Handbuch
Ius Publicum Europaeum

Band IV
Verwaltungsrecht in Europa: Wissenschaft

 

Herausgegeben von

Armin von Bogdandy

Sabino Cassese

Peter M. Huber

 

Unter Mitwirkung von

Diana Zacharias

 

Mit Beiträgen von

Armin von Bogdandy • Patrice Chrétien • Gunilla Edelstam

András Jakab • Olivier Jouanjan • Barbara Leitl-Staudinger • Walter Pauly

Thomas Poole • Aldo Sandulli • Juan Alfonso Santamaría Pastor

Pierangelo Schiera • Christoph Schönberger • Gunnar Folke Schuppert

Pierre Tschannen • Andrzej Wasilewski • Diana Zacharias

 

 

kein Alternativtext verfügbar

Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

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Vorwort

Nachdem sich die ersten beiden Bände des Handbuchs Ius Publicum Europaeum den Grundlagen und Grundzügen des Verfassungsrechts im europäischen Rechtsraum widmen, erschließen die folgenden Bände III bis V die Grundlagen und Grundzüge des Verwaltungsrechts. Dem Gegenstand geschuldet kombinieren sie, mehr noch als die beiden ersten Bände, rechtsvergleichende und rechtsordnungsspezifische Elemente. Während Band III die Grundlagen des Verwaltungsrechts ausgehend von den Begriffen Staat und Verwaltung behandelt, befasst sich der hiermit vorgelegte Band IV mit der Disziplin der Verwaltungsrechtswissenschaft.

Der europäische Rechtsraum umfasst die 27 Rechtsordnungen der Mitglieder der Europäischen Union sowie weitere, ihr vertraglich unterschiedlich intensiv verbundene. Man könnte daher meinen, dass ein Handbuch, das sich um die Rechtswissenschaft in diesem Rechtsraum und perspektivisch um eine gemeinsame Rechtswissenschaft bemüht, auch Beiträge zur Verwaltungsrechtswissenschaft in allen betreffenden Staaten enthalten müsste. Der vorliegende Band präsentiert demgegenüber nur eine Auswahl. Dies hat ressourcenbedingte, aber vor allem sachliche Gründe: Eine Beschreibung aller nationalen Wissenschaften scheint für das Anliegen dieses Bandes, der keine europäische Harmonisierung vorbereitet, sondern den wissenschaftlichen Diskurs beleben soll, nicht erforderlich. Das zeigt insbesondere die gemeineuropäische Geschichte der Verwaltungsrechtswissenschaft, die eben nicht von allen Verwaltungsrechtswissenschaften in gleichem Maße geprägt worden ist. Über lange Zeit waren es allein Großbritannien und Frankreich, später dann auch Deutschland, welche die gemeineuropäische Entwicklung angestoßen und vorangetrieben haben. Auch heute sind die Gewichte unterschiedlich verteilt. Man kann dies bedauern, aber kaum bestreiten. Immerhin ist der Aufmerksamkeitsbogen weiter gespannt als früher. Da das Verwaltungsrecht im europäischen Rechtsraum gerade auch durch „Mischungen“ und Rezeptionen geprägt ist, könnte es jedoch kaum überzeugen, sich in diesem Projekt allein auf den deutschen, britischen und französischen Typ zu konzentrieren. Daher enthält der vorliegende Band zehn Landesberichte.

Das Verständnis von wissenschaftlichen Texten einer anderen Rechtsordnung ist nicht leicht, und oft sind verwaltungsrechtswissenschaftliche Werke noch „fremder“ als verfassungsrechtliche Schriften. Denn die Terminologie des Verfassungsrechts (z.B. Demokratie, Gewaltenteilung oder Rechtsstaat) ist tendenziell rechtsordnungsübergreifend (Diana Zacharias, IPE II, § 40 Rn. 9ff.), und die Gedanken sind oft in universelle theoretische Diskurse eingebettet. Hingegen haben sich die nationalen Entwicklungspfade im Verwaltungsrecht stärker in eigensinnigen Figuren niedergeschlagen. Ein sprechendes Detail: Die redaktionelle Bearbeitung der IPE-Bände III, IV und V, die sich mit dem Verwaltungsrecht befassen, hat sich als weit aufwendiger erwiesen als diejenige der dem Verfassungsrecht gewidmeten Bände I und II.

Dieses Projekt nimmt die Unterschiedlichkeit der verschiedenen Verwaltungsrechtswissenschaften ernst. Es geht aber nicht darum, monolithisch gedachte Nationalwissenschaften einander gegenüberzustellen. Dies würde das Wesen von Wissenschaft in freien Gesellschaften verkennen. Im Gegenteil: Der vorliegende Band soll, anders als andere verwaltungsrechtsvergleichende Werke, gerade auch über Grundkontroversen berichten, denn sie bilden einen wichtigen Schlüssel zu vertieftem Verständnis: Bruchstellen sind Fundstellen. Entsprechend bietet Band IV Ausführungen etwa über das Ringen konservativer und progressiver Wissenschaftler im Vereinigten Königreich schon um die Existenz des Faches, zur französischen Debatte service public versus puissance publique als konkurrierende dogmatische Grundbegriffe, über den italienischen Kampf zwischen einer allein dogmatischen und einer multiperspektivischen Verwaltungsrechtswissenschaft. Gerade die einflussreichen Wissenschaftstraditionen sind vielstimmig. Überdies würde eine krude Gegenüberstellung von „Nationalwissenschaften“ den gemeineuropäischen Kontext verkennen, in dem sich die nationalen Entwicklungspfade bewegen. Diese gemeineuropäische Durchlässigkeit soll gerade dieses Handbuch in der Perspektive eines gemeinsamen Rechtsraums herausarbeiten. § 57 legt vor diesem Hintergrund Perspektiven der disziplinären Fortentwicklung dar.

Das Projekt ist der Fritz Thyssen Stiftung zutiefst verpflichtet. Sie hat, wie schon bei den Bänden I bis III, die aufwendige und kostenträchtige Zusammenarbeit nachdrücklich gefördert. Ohne ihre ebenso unbürokratische wie substanzielle Hilfe hätte dieser Band nicht in dieser Form verwirklicht werden können. Unser Dank geht weiter an den C.F. Müller Verlag für die Fortsetzung der Reihe. Dankend zu erwähnen sind des Weiteren Marc Jacob, Matthias Kottmann, Dr. Karin Oellers-Frahm und Dominik Zimmermann für die Anfertigung von Übersetzungen, Mark Ciesielczyck, Ute Emrich, Margit Dagli, Cornelia Glinz, Dr. Felix Hanschmann, Angelika Schmidt, Isa Weyhknecht-Diehl und Christian Wohlfahrt für Literaturrecherche, redaktionelle Bearbeitung bzw. abschließendes Korrekturlesen sowie Hannes Fischer, Dominik Fronert, Lea Katharina Roth-Isigkeit, Frauke Sauerwein und Matthias Schmidt, die das Projekt als fleißige studentische Hilfskräfte unterstützt haben.

Ganz besonders haben die Herausgeber Dr. Diana Zacharias zu danken, in deren Händen die Gesamtredaktion lag. Die Bearbeitung der Beiträge dieses Bandes hat gezeigt, wie weit die untersuchten Verwaltungsrechtstraditionen auseinanderliegen, gerade auch in der Mikrostruktur der juristischen Darstellung. Es ist vor allem ihrer tiefgreifenden begrifflichen Bearbeitung zu verdanken, dass die Texte nunmehr gut an rechtswissenschaftliche Diskurse aus dem deutschen Sprachraum anknüpfen. Hier liegt nicht nur eine große redaktionelle, sondern zudem und vor allem eine herausragende wissenschaftliche Leistung für das entstehende ius publicum europaeum.

Heidelberg, Rom und München, im Februar 2011

Armin von Bogdandy/Sabino Cassese/Peter M. Huber

Inhaltsverzeichnis

 Vorwort

 Verfasser

 Einführung

 § 57Verwaltungsrecht im europäischen Rechtsraum – Perspektiven einer Disziplin

Erster TeilLandesspezifische Ausprägungen

 § 58Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Deutschland

 § 59Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Frankreich

 § 60Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Großbritannien (England und Wales)

 § 62Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Österreich

 § 63Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Polen

 § 64Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Schweden

 § 65Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Schweiz

 § 66Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Spanien

 § 67Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Ungarn

Zweiter TeilRechtsvergleichender Zugriff

 § 68Die gemeineuropäische Geschichte des Verwaltungsrechts und seiner Wissenschaft

 § 69Die Belle époque des Verwaltungsrechts: Zur Entstehung der modernen Verwaltungsrechtswissenschaft in Europa (1880–1920)

 § 70Die Verwaltungsrechtswissenschaft im Kontext der Wissenschaftsdisziplinen

 § 71Verwaltungsrechtsvergleichung: Eigenheiten, Methoden und Geschichte

 § 72Der Begriff des Verwaltungsrechts in Europa

 Personenregister

 Sachregister

Verfasser

 

Armin von Bogdandy, Dr. iur., M.A., Professor, Direktor am Max-Planck- Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg;

 

Patrice Chrétien, Dr. iur., Professor, Centre de droit public du laboratoire d’Etudes juridiques et politiques, Université de Cergy-Pontoise;

 

Gunilla Edelstam, Dr. iur., Professorin für öffentliches Recht, Södertörns högskola Huddinge;

 

András Jakab, Dr. iur., LL.M., Universitätsdozent, Institut für öffentliches Recht, Pázmány Péter Katholische Universität Budapest;

 

Olivier Jouanjan, Dr. iur., Professor, Institut de Recherches Carré de Malberg, Université de Strasbourg; Honorarprofessor, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br.;

 

Barbara Leitl-Staudinger, Dr. iur., Professor, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Universität Linz;

 

Walter Pauly, Dr. iur., Professor, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechts- und Verfassungsgeschichte, Rechtsphilosophie, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Friedrich-Schiller-Universität Jena;

 

Thomas Poole, Dr. iur., Reader, Law Department, London School of Economics & Political Science;

 

Aldo Sandulli, Dr. iur., Professor für Verwaltungsrecht, Facoltà di giurisprudenza, Università degli Studi Suor Orsola Benincasa di Napoli;

 

Juan Alfonso Santamaría Pastor, Dr. iur., Professor für Verwaltungsrecht, Universidad Complutense Madrid;

 

Pierangelo Schiera, Dr. iur., Professor emeritus für Geschichte des politischen Denkens, Dipartimento di Scienze Umane e Sociali Università degli Studi di Trento;

 

Christoph Schönberger, Dr. iur., Professor, Fachbereich Rechtswissenschaft, Universität Konstanz;

 

Gunnar Folke Schuppert, Dr. iur., Professor, Wissenschaftszentrum Berlin, Forschungsprofessur für „New Modes of Governance“;

 

Pierre Tschannen, Dr. iur., Professor, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Universität Bern;

 

Andrzej Wasilewski, Dr. iur. habil., Professor emeritus, Katedra Prawa Ochrony Środowiska, Wydział Prawa i Administracji, Uniwersytet Jagielloński in Krakau; Richter am Obersten Gerichtshof Polens im Ruhestand;

 

Diana Zacharias, Dr. iur., LL.M., wiss. Referentin, Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg.

Einführung

Einführung › § 57 Verwaltungsrecht im europäischen Rechtsraum – Perspektiven einer Disziplin

Armin von Bogdandy

§ 57 Verwaltungsrecht im europäischen Rechtsraum – Perspektiven einer Disziplin

I.Notwendigkeit und Eckpunkte einer disziplinären Neuaufstellung1 – 14

 1.Grundbegriffliche Mutationen1 – 5

 2.Leitende Thesen6 – 9

 3.Verwaltungsrechtsvergleichung10 – 14

II.Drei Momente disziplinärer Identität15 – 64

 1.Verwaltungsrecht als Sonderrecht von Hoheitsträgern15 – 40

  a)Rückblick15 – 23

  b)Unionsverwaltungsrecht als Sonderrecht24 – 40

   aa)Sonderrechtscharakter des Integrationsrechts insgesamt?24 – 29

   bb)Zum Sonderrechtscharakter des Unionsverwaltungsrechts30 – 35

   cc)Herausforderungen dieses Sonderrechtsverständnisses36 – 40

 2.Verwaltungsrechtswissenschaft ex parte civium41 – 51

  a)Rückblick41 – 49

  b)Zur disziplinären Ausrichtung im europäischen Rechtsraum50, 51

 3.Dogmatik als Kernaufgabe52 – 64

  a)Rückblick52 – 58

  b)Aufgaben im europäischen Rechtsraum59 – 64

III.Verwaltungsrechtswissenschaft als Teil des neuen ius publicum europaeum65 – 69

 1.Pluralismus65, 66

 2.Identitätsprobleme und -arbeit67 – 69

 Bibliographie 

 Anhang: Der Fragebogen 

Einführung › § 57 Verwaltungsrecht im europäischen Rechtsraum – Perspektiven einer Disziplin › I. Notwendigkeit und Eckpunkte einer disziplinären Neuaufstellung

I. Notwendigkeit und Eckpunkte einer disziplinären Neuaufstellung[1]

1. Grundbegriffliche Mutationen

1

Die Phase der Europäisierung der nationalen Verwaltungsrechte ist beendet, denn sie hat zu einem europäischen Rechtsraum geführt. Mehr noch als die Europäisierung übt dieser Rechtsraum[2] Transformationsdruck auf die nationalen Wissenschaften des Verwaltungsrechts aus und drängt zu einer disziplinären Neuaufstellung, die rechtsvergleichend im Lichte der großen Traditionen erfolgen sollte.[3] Dieser Druck wurde zunächst bei einzelnen Rechtsinstituten festgestellt.[4] Für das disziplinäre Selbstverständnis erscheint jedoch weit einschneidender, dass die Grundbegrifflichkeit der mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechtsordnungen erodiert.[5]

2

Die Beiträge dieses Bandes zeigen, dass sich das Verwaltungsrecht und seine Wissenschaft in den meisten EU-Mitgliedstaaten unter Bezug auf eine überwölbende Staatlichkeit ausbildeten. Der europäische Rechtsraum wird aber von unterschiedlichen Verwaltungen administriert, die nicht zu der einen Verwaltung eines Verbands und schon gar nicht unter der überwölbenden Einheit eines Staates zusammenfinden. Es ist vielmehr eine weit losere und vielgestaltige Formation von Bürokratien unterschiedlicher Träger entstanden,[6] welche deutsche und spanische Autoren oft als Verwaltungsverbund (Verwaltungsunion) bezeichnen;[7] Autoren anderer Traditionen nutzen Begriffe wie administration mixte, coadministration oder integrated administration.[8] Dieser Formation unterliegt das europäische Verwaltungsrecht, das nicht allein aus dem Unionsverwaltungsrecht besteht, sondern zudem das unionsrechtlich überformte mitgliedstaatliche Verwaltungsrecht sowie solche Normen umfasst, welche die Mitgliedstaaten autonom zur administrativen Bewältigung des europäischen Rechtsraums erlassen.[9] Dieses europäische Verwaltungsrecht lockert zugleich, und dies verschärft die Problematik, das Band einer Verwaltungseinheit zu „ihrem“ Staat: Eine deutsche Stelle, die einen Sachverhalt im Verbund mit ausländischen Stellen und bisweilen gar mit extraterritorialen Wirkungen administriert, sieht sich in neue Kollektive eingebunden.[10] Zudem verlangen wichtige unionale Rechtsakte eine Autonomisierung bestimmter Verwaltungseinrichtungen gegenüber anderen staatlichen Stellen; Art. 130 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der die Unabhängigkeit der nationalen Zentralbanken verlangt, ist nur ein Beispiel.[11] Die überkommene engste Zuordnung der Begriffe Staat und Verwaltung kann keinen Bestand haben.

3

Erst recht setzt der Begriff Unionsverwaltungsrecht, der die unionsrechtliche Schicht und das dynamische Herz des europäischen Verwaltungsrechts bezeichnet, die Loslösung des Begriffs des Verwaltungsrechts von demjenigen des Staates voraus. Die Europäische Union ist ein eigener Verwaltungsträger, bildet aber nach ganz herrschendem Verständnis keinen Staat; dies ist der Grundnenner der politischen und wissenschaftlichen Entwicklung der letzten beiden Jahrzehnte.[12] Wenn gleichwohl heute eine Fülle von Büchern ganz selbstverständlich von einem europäischen Verwaltungsrecht und einem Unionsverwaltungsrecht ausgehen,[13] also einschließlich der Konstellation, in der Organe der Union Rechtsnormen gegenüber privaten Rechtssubjekten anwenden (sog. EU-Eigenverwaltung), so zeigt dies eine Begriffsentwicklung, die den Begriff der Verwaltung und des Verwaltungsrechts vom Staatsbegriff gelöst hat. Dieses Verständnis wird inzwischen durch das positive Recht vielfach bestätigt, etwa Art. 41 der Grundrechte-Charta (GRC).

4

Die Verwendung des Begriffs Verwaltungsrecht mit Blick auf die Europäische Union zeigt weiter, dass das klassische Gewaltenteilungsdenken, ein weiterer Eckpunkt disziplinären Selbstverständnisses, nicht mehr trägt. Letzteres beruht auf einer engen Koppelung von Organ und Funktion und begreift die Verwaltung in Abgrenzung einerseits zur gerichtlichen Streitentscheidung, andererseits zur parlamentarischen Legislative.[14] Nun hat sich im Zuge der europäischen Integration zwar mit dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) eine autonome gerichtliche Institution der Streitentscheidung ausgebildet, nicht aber eine Gesetzgebung, die überzeugend von der Verwaltung abgegrenzt werden könnte.[15] Wenngleich der Vertrag von Lissabon den Begriff des Gesetzgebers (Art. 14 Abs. 1 und 16 Abs. 1 des Vertrags über die Europäische Union [EUV]), des Gesetzgebungsaktes und der gesetzgebenden Verfahren einführt (Art. 289 AEUV), bleiben nicht-parlamentarische und mit Aufgaben der Durchführung betraute Organe, namentlich Rat und Kommission, derart wichtig in den Rechtsetzungsverfahren, dass institutionell die Verwaltung nicht in Abgrenzung zur Legislative bestimmt werden kann. Den Verträgen ist keine prinzipielle Scheidung zwischen Legislative und Exekutive zu entnehmen. Zwar unterscheidet das Primärrecht zwischen der Festlegung (oder auch: Gestaltung, englisch: definition, defining) und der Durchführung (englisch: implementation, implementing) von Politiken (z.B. Art. 26 Abs. 2 EUV und Art. 9ff. AEUV), aber die Verträge haben einige Politiken so weit primärrechtlich vorgezeichnet, dass sie jede weitere Rechtsetzung als Durchführung bezeichnen, selbst wenn sie in Verfahren der Gesetzgebung erfolgt (siehe etwa Art. 212 Abs. 2 AEUV).

5

Es hat also untergründig eine gewaltige Mutation im Begriff Verwaltungsrecht stattgefunden. Was ist heute die Logik seiner Praxis?[16] Die meisten Autoren qualifizieren unionale Normen als Verwaltungsrecht wohl aufgrund eines Analogieschlusses: Wenn ähnliche Normen im mitgliedstaatlichen Rahmen als Verwaltungsrecht gelten, so wird diese Qualifizierung auf entsprechende europäische Normen übertragen. Aufgrund dieses komparatistischen und funktionalistischen Vorgehens haben viele Verwaltungsrechtswissenschaften ihre Staatszentriertheit operativ weitgehend überwunden und einen Weg gewiesen, der es erlaubt, die spezifischen Erfahrungen der jeweiligen Traditionen im Umgang mit Hoheitsgewalt in den europäischen Rechtsraum einzubringen.[17] Angesichts der Unterschiedlichkeiten zwischen den Traditionen wird es Differenzen im Verständnis dessen geben, was zum europäischen Verwaltungsrecht gehört, und ein Ziel dieser Handbuchreihe ist es, solche Differenzen offenzulegen und produktiv werden zu lassen. Es bleibt aber zu klären: Was trägt konzeptionell dieses komparatistische und funktionalistische Vorgehen? In welcher Begrifflichkeit kann das europäische Verwaltungsrecht verankert werden, wenn die traditionellen Fundamente erodieren? Und damit: Was kann, was sollte als Identitätskern der Disziplin gelten?

2. Leitende Thesen

6

Dies sind die Fragen dieses Beitrags. Mit Blick auf den Gegenstand der Verwaltungsrechtswissenschaft will er zeigen, dass das Verständnis des Verwaltungsrechts als Sonderrecht von Hoheitsträgern eine Antwort liefert (II.1.). Für die Ausrichtung der Disziplin, ihr Ethos, schlägt er eine Verwaltungsrechtswissenschaft ex parte civium vor, die an die emanzipatorische Ausrichtung ihrer frühesten Schriften im 19. Jahrhundert anknüpft (II.2.). Bezüglich der Aufgabenstellung propagiert er die Dogmatik als identitätsprägenden Kern, eine Dogmatik allerdings, die interdisziplinär informiert und offen gegenüber anderen rechtswissenschaftlichen Fragestellungen ist (II.3.). Der dritte Teil unterbreitet auf dieser Grundlage einen Vorschlag für die Fortentwicklung des disziplinären Selbstverständnisses (III.), namentlich mittels einer Europäisierung und einer Pluralisierung, jedoch zentriert in dem Faszinosum hoheitlicher Macht.

7

Diese Thesen beruhen auf der Annahme, dass die Entfaltung einer Wissenschaft vom europäischen Verwaltungsrecht mit einer Hoffnung, einer Sorge und einem disziplinären Interesse zu erklären ist. Sie beruht erstens auf der Hoffnung, im Europarecht einen Bereich bürokratischer Rationalität zu identifizieren und zu fördern und damit zugleich eine zwischenstaatliche Konzeption dieses Rechts zu überwinden, die dem Recht nur geringen Selbststand (Normativität) lässt. Dies kann sowohl an funktionalistische Ideen anschließen, die auf bürokratisch-expertokratische Verfahren und Routinen setzen, als auch an föderalistische Konzeptionen: Stets geht es darum, den Eigenstand des Integrationsverbands gegenüber den Mitgliedstaaten zu unterstreichen und so einen Herrschaftsträger zu stärken, an dessen Regelungsmacht sich die Zukunft des Kontinents entscheidet.

8

Der Forschungsbereich europäisches Verwaltungsrecht ist zweitens der Sorge zu verdanken, dieses supranationale Recht könnte die liberaldemokratische Einbindung und Ausrichtung bürokratischer Herrschaft unterlaufen. Insoweit verschärft die Beobachtung eines europäischen Verwaltungsrechts die Frage nach adäquaten Sicherungen durch Transparenz, Rechtsschutz, materielle und prozedurale Standards und parlamentarische Einbindung. Es gibt einen Argwohn, die europäische öffentliche Verwaltung könnte Aspekte einer geheimen Bürokratie aufweisen, die fern, abgeschottet oder unsensibel Politiken verfolgt, welche die innerstaatliche Ordnung modifizieren, ja umgestalten, und die Bürger entmündigen, ja gängeln.

9

Ein dritter Aspekt, der in Deutschland weniger sichtbar ist, liegt in dem disziplinären Interesse, ein neues, wichtiges Forschungsfeld für das eigene Fach zu gewinnen. Über viele Jahrzehnte war die verwaltungsrechtliche von der völkerrechtlichen Forschung weitgehend getrennt. In vielen Staaten, etwa Frankreich, Italien, Österreich, Spanien oder dem Vereinigten Königreich, gibt es eine, wie die Landesberichte zeigen, entsprechende personelle Trennung mit bisweilen scharfen fachlichen Abgrenzungen. Im Zuge der Integration hat nun die Interaktion zwischen gemeinschaftsrechtlichen und nationalen verwaltungsrechtlichen Themen erheblich zugenommen, und entsprechend stellt sich die Frage, welche rechtswissenschaftliche Disziplin hierfür im Kern zuständig ist. Die Begriffsbildung europäisches Verwaltungsrecht erleichtert solche disziplinären „Landnahmen“ zu Lasten der auf Fragen des Überstaatlichen spezialisierten völker- und europarechtlichen Lehrstühle und Einrichtungen. Die Eroberung fremden Territoriums verändert jedoch in aller Regel die Eroberer: Römer, Goten und Quäker richteten sich nach ihren erfolgreichen Landnahmen neu aus.

3. Verwaltungsrechtsvergleichung

10

Eine zukunftsträchtige Neuausrichtung des Verwaltungsrechts im europäischen Rechtsraum ist ohne Verwaltungsrechtsvergleichung kaum denkbar. § 39 im zweiten Band dieses Handbuchs, der zusammenfassende Beitrag zur Wissenschaft vom Verfassungsrecht, legt im Detail dar, warum der europäische Rechtsraum einer begleitenden Verfassungsrechtswissenschaft und diese des Rechtsvergleichs bedarf. Dieselben, hier nicht erneut zu entfaltenden Gründe rufen nach einer ebenso ausgerichteten Verwaltungsrechtswissenschaft. Das ergibt sich bereits aus der Abhängigkeit des Verfassungsrechts vom Verwaltungsrecht: Verfassungsrechtliche Vorgaben werden oft erst in verwaltungsrechtlicher Gestalt wirklichkeitsmächtig.[18] Zudem: Ein ius publicum besteht aus einer verfassungsrechtlichen und einer verwaltungsrechtlichen Komponente, denn ohne ein europäisches Verwaltungsrecht bleibt ein ius publicum europaeum unvollständig.

11

Ein Recht zur Verwaltung des europäischen Rechtsraums bedarf einer europäischen Verwaltungsrechtswissenschaft, die sich aus den mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechtswissenschaften speist. Einen guten Zugriff auf diese Wissenschaften bietet das Studium ihres je spezifischen Entwicklungspfades. Daher präsentieren die Beiträge dieses Bandes zum einen die mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechtswissenschaften aus einer primär evolutiven Perspektive,[19] zum anderen in einer Reihe von Querschnittsstudien, namentlich zum geistesgeschichtlichen Rahmen (Pierangelo Schiera, § 68), zur Gründerzeit der dogmatischen Wissenschaft (Olivier Jouanjan, § 69), zum Verhältnis der Verwaltungsrechtswissenschaft zu anderen Wissenschaften (Gunnar F. Schuppert, § 70) und zur Geschichte der Verwaltungsrechtsvergleichung (Christoph Schönberger, § 71).[20]

12

Eine Verwaltungsrechtswissenschaft für den europäischen Rechtsraum erscheint vielleicht noch dringlicher als eine entsprechende Verfassungsrechtswissenschaft.[21] Das ergibt sich vor allem aus dem Charakter des Unionsrechts. Wenngleich das Verwaltungsrecht der Europäischen Union nur ein Aspekt des europäischen Verwaltungsrechts ist, so ist es doch heute sein dynamisches Zentrum. Der Großteil des Unionsrechts ist ein Recht, das seine Steuerungswirkung erst über die Aktivitäten von Bürokratien, europäischen wie mitgliedstaatlichen, entfaltet: Das Unionsrecht ist überwiegend ein Recht, das Verwaltungen arbeiten lässt.[22] Entsprechend entwickelte sich im Zuge der Überwindung des völkerrechtlichen Paradigmas zunächst eine Wissenschaft, die das Recht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als Verwaltungsrecht und in dieser Perspektive das Verwaltungsrecht der Mitgliedstaaten vergleichend untersuchte;[23] erst danach entstand eine ähnlich ausgerichtete Subdisziplin des europäischen Verfassungsrechts.[24]

13

Zahlreiche weitere Gründe lassen sich anführen, warum nicht nur das europäische Verwaltungsrecht insgesamt, sondern auch spezifisch das Unionsverwaltungsrecht einer starken komparativen Komponente bedarf. Viele unionsrechtliche Regelungsmodelle sind nicht originär supranational ersonnen, sondern speisen sich mal aus der einen, mal aus der anderen nationalen Rechtsordnung: Oft ist nur mittels Rechtsvergleichung das Regelungsmodell eines europäischen Rechtsaktes oder die Entscheidung eines europäischen Gerichts zu durchdringen und die angestoßene Transformation des nationalen Rechts zu begreifen.[25] Des Weiteren verlangen viele Bestimmungen des Unionsrechts europäische Begegnung, Austausch und Kooperation sowohl zwischen den mitgliedstaatlichen Verwaltungen als auch zwischen mitgliedstaatlichen und unionalen Stellen. Bedenkt man allein die Zahl der involvierten administrativen Akteure, so wird anschaulich, dass es im europäischen Rechtsraum einen viel dichteren transnationalen verwaltungs- als verfassungsrechtlichen Diskurs gibt.

14

Dieser Diskurs erfolgt vor dem Hintergrund der mitgliedstaatlichen verwaltungsrechtswissenschaftlichen Traditionen, die markante Unterschiede aufweisen. So entwickelt sich in Frankreich und Spanien das Verwaltungsrecht als öffentlich-rechtliche Königsdisziplin, in Deutschland hingegen im Kielwasser des Staatsrechts, die polnische Verwaltungsrechtswissenschaft blüht als Teil nationaler Identität sogar im Widerstand gegen Besatzer,[26] die Schweizer Verwaltungsrechtswissenschaft adaptiert die Kategorien des deutschen obrigkeitsstaatlichen Verwaltungsrechts für eine bürgerschaftliche Milizverwaltung.[27] Dies sind nur einige Beispiele für die zahlreichen Unterschiede, die das Selbstverständnis der Akteure ebenso wie ihre wissenschaftlichen Konstrukte bis heute prägen. Hier zeigt sich ein besonders dringliches Anliegen einer europäischen Verwaltungsrechtswissenschaft: Ihre allgemeinen Lehren könnten, so wie bislang in den mitgliedstaatlichen Traditionen, den Rahmen bieten, der diesem gemeinsamen Diskurs Begriffe gibt, und vielleicht gar auf die Weltsicht, ja das Ethos der Akteure im Sinne des gemeinsamen Ganzen einwirken.[28] Dies verlangt jedoch ein gemeinsames Verständnis, worum es beim Verwaltungsrecht geht.