SALIM GÜLER

 

 

 

 

 

MORGEN

LERNST DU

WIE MAN

WEINT

 

 

 

 

 

 

 

1. Auflage August 2016

 

Autor: Salim Güler

Lektorat: Christiane Saathoff, www.lektorat-saathoff.de

Covergestaltung: Dennis Eid

Erstveröffentlichung: 2016 als E-Book

Copyright © 2016 by Salim Güler


  1. INHALTSVERZEICHNIS:

INHALTSVERZEICHNIS:

Das Buch

Der Autor

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Anmerkung des Autors

Eine Bitte

Leseprobe: Die Stillen müsst ihr fürchten

Leseprobe: Kapitel 1

Leseprobe: Kapitel 2

Leseprobe: Kapitel 3

 

 

  1. Das Buch

 

Glauben Sie an Geister?

 

Henry Reiß tut es nicht.

Dennoch plagen ihn schlimmste Albträume und Panikattacken, als ihm, wie aus dem Nichts, immer wieder ein totes Mädchen erscheint, das erschreckend real wirkt. Zunächst versucht er es zu ignorieren, doch als er mit seiner Familie an die Ostsee zieht, lässt ihm das tote Mädchen keine Ruhe mehr und er beschließt, sich auf die Suche nach ihr zu machen. Er will einfach nicht glauben, dass sie nur ein Hirngespinst ist. 


Schon bald sieht er sich mit einer Vergangenheit konfrontiert, die vierzig Jahre zurückliegt und die scheinbar nichts mit ihm zu tun hat. Die Situation wird immer bedrohlicher und er kann Realität und Fiktion kaum mehr auseinanderhalten. 

 

Gibt es eine Verbindung zwischen ihm und dem toten Mädchen, oder liegt die Wahrheit ganz woanders? Henry wagt ein gefährliches Experiment ...

 

 

 

 

 

  1. Der Autor

 

Salim Güler, aufgewachsen in Norddeutschland, studierte in Köln Wirtschaftswissenschaften und promovierte an der TU-Chemnitz. Er arbeitete lange Zeit in der freien Wirtschaft, zuletzt als Pressesprecher.

Schon als Schüler begann er mit dem Schreiben von selbsterfundenen Geschichten und diese Leidenschaft ließ ihn bis heute nicht los.

In seinen Romanen finden sich immer wieder gesellschaftlich aktuelle Themen, die er geschickt in eine fiktive und hoch spannende Geschichte einzubetten versteht.

Seine Bücher landen regelmäßig in den Bestsellerlisten der Verkaufs-Charts.

Salim Güler ist sehr am Austausch mit seinen Leserinnen und Lesern interessiert und freut sich daher über jeden Kontakt, entweder über Facebook oder über seine Homepage.

www.salim-gueler.de

https://www.facebook.com/salim.gueler.autor

 

  1. Kapitel 1

 

Singapur, 25. Mai

 

»Wir machen das Richtige«, flüsterte sie ihm zu. Sie hatte sich von hinten an ihn geschmiegt und spürte seinen starken Rücken durch ihr Nachthemd.

»Ich glaube auch«, antwortete Henry.

»Höre ich da leise Zweifel?«, fragte Caroline.

»Nein, gar nicht«, versuchte er ihr die Sorgen zu nehmen, dabei hatte er jede Menge Zweifel. Er liebte Singapur, für ihn war es seine Heimat. Noch vor einigen Jahren hatte er geglaubt, dass er hier alt werden würde.

Doch die Welt war im Wandel und er musste auch an seine Kinder denken. Obwohl ihm seine Karriere, die ihm leider wenig Freizeit erlaubte, sehr viel bedeutete und er sehr stolz darauf war, stand seine Familie immer an erster Stelle.

Es war ein weiterer Grund, warum er und seine Frau entschieden hatten, diesen Schritt zu gehen.

»Ich hoffe, du wirst mir das nicht irgendwann zum Vorwurf machen.«

»Quatsch. Wieso sollte ich?«

»Weil ich irgendwie das Gefühl habe, dass du es auch für mich tust. Ich weiß schließlich, wie viel dir dein Job bedeutet.«

»Schatz, ich tue es für uns, für die Kinder. Und du hast ja recht, ihr habt viel zurückstecken müssen, für mich und meine Karriere. Andererseits – wir dürfen nicht vergessen, dass der Job uns das alles hier ermöglicht hat, auch die Rückkehr nach Deutschland.«

»Das klingt nun doch fast wie ein Vorwurf«, antwortete sie und er spürte, dass ihr dieser Satz nur herausgerutscht war.

»Verzeih. Es ist kein Vorwurf. Ich wollte …«, versuchte er zu erklären. Statt weiterzusprechen, drehte er sich zu ihr um und gab ihr einen Kuss. »Ich liebe dich.«

»Und ich dich. Mehr als ich je einen Menschen lieben könnte.«

Ihre Augen funkelten und sie strahlte übers ganze Gesicht. Selbst ein Blinder sah, dass sie ihn noch immer so sehr liebte wie am ersten Tag. Er bekam eine Gänsehaut, denn genau so empfand er auch für sie.

Er wischte alle Sorgen und Gedanken beiseite. Die Liebe war es absolut wert, dass man Kompromisse einging. Und wenn er ehrlich war, hatte seine Frau bisher die weitaus größeren Kompromisse gemacht.

Sie hatte Design studiert, ihr Studium mit einem sehr guten Abschluss beendet und Henry war damals sicher gewesen, dass ihr eine große Karriere bevorstand. Doch durch die Schwangerschaft hatten sie ihre Pläne geändert. Sie hatten entschieden, dass er das Geld verdienen und sie sich vorerst um das Kind kümmern würde, um nach einigen Jahren selbst wieder arbeiten zu gehen.

Nun, es entwickelte sich alles anders. Caroline ging nicht mehr arbeiten und hielt ihm den Rücken frei, damit er sich seiner Karriere widmen konnte.

Er rechnete ihr das sehr hoch an und hatte nie das Gefühl, dass sie im Gegenzug nur sein hart verdientes Geld ausgab. Allein der Gedanke wäre ihm absolut unfair und dumm vorgekommen.

Alles in allem führten sie die perfekte Ehe, fand Henry. Natürlich stritten sie ab und zu, aber sie vertrugen sich auch wieder. Immerhin waren sie jetzt schon siebzehn Jahre verheiratet.

Trotzdem machten ihm perfekte Dinge Angst. Er wusste nicht warum, es war etwas, was tief in ihm steckte, was er nicht erklären konnte. Ein Gefühl, dass das Glück schneller auseinanderbrechen könnte, als es einem lieb war, wenn man sich zu sehr daran klammerte.

Deswegen versuchte er weder an der Ehe noch an seinem Glück zu klammern, aber in Wahrheit tat er das. Und genau aus diesen Grund begleitete ihn immer wieder die Sorge, dass dies alles ein Ende haben könnte.

Diese Gedanken behielt er aber für sich, er wollte nicht, dass sich Caroline unnötig Sorgen machte. Sie sollte weiterhin das Gefühl haben, dass er alles im Griff hatte und für alles eine Lösung fand.

Er nahm sie an der Hand und führte sie ins Schlafzimmer. Sie kuschelten noch eine Weile, bevor sie einschliefen. Mitten in der Nacht wachte Henry auf. Er hatte einen Albtraum gehabt, konnte sich aber nicht daran erinnern, was er geträumt hatte.

Er musste den Traum sehr intensiv erlebt haben, denn als er sein Unterhemd berührte, merkte er, dass es klitschnass war. Er stand auf und wollte ins Bad, als seine Frau ihn noch im Halbschlaf fragte: »Alles gut?«

»Ja, muss nur aufs Klo«, log er und verschwand im Badezimmer.

Was mache ich ihr vor? Sie spürt, dass in mir eine Unruhe wohnt, wurde ihm plötzlich bewusst, als er das Unterhemd auszog und sein Spiegelbild anschaute.

Er war schon immer sehr feinfühlig gewesen. Gerade Caroline gegenüber fiel es ihm schwer, zu lügen, dabei gehörte Lügen zu seinem Job.

In seiner Position und in der Wirtschaft generell waren Lügen so natürlich wie Essen oder Trinken. Ohne sie wären viele Geschäftsabschlüsse gar nicht realisierbar. Er selbst nannte das: »die Vorteile des Unternehmens in einem besseren Licht darstellen«.

Seiner Frau gegenüber war das etwas anderes, er hasste es, sie anzulügen, aber er wollte nicht, dass sie sich Sorgen machte. Außerdem wusste er selbst nicht, was mit ihm war. Je näher der Umzugstermin nach Deutschland rückte, desto mulmiger wurde ihm. Desto mehr nahmen eine Schwere und ein Gefühl von ihm Besitz, die er nicht zu deuten verstand.

Depressionen?

Er schüttelte den Kopf. Er war kein Mensch, der sich hängen ließ. Sein Charakter war gefestigt und stark, nein, unter Depressionen würde er nie leiden.

»Du machst dir einfach unnötig Gedanken. Du wirst es auch in der neuen Firma zu etwas bringen«, sprach er leise zu sich selbst, nachdem er sein Gesicht gewaschen hatte und in den Spiegel schaute. »Bleib locker. Du bist der Beste.«

Ein großer, sportlicher Mann mit kurzen, zum Seitenscheitel gekämmten blonden Haaren schaute ihm entgegen. Seine sechsundvierzig Jahre sah man ihm nicht an. Damit das so blieb, trieb er nicht nur reichlich Sport, sondern gönnte sich auch ein umfangreiches Wellnessprogramm und jede Menge Pflegeprodukte.

Er war ein eitler Mann, aber er glaubte, dass das Aussehen auch für seinen Job sehr wichtig war. Schönheit war schon immer ein Türöffner gewesen.

Henry musste an seine Eltern denken, die überglücklich waren, dass die Familie wieder nach Deutschland kam. Er hatte ein sehr gutes Verhältnis zu ihnen und sie waren vernarrt in die Enkelkinder. Ein-, zweimal im Jahr sahen sie sich.

»Denk an sie«, sagte er halblaut zu seinem Spiegelbild.

Sie waren nicht mehr die Jüngsten – ein Grund mehr, wieder zurück nach Deutschland zu ziehen. Sie lebten zwar in Köln und sein neuer Job war in Lübeck, was immerhin fünfhundert Kilometer Fahrstrecke bedeutete, aber im Vergleich zu Singapur war diese Entfernung ein Witz.

Außerdem, wer sagte denn, dass er nicht in einigen Jahren einen Job in der Nähe seiner Eltern finden würde oder dass seine Eltern Richtung Lübeck ziehen würden?

Er legte sich wieder ins Bett und Caroline kuschelte sich an ihn. Sie legte ihren Arm um ihn und schien gar nicht zu bemerken, dass er kein Unterhemd trug. Vielleicht lag es aber auch daran, dass sie sich nur im Schlaf gedreht hatte.

Henry starrte noch eine ganze Weile in die Dunkelheit, bis ihm die Augen zufielen und er in einen unruhigen Schlaf fiel.

 

»Papa, Mama, aufstehen. Der Zoo wartet!« Paul sprang aufs Bett und setzte sich zwischen sie. »Ich will die Pandas sehen.«

»Das wirst du, Großer«, antwortete Henry und wuschelte seinem Sohn durch das Haar.

Paul war verrückt nach den Pandabären, der Hauptattraktion im Zoo von Singapur.

Seit sie vor einigen Tagen Kung Fu Panda 3 im Kino geschaut hatten, lag er ihnen die ganze Zeit mit der Frage in den Ohren, wann sie endlich wieder in den Zoo führen.

Henry hatte es zeitlich nicht eher geschafft, doch seit zwei Tagen hatte er frei, wegen der Umzugsvorbereitungen, und so hatte er seinem Sohn versprochen, dass sie heute den Zoo besuchen würden.

»Ist Sophie auch schon wach?«, fragte Caroline.

»Ja, die habe ich als Erste geweckt«, grinste Paul. »Sie ist im Bad.«

»Sehr gut, Großer. Warst du schon im Bad?«

Paul schüttelte den Kopf.

»Na, dann weißt du, was du zu tun hast. Vorher gibt es keinen Zoo.«

»Und ich mach uns schon mal das Frühstück«, sagte Caroline.

»Können wir nicht im Zoo frühstücken?«, fragte Paul, dabei machte er seine Augen groß und legte den Kopf schräg.

Ein Blick, dem Henry selten widerstehen konnte.

»Was sagt die Mama?«

»Habe ich eine Wahl?«, schmunzelte sie.

Paul klatschte in die Hände und lief aus dem Schlafzimmer.

»Nicht so schnell, sonst stolperst du noch«, rief ihm Caroline nach, dann wandte sie sich Henry zu. »Hast du dein Unterhemd ausgezogen?«

»Ja, als ich im Bad war. Mir war zu warm«, log er.

»Siehst du, Schatz. Das Problem werden wir in Deutschland nicht haben.« Sie umarmte ihn.

Dabei mochte Henry den Sommer und das warme Wetter. Selbst an die ganzjährige Schwüle in Singapur hatte er sich problemlos gewöhnt.

Der Singapurer Zoo lag außerhalb der Innenstadt und da wenig Verkehr auf den Straßen herrschte, erreichten sie schon nach 30 Minuten den Parkbereich.

Der 1973 gegründete Zoo war harmonisch in den Dschungel integriert, sodass die Besucher das Gefühl hatten, die Tiere lebten in ihrer natürlichen Umgebung. Dementsprechend groß war der gesamte Zoo.

Sie buchten die River Safari, da man nur so Zugang zu dem großzügigen Bereich des Pandageheges hatte, und machten sich auf den Weg zum Restaurant. Einige kleine Äffchen, die im Zoo frei herumturnten, liefen ihnen dabei über den Weg.

Obwohl es gerade kurz vor 10 Uhr war, lag die Temperatur bereits über 30 Grad und die Luftfeuchtigkeit war wie immer sehr hoch.

»Können wir nicht die Tram nehmen?«, fragte Sophie.

»Sei nicht so faul. Wenn du weniger auf dein Handy starren würdest, würdest du auch mehr Spaß am Zoo haben.«

Henry nervte es, dass Sophie ihrem Handy so viel Zeit widmete. Oft hatte er das Gefühl, es wäre ein Körperteil von ihr. Selbst ins Bett nahm sie das Ding mit und er verstand beim besten Willen nicht, was es darin so Spannendes geben konnte, dass sie darüber die Schönheit der Natur vollkommen zu vergessen schien.

Als er vor zehn Jahren das Jobangebot aus Singapur bekommen hatte, war er die treibende Kraft gewesen, es anzunehmen, obwohl er sich in Köln sehr wohlgefühlt hatte. Aber es war etwas in ihm, das ihn trieb. Etwas, das sich nach der weiten Welt sehnte.

Allerdings gehörte er ganz und gar nicht zu den naiven Menschen, die sich einer Vorstellung, einem Traum hingeben und kopflos handeln. Daher war er zunächst für sechs Monate alleine nach Singapur gezogen. Zum Glück hatte sein Arbeitgeber mitgespielt und ihm die Option gegeben, nach dieser Zeit in seinen alten Job zurückzukehren, falls Singapur nichts für ihn wäre.

Doch er hatte sich sofort in die Stadt verliebt. Immer, wenn er frei hatte, hatte er lange Streifzüge in den Dschungel unternommen oder war mit dem Boot hinausgefahren. Von Singapur aus konnte man mit dem Flieger ganz unkompliziert umliegende Länder wie Bali, Thailand oder China besuchen. Selbst Australien war mit wenig Aufwand erreichbar.

Henry liebte das Reisen und glücklicherweise war seine Frau auch offen für andere Kulturen, sodass sie ihre wenige Freizeit immer mit Urlaub in fernen Ländern verbrachten.

So war es ihm nicht schwergefallen, Caroline von Singapur zu überzeugen. Drei Monate später kam sie mit den Kindern nach.

Sein Arbeitgeber hatte sich um alle Formalitäten gekümmert, auch um eine Wohnung in der Nähe der Orchard Road, der Haupteinkaufsstraße Singapurs. Ein Jahr später hatte er die Stadtwohnung gegen ein schönes Haus etwas außerhalb im Grünen eingetauscht.

Jetzt, wo er wusste, dass dieser Lebensabschnitt bald ein Ende haben würde, erinnerte er sich wieder an ihre Anfänge in der Fremde und ein wenig Wehmut lag in diesen Gedanken.

Nachdenklich schaute Henry auf seine große Tochter, die seine Bemerkung über das Handy natürlich ignorierte. Sophie starrte weiterhin auf das Display und tippte konzentriert darauf herum.

Wenigstens Paul scheint die Natur noch Freude zu bereiten, dachte er leicht verärgert. Doch auch das würde sich irgendwann ändern. Es gehörte wohl zum Erwachsenwerden dazu, da waren nun einmal Handy und Spielkonsole plötzlich wichtiger als die Schönheit der Erde.

Manchmal musste man die Kinder wohl zu ihrem Glück zwingen, daher lehnte Henry Sophies mehrfach geäußerten Wunsch ab, die Tram durch den Zoo zu nehmen. Es passte einfach nicht zu dem Ort. Wenn sie schon hier waren, konnten sie die Wege auch zu Fuß zurücklegen und die Umgebung genießen.

Zudem lag Sophies Jammern auch weniger an mangelnder Sportlichkeit als an ihrer gesamten Laune. Die ganze Familie war sportlich, darauf hatten er und Caroline großen Wert gelegt. Schon früh hatten sie Paul zum Fußball und Schwimmen angemeldet, Sophie war eine gute Leichtathletin und Schwimmerin. Caroline selbst konnte mit ihrer schlanken, sportlichen Figur trotz ihrer vierundvierzig Jahre locker für Anfang dreißig durchgehen.

 

Nach zwei Stunden Fußweg, bei dem sie die Tiere in den unzähligen Gehegen betrachtet hatten, erreichten sie einen großen See, an dem sie kurz Rast machten. Sie kauften sich ein Eis und etwas zu trinken und betraten ein offenes Gebäude mit Sitzgelegenheiten. Von hier aus hatten sie einen wunderbaren Ausblick auf den See und den Dschungel.

»Die essen ja mit den Händen!« Pauls Blick war auf eine indische Familie gerichtet, die auf einem großen Laken auf dem Boden saß und dort zu Mittag aß. Sie hatten ihr eigenes Essen dabei.

»Das sagt man nicht so laut«, ermahnte Caroline ihren Sohn. »Du weißt doch, dass das eine Frage der Kultur ist. Bei ihnen ist es halt normal, das Essen mit der Hand zu essen.«

Natürlich wusste Paul das, aber solche Bemerkungen rutschten dem Jungen immer wieder heraus, so sehr Caroline und Henry auch versuchten, ihm Respekt gegenüber anderen Kulturen beizubringen.

Dass Paul dabei nichts Böses im Sinn hatte, war beiden klar. Und obwohl die Inder nicht verstanden, was sie sagten, war es Henry unangenehm, dass sein Sohn solche Sprüche brachte.

Er schaute kurz zu der indischen Familie hinüber. Der Mann nickte freundlich, Henry nickte zurück.

In Singapur und im Umland lebten Menschen der unterschiedlichsten Religionen und Nationalitäten zusammen und das bis jetzt friedlich, da der Einparteienstaat mit harter Hand durchgriff. Doch in letzter Zeit kam es immer wieder zu Übergriffen gegenüber Ausländern, vor allem gegenüber weißen Ausländern.

»Wann gehen wir zu den Pandas?«, fragte Paul.

»Gleich. Ist nicht mehr weit«, versuchte Henry seinen Sohn zu beruhigen.

»Und wann fahren wir nach Hause? Ich wollte mich mit einer Freundin im Starbucks in der Orchard treffen.«

»Starbucks hast du auch in Deutschland reichlich, so einen Zoo findest du allerdings nirgends sonst auf der Welt. Genieß lieber die Zeit hier«, erwiderte Henry, der mit der Pubertät seiner Tochter immer wieder große Probleme hatte.

Er glaubte ihr auch nicht, dass sie sich mit einer Freundin traf. Ihre volle Aufmerksamkeit für das Handy sagte ihm, dass ein Junge dahintersteckte.

»Den Zoo haben wir doch schon hundertmal besucht, aber meine Freundinnen sehe ich nur noch ein paar Tage, dann wahrscheinlich nie mehr«, erwiderte Sophie und Henry sah an ihren Augen, dass sie auf Konfrontationskurs war.

»Noch eine Stunde, Schatz, dann kannst du fahren«, schien Caroline schlichten zu wollen.

»Von wegen. Allein bei den Pandas werden wir locker zwei Stunden bleiben.«

»Findest du die nicht cool? Ich dachte, du freust dich auch auf die Pandas«, mischte sich Paul in die Diskussion ein.

Sophie verzog nur das Gesicht, sagte aber nichts und Henry beschloss, weiterzugehen.

Nach einer Stunde erreichten sie das Pandagehege. Die Schlange davor war kurz, schon nach wenigen Minuten standen sie vor der großzügig angelegten Landschaft.

»Endlich«, rief Paul und eilte voran.

Plötzlich wurde Henry schwindelig und schwarz vor den Augen. Er wusste nicht warum, musste sich aber kurz an der Wand abstützen, da er fürchtete, zu fallen.

»Gehts dir gut?«, fragte Caroline, die das bemerkt hatte.

»Ja, alles okay. Ich glaube, das Eis hat meinem Magen nicht gutgetan«, wich Henry aus und fasste sich an den Oberbauch. Dabei war ihm bewusst, dass das rein gar nichts mit dem Eis zu tun hatte.

Das schwüle Wetter, versuchte er sich zu beruhigen.

»Pandas«, brüllte Paul von Weitem.

Sophie lief ihm nach und kurze Zeit später erreichten auch Caroline und Henry die Pandas, für die eigens ein in sich abgeschlossenes Ökosystem im Zoo eingerichtet worden war, da die Temperaturen in Singapur viel höher waren als in ihrem natürlichen Lebensraum. Statt Gittern trennten hohe Wände und ein Zaun die Besucher von den beliebten Tieren, sodass man sie ungestört beobachten konnte. Sophies Augen strahlten und Paul war außer sich vor Freude.

Henry konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, vor zehn Minuten noch hatte seine Tochter um jeden Preis und so schnell wie möglich den Zoo verlassen wollen. Doch jetzt, wo sie die Pandas sah, war davon keine Rede mehr.

Der Bereich für die Pandas hatte mehrere große Gehege. Insgesamt wurden hier zwei der schwarz-weißen Bären gehalten, ein Geschenk Chinas.

Kai Kai und Jia Jia waren die Hauptattraktion des Zoos und man sah, dass man keine Mühen und Kosten scheute, es diesen besonderen Bewohnern gut gehen zu lassen.

Kai Kai hatte gerade einen großen Strauch an sich gerissen und aß voller Genuss die Blätter.

Caroline machte jede Menge Fotos von ihnen und der Familie. Die Tiere strahlten etwas Besonderes, Majestätisches aus und beruhigten Henry ungemein. Er schaute sich das große Gehege etwas genauer an und plötzlich blieb sein Blick an etwas hängen.

Rechts oben führte eine kleine Treppe, die in den Boden eingebettet war, hinauf, damit die Pandas ihre Höhle leichter erreichen konnten.

Henry konnte seinen Blick kaum von diesem Höhleneingang lösen, glaubte er doch, dass ihn von dort zwei Augen anstarrten.

Ihm wurde kalt und sein Mund wurde ganz trocken.

Das ist der andere Panda, Jia Jia, versuchte er sich zu beruhigen und schaute wieder zu Kai Kai, der noch immer mit dem Strauch spielte und Blätter aß.

Henry konnte aber nicht anders und sah wieder zur Höhle hinüber, doch diesmal konnte er keine Augen in der Dunkelheit erkennen, was ihn sehr erleichterte.

Caroline und die Kinder waren bereits weitergegangen, um den anderen Panda zu bewundern, und Henry wollte ihnen gerade folgen, als er etwas sah.

»Das kann nicht sein«, platzte es aus ihm heraus.

In dem Gehege war ein kleines Mädchen. Wie alt mochte sie sein? Fünf, sechs, vielleicht auch etwas älter. So genau konnte er das nicht einschätzen. Sie trug ein weißes Nachthemd, hatte mittellange braune Haare und schien sehr blass zu sein. Sie spielte mit dem Panda.

»Da ist ein Mädchen«, sagte er auf Englisch zu einem Besucher, der sich den Panda auch anschaute.

»Wo?«, fragte der andere.

»Da«, antwortete Henry und zeigte auf den Panda.

»Ich sehe nichts«, sagte der Besucher und ging kopfschüttelnd weiter.

Henry sah dem Mann nach. Er verstand seine Reaktion nicht, schließlich war das Mädchen da, er war ja nicht verrückt.

Doch als er wieder zu dem Panda hinüberschaute, war das Mädchen verschwunden.

Schweiß rann ihm von der Stirn, dabei war es im Vergleich zu draußen kühl im Gehege.

»Das kann nicht sein …«, sagte er zu sich selbst, als ihn gleichzeitig jemand am Bein berührte.

Er drehte sich um und war nicht in der Lage, auch nur ein Wort zu sagen. Die Angst packte ihn im Nacken.

»Morgen lernst du, wie man weint«, flüsterte das kleine Mädchen mit kalter, monotoner Stimme.


  1. Kapitel 2

 

Singapur, 29. Mai

 

Abschied fällt nie leicht. Als Vertriebsleiter hatte Henry sein gesamtes Team – immerhin fast vierzig Mann – zum Abschlussessen eingeladen. Da er auch Freunde aus der Firma sowie den Vorstand und deren Assistenten dazugebeten hatte, hatte er gleich das komplette Restaurant für den Abend reserviert.

Henry wusste, wie das Spiel funktioniert. Nicht der Beste, sondern derjenige mit dem besten Netzwerk erntete die Früchte. Und er wusste, wie gutes Networking gelingt, davon abgesehen war er auch der erfolgreichste Vertriebsleiter im Unternehmen. Er übertraf die Vorgaben jedes Jahr, deswegen genoss er alle Freiräume, die er sich wünschte. Er war für das Unternehmen eine Cashcow, aber das störte ihn nicht. Sein Gehalt war exzellent und seine Arbeit machte ihm unglaublich viel Spaß, er identifizierte sich mit ihr, was man nicht von jedem seiner Kollegen sagen konnte.

»Und, Henry, freust du dich, bald wieder in Deutschland zu sein?«, fragte ihn Jim auf Englisch. Er war der Vorstand für Personalangelegenheiten für den gesamten ostasiatischen Arm des Konzerns – immerhin fast 4.000 Mitarbeiter. Sie alle unterhielten sich überwiegend auf Englisch im Unternehmen, da es international aufgestellt war und Mitarbeiter aus den unterschiedlichsten Nationen hier zusammenarbeiteten.

»Ich freue mich auf die Herausforderungen, die mich erwarten«, antwortete Henry vielsagend.

Der Mann neben ihm, Qiu Li, lachte kurz auf und antwortete: »Eine andere Antwort, hätte ich von dir auch nicht erwartet. Du weißt, wenn du dich im kalten Deutschland nicht wohlfühlst, ist hier immer ein Platz für dich.«

Henry nickte dankend. Diese Worte zu hören, bedeutete ihm viel, vor allem vor versammelter Mannschaft und aus dem Mund des CEOs, unterstrichen sie doch seinen Wert für die Firma.

In Deutschland mochten solche Worte bei Betriebsfeiern oder Kollegenessen kein Gewicht haben, aber in Singapur waren die Menschen anders. Ehre zählte hier sehr viel.

Diese Denkweise gefiel Henry. Er war selbst so gestrickt, sein Wort zählte mehr als ein Stück Papier. Vielleicht lag es auch daran, dass er sich so schnell an die Sitten und Bräuche Ostasiens gewöhnt hatte und man hier gerne Geschäfte mit ihm machte. Obwohl er ein Weißer war, tickte er ähnlich wie sie. Man vertraute ihm und respektierte ihn.

An diesem Abend machte ihm Qiu Li noch ein ganz besonderes Geschenk: Er erklärte sich dazu bereit, im Namen der Firma die gesamten Kosten des Abschiedsessens zu übernehmen, obwohl Henry das hätte tun wollen.

»Du hast dem Unternehmen Zigmillionen eingebracht. Sieh es als ein kleines Dankeschön für deine Loyalität und Freundschaft an«, erklärte Li und senkte kurz den Kopf.

Henry war von dieser Geste überwältigt und bekam einen kleinen Kloß im Hals.

»Wie könnte ich diese Bitte abschlagen«, antwortete er und senkte ebenfalls den Kopf, aber länger, als es der CEO getan hatte, um zu zeigen, dass er voller Demut war.

Der Abend endete feuchtfröhlich. Henry hielt sich jedoch mit dem Alkohol zurück, da für den nächsten Tag bereits sein Flug nach Frankfurt gebucht war.

»Vielen Dank für dieses großzügige Geschenk«, sagte Henry, als er den CEO zu seinem Wagen begleitete.

»Bedank dich bei dir selbst, du hast es dir mehr als verdient. Jemanden wie dich lasse ich nur ungern ziehen, aber zum Glück bleibst du dem Konzern erhalten. Selbstverständlich respektiere ich, dass du dabei vor allem an deine Familie denkst. Soll dich mein Chauffeur mitnehmen?«

»Das ist sehr freundlich, aber ich werde ein Taxi nehmen.«

»Das kommt nicht infrage.«

»Aber dein Haus liegt doch auf der anderen Seite.«

»Ein kleiner Umweg.«

»Danke«, antwortete Henry. Kurz darauf erreichten sie auch schon den Rolls Royce. Als der Fahrer sie sah, stieg er sofort aus und grüßte, danach öffnete er die Tür zum Fond.

Li bat den Chauffeur, zunächst Henrys Zuhause anzusteuern. Während der Fahrt sprachen sie zunächst über das Geschäft und die Bundesliga. Fußball war in Singapur sehr beliebt und der CEO interessierte sich vor allem für Borussia Dortmund. Doch dann wurde Qiu Li plötzlich ernst.

»Du wirkst nachdenklich.«

»Ich bin müde.«

»Henry, jetzt unterhalten sich nicht der CEO und der erfolgreichste Vertriebsleiter, den die Firma je hatte, sondern zwei Männer, zwei Väter und hoffentlich Freunde.«

»Danke. Ich bin wirklich einfach müde.«

»Männerstolz kann eine Bürde sein, die ein Mann schwer alleine schultern kann. Der große Buddha sagte einst: Spannst du eine Saite zu stark, wird sie reißen. Es gehört zum Mannsein dazu, seine Ängste und Sorgen zu teilen. Ich kann mir gut vorstellen, dass dich viele Gedanken treiben. Du hast dich hier wohlgefühlt, der Schritt, zurück nach Deutschland zu gehen, ist mutig, aber richtig. Erfolg ist nichts wert, wenn die Familie darunter leidet.«

Henry nickte nur, dabei gab es etwas in ihm, das ihn geradezu dazu aufforderte, etwas zu sagen. Er vertraute Li. Schon lange verband sie freundschaftliche Zuneigung, aber diese offenen und herzlichen Worte verlangten geradezu, dass er sich wenigstens einer Person öffnete.

Er wurde den Gedanken an dieses Mädchen nicht los, das er im Pandagehege gesehen hatte, das ihn am Beim berührt und diesen einen Satz gesagt hatte. Er hatte nach ihr gegriffen, aber sie nicht fassen können. So schnell, wie sie da gewesen war, war sie auch wieder verschwunden.

Henry hatte den ganzen Bereich nach ihr abgesucht, aber sie war wie vom Erdboden verschluckt. Caroline hatte sich offensichtlich schon Gedanken gemacht. Natürlich hatte er ihr nichts gesagt, weil er ihr weder Sorgen machen noch als verrückt gelten wollte.

Der Wagen parkte vor der Einfahrt und der Chauffeur öffnete die Tür.

»Vielen Dank fürs Mitnehmen und für Ihr Vertrauen in all den Jahren.«

»Nichts zu danken. Grüß mir die Familie und gönn dir etwas Schlaf. Du hast einen langen Tag vor dir, und vergiss uns in Deutschland nicht. Melde dich, wann immer dir danach ist.«

»Das werde ich tun«, antwortete Henry und stieg aus.

Er drehte sich nochmals um. Li schaute ihn mit ernster Miene an und sagte dann: »Schweigen ist nicht immer ein Zeichen von Stärke.«

Henry antwortete nicht, musste aber kurz schlucken und hoffte, dass man ihm nicht ansah, dass diese Worte ihm eine Gänsehaut über den Rücken jagten.

Er wartete noch, bis der Wagen nicht mehr zu sehen war. Es war eine klare, aber keine stille Nacht. Der Dschungel lag nicht weit entfernt, er musste praktisch nur die Straße überqueren, schon war er in der Wildnis. Aus dem Dickicht waren die unterschiedlichsten Geräusche der Dschungelbewohner hören.

Er liebte diese Geräusche, nur jetzt im Moment hätte er sich absolute Ruhe gewünscht, um sich sammeln und seine Gedanken sortieren zu können. Er schaute die Einfahrt hinauf, wo eine dezente Außenbeleuchtung den Weg zum Eingang wies. Das Haus und das Grundstück waren sehr großzügig. Es bot reichlich Platz für die Familie, und die Kinder hatten auf dem Grundstück jede Menge Raum zum Spielen. Ein Zaun schützte das Anwesen – vor allem vor Tieren. Den Affen gelang es am häufigsten, den Zaun zu überlisten.

Paul und er hatten immer ihren Spaß mit ihnen. Nur Sophie konnte nichts mit ihnen anfangen und schrie, sobald sich ihr ein Affe näherte.

Statt ins Haus zu gehen, ging Henry zur Straße zurück. Es war seine letzte Nacht in Singapur. Morgen würde er nach Deutschland fliegen und wer weiß, wann er wieder die Gelegenheit haben würde, dem Dschungel so nahe zu sein.

An der Straße blieb er stehen und schaute hinüber. Er atmete hörbar ein und aus. Selbst nachts war es noch warm und schwül. Sein Hemd war schon ganz nassgeschwitzt, daher zog er es aus und hielt es in der rechten Hand fest.

»Warum fühle ich mich nur so hingezogen zur Natur?«, fragte er sich. Er war in einer Großstadt groß geworden. Natürlich hatte er mit seinen Eltern immer wieder Ausflüge in die Natur unternommen und im Gegensatz zu seinen Kindern hatte er es geliebt, stundenlang im Wald zu wandern.

Seine Eltern und er hatten früher regelmäßig Urlaub im Harz oder im Schwarzwald gemacht. Paul oder Sophie für so etwas begeistern zu können, schloss Henry geradezu aus.

Aus der Ferne hörte er Affengeräusche, vermutlich eine Gruppe, die sich stritt.

Kurz überlegte er, ob er nicht einfach ein paar Schritte in den Dschungel wagen sollte. Er kannte diesen Teil des Waldes sehr gut, er war schon oft dort spazieren gegangen. Wirklich gefährliche Tiere gab es dort nicht. Jedenfalls war er keinem bisher über den Weg gelaufen. Die größere Sorge war eher, dass er in der Dunkelheit stolpern und sich verletzen könnte. Der Mond schien zwar hell, aber das Licht reichte nicht aus, um ihm den Weg durch den Dschungel zu zeigen.

»Mein Handy«, schoss es ihm durch den Kopf.

Er nahm es, schaltete die Taschenlampenfunktion an und überlegte kurz, ob er es wirklich wagen sollte.

»Es ist zu spät. Caroline wird bestimmt Fragen stellen, wenn deine Hose dreckig wird.«

Dann zieh sie aus, antwortete er sich in Gedanken.

»Das ist doch bekloppt.«

Und wenn schon, du warst schon immer unternehmungslustig und anders als andere. Also, was hindert dich?

Henry schmunzelte kurz, schüttelte dann den Kopf und beschloss, ins Haus zu gehen. Ein letztes Mal schaute er hoch in den Himmel, danach in den Dschungel, machte die Augen klein und atmete ein letztes Mal hörbar ein und aus.

»Wir sehen uns …«, sagte er, hielt aber plötzlich inne, weil etwas seine Aufmerksamkeit auf sich zog.

Ein großer schwarzer Affe stand auf der anderen Straßenseite und schaute ihm direkt in die Augen. Es gab keinen Zweifel. Henry kniff sich in den Arm und schloss kurz die Augen, aber der Affe war noch immer da.

Es war keiner der für Singapur typischen Makake Affen, dieser Affe war größer, komplett schwarz, wobei die Farbe auch auf die Dunkelheit zurückzuführen sein konnte. Er wirkte majestätisch, fast wie ein Gorilla, obwohl er kleiner war.

Seine Augen leuchteten, sie starrten ihn regelrecht an. Das Seltsamste aber war: Dieser Affe machte Henry keine Angst. Das Gegenteil war der Fall, er fühlte eine ungeheure Energie und Wärme von dem Affen ausgehen. Ein Gefühl von Sicherheit.

Er bekam eine Gänsehaut und konnte seine Augen nicht von ihm abwenden. Am liebsten hätte er die Straße überquert und ihn berührt, aber er wusste, dass Affen sehr scheue Tiere waren, also blieb er auf seiner Straßenseite stehen, um ihn aus der kurzen Entfernung bewundern zu können.

Da lebte er schon so lange hier, aber bis zu diesem Moment war ihm noch nie ein so schönes Geschöpf in freier Natur unter die Augen gekommen.

War das ein Zeichen oder nur ein Zufall?

Er kniff sich erneut und schloss die Augen, um ganz sicherzugehen, dass ihm seine Fantasie keinen Streich spielte. Aber der Affe blieb, es gab nun keinen Zweifel mehr. Die Hitze, die Schwüle der Nacht und selbst die Müdigkeit waren vergessen und hatten Platz gemacht für die eine Frage: Wie kann ich dem Affen näher kommen?

Der Affe machte keine Anstalten, wieder im Dschungel zu verschwinden. Er hatte sich auf den Boden gesetzt und schaute noch immer zu ihm herüber.

Henry überlegte, ob er nicht ein Foto von ihm machen sollte, aber er fürchtete, dass der Blitz des Handys ihn verscheuchen könnte, und ohne Blitz würde das Foto mit Sicherheit nichts hergeben. Das Handy war nun einmal keine Spiegelreflexkamera.

Allzu gerne hätte er seine Frau und seine Kinder angerufen, damit sie sich gemeinsam diesen schönen und majestätischen Affen anschauen konnten, aber sie schliefen bestimmt tief und fest und sicherlich würde ihr Kommen den Affen verscheuchen. Möglicherweise hätten sie nicht einmal seine Begeisterung dafür geteilt.

»Ich muss zu ihm rüber, sonst werde ich es mein Leben lang bereuen«, sagte er zu sich selbst und wollte eben die Straße überqueren, als der Affe sich erhob und einen Schritt zur Seite machte.

Henry blieb stehen, da er diese Reaktion nicht einschätzen konnte. Doch dann erstarrte er.

Neben dem Affen erschien das kleine Mädchen in ihrem Nachthemd.

Sie schaute zu ihm herüber. Ihre Augen wirkten schwarz und die Haut blass, blass wie die einer Toten. Ihre kleine linke Hand lag auf dem Rücken des Affen, beide starrten ihn an.

Henry war unfähig, irgendetwas zu tun. Seine Beine waren plötzlich steif und starr, als wären sie mit dem Boden verwachsen. Seine Kehle war trocken und ihm wurde kalt, obwohl er schwitzte in der Schwüle der Nacht.

»Wer bist du?«, konnte er dann endlich über die Lippen bringen.

Sie antwortete nicht, schaute ihn nur an.

»Wer bist du?«, wiederholte er seine Frage.

Doch sie starrte ihn weiter an, dann bückte sich der Affe und sie kletterte auf seinen Rücken.

»Lauf nicht weg. Sag mir, wer du bist!«, rief er über die Straße und machte ein paar schnelle Schritte. Er durfte sie nicht aus den Augen verlieren, er musste wissen, ob sie real war oder ob er verrückt wurde.

Das Mädchen flüsterte dem Affen etwas ins Ohr und es schien, als würde der Affe ihm daraufhin den Rücken zukehren, um das Weite zu suchen.

Henry erhöhte das Tempo.

»Lauf bitte nicht weg«, flehte er, als ihn nur noch wenige Schritte von ihnen trennten. »Wer bist du?«

Er glaubte das Gesicht des Mädchens erkennen zu können, soweit das in der Dunkelheit möglich war. Sie war blass und mager und einer Toten ähnlicher als einer Lebenden. Ihre Augen sahen aus wie schwarze Kohlenstücke. Ein Ausdruck, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Der Affe setzte zum Sprint an, doch dann stoppte er kurz, das Mädchen drehte sich zu ihm um und sagte mit der gleichen monotonen und kalten Stimme wie im Zoo: »Deine Geschichte «, und verschwand dann im Dschungel.

 

  1. Kapitel 3

 

Mannheim, 6. Juni

 

Zurück in Deutschland, zurück zum Alltag!

Das jedenfalls hoffte Henry. Die Begegnung mit dem kleinen Mädchen, diesem unrealen Geist, wie er die Erscheinung in Gedanken nannte, hatte ihm merklich zugesetzt, dabei hielt er sich für jemanden, den so schnell nichts aus der Ruhe bringen konnte.

Eigentlich war es Caroline und nicht er, die sich leicht erschreckte, die keine Horrorfilme alleine anschauen konnte. Ihn hatten diese Filme nie beeindruckt, weil er sich jederzeit bewusst war, dass sie nur Fiktion waren.

Aber dieses kleine Mädchen – so blass und so tot – sie kam ihm wirklich vor und ihr Erscheinen jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Er konnte sich nicht dagegen wehren, so sehr er auch versuchte sich einzureden, dass das Trugbild nicht real war, dass es unmöglich war, dass sie auf dem Rücken eines schwarzen Affen in den Dschungel ritt. Doch seine Augen konnten ihn nicht getäuscht haben, er hatte sie gesehen.

Hieß es nicht, dass Ablenkung die beste Medizin gegen Ängste und Sorgen sei? Also hatte er sich in den letzten Tagen voll in den Umzug gestürzt und in der Tat war es ihm gelungen, seinen Kopf etwas freizubekommen, nicht mehr darüber nachzudenken, wer dieses Mädchen war und warum sie gerade ihn heimsuchte.

Sein Verstand hämmerte ihm immer wieder ein, dass es keine Geister gebe, dass das Ganze überhaupt keine Bedeutung habe und allein dem Stress wegen des Umzugs geschuldet sei und der Tatsache, dass er Singapur verließ. Das Land, welches er so ins Herz geschlossen hatte. Nur aus diesem Grund war sie ihm erschienen, redete er sich ein. Sie war nur eine Projektion seiner Ängste, nicht mehr. Sobald er in Deutschland in den Alltag zurückfinden würde, wäre auch sie verschwunden.

Ein Restzweifel, eine Angst blieb.

Jedoch – sie erschien ihm nicht mehr.

Seine Frau und die Kinder waren die letzten Tage in Mannheim bei seinen Schwiegereltern geblieben, während er nach Lübeck gereist war, um sich bei der neuen Arbeitsstätte einzufinden und sich um die vorübergehende Bleibe zu kümmern.

An diesem Montag war er nun von Hamburg nach Frankfurt geflogen, hatte dort einen Mietwagen in Empfang genommen und gegen 16 Uhr Mannheim erreicht.

Es war eine interessante Stadt, viel kleiner als Singapur, aber durch die Einteilung der Innenstadt in Quadrate ganz besonders. Statt normaler Straßennamen las man hier die Bezeichnung der Quadrate auf den Straßenschildern – P2 oder Q3 –, was er lustig fand.

Die Stadt hatte Charme. Überhaupt gefiel ihm die ganze Region, denn sie war auch für ihre Weine bekannt und Henry war bekennender Weintrinker.

Seine Schwiegereltern schickten ihnen regelmäßig Weine aus der Region. Er verstand sich blendend mit ihnen, allerdings waren sie ganz anders als seine Eltern. Seine Eltern waren eher traditionell bis konservativ. Carolines Eltern hingegen waren alternativ, bisweilen esoterisch angehaucht.

Anfangs hatte er geglaubt, dass sie übrig gebliebene Hippies wären. Doch sehr schnell bemerkte er, dass es einfach ihre Lebenseinstellung und Überzeugung war, und lernte, das zu akzeptieren, obwohl er sich selbst dem eher konservativen, aber weltoffenen Lager zurechnete.

Er parkte den Wagen vor dem Innenhof seiner Schwiegereltern, nahm die Geschenke sowie seine Reisetasche aus dem Wagen und trat an die Haustür.

Kurz nachdem er geklingelt hatte, wurde die Tür geöffnet.

»Henry, schön dich zu sehen«, begrüßte ihn Harald Mohn und umarmte ihn gleichzeitig.

»Freu mich auch«, antwortete Henry und erwiderte die herzliche Umarmung. »Das ist für dich.«

»Na, da hast du dich aber wieder in Unkosten gestürzt«, bemerkte Harald, als er die Whiskeyflasche in Empfang nahm.

Es war ein Aberfeldy Single Malt Whiskey. Henry wusste, dass es der Lieblingswhiskey seines Schwiegervaters war.

»Komm doch rein«, bat Harald ihn ins Haus. Henry folgte ihm, im Flur lief ihm auch schon Birgit über den Weg.

»Ach Henry, schön, dass du endlich da bist, mein Schatz«, begrüßte sie ihn überschwänglich.

»Ich freu mich auch. Hoffe, die gefallen dir«, sagte er und erwiderte auch ihre Begrüßung mit Küsschen auf den Wangen rechts und links.

»Wie könnten mir die Blumen meines Lieblingsschwiegersohns nicht gefallen«, sagte sie und roch an den Blüten.

»Vielleicht, weil du keinen anderen Schwiegersohn hast?«, ließ sich Caroline scherzhaft vernehmen, die nun auch aus dem Wohnzimmer auf ihren Ehemann zusteuerte. »Hallo Schatz.« Sie drückte ihm einen dicken Kuss auf die Lippen.

»Na, oder weil ich vielleicht wirklich ein cooler Schwiegersohn bin«, konterte Henry.

»Und mir hast du keinen Strauß mitgebracht?«, tat Caroline eingeschnappt. »Spaß, habe ich dich damit verunsichert?«, schmunzelte sie und fügte noch hinzu: »Du kommst genau richtig. Wir wollten gerade den Grill anschmeißen.«

»Gönnt dem Mann doch ein wenig Ruhe. Willst du was trinken?«, fragte Birgit.

»Ein Wasser wäre nett.«

»Wie war es in Lübeck?«, fragte Caroline, während Birgit in die Küche verschwand.

»Sehr gut. Ich fange schon am 15. Juni an.«

»Ich dachte, am 1. Juli?«

»Ja, aber die brauchen mich schon früher. Es steht gerade ein kritischer Deal an, da haben sie mich gefragt, ob ich nicht paar Tage früher kommen könnte.«

»Und du konntest natürlich nicht Nein sagen?« Ein kleiner Vorwurf und etwas Enttäuschung schwangen in ihrer Stimme mit.

»Wie hätte ich? Was sollen meine Mitarbeiter von mir denken, wenn sie erfahren, dass ich in so einer kritischen Phase, in der mich das Unternehmen um Unterstützung bittet, Nein sage.« Henry machte Gänsefüßchen in die Luft.

»Und was wird aus unserem Ostseeurlaub?«

»Schatz, wir wohnen an der Ostsee. Den Urlaub können wir jedes Wochenende haben.«

»Das ist nicht das Gleiche«, moserte sie. Er drückte sie an sich und gab ihr einen Kuss, ihr Gesichtsausdruck entspannte sich ein wenig.

Natürlich verstand er sie, aber er wollte nicht gleich zu Beginn einen schlechten Eindruck bei der Arbeit machen. Der erste Eindruck war sehr wichtig. Seine Mitarbeiter und auch der Vorstand sollten sehen, dass er sich für die Firma reinkniete und diszipliniert war. Schließlich erwartete er genau das auch von seinem Team.

Außerdem gab es noch einen anderen Grund, warum er zugestimmt hatte. Er hatte Angst, sich zu viel Ruhe zu gönnen. Angst davor, dass dieses kleine Mädchen ihn wieder heimsuchen könnte.

»Wo sind die Kinder?«

»Die sind draußen und spielen mit den Hunden«, sagte Caroline. »Willst du nicht endlich den Grill anzünden?« Sie gab ihm einen Klaps auf den Po.

»Trink erst mal einen Schluck«, bemerkte Birgit und reichte ihm ein Glas Wasser.

Henry nahm es und gönnte sich einen kräftigen Zug.

»Und ich öffne uns eine schöne Flasche Wein«, sagte Harald.

Henry folgte Caroline in den großzügigen Garten. Schon von der Terrassentür aus konnte er Paul und Sophie mit den Hunden der Schwiegereltern herumtollen sehen.

Harald und vor allem Birgit waren hundeverrückt. Sie besaßen sieben Hunde, alle unterschiedliche Rassen.

»Papa, kriegen wir auch einen Hund? Einen Mops«, rief Paul, als er Henry entdeckte, und kraulte dem Mops der Familie hingebungsvoll das Bäuchlein.

Diese Frage kam immer wieder auf, daher war Henry auch nicht überrascht. In Singapur hatten sie beschlossen, keinen Hund als Haustier zu halten, hier in Deutschland wollte er das nicht ausschließen. Wichtig war, dass die Kinder begriffen, dass ein Hund kein Spielzeug war, sondern ein Lebewesen, für das man Verantwortung übernehmen musste und das man nicht einfach abschieben konnte, wenn man keine Lust mehr darauf hatte.

Der Mops kam auf Henry zugerannt, bellte kurz und drückte sich an seinen Unterschenkel.

»Die Kleine mag dich«, sagte Birgit.

»Die erinnert sich doch gar nicht an mich«, erwiderte Henry. Die Schwiegereltern hatten sie zuletzt vor einigen Monaten in Singapur besucht, dabei hatten sie drei ihrer kleineren Hunde mitgenommen.

Es war schon erstaunlich, wie gut die sieben unterschiedlichen Rassen miteinander harmonierten. Der kleinste Hund war ein Chihuahua, kaum größer als eine Ratte. Der größte war ein Wolfshund, der im Gegensatz zu dem kleinsten schon fast die Statur eines Pferdes hatte. Dass sie so gut miteinander klarkamen, führte er vor allem auf Birgit zurück, die einfach ein Händchen für Tiere hatte.

»Natürlich tut sie das. Warum sollte sie nicht? Sie ist klein, aber nicht dumm, nicht wahr, mein Schätzchen?«, antwortete Birgit, bückte sich und hob den Mops hoch. Der blickte immer wieder zu Henry.

»Sie will zu dir.«

Birgit reichte ihm die Hündin und Henry nahm sie in den Arm und streichelte sie, was diese sichtlich genoss.

»Papa, du musst grillen. Darf ich mit Greta spielen?«, fragte Paul, der augenscheinlich eifersüchtig war.

Henry reichte seinem Sohn die Hündin und widmete sich dem Grill. Währenddessen kam Harald mit einer Flasche Wein und einigen Gläsern.

Nur wenig später hatte Henry den Grill so weit, dass sie die ersten Fleisch- und Gemüsestücke drauf platzieren konnten, und bald erfüllte der Duft von gegrilltem Fleisch den Garten. Auch die Hunde schienen darauf anzuspringen und scharwenzelten immer um den Grill herum.

Henry wollte einem von ihnen gerade ein Stück geben, als Birgit sagte: »Bitte das Nichtgewürzte, das Gewürzte vertragen sie nicht.«

Ich dachte, die fressen alles, dachte Henry, legte aber das Fleisch zurück und nahm ein Stück, das noch nicht gewürzt war, und legte es auf den Grill.

»Ich hoffe, ihr wisst das zu schätzen«, sagte er an die Hunde gerichtet. Kurz darauf schnitt er das Stück in kleine Teile und legte sie auf den Rasen.

Sofort schnappten die Hunde danach.

»Jeder nur ein Stückchen«, schimpfte Henry, da jeder der Hunde versuchte, dem anderen zuvorzukommen.

»Dann hättest du es den Hunden einzeln geben sollen«, erwiderte Birgit schmunzelnd.

Der Geruch nach gegrilltem Fleisch machte auch Henry hungrig, obwohl er auf der Rückfahrt nach Mannheim in einem Restaurant im Flughafen gegessen hatte. Das erste fertige Stück bekam aber Paul, der schon die ganze Zeit nach Essen quengelte.

Nachdem er noch einige Fleischstücke gegrillt hatte, setzte er sich auch an den Tisch zu den anderen und gönnte sich ein Steak.

»Sicher, dass du nichts möchtest?«, fragte er Sophie.

»Ganz sicher. Ich finde das einfach eklig, die armen Tiere«, erklärte sie entsetzt.

Sophie war Vegetarierin, dabei glaubte Henry, dass sie nur irgendeinem Trend folgte, den er nicht ganz nachvollziehen konnte. Bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr hatte sie gerne Fleisch gegessen, aber dann von einem Tag auf den anderen beschlossen, kein Fleisch mehr zu essen.

Für ihn, der Fleisch liebte, war es unvorstellbar, darauf zu verzichten, und Vegetarier konnte er deswegen auch nicht ernst nehmen, von Veganern wollte er erst gar nicht anfangen.

Als er sich ein Stück seines lecker gegrillten Steaks in den Mund schob, wurde ihm auch wieder einmal bewusst, warum er Fleisch so gerne aß.

»Ein großes Lob an den Grillmaster«, grinste er.

»Eigenlob stinkt«, sagte Paul.

»Und mit vollem Mund spricht man nicht«, konterte Henry. Alle lachten.

»Ich kann mir das noch immer nicht vorstellen, ihr in Deutschland«, lenkte Birgit, das Gespräch in andere Bahnen.

»Warum?«

»Na ja, du und Singapur, das war doch eine große Liebe.«

»Caroline ist meine große Liebe«, antwortete Henry.

»Papa, du musst gar nicht so schleimen«, schnappte Sophie.

»Das muss ich auch gar nicht, weil es die Wahrheit ist.« Er drehte sich zu Caroline und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen.

»Ihhh«, war von Sophie zu hören.

»Und du meine«, sagte Caroline und drückte Henrys Hand.

»Wieso zieht ihr nicht nach Mannheim?«, fragte Harald.

»Weil mein Job in Lübeck ist und wenn wir nach Mannheim ziehen würden, würden meine Eltern fragen, warum wir nicht nach Köln ziehen«, erwiderte Henry, da er wusste, was jetzt kommen würde.

»Ich verstehe dich. Bleib da ein, zwei Jahre, dann kommst du zu mir. Du weißt, ich bin nicht mehr der Jüngste und ich würde mich sehr freuen, wenn du die Geschicke der Firma leiten könntest.«

»Ich weiß das zu schätzen, aber ich kann zu diesem Zeitpunkt noch keine Entscheidung darüber treffen«, versuchte Henry auf freundliche Weise das Thema zu umschiffen.

Es freute ihn natürlich, dass Harald so große Stücke auf ihn hielt, aber ehrlicherweise sah er sich nicht in der Firma seines Schwiegervaters. Harald besaß ein mittelständisches Unternehmen mit knapp vierzig Mitarbeitern. Die Rendite war gut, aber dennoch nicht das, was Henry für seine Zukunft vorschwebte.

Es war ein Handwerksbetrieb, somit regional aufgestellt, und genau das war das eigentliche Problem. Henry mochte es, zu reisen, große Deals über die Bühne zu bringen. Er mochte es, Gespräche mit Vorständen von Konzernen zu führen, in den teuersten Hotels zu übernachten und den schicksten Restaurants auf Firmenkosten zu essen. Alles Dinge, die das Unternehmen von Harald ihm nicht bieten konnte.

Henry war ein durch und durch widersprüchlicher Charakter. Obwohl er Luxus mochte, war er in gleichem Maße für die Natur zu begeistern und sehr bodenständig. Er hatte nie vergessen, den Wert des Geldes zu schätzen und respektvoll gegenüber anderen Menschen zu sein.

Birgit hatte einmal gesagt, dass in ihm Ying und Yang wohnten, und wenn er sich nicht irgendwann für eine Seite entscheide, könne er daran zerbrechen.