sie an einer Ampel warteten. »Das war die British Steel-Tour. Da haben sie die Grugahalle gefüllt. Ich kann dir sagen …«

Sander warf einen Seitenblick zu Finn. Der schien ihm nicht zuzuhören.

»Ich hab nach dem Konzert mit meinem Kumpel an einem Seitenausgang gewartet, in der Nähe vom Tourbus. Dann kamen die Jungs. Mann, haben wir gebrüllt. Sie haben uns auch alles signiert, was wir hingehalten haben. Rob gefiel die Kutte. Klar, damals waren noch mehr Nieten dran und so.«

»Welche Band noch mal? British Steel?« fragte Finn.

»Nein, die Tour hieß British Steel. Bin extra nach Mannheim gefahren. Du kennst doch Judas Priest. Rob Halford. Painkiller. Wenigstens Turbo Lover

»Judas Priest? Haben die so christliches Zeug gemacht?«

»Nein, die …« Sander unterbrach sich, trat gleichzeitig hart auf die Bremse und drückte auf die Hupe. Wie ein Echo hupte der Fahrer im Wagen vor ihnen zurück und hob den Mittelfinger zwischen beiden Sitzen in die Höhe. Sander hielt mit aller Macht an sich, den Gruß nicht zu erwidern. Er atmete durch. »Nix Christliches. Die waren noch echter Metal. Sind mit der Harley auf die Bühne gekommen.«

»Und heute mit dem Rollstuhl?«

»Du solltest Respekt vor Leuten haben, die sich lange an der Spitze halten.«

Schnell öffnete Finn den Reißverschluss seiner Tasche, holte einen Notizblock und einen Kuli heraus und kritzelte etwas auf die erste Seite. »… lange an der Spitze sind«, murmelte er vor sich hin.

»… sich lange halten. Bemüh dich um gute Grammatik.«

Begeistert nickte Finn und schrieb die nächste Zeile. »Bemüh dich um gute Grammatik. Heute hast du es ja drauf. Soll ich den zum Konzert mitnehmen, falls noch mehr Perlen kommen?« Er wedelte mit dem Block.

»Wie weit sind wir denn?«

»Das waren Nummer 308 und 309. Nicht mehr viel, dann ist er fertig.« Er verstaute den Block und den Kuli seiner Tasche und zog den Reißverschluss zu.

»Bin gespannt aufs Ergebnis. Aber du weißt, dass deine Mutter dich dafür hassen wird. Genauso wie mich.«

»Das ist kaum möglich«, meinte Finn, und jede Heiterkeit war aus seinem Gesicht verschwunden. »Kaum möglich«.

Sie kamen gerade in der Umbaupause in Friedrichshain im Surdus an, die Vorgruppe war schon fertig. Aus der kalten Winternacht kommend stießen sie im Türrahmen gegen eine Wand aus heißer Luft. Einige Leute im Vorraum in der Nähe der Kasse lästerten lautstark über die Vorgruppe. Verpasst hatten sie also nichts. Sander zahlte den Eintritt für sie beide, holte ein Bier und eine Cola, die er seinem Sohn gab, dann stießen sie zu der Menge im Saal.

Sander gehörte zum älteren Viertel des Publikums (wahrscheinlich zum älteren Achtel), doch es beruhigte ihn, noch einige andere Männer auszumachen, die die Volljährigkeit schon zum zweiten Mal überschritten hatten – und sogar einige Frauen seiner Generation. Niemand schaute ihn seltsam an, und Sander ließ sich von der Atmosphäre der Vorfreude anstecken, die im Gedränge herrschte. Mehrmals winkte er Bekannten zu, die zum festen Inventar des Surdus gehörten. Er war seit der Scheidung wieder regelmäßig hier – zumindest wenn er sich sicher sein konnte, dass keine Teenie-Rockband spielte. So wie heute.

»Wie heißen die jetzt noch mal?«, fragte er Finn leise.

»Barstad. Aus Norwegen.«

»Hm. Und wie genau nennen die ihren Stil?«

»Kann man nicht so recht einordnen«, meinte Finn.

Sander nickte bedächtig. Das war wohl die Standardantwort auf musikalische Fragen in diesem Jahrtausend – man konnte Musik nicht mehr einordnen, alles war ein Mischmasch. Ach nein – ein Mashup. Oder Crossover. Er fragte sich, wie sich die Jugendlichen da zurechtfinden konnten. Musikgeschmack brauchte Fronten, an denen gekämpft werden konnte.

»Am ehesten Djent. Aber nicht so ganz.«

»Hä? Dent?«

»Djent. Na ja. Modern halt. Jedenfalls keine Harleys oder Kutten. Und kein Rob Hodor.«

»Halford«, zischte Sander.

Auf einen Schlag erloschen die Lichter im Saal, und Jubel brandete auf. Erleichtert, das Gespräch nicht länger fortführen zu müssen, atmete Sander aus und schaute zur Bühne, auf die gerade von beiden Seiten Kunstnebel geblasen wurde.

»HELLO, BERLIN!«, brüllte es aus der Dunkelheit, und obwohl das »Bör-linn« sehr holprig klang, reagierte das Publikum jubelnd. Elektronisches Geklimper waberte durch den Raum. Dann ertönte eine Gitarre, die eher nach einer gequälten Ziege klang. Sander wusste schon jetzt, dass Barstad keine Chance hatte, seine neue Lieblingsband zu werden. Um ihn herum begann das Jungvolk zu hüpfen. Er drehte sich auf der Stelle um, ging nach hinten, lehnte sich an einen Pfeiler und trank sein Bier. Dann holte er etwas aus der Hosentasche.

Seine Ohren klingelten ordentlich, als sie auf dem Heimweg waren.

»Und?«, fragte Finn schließlich.

»Ich weiß nicht …« Sander versuchte verzweifelt, die passenden Worte zu finden.

»Schon gut«, sagte Finn. »Mir war schon klar, dass das nichts für dich ist.«

»Die hatten Keyboards«, stellte Sander fest, als ginge es um eine ansteckende, unheilbare Krankheit.

»Das ist halt ihr Stil.«

»Djent«, sagte Sander und biss sich auf die Zunge, um aus dem Wort keinen diffamierenden Satz werden zu lassen. Nach einigen Sekunden riskierte er einen Seitenblick. Finn grinste.

»Also, ehrlich gesagt … ich hatte sicherheitshalber die hier dabei.« Sander griff in die Hosentasche und holte die Kopfhörer raus.

»Den alten MP3-Player hast du aber nicht mehr, oder?«

Vor Sanders innerem Auge erschien ein junger Mann in einem roten T-Shirt. Und wie er erschossen wurde. Schnell schüttelte er das Bild ab.

»Nee, hab die MP3s auf dem Smartphone.«

»Was hast du denn gehört? Diese Judas Priest?«

»Maiden.«

Zu Sanders Erleichterung nickte Finn wissend. Immerhin diese Musiklektion hatte er nicht völlig vergessen.

Zwanzig Minuten später – es war schon nach dreiundzwanzig Uhr – stellte Sander den Wagen in der Tiefgarage ab und die beiden gingen durchs Treppenhaus hinauf in die kleine Zweizimmerwohnung. Bleierne Müdigkeit hatte sich nun Sanders bemächtigt, und er wollte nur noch ins Bett.

»Nacht«, verabschiedete sich Finn und begann, die Wohnzimmercouch auszuziehen und seine Decke aus dem Schrank zu holen.

Sander beobachtete ihn dabei, bis Finn es bemerkte. »Ist noch was?«

»Nein«, meinte Sander. »War nett. Heute Abend, meine ich. Hat mir gefallen. Also … nicht die Musik gerade. Aber wir beide …« Sander deutete auf Finn und dann auf sich, als versuche er den Erstkontakt mit einem Außerirdischen.

Finn warf die Bettdecke auf die Couch. »Ja. Mir auch. Danke. Mama hätte mich nie alleine zum Konzert gelassen.«

»Lange wird sie sich nicht mehr wehren können.«

Sein Sohn zuckte mit den Schultern. Das Thema schien ihm unangenehm zu sein.

»Um acht sollst du in der Schule sein?«

Finn nickte.

»Was hast du in der ersten Stunde?«

»Mathe. Ist geschenkt, da hab ich eine Eins.«

»Ich wecke dich. Nacht.«

»Nacht.«

Sie würden etwa dreißig Minuten brauchen, bis sie das Haus verlassen konnten, wenn sie sich beeilten, und noch mal dreißig Minuten, bis sie in Zehlendorf waren.

Sander stellte den Wecker auf 8 Uhr, holte ein Blatt Papier und schrieb etwas darauf.