SALIM GÜLER

 

 

 

 

 

SNIPER - Kaltes Blut

 

 

 

 

1. Auflage Oktober 2015

 

Autor: Salim Güler

www.salim-gueler.de

https://www.facebook.com/salimgueler.autor

Lektorat: Christiane Saathoff, www.lektorat-saathoff.de

Covergestaltung: Irina Bolgert

Copyright © 2015 by Salim Güler

 


  1. INHALTSVERZEICHNIS:

 

INHALTSVERZEICHNIS:

Das Buch

Der Autor

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Eine Bitte

 

  1. Das Buch

 

Baptist Voß, Scharfschütze in einer Sondereinheit der Bundeswehr, kommt von einem monatelangen Afghanistan-Einsatz zurück nach Mannheim. Er freut sich auf ein Wiedersehen mit seiner Frau und möchte endlich sein Baby in den Armen halten, das er bisher noch nicht gesehen hat.

Doch dann erfährt er, dass seine Familie kurz vor seiner Rückkehr auf brutale Weise ermordet wurde.

 

Während die Kripo Mannheim fieberhaft nach dem Mörder der jungen Frau und ihrem Baby sucht, nimmt Baptist die Sache in die eigene Hand, getrieben von Rachegelüsten und Hass.


Kann die Kripo Mannheim um Kommissar Jan Berger den Mörder vor Baptist finden und ihn von Selbstjustiz abhalten, oder wird er die Straßen Mannheims in ein Meer von Blut verwandeln?

 

 

 

 

 

 

  1. Der Autor

 

Salim Güler, aufgewachsen in Norddeutschland, studierte in Köln Wirtschaftswissenschaften und promovierte an der TU-Chemnitz. Er arbeitete lange Zeit in der freien Wirtschaft, zuletzt als Pressesprecher.

Schon als Schüler begann er mit dem Schreiben von selbsterfundenen Geschichten und diese Leidenschaft ließ ihn bis heute nicht los.

In seinen Romanen finden sich immer wieder gesellschaftlich aktuelle Themen, die er geschickt in eine fiktive und hoch spannende Geschichte einzubetten versteht.

Seine Bücher landen regelmäßig in den Bestsellerlisten der Verkaufs-Charts.

Salim Güler ist sehr am Austausch mit seinen Leserinnen und Lesern interessiert und freut sich daher über jeden Kontakt, entweder über Facebook oder über seine Homepage.

www.salim-gueler.de

https://www.facebook.com/salim.gueler.autor

 

  1. Kapitel 1

 

Afghanistan Sommer 2015

 

Schon seit einigen Stunden verharrte er in der gleichen Position. Sein Blick war konzentriert und fokussiert. Durch das optische Visier seines Scharfschützengewehres konnte er alles so gut erkennen, als wäre er mitten unter ihnen. Dabei trennten ihn und sein Ziel mehrere Hundert Meter.

Genauer gesagt: 672 Meter.

»Hoffentlich irren die sich nicht«, hörte er seinen Kameraden sagen, der in ständigem Kontakt mit der Zentrale stand.

»Das will ich auch hoffen. Sag Bescheid, wenn ich dich kurz ablösen soll«, antwortete er. Sein Lächeln und der ironische Ton in seiner Stimme verrieten allerdings, dass es ein Scherz war.

»Warum nicht«, ging Baptist auf das Angebot ein und wollte Mike das Gewehr reichen.

»Witzig«, reagierte Mike grinsend. Sein Blick war aber angespannt.

Sie waren alle angespannt, dieses ewige Warten war extrem kräftezehrend und strapazierte ihre Nerven aufs Äußerste.

Sie waren zu dritt und hatten sich auf einem Hügel, der unter ihrer Kontrolle stand, verschanzt. Von hier aus hatten sie eine sehr gute Aussicht und freies Schussfeld auf das Ziel. Beste Bedingungen, um ihren Auftrag auszuführen. Wenn man denn bei 672 Metern überhaupt von besten Bedingungen sprechen konnte.

Baptist war der Leiter der Einheit, dennoch herrschte ein kameradschaftliches Verhältnis unter ihnen. Er vertraute ihnen, so wie sie ihm vertrauten. Vertrauen war hier wichtiger als irgendwelche Rangabzeichen oder Hierarchien.

Jeder kleinste Fehler, jede Unachtsamkeit konnte den Tod bedeuten. Der Feind lauerte überall. Es war kein Krieg mit klaren Spielregeln, daher waren Wachsamkeit und Vertrauen auf die eigenen Kameraden wichtiger als alles andere.

»Hoffentlich zeigt sich der Wichser endlich«, sagte Mike gedankenverloren. Er hatte einen Grashalm herausgerissen und spielte damit.

»Wenn er nicht gewarnt wurde«, erwiderte Matt.

»Das glaube ich nicht. Er wurde eindeutig beim Betreten des Gebäudes identifiziert«, entgegnete Baptist.

»Nur weil über die Satelliten beobachtet wurde, dass er das Gebäude betreten hat, heißt es nicht, dass er noch im Gebäude ist. Ich sage nur Mustafa Faiz«, gab Matt kritisch zurück.

»Das kannst du nicht vergleichen«, versuchte Baptist, Matts Einwand zu entkräften. Natürlich erinnerte er sich noch an Faiz.

»Wieso nicht? Wir haben ihn damals bis zu einer Wohnung verfolgt, hatten freies Schussfeld. Wir hätten die verdammte Bude in Schutt und Asche legen sollen, stattdessen haben wir gewartet und unserem Informanten, diesem Hurensohn Ali, vertraut.«

»Ja, aber diesmal haben wir Satellitenbilder, die uns bestätigen, dass er ins Gebäude gegangen ist, dazu Wärmebildkameras, die das gleiche Ergebnis zeigen. Und wir haben unten ein ganzes Team zur Verstärkung.«

»Ich weiß nicht. Irgendwie stinkt das Ganze. Matt hat nicht ganz unrecht. Ali hat uns damals geleimt. Während wir darauf gewartet haben, dass Faiz die Wohnung verlässt, hat er sich durch einen unterirdischen Tunnel verpisst. Wer sagt uns, dass Ahmadi nicht auch schon längst abgehauen ist. Die haben doch überall unterirdische Tunnel.«

»Jungs, entspannt euch. Diesmal gibt es keinen Ali oder sonst wen, der unsere Pläne verpfeifen kann. Wer hätte schon erwartet, dass ausgerechnet unser Dolmetscher ein doppeltes Spiel spielt.« Baptist spürte, dass die zermürbende Situation seine Männer extrem belastete. Seit mehreren Wochen waren sie nun hinter Ahmadi her. Waren ihm Hunderte Kilometer gefolgt, hatten ihn aber nicht zu fassen bekommen.

Glücklicherweise hatte die Kommandozentrale aus dem Fehler mit Ali gelernt. Ali war damals ihr Dolmetscher und Guide gewesen. Er kannte die Region sehr gut und hatte immer den Eindruck gemacht, als hasste er die Terroristen. Er sprach sehr gut Englisch und diente immer wieder als Vermittler zwischen ihnen und der einheimischen Bevölkerung.

Obwohl Baptist und seine Männer als Helfer ins Land gekommen waren, wurden sie von der Bevölkerung sehr misstrauisch aufgenommen, als wären sie Kolonialisten, dabei wollten sie nur die Terroristen, die Bösen, unschädlich machen.

Baptist verstand die Einheimischen nicht, auch nach den vielen Jahren, in denen er immer wieder im Nahen Osten, Afghanistan oder Pakistan stationiert gewesen war.

Die Menschen wollten Frieden, wollten sich frei bewegen, aber den Amerikanern und seinen Verbündeten gegenüber hegten sie tiefste Antipathie. Und nichts schien dies ändern zu können.

Glücklicherweise interessierte diese Politik Baptist nicht. Er versuchte, seine Aufgabe so gut wie möglich zu erfüllen, um den Rest sollten sich irgendwelche Generäle oder Politiker kümmern. Trotz seines Offiziersrangs war er in erster Linie Soldat.

»Wenn wir das Schwein erwischt haben, bekommen wir alle unseren wohlverdienten Urlaub.« Baptist versuchte bei diesen Worten zu lächeln, damit die Jungs endlich auf andere Gedanken kamen. Dennoch war sein Blick unverwandt durch das Zielfernrohr auf das Haus gerichtet.

Noch immer konnte er niemanden erkennen.

»Wenn das Schwein sich denn zeigt«, murmelte Mike, während er einen weiteren Grashalm aus dem Boden riss und diesen in den Mund nahm, nachdem er den alten ausgespuckt hatte.

»Das wird er. Er wird uns nicht entkommen. Unsere Jungs da unten haben alle Ausgänge und Ausfahrten unter Kontrolle. Er kann gar nicht weg. Wir sind mehr als zwanzig Mann. Diesmal kriegen wir den Dreckskerl«, antwortete Baptist.

»Ganz ehrlich, wieso sprengen wir das Gebäude nicht einfach in die Luft?«, schlug Mike vor.

»Was ist mit den Unschuldigen?«

»Unschuldige? Hör doch auf. Alle, die dieses Schwein decken, sind genauso schuldig. Wie sollen wir einen Krieg gewinnen, wenn wir nicht unterscheiden können, wer aus der Bevölkerung die Terroristen deckt und wer nicht?«

»Genau deswegen können wir das nicht machen. Wenn wir uns auf ihr Niveau begeben, was unterscheidet uns dann von ihnen?«, warf Baptist ein.

Seine Kameraden antworteten nicht. Er erwartete auch keine Antwort von ihnen, er kannte ihre Meinung. Beide hätten das Gebäude, in dem sich Ahmadi verschanzte, in die Luft gejagt, egal ob sich dort Unschuldige befanden oder nicht. Krieg war nun einmal grausam.

Er konnte sie sogar verstehen, es gab Momente, da dachte er ähnlich. Die Naivität, der er vor Jahren erlegen war, nämlich dass er als Soldat nur der Gerechtigkeit diene, diese Naivität hatten die zahlreichen Einsätze in den letzten Jahren eiskalt davongejagt.

Es gab keinen sauberen Krieg, der kam nur in den Worten von irgendwelchen Politikern vor, die weit weg von diesem Elend waren. Sie verloren keine Kameraden, weil angeblich unschuldige Passanten sich mit am Körper versteckten Bomben in die Luft jagten.

Die Öffentlichkeit bekam keine Bilder aus den Lazaretten zu sehen, wo seine Kameraden mit amputierten Beinen oder Armen lagen. Mit Löchern im Körper, durch die ein Tennisball passte. Ganz zu schweigen von den psychischen Problemen, die dieser Krieg mit sich brachte.

Soldaten mussten Helden sein, tapfer, gerecht und unbesiegbar. Die Wahrheit war aber eine andere. Jedoch interessierte sich niemand für diese Wahrheit. Deswegen war es besser, wenn man sich nicht allzu sehr damit auseinandersetzte, sonst lief man Gefahr, einer dieser Soldaten zu werden, die ein Leben lang abhängig von Medikamenten wurden.

Baptist fuhr gut damit. Er glaubte von sich behaupten zu können, noch nicht zu denen zu gehören, die einen psychischen Knacks davongetragen hatten.

Dass ihm das so lange gelungen war, lag nicht nur an ihm, sondern auch an seiner Ehefrau, die ihm alles bedeutete, dessen war er sich sicher.

»Da bewegt sich etwas«, platzte es aus Matt heraus.

»Wo?«, fragte Baptist.

»Viertes Fenster, von uns aus gesehen links«, antwortete Matt, der durch sein Fernglas schaute. Seine Stimme klang aufgeregt, ein deutliches Zeichen, dass Adrenalin durch seine Adern schoss.

Baptist bewegte sein Gewehr ein wenig nach links, sein rechtes Auge klebte förmlich am Zielfernrohr. »Ich sehe es. Da bewegt sich in der Tat etwas.«

Auch seine Anspannung stieg. Er konnte das Fenster deutlich sehen. Eine verdreckte rote Gardine verdeckte den Blick ins Innere. Allerdings bewegte sich die Gardine, kein Zweifel.

»Ist er das?«, fragte Mike, der noch immer einen Schnipsel des Grashalms im Mund hatte.

»Kann ich nicht bestätigen. Aber irgendjemand ist da, die Gardine bewegt sich ... Zeig dich!« Schweiß rann Baptist von der Stirn. Er wischte ihn allerdings nicht weg. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Fenster. Seine Kiefer pressten sich aufeinander.

Sobald er sehen würde, dass es Ahmadi war und er freies Schussfeld hatte, würde er nicht zögern und schießen. Das Fenster stellte kein Hindernis dar. Der Wind auch nicht, es war fast windstill. Optimale Voraussetzungen für einen Scharfschützen wie ihn.

Ahmadi müsste sich nur wenige Sekunden zeigen, dann wäre der Spuk vorbei und alle könnten ihren wohlverdienten Urlaub antreten, zurück zu ihren Familien reisen, um die Geister des Kriegs für einen Augenblick zu vergessen. Baptist hoffte, dass dieser Augenblick ewig andauern würde.

Dies sollte sein letzter Auftrag sein, bevor er dem Militär, dem Krieg und all dem Hass für immer den Rücken kehren würde.

»Die Tür öffnet sich«, rief Matt laut.

»Was?«, fragte Baptist, da er noch immer konzentriert zum Fenster schaute.

»Die Bodenstation meldet, dass jemand die Treppe runterkommt«, erklärte Mike, der in ständigem Kontakt zu den Kameraden unten und der Zentrale stand.

»Fuck«, schrie Matt.

Baptist überlegte kurz, bis er entschied, das Ziel zu ändern. Langsam richtete er sein Scharfschützengewehr auf die Tür in der Hoffnung, dass Ahmadi hier heraustreten würde.

Schweißtropfen prallten auf seine Waffe. Trotz seiner Anspannung versuchte er normal zu atmen, den Puls unter Kontrolle zu halten. Jahrelanges Training machte ihm das möglich.

Er wusste, dass er gleich einen Menschen erschießen würde, aber für ihn waren das keine Menschen, sondern Nummern. Er betrachtete sein Ziel immer als einen Gegenstand, das machte die ganze Sache einfacher, ansonsten hätte er nicht diese Kälte, diese eiskalte Genauigkeit und hohe Trefferquote in all den Jahren aufrecht erhalten können.

Er kannte viele Scharfschützen, die ihre Ziele emotionalisierten und die Geister dieser Toten an sich heranließen. Ihnen gestatteten, sie nachts in ihren Träumen heimzusuchen. Viele von ihnen wurden depressiv, desillusioniert und konnten nur noch mit Tabletten ein halbwegs vernünftiges Leben führen.

»Was passiert gerade?«, wollte Mike wissen, der im Gegensatz zu Matt und zu Baptist keine Möglichkeit hatte, das Geschehen zu verfolgen, da er kein Fernglas hatte.

»Nichts, die Tür hat sich keinen Millimeter bewegt«, antwortete Baptist. Und genau diesen Moment nutzte er, um sich schnell den Schweiß von der Stirn zu wischen. Die Waffe bewegte sich einen kurzen Moment, aber sein Blick war noch immer auf die Tür gerichtet.

»Der spielt mit uns.« Matt kaute nervös auf der Unterlippe.

»Das glaube ich nicht. Wir wissen ja nicht mal, ob er das überhaupt ist. Es sind schließlich mehrere Personen in dem Gebäude«, warf Baptist ein.

»Lass es ihn sein. Ich will endlich nach Hause, meine Frau und meine Kinder in den Arm nehmen.«

»Du willst doch nur einen wegstecken«, witzelte Mike.

Alle lachten.

»Na klar. Drei Monate ohne Sex machen mich ganz wuschig. Und im Gegensatz zu dir habe ich wenigstens eine Frau, die sich gerne ficken lässt«, kommentierte Matt die Anspielung seines Kameraden, um ihm gleichzeitig verbal eine zu verpassen.

»Witzig, mein Mädchen ist süchtig nach meinem Schwanz«, versuchte Mike klarzustellen.

Baptist antwortete nicht, sein Blick war noch immer auf die Tür fixiert. Seine beiden Kameraden waren einige Jahre jünger als er und schienen nur Sex im Kopf zu haben. Solange ihnen das half, ihre Arbeit gewissenhaft durchzuführen, war ihm das egal. Denn nichts anderes war das, was sie taten: Arbeit. Nur war ihr Arbeitsplatz einer, den wohl kaum jemand freiwillig wählen würde: das Schlachtfeld.

»Jungs, Konzentration. Die Tür bewegt sich«, mahnte Baptist mit fordernder und angespannter Stimme.

Er sah, wie sich der Türgriff nach unten bewegte. Gleich würde jemand nach draußen treten, und wenn das Ahmadi war, würde er sofort abdrücken. Er hatte noch immer freie Sicht, somit beste Voraussetzungen für einen tödlichen Schuss. Nach wie vor war die Entfernung von 672 Metern keine Herausforderung für ihn. Er hatte schon entferntere Ziele unter ungünstigeren Bedingungen eliminiert.

Baptists Finger ruhte am Abzug. Seine ganze Konzentration galt der Tür. Und dann sah er, dass eine Person die Tür öffnete und heraustrat.

»Jemand ist draußen«, rief Matt. »Kannst du das bestätigen?«

»Ja, bestätige!«

»Ist es Ahmadi?«, fragte Mike.

»Nein, ein Mädchen.«

 

 

  1. Kapitel 2

 

»Ein was?«, fragte Mike mehr als überrascht.

»Ein Mädchen«, wiederholte Baptist. Seine Stimme klang ruhig und gefasst, sein Gewehr zielte auf das Kind.

Er konnte nicht einschätzen, warum es auf der Straße war. Wollte es nur spielen, oder wurde es von seinen Eltern auf die Straße geschickt, damit es schauen konnte, ob Soldaten in der Nähe waren? Wenn dem so war, deutete alles darauf hin, dass sie aufgeflogen waren.

Baptist wollte dieses Szenario gar nicht durchspielen, allein bei dem Gedanken daran drehte sich ihm der Magen um. Er wollte Ahmadi kaltstellen und endlich in den wohlverdienten Urlaub gehen. Er vermisste seine Frau und seine Tochter.

Seine Hand war ganz nahe am Abzug, durch das Visier beobachtete er jede Bewegung des kleinen Mädchens. Wie alt mochte sie sein? Vier, fünf?

Auch wenn er versuchte, seine Gedanken nicht abschweifen zu lassen, musste er an seine kleine Tochter denken. Ein Gefühl von Sorge überkam ihn und er hoffte, dass das Mädchen dort unten wirklich nur spielte. Der Gedanke, dass er sie erschießen müsste, behagte ihm gar nicht.

Glücklicherweise war ihm so etwas bisher erspart geblieben. Ein Kamerad hatte nicht das Glück gehabt. Vor drei Monaten hatte er einen sechsjährigen Jungen erschießen müssen, der mit einem Sprengsatz am Körper auf einen Konvoi zugelaufen war. Der Kamerad war seitdem in psychiatrischer Behandlung und längst vom Dienst suspendiert.

Wie kann man sein Kind bewusst in den Tod schicken?, dachte Baptist verachtend. Er würde alles dafür tun, seine Tochter zu beschützen und nicht ihr Leben aufs Spiel zu setzen.

»Was hat ein Mädchen jetzt auf der Straße zu suchen?«, fragte Mike und holte Baptist aus seinen Gedanken.

»Vielleicht will sie nur spielen«, suchte der nach einer Erklärung. Wieder tropften Schweißperlen auf seine Waffe.

»Spielen? In Ruinen?«

»Warum nicht. Soll sie die ganze Zeit im Haus bleiben? Wenn ich da an meine Tochter denke ... Kinder ticken anders als wir Erwachsenen«, überlegte Matt laut.

»Welcher Vater, der seine Tochter liebt, lässt sie hier spielen?«, erwiderte Mike und schüttelte nur angewidert den Kopf.

»Du kannst doch gar nicht mitreden, du bist kein Papa. Wir hingegen schon«, antwortete Matt salopp. »Vergiss nicht, uns Bilder von deinem Baby zu schicken, wenn wir diesen Mist hinter uns haben«, fügte er noch hinzu und blickte dabei zu Baptist.

»Mach ich, aber erst mal will ich meine Tochter selber in die Arme nehmen.« Baptist lächelte. Plötzlich überkam ihn eine Gänsehaut.

»Ganz ehrlich, das, was die da oben mit dir abgezogen haben, ist eine Riesenschweinerei. Deinen Urlaub einfach zu canceln.« Mikes Stimme wurde laut.

»Da muss ich ihm recht geben. Die hätten dich wenigstens zur Geburt zu deiner Familie lassen können. Und die Befehle solcher Idioten sollen wir befolgen?« Matt schüttelte nur den Kopf.

»Jungs, wir alle kennen die Risiken unseres Jobs. So sehr ich mir auch gewünscht habe, bei meiner Frau und meinem Baby zu sein, aber der Job geht vor. Wenn wir Ahmadi ausgeschaltet haben, werde ich jede Menge Zeit haben, um das Verpasste nachzuholen«, antwortete Baptist, doch im Grunde dachte er ähnlich wie seine Kameraden.

Es hatte ihn viel Kraft gekostet, seine Enttäuschung nicht zu zeigen, als sein Vorgesetzter ihm mitgeteilt hatte, dass Ahmadi gesichtet worden sei und er deshalb seinen geplanten Urlaub nicht nehmen könne.

Baptist gehörte zu einer Spezialeinheit, einer Elitetruppe, die für besonders brisante Aufgaben vorgesehen war. Als einer der besten Scharfschützen brachte es der Job leider mit sich, dass er kurzfristig Missionen übertragen bekam, die keinen Aufschub duldeten. Alles andere musste sich dem unterordnen, so auch sein Privatleben.

»Hast du wenigstens ein Foto von deiner Tochter?«, wollte Mike wissen.

»Nein, wie euch ist auch mir jeglicher privater Kontakt während der Mission verboten.«

»Die Sesselpupser müssten mal hier ihr Leben aufs Spiel setzen, dann würden sie nicht so überheblich sein.«

»Dann wollen wir mal hoffen, dass Ahmadi sich endlich zeigt, damit du und wir alle nach Hause können. Diese ganze Mission zehrt langsam an meinen Nerven«, sagte Matt. »Fuck, viertes Fenster zweiter Stock, da regt sich was«, wechselte er sofort das Thema und seine Stimme ließ erahnen, wie angespannt er war.

»Was?«, fragte Baptist.

»Die Gardine bewegt sich«, erklärte Matt. »Was sagt die Bodenstation?«

»Sie bestätigen das, Bewegung im zweiten Stock. Warte ... Jemand scheint hinauszugehen ... Es kommt noch eine Person«, antwortete Mike, der in der rechten Hand das Funkgerät hielt. Auch seine Stimme wurde deutlich nervöser.

Baptist hörte zu, entschied aber, vorerst nicht den Lauf seiner Waffe auf ein anderes Ziel zu richten. Sie zielte noch immer auf das Mädchen.

»Ich sehe es jetzt auch. Eine zweite Person ist draußen. Ein Junge.«

»Ein Junge?«, fragte Baptist. Noch immer war sein Blick auf das Mädchen fokussiert.

»Ja, er kommt auf das Mädchen zu. Er hat einen Fußball in der Hand«, antwortete Matt.

»Einen Fußball?« Baptist bewegte sein Gewehr nur ein kleines Stück und dann sah er den Jungen durch das Zielfernrohr. Er war vielleicht ein, zwei Jahre älter als das Mädchen und er hielt einen Fußball in der Hand. Er lachte und schien sich mit dem Mädchen zu unterhalten.

»Ist er sauber?«, fragte Mike.

»Keine Ahnung, kann nichts Verdächtiges erkennen. Was sagt die Bodenstation?«, beantwortete Baptist die Frage mit einer Gegenfrage.

»Noch nichts. Wir sollen uns gedulden«, teilte Mike mit. Er klang beunruhigt.

Seit einigen Monaten verfügte ihre Einheit über ein Lasersystem, welches aus einiger Entfernung die Identifizierung von Sprengstoff ermöglichte. Das System machte sich dabei den Effekt der Raman-Streuung zunutze. Für die Soldaten war diese neue Technologie, wenn auch in mancher Hinsicht noch nicht perfekt, nicht mit Gold aufzuwiegen. Mancher Bombenanschlag war so schon verhindert worden.

»Die sollen sich beeilen. Wo ist Ahmadi?«, fluchte Matt. »Mir schmeckt das Ganze nicht.«

Baptist antwortete nicht, sein Auge klebte am Visier und dies verfolgte jeden Schritt des Jungen. Natürlich hoffte auch er, dass die Bodenstation sich melden, ihnen mitteilen würde, dass es sich nur um einen harmlosen Fußball handelte. Dennoch hatte er ein komisches Gefühl. Was es war, konnte er nicht sagen. Obwohl der Junge lachte, passte etwas nicht. Er wirkte nicht wie ein Junge, der einfach nur spielen wollte. Sein Gesichtsausdruck passte nicht zu seinen Bewegungen.

Der Junge nahm das Mädchen am Arm und ging mit ihr los.

»Wieso geht er?«, platzte Matt heraus.

»Was meinst du mit gehen?«, fragte Mike.

»Er hat die Kleine an die Hand genommen und folgt der Straße«, erklärte Matt. »Was sagt die Bodenstation?«

»Noch nichts. Aber sie glauben nicht, dass der Junge gefährlich ist«, gab Mike die Informationen weiter, die er über Funk erhalten hatte.

»Irgendetwas stimmt hier nicht. Er hat einen Ball, spielt aber nicht damit. Warum?«, gab Matt zu bedenken.

Baptist war geneigt, ihm zuzustimmen. Der Junge hielt das Mädchen an der Hand und seine Schritte wurden immer schneller.

»Wie weit sind die Kinder von unseren Jungs da unten entfernt?«, fragte Mike.

»Warte ... ich denke, noch zweihundert Meter.« Matt wischte sich den Schweiß von der Stirn, um danach sofort wieder durchs Fernglas zu schauen.

»Sollen die Jungs die beiden abfangen?«, fragte Mike.

»Das würde ich empfehlen, wenn sie die nächste Abbiegung nehmen, sollen zwei unserer Jungs sie anhalten. Dann dürfte auch niemand aus dem beobachteten Objekt das mitbekommen, oder Matt?«

»Roger, die Sicht aus dem Haus macht es unmöglich. An der Straßenkreuzung können wir die Kinder in Gewahrsam nehmen, wenn sie denn abbiegen.«

Keiner antwortete, Stille umgab sie. Baptists Atem ging schneller.

Biegt nicht ab, bat er stumm, da er ein schlechtes Gefühl hatte.

Wenn sie nur spielen wollten, gab es keinen Grund, abzubiegen. Von der Anhöhe hatte er selbst dann freies Schussfeld, wenn die Kinder abbogen. Er schätzte die Entfernung auf knapp 800 Meter und somit noch im Rahmen, um einen tödlichen Schuss abzufeuern. Er hoffte dennoch, dass ihm das erspart bleiben würde, dass die Kinder wirklich nur spielen wollten.

»Scheiße, die Kinder sind abgebogen. Zugriff?«, fragte Matt aufgebracht.

»Gleich, gibt es schon eine Meldung von der Bodenstation?«, wollte Baptist wissen.

»Abschuss, Abschuss«, rief Mike.

»Was?«, brüllte Baptist.

»Der Ball, etwas ist im Ball!«, schrie Mike.

Keine Sekunde später schoss Baptist, da er im gleichen Moment gesehen hatte, wie der Junge sich von dem Mädchen gelöst hatte, den Ball an seinen Körper drückte und loslief.

Der Schuss traf den Jungen an der Schulter. Er sackte sofort zusammen und fiel zu Boden – mit dem Ball, der explodierte.

Der Knall war bis zur Anhöhe zu hören.

»Eine Bombe«, rief Mike.

»Ja, Scheiße, im Ball war eine Bombe«, fluchte Matt wild gestikulierend.

»Die Jungs stürmen das Haus«, sagte Mike. Seine Stimme war alles andere als gefasst.

»Auf wessen Befehl?«, wollte Baptist wissen.

»Die Kommandobrücke«, antwortete Mike kurz.

»Bewegung im Haus«, unterbrach Matt.

Baptist blieb keine Zeit, das gerade Getane zu verarbeiten. Er schwenkte den Lauf seiner Waffe auf das Haus, zur Haustür, und dann sah er, wie zwei Männer heraus liefen. Er zögerte nicht, gab kurz hintereinander zwei Schüsse ab, beide trafen und ließen die Männer zu Boden sacken.

»Bewaffnete Männer. Es kommen noch mehr. Ahmadi dürfte unter ihnen sein. Die Jungs sollen vorsichtig sein.« Baptist sah sechs Männer aus dem Haus rennen. Ahmadi war nicht unter ihnen, daher schoss er nicht. Die ersten beiden Männer hatte er erschießen müssen, da sie eine Gefahr für seine Kameraden dargestellt hatten, die nun auf das Haus zustürmten. Jetzt hatten die Jungs genug Zeit, sich zu verschanzen.

»Es kommen noch weitere Männer aus dem Haus ... Scheiße, einer von ihnen ist Ahmadi.«

»Hast du freies Schussfeld?«, fragte Mike. »Sofort schießen bei freiem Schussfeld.«

»Negativ. Seine Männer decken ihn«, antwortete Baptist. Natürlich wusste er, was er tun musste, sobald er freies Schussfeld hatte.

Ahmadi stand zwischen ihm und seinem größten Wunsch, endlich nach Hause zu können, um seine Frau und sein Baby in die Arme zu nehmen.

»Die Jungs sind in Position«, teilte Mike mit und dann begann das Schießen. Es wurde laut, sehr laut.

Da das Visier von Baptists Waffe nur auf Ahmadi gerichtet war, konnte er nicht sehen, ob seine Jungs da unten unverletzt waren oder nicht. Drei von Ahmadis Männern fielen zu Boden.

Ahmadi lief mit vier Männern den Weg hoch Richtung Wald.

»Er entwischt uns.«

»Nein, diesmal nicht«, reagierte Baptist auf Matts Sorge und sprang auf.

»Was tust du?«, rief Mike.

»Das Schwein schnappen«, antwortete er knapp und lief den Hügel hinauf. »Ihr bleibt hier und gebt den Jungs da unten alle Deckung und Informationen, die sie brauchen«, befahl er.

»Bleib hier, das bringt doch nichts«, brüllte ihm Matt noch hinterher, aber Baptist dachte gar nicht daran, so kurz vorm Ziel aufzugeben.

Er musste Ahmadi schnappen, das war er seiner Frau und seiner neugeborenen Tochter schuldig. Ihn nicht zu schnappen, konnte bedeuten, dass er nochmals mehrere Wochen oder Monate von seiner Familie getrennt sein würde, und das wollte und konnte er auf keinen Fall riskieren. Es war verrückt, aber während er den Hügel hinaufrannte, waren seine Gedanken bei seinem Baby. Wie sehr er sich nach ihr sehnte.

Er erhöhte das Tempo und hoffte, dass er die ganze Situation richtig eingeschätzt hatte. Er kannte den Hügel sehr gut, schließlich hatten sie tagelang Zeit gehabt, ihn auszukundschaften. Und er war in diesen Dingen immer sehr akribisch. Er wusste, von welcher Position aus er welches Ziel treffen konnte.

Dann stoppte er, warf sich auf den Boden und blickte durchs Zielfernrohr.

»Ja«, sagte er zu sich selbst, um sich Mut zu machen. Er sah Ahmadi. Die Entfernung schätzte er auf knapp 950 Meter. Ein leichter Wind kam von Nordost. Die Entfernung und der Wind machten die Lage nicht gerade einfacher, aber welche Wahl hatte? Er musste diese winzige Chance nutzen. Sobald Ahmadi für einen kleinen Augenblick nicht gedeckt wäre, würde er schießen.

»Gib mir nur wenige Sekunden«, flüsterte Baptist mit konzentriertem Blick durchs Visier. Die Landschaft war hügelig und wenn Ahmadi mit seinen Männern wirklich beabsichtigte, in den Wald zu fliehen, würde sich eine Gelegenheit bieten. Und so kam es dann auch.

Ahmadi lief mit seinen Männern den Hügel hinauf. Sie waren zwar dicht bei ihm, aber aufgrund der Umgebung konnten sie ihn nicht mehr so eng decken. Und dann war sie da, die kleine Chance. Er sah Ahmadi ungedeckt. Es gab keinen Zweifel, der Mann, den er durch das Visier sah, war Ahmadi. Der Mann, der zwischen ihm und dem Wiedersehen mit seiner Familie stand.

Baptist zögerte keinen Augenblick und schoss.


 

 

  1. Kapitel 3

 

Camp Marmal, Masar-i Scharif, Afghanistan, einige Tage später

 

Er wusste, dass er richtig gehandelt hatte. Im Fußball des Jungen war eine Bombe versteckt gewesen. Hätte er den Jungen nicht vorher erschossen, hätten vielleicht einige seiner Kameraden ihr Leben gelassen.

Dennoch fühlte er sich elend, wenn er an den Jungen und das Mädchen dachte. Als die Bombe explodierte, hatte sie auch das kleine Mädchen in den Tod gerissen. Seine Gedanken waren bei seiner Tochter, die er endlich in den Armen halten wollte.

Kein Kind der Welt hatte es verdient, auf diese Weise zu sterben! Kein Kind hatte es verdient, für die Ideologie verrückter alter Männer zu sterben!

Seit einigen Tagen wartete er im Camp Marmal auf die Freigabe seines Urlaubs, die sich aufgrund des Vorfalls mit den beiden Kindern verzögerte. Eine Untersuchung wurde einberufen. Er und seine Kameraden wurden dazu befragt. Sobald Kinder im Krieg umkamen, nahm die Bürokratie zu.

Aber keiner fragte, warum die Terroristen Kinder für diese Zwecke missbrauchten. Die Dummen waren Soldaten wie er.

Gestern hatte er ein Gespräch mit einem Psychologen gehabt, der sichergehen wollte, dass der Vorfall mit den Kindern keine psychischen Störungen bei ihm hinterlassen würde. Baptist glaubte, den Psychologen überzeugt zu haben, dass bei ihm alles in Ordnung war und er nicht zu einem Psychopathen oder depressiven Soldaten werden würde.

Er schaute auf seine Uhr und machte sich auf den Weg zu seinem Vorgesetzten. Dieser wollte mit ihm die Ergebnisse des Psychologen und der Untersuchung besprechen. Er hoffte, dass er gleichzeitig die Freigabe für seinen Urlaub erhalten würde.

Er wollte einfach nur noch weg.

Nachdem er sich ordnungsgemäß im Vorzimmer angemeldet hatte, wurde er kurz darauf in das Büro seines Vorgesetzten Oberst Alfred Sachs gelassen.

Beide tauschten die obligatorische Begrüßung aus und Sachs bat ihn, sich zu setzen.

»Sie und Ihr Team haben hervorragende Arbeit geleistet. Ahmadi stand seit vier Jahren auf unserer Liste.«

»Danke, Herr Oberst«, antwortete Baptist knapp. Sachs hatte ihn schon vor einigen Tagen wegen der Mission gelobt, schien aber sehr viel Wert darauf zu legen, es erneut zu tun.

»Ich halte mein Wort, für diese Leistung werden Sie und Ihre Kameraden einen Orden erhalten. Waren es wirklich 1000 Meter?« Unglaube und Respekt schwangen in seinen Worten mit.

»Wenn meine Berechnungen stimmen, waren es knapp 950 Meter«, korrigierte Baptist.

Sachs lächelte kurz und fuhr sich mit der linken Hand über die Lippen.

»Ein vortrefflicher Schuss. Das können nicht viele, nicht mal unter den Elitesoldaten der Amis. Kein Wunder, dass die Sie unbedingt wollen. Sind Sie sicher, dass Sie der Bundeswehr den Rücken kehren wollen? Jemanden wie Sie können wir immer gebrauchen. Ich habe sehr gute Kontakte bis hoch zum Generalstab.«

»Das ehrt mich sehr, Herr Oberst. Aber ich habe nun eine Tochter, für die ich mehr Zeit haben möchte. In fünf Monaten endet meine Zeit hier und dann fängt ein neuer Lebensabschnitt für mich an.«

»Verstehe«, antwortete Sachs, machte eine kleine Pause und fügte hinzu: »Falls Sie es sich doch anders überlegen sollten, bei uns ist immer ein Platz für Sie frei.«

»Danke«, sagte Baptist.

Er fühlte sich natürlich geschmeichelt, dass die Bundeswehr und Sachs so viel von ihm hielten, obwohl er selbst wusste, wie gut er war. Schon während des Studiums an der Offiziersschule und seiner Grundausbildung zum Scharfschützen waren seine Talente sehr schnell zum Vorschein gekommen. So war es auch nicht verwunderlich, dass er bald Karriere gemacht hatte, in einer Elitetruppe gelandet war, die weltweit und in den letzten Jahren vorwiegend im Irak, im Nahen Osten und in Afghanistan Top-Terroristen ausschaltete.

Die Elitetruppe war streng geheim, die Öffentlichkeit wusste nichts über sie. Sie bestand aus den besten Soldaten verschiedener NATO-Länder. Die meisten von ihnen waren allerdings US-Soldaten.

Einige Jahre hatte auch er geglaubt, dass er außerhalb der Bundeswehr nirgendwo arbeiten wollte. Er hatte sich längst mit seinem Job, der Gefahr und den unregelmäßigen Arbeitszeiten arrangiert. Das Gehalt stimmte und ab und an erwischte er sich auch dabei, dass ihm das Adrenalin gefiel.

Jedoch änderte sich alles, als Amelie in sein Leben trat. Es war Liebe auf den ersten Blick und er hatte ihr versprochen, der Bundeswehr den Rücken zu kehren, sobald sie heiraten und ein Kind bekommen würden.

»Ich will Sie auch nicht zu lange auf die Folter spannen. Die vorläufigen Ergebnisse sind da.«

Sachs stand auf, trat an seinen Schreibtisch, nahm eine Akte und setzte sich damit wieder an den Besprechungstisch.

Baptist versuchte sich die Nervosität nicht anmerken zu lassen, dabei glaubte er, dass es keinen Grund zur Nervosität gab. Er hatte richtig gehandelt. Seine Pflicht als Soldat erfüllt.

Und warum bin ich dann nervös?, dachte er.

»Die Untersuchungen bezüglich der beiden toten Kinder werden noch andauern, allerdings waren sämtliche Aussagen Ihrer Männer und Kameraden identisch. Wenn Sie nicht reagiert hätten, hätte das den Tod unserer Männer bedeutet. Von daher denke ich, brauchen Sie sich keine Gedanken mehr zu machen. Auch wenn der Abschlussbericht noch nicht vorliegt«, erklärte Sachs. Seine Stimme war sehr nüchtern und emotionslos und Baptist hatte das Gefühl, dass er bewusst nicht erwähnte, dass Baptist den Jungen erschossen hatte.

»Und was sagt der Psychologe?«, fragte Baptist. Trotz des gerade eben Gehörten war er noch immer angespannt.

»Was Psychologen meinen, darf man nicht überbewerten«, setzte Sachs an und fügte ein »Tzzz« hinzu, als wollte er damit ausdrücken, dass er diese Berufsgruppe nicht ernst nahm.

»Was meinen Sie damit?«, hakte Baptist nach. Hatte der Psychologe etwas in seinem Bericht notiert, das ihm schaden konnte oder gar verhinderte, dass er endlich nach Hause durfte?

»Ihre Ergebnisse waren eigentlich gut.«

»Eigentlich?«

»Der Psychologe sieht keine bleibenden Schäden, allerdings scheint Ihre Sensibilität und somit Ihre Anfälligkeit für bestimmte emotionale Handlungen seiner Auffassung nach besonders hoch.«

»Können Sie mir das bitte näher erläutern?« Baptist verstand nicht, was damit gemeint war. Schließlich war es doch normal, dass man nach so einer Geschichte nicht sofort zum Alltag zurückkehren konnte, oder?

Sie hatten Ahmadi über mehrere Monate verfolgt, waren ihm immer dicht auf den Fersen gewesen, aber es war ihm immer wieder gelungen, zu entkommen. Allein in dieser Zeit war sein Stresspegel extrem hoch gewesen. Der Vorfall mit dem Jungen hatte jedenfalls nicht geholfen, ihn zu senken. Er wusste, dass er zurzeit labil war, dass er Ruhe brauchte.

Aber das würde sich in einigen Wochen legen, wenn sein Akku wieder aufgeladen war. Am Ende war er ein Mensch und keine Maschine, daher verstand er nicht, worauf Sachs hinauswollte.

»Wie gesagt, der Psychologe ist ein Idiot. Er empfiehlt, dass Sie in nächster Zeit unter psychologische Beobachtung gestellt werden sollten, um jegliches Risiko auszuschließen. Der sollte mal selbst an die Front gehen, dann wüsste er, welch hohem Stressfaktor und welchen Gefahren unsere Jungs jeden Tag ausgesetzt sind.«

»Was bedeutet das für mich? Kann ich nicht zu meiner Frau und meinem Baby?«, fragte Baptist. Gleichzeitig zog sich sein Bauch zusammen. Er wollte gar nicht daran denken, dass dieser Psychologe mit seinem Bericht ihn daran hindern könnte, endlich zu seiner Familie zu fliegen.

»Nein, natürlich nicht. Ich sagte Ihnen doch, dass er ein Idiot ist. Wir haben in Deutschland einige gute Bundeswehrpsychologen. Sie müssen aller Wahrscheinlichkeit nach dort ein- oder zweimal aufschlagen. Nichts Dramatisches, damit dürften der Psychologe und unsere Herren Politiker zufrieden sein.«

Baptist atmete erleichtert aus, seine Gesichtszüge entspannten sich. Wenn es die Politiker zufriedenstellte, würde er sich dem nicht widersetzen. Er verstand, worauf Sachs hinauswollte. Wenn es nach ihm und der Bundeswehr gegangen wäre, wäre die ganze Sache schon längst abgehakt, aber leider hatten Politiker auch hier das Sagen und wollten in der Öffentlichkeit natürlich immer gut dastehen. Tote Kinder passten so gar nicht in diese wunderbar heile Welt der Politik.

»Wann darf ich nach Hause?«

»In zwei Tagen. Sie können gerne Ihre Frau informieren, wenn Sie es nicht schon getan haben.«

»Ehrlich gesagt habe ich das nicht. Es soll eine Überraschung werden«, antwortete Baptist aufrichtig.

Dabei sehnte er sich nach ihrer Stimme, ihren Berührungen und nach seiner Tochter mehr als nach irgendetwas anderem. Immer wieder erwischte er sich dabei, dem Drang, sie anzurufen, nachzugeben. Aber immer wieder ermahnte er sich, es nicht zu tun, da es auf die paar Tage nicht mehr ankam und er die Überraschung nicht zerstören wollte. Daher ließ er sein Handy ausgeschaltet.

In Gedanken sah er ihr überraschtes und glückliches Gesicht, wenn er einfach vor ihr stehen würde.

Jetzt hatte er endlich Gewissheit, dass er in zwei Tagen zu Hause sein würde.

Diese zwei Tage halte ich auch noch aus, dachte er glücklich und voller Vorfreude.

Dass sich die Welt in zwei Tagen dramatisch ändern könnte, kam ihm dabei nicht in den Sinn.

 

 

 

  1. Kapitel 4

 

Mannheim – zwei Tage später

 

Als er die Wohnungstür öffnete, hatte er eigentlich damit gerechnet, dass seine Frau ihm entgegenkommen würde. Dass sie ihn überrascht anschauen würde, weil sie nicht wissen konnte, dass er wieder in Deutschland war. Und dann würde sie vor Glück in seine Arme fallen. Er würde sie ganz fest an sich drücken, dabei ihren sportlichen Körper, ihren straffen Busen spüren und ihren Duft riechen. Sie würden sich küssen und sicherlich würden einige Freudentränen fallen.

Danach würde sie ihn an die Hand nehmen und ins Wohnzimmer führen, wo ihr Baby in einem Kinderbett auf ihn wartete. Er würde sie anschauen, sein Herz würde vor Glück rasen und in dem Moment wäre er der glücklichste Mann auf Erden. Doch alles war anders.

Als er die Wohnungstür hinter sich schloss, war es still, zu still. Nur das Parfüm seiner Frau erinnerte ihn daran, dass sie vor kurzer Zeit im Flur gestanden haben musste.

Vielleicht ist sie im Bad oder stillt das Baby, dachte er.

Er stellte seine Habseligkeiten, darunter sein Scharfschützengewehr, im Flur ab und ging ins Bad, danach vom Wohnzimmer aus ins Schlafzimmer. Sie waren nicht da. Als er im Wohnzimmer das Babybett sah, wurden seine Augen feucht.

In diesem Babybett hatte seine Tochter gelegen, die er nun endlich sehen durfte.

Er ging ins Bad, machte sich frisch und nahm ein Glas Wasser aus der Küche. Danach ging er ins Wohnzimmer, nahm sein Handy und schaltete es ein.

Er hatte vier Nachrichten von seiner Frau. Er hörte sie ab.

 

»Hallo Schatz, ich weiß, du darfst nicht mit mir telefonieren, um deine Mission nicht zu gefährden. Aber ich wollte dir sagen, dass die Geburt super verlaufen ist. Unsere kleine Prinzessin Lea ist wohlauf und wacker. Ganze 3500 Gramm schwer und 52 Zentimeter groß ist sie. Sie hat deine Augen und meine Nase. Zum Glück, bei deinem Zinken ... haha ... Ich vermisse dich so sehr Schatz. Hoffentlich bist du bald da. Ich liebe dich über alles.«

 

Baptist hielt kurz inne. Die Stimme seiner Frau zu hören, berührte ihn mehr, als er sich eingestehen wollte. In diesem Moment fühlte er sich schuldig und schlecht, sie im Moment der Geburt allein gelassen zu haben. Wie gerne wäre er dabei gewesen, aber sein Beruf war nun einmal ein anderer als der vieler Väter, und manchmal verlangte er ihm mehr ab, als man einem Menschen zumuten konnte.

Dennoch schien Amelie ihm keine Vorwürfe zu machen. Ihre Stimme klang am Telefon glücklich und sehnsüchtig und es beruhigte ihn, dass es keine Komplikationen bei der Geburt gegeben hatte.

Danach hörte er die zweite Nachricht ab.

 

»Ich bins wieder, Schatzi. Ich bin gerade bei Mama und Papa und vermisse dich immer mehr. Noch immer keine Nachricht von dir, solltest du nicht eigentlich schon bald da sein? Ich bin so froh, wenn dieser ganze Bundeswehrkram hinter uns liegt und wir zu dritt in unser neues Leben starten. Ich war mit Papa gestern in Mannheim und wir haben, wie es aussieht, endlich die Traumlocation für unser Café gefunden.

Der jetzige Pächter ist zu alt, um den Laden weiterzuführen. Papa meinte, die Konditionen wären super. Ich kann es nicht abwarten, es dir zu zeigen. Ich habe mich in den Laden verliebt. Unserer kleinen Prinzessin geht es prima. Sie vermisst dich so doll wie ihre Mama. Ich liebe dich, Schatz. Und komm endlich nach Hause. Die Bundeswehr hatte dich schon lange genug, deine Frau ist jetzt endlich an der Reihe. Dicker Kuss und ich denk an dich, jede Sekunde in meinem Leben.«

 

Baptist musste kurz schlucken.

Wie habe ich so eine verständnisvolle Frau verdient?, dachte er unweigerlich. Amelie war für ihn wie ein Sechser im Lotto. Nein, sie war mehr als ein Sechser im Lotto. Sie war sein Stern, der Stern, der ihn in der Dunkelheit begleitete, ihm immer den Weg nach draußen zeigte. Und er hatte viele Tage in Dunkelheit verbracht. Er hatte schlimme Dinge getan, nicht weil er es gewollt hatte, nicht weil es ihm befohlen worden war, er hatte es für sein Vaterland getan, für Deutschland. Damit die Menschen hier keine Angst haben mussten vor Terroristen wie Ahmadi.

Doch das würde bald ein Ende haben, dann würde er Café-Besitzer werden. Er vertraute Amelie mehr als jedem anderen Menschen, und wenn sie sagte, dass der Laden, den sie sich mit ihrem Vater angeschaut hatte, perfekt war, dann war das so. Sie sollte entscheiden, welche Räume sie mieten würden.

Ihr Vater war eine große Hilfe. Er kannte sich als Steuerberater in finanziellen Dingen sehr gut aus. Als Elitesoldat einer Spezialeinheit wusste Baptist darüber nicht so gut Bescheid, aber das würde er auch noch lernen. Er war weder dumm noch faul. Sein Ehrgeiz würde ihn an sein Ziel bringen – und natürlich die Unterstützung von Amelie.

Sein Blick wanderte zum Display des Handys, wo noch zwei Nachrichten offen waren. Er überlegte, ob er sie nicht einfach anrufen sollte. Schließlich wurde es langsam dunkel und ihr Baby müsste doch bald schlafen oder etwas essen oder trinken.

Essen Babys schon nach einigen Wochen?, fragte er sich, da er es nicht mit Sicherheit sagen konnte. Nein, Quatsch, die haben doch noch keine Zähne!

Sein Blick wanderte wieder zum Babybett. Er stand von der Couch auf und betrachtete es genauer. Einige Teddys und Spielzeuge lagen darin.

Wieder dachte er daran, sie anzurufen, aber dann wäre die Überraschung futsch, also verzichtete er darauf und hörte die nächste Nachricht ab.

 

»Schatz, Lea und ich vermissen dich ganz doll. So langsam müsstest du doch endlich da sein. Je näher dein Abschied von der Bundeswehr rückt, desto ungeduldiger werde ich. Ich hoffe, du hältst mich nicht für bekloppt, wenn du die Nachrichten abhörst. Eins kannst du mir aber glauben, ich werde dich nie wieder alleine irgendwo hingehen lassen. Du musst uns nämlich beschützen. Ich frage mich, ob du ein strenger Papa wirst? Ob Leas Verehrer erst mal an dir vorbei müssen, wenn sie ein Date wollen, oder ob du nicht gleich beim Date dabei bist ... Ich mach Spaß, so wie ich dich kenne, wird Lea dich um den kleinen Finger wickeln. Komm endlich. Ich habe schon überlegt, ob ich dir nicht Babyfotos schicken soll. Jeden Tag ertappe ich mich dabei, doch dann entscheide ich mich dagegen, weil ich will, dass du sie das erste Mal live siehst und nicht auf Fotos. Aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich das noch lange aushalte. Also komm schnell. Wir brauchen und vermissen dich. Ich liebe dich so sehr.

Papa und ich waren heute wieder im Laden. Jetzt fehlt eigentlich nur noch dein Okay, dann können wir die Pachtverträge übernehmen. Lass uns nicht warten.«

 

»Mein Okay habt ihr«, antwortete er dem Handy. Die Nachricht hatte ihn zum Schmunzeln gebracht, wahrscheinlich würde Lea ihn tatsächlich um den kleinen Finger wickeln. Er hatte für seine Liebsten ein großes Herz. Natürlich würde er Amelie und sein Baby beschützen. Wenn er für Deutschland in den Krieg zog und sein Leben riskierte, was würde er wohl mit der Person tun, die seinen Frauen etwas antun wollte? Er würde denjenigen eigenhändig erwürgen.

So langsam machte er sich Gedanken, wo sie blieben.

Vielleicht sind sie bei ihren Eltern, was soll sie alleine in der Wohnung?, suchte er nach einer Antwort. Ein Baby bedeutete schließlich jede Menge Verantwortung und Arbeit. Es war ihr erstes Kind und somit war sie natürlich unerfahren. Da war es doch nur verständlich, wenn sie ihre Eltern besuchte.

Glücklicherweise wohnten sie in Worms, also nicht weit weg von ihnen.

Sollte er die Eltern anrufen?

Er entschied sich, vorher die letzte Nachricht abzuhören.

Es war eine Videobotschaft.

 

»Schatz, ich konnte einfach nicht mehr. Ich weiß nicht, wann du kommst. Ich habe in deiner Kaserne angerufen, aber sie können mir nicht sagen, wann du heimkehrst und wo du genau bist. So langsam mache ich mir echt Sorgen! So lange keine Nachricht von dir bin ich nicht gewohnt. Ich hoffe, dir geht es gut und du kommst ganz schnell nach Hause. Und hier ist jemand, der dir noch Hallo sagen möchte«, hörte und sah er sie sagen, bevor er die Videoaufzeichnung pausierte. Ihr Gesicht wirkte auf dem Bildschirm sehr besorgt. Ihre Stimme klang ängstlich. Es war unverkennbar, sie machte sich nicht nur Sorgen, sie hatte Angst.

Angst, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte. Dabei ging es ihm blendend, er saß auf der Couch in ihrem Wohnzimmer und wartete auf sie.

Nun bereute er sehr, sie nicht schon vor einigen Tagen angerufen zu haben. Die Nachricht war drei Tage alt. Dass sie die letzten Tage mit dieser Angst gelebt hatte, bereitete ihm große Sorgen.

Scheißüberraschung!, dachte er wütend über sich selbst und ließ das Video weiterlaufen.

 

»Lea, Maus … ja, das ist unsere Prinzessin. Sie vermisst ihren Papa genau so sehr wie ihre Mama. Komm endlich nach Hause. Wir beide lieben dich, Schatz.« Mit diesen Worten endete die Videobotschaft.