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H. G. Wells

Der Traum

Roman

H. G. Wells

Der Traum

Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-954189-38-0

null-papier.de/438

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Inhaltsverzeichnis

Ers­ter Teil – Das Wer­den des Har­ry Mor­ti­mer Smith

Ers­tes Ka­pi­tel – Der Aus­flug

Zwei­tes Ka­pi­tel – Der An­fang des Trau­mes

Drit­tes Ka­pi­tel – Die Fa­mi­lie Smith ge­rät ins Un­glück

Vier­tes Ka­pi­tel – Die Wit­we Smith über­sie­delt nach Lon­don

Zwei­ter Teil – Le­ben und Tod des Har­ry Mor­ti­mer Smith

Fünf­tes Ka­pi­tel – Fan­ny tritt wie­der auf

Sechs­tes Ka­pi­tel – Eine Hei­rat in Kriegs­zei­ten

Sie­ben­tes Ka­pi­tel – Lie­be und Tod

Ach­tes Ka­pi­tel – Epi­log

Dan­ke

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Soll­ten Sie Feh­ler fin­den oder An­re­gun­gen ha­ben, so mel­den Sie sich bit­te bei mir.

Ihr
Jür­gen Schul­ze, Ver­le­ger, js@­null-pa­pier.de

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Erster Teil – Das Werden des Harry Mortimer Smith

Erstes Kapitel – Der Ausflug

1

Sar­nac hat­te etwa ein Jahr hin­durch fast un­un­ter­bro­chen die sub­ti­len che­mi­schen Re­ak­tio­nen der Ner­ven­zel­len des sym­pa­the­ti­schen Sys­tems er­forscht. Die ers­ten Ver­su­che hat­ten einen Aus­blick auf neue, über­ra­schen­de Mög­lich­kei­ten ge­ge­ben, die ihn wie­der zu noch wei­ter rei­chen­den und fas­zi­nie­ren­den Plä­nen an­ge­regt hat­ten. Er ar­bei­te­te wohl zu an­ge­strengt; nicht daß Hoff­nung und Wis­sens­drang in ihm da­durch Scha­den ge­nom­men hät­ten, aber sei­ne Ex­pe­ri­men­te hat­ten an Fein­heit ein­ge­büßt, und er dach­te lang­sa­mer und we­ni­ger ge­nau. Er brauch­te eine Er­ho­lungs­pau­se. Er hat­te ein Ka­pi­tel sei­ner Ar­beit ab­ge­schlos­sen und wünsch­te sich zu kräf­ti­gen, ehe er ein neu­es an­fing. He­lia­ne hoff­te seit lan­gem auf eine ge­mein­sa­me Fe­ri­en­rei­se; auch ihre Ar­beit be­fand sich in ei­ner Pha­se, die eine Un­ter­bre­chung ge­stat­te­te, und so be­ga­ben sich die bei­den auf eine Wan­de­rung durch das seen­rei­che Ge­birgs­land.

Ihr Zu­sam­men­le­ben hat­te sich sehr glück­lich ent­wi­ckelt. Eine in­ni­ge Be­zie­hung und Freund­schaft ver­band sie seit lan­gem, sie wa­ren völ­lig un­ge­zwun­gen mit­ein­an­der; trotz­dem aber be­stand kei­ne all­zu große Ver­trau­lich­keit zwi­schen ih­nen, die dem einen das leb­haf­te In­ter­es­se am Tun und Las­sen des an­dern ge­schmä­lert hät­te. He­lia­ne lieb­te Sar­nac zärt­lich und voll Freu­de, und Sar­nac war glück­lich und froh er­ho­ben, wenn He­lia­ne bei ihm weil­te. He­lia­ne hat­te das rei­che­re Herz von den bei­den und ver­stand bes­ser zu lie­ben. Sie spra­chen nun von all und je­dem, nur von Sar­nacs Ar­beit nicht, denn die soll­te ru­hen und wie­der frisch wer­den. Von ih­rer Tä­tig­keit je­doch sprach He­lia­ne sehr viel. Sie hat­te an Schil­de­run­gen und Bil­dern des Glücks und Leids ver­gan­ge­ner Zeit­al­ter ge­ar­bei­tet und war er­füllt von dem Be­mü­hen, Den­ken und Füh­len ent­schwun­de­ner Ge­schlech­ter zu er­fas­sen.

Sie ver­gnüg­ten sich ei­ni­ge Tage lang auf den Was­sern des großen Sees, se­gel­ten, pad­del­ten und lan­de­ten ihr Boot im süß duf­ten­den Schilf­rohr der In­seln, um zu ba­den und zu schwim­men. Das Boot brach­te sie von ei­nem Gä­stehaus zum an­dern, und sie tra­fen ver­schie­de­ne in­ter­essan­te und an­re­gen­de Leu­te. In ei­nem der Gä­ste­häu­ser wohn­te un­ter an­de­ren ein achtund­neun­zig­jäh­ri­ger Greis, der sich in die­sem ho­hen Al­ter die Zeit mit der Her­stel­lung klei­ner Bild­wer­ke ver­trieb, klei­ner Sta­tu­et­ten voll An­mut und Hu­mor, und es war wun­der­bar an­zu­se­hen, wie der Ton in sei­nen Hän­den Ge­stalt an­nahm. Über­dies ver­stand er es, die Fi­sche des Sees auf eine sehr wohl­schme­cken­de Art zu­zu­be­rei­ten; er pfleg­te große Men­gen zu ko­chen, so daß je­der, der im Hau­se aß, et­was da­von be­kom­men konn­te. Auch ein Mu­si­ker war da, der He­lia­ne ver­an­laß­te, von längst ver­gan­ge­nen Zei­ten zu er­zäh­len, und dann selbst Wei­sen auf dem Kla­vier spiel­te, die die Ge­füh­le je­ner ent­schwun­de­nen Men­schen zum Aus­druck brach­ten. Er spiel­te ein Stück, das, wie er sag­te, zwei­tau­send Jah­re alt war; es stamm­te von ei­nem Mann na­mens Cho­pin und hieß »Re­vo­lu­tio­näre Etü­de«. He­lia­ne hät­te nie ge­dacht, daß ein Kla­vier solch lei­den­schaft­lich grol­len­der Klän­ge fä­hig sei. Der Mu­si­ker spiel­te dann noch gro­tes­ke, böse Kriegs­wei­sen und rohe Mär­sche aus je­nen halb­ver­ges­se­nen Zei­ten und schließ­lich ei­ge­ne zor­ni­ge und lei­den­schaft­li­che Kom­po­si­tio­nen.

He­lia­ne saß un­ter ei­ner gol­dig schim­mern­den La­ter­ne, lausch­te der Mu­sik und be­ob­ach­te­te die flin­ken Hän­de des Kla­vier­spie­lers. Sar­nac war tiefer be­wegt. Er hat­te noch nicht viel Mu­sik ge­hört, und die­ser Spie­ler öff­ne­te ihm den Blick für wil­de, dunkle Ab­grün­de, die der Mensch­heit seit lan­gem ver­schlos­sen wa­ren. Er saß, die Wan­ge in die Hand ge­legt, den Ell­bo­gen auf die Gar­ten­mau­er ge­stützt, und blick­te über die stahl­blaue Was­ser­flä­che des Sees ge­gen den dunklen Nacht­him­mel. Das Fir­ma­ment war stern­klar ge­we­sen, doch nun sam­mel­te eine rie­si­ge Wol­ken­bank gleich ei­ner Hand, die sich schließt, die Ster­ne in ihre dunkle Faust. Der nächs­te Tag soll­te wohl Re­gen brin­gen. Die La­ter­nen hin­gen ru­hig, nur dann und wann ließ sie ein sanf­ter Luft­hauch leicht schwin­gen. Ein großer wei­ßer Nacht­fal­ter kam aus der Dun­kel­heit her­vor­ge­flat­tert, flog um die La­ter­nen und ver­schwand wie­der. Bald dar­auf kehr­te er zu­rück – er oder ein an­de­rer, der ihm glich. Und dann wa­ren plötz­lich drei oder vier die­ser flüch­ti­gen Phan­to­me da – an­schei­nend die ein­zi­gen In­sek­ten, die in die­ser Nacht schwärm­ten.

Ein lei­ses Plät­schern des Was­sers drun­ten zog Sar­nacs Blick auf das Licht ei­nes Boo­tes, ein run­des, gel­bes Licht, ei­ner leuch­ten­den Oran­ge glei­chend, das aus dem dunklen Blau der Nacht bis dicht an die Mau­er der Ter­ras­se her­ang­litt. Man hör­te, wie ein Ru­der ein­ge­zo­gen und das Geräusch des ab­trop­fen­den Was­sers schwä­cher wur­de. Die Leu­te im Boot sa­ßen still und lausch­ten, bis der Mu­si­ker ge­en­digt hat­te. Dann ka­men sie die Stu­fen der Ter­ras­se her­auf und ba­ten den Lei­ter des Gä­stehau­ses um Zim­mer für die Nacht. Sie hat­ten in ei­nem an­dern Hau­se, wei­ter oben am See, Abend­brot ge­ges­sen.

Vier Men­schen wa­ren es: zwei dunkle, schö­ne Leu­te süd­län­di­scher Her­kunft, Bru­der und Schwes­ter, und zwei blon­de Frau­en, blau­äu­gig die eine, mit brau­nen Au­gen die an­de­re, bei­de dem Ge­schwis­ter­paar of­fen­kun­dig sehr zu­ge­tan. Sie ka­men nä­her, spra­chen über das Kla­vier­spiel und er­zähl­ten dann von ei­ner Klet­ter­tour im Ge­bir­ge ober­halb der Seen, die sie un­ter­neh­men woll­ten. Die Ge­schwis­ter hie­ßen Be­ryll und Stel­la; ihre Le­bens­ar­beit, so er­zähl­ten sie, sei die Er­zie­hung von Tie­ren, sie hät­ten für die­se Be­schäf­ti­gung eine na­tür­li­che Be­ga­bung. Die bei­den blon­den Mäd­chen, Sala­ha und Iris, wa­ren Elek­tri­ke­rin­nen. Wäh­rend der letz­ten Tage hat­te He­lia­ne im­mer wie­der sehn­süch­tig zu den glit­zern­den Schnee­fel­dern em­por­geblickt; schnee­be­deck­te Ber­ge üb­ten eine ma­gi­sche An­zie­hungs­kraft auf sie aus. Sie be­tei­lig­te sich sehr leb­haft an dem Ge­spräch über das Ge­bir­ge, und bald wur­de vor­ge­schla­gen, daß sie und Sar­nac die neu­en Be­kann­ten bei der ge­plan­ten Gip­fel­be­stei­gung be­glei­ten soll­ten. Vor ei­nem Aus­flug ins Ge­bir­ge aber woll­ten He­lia­ne und Sar­nac ge­wis­se Al­ter­tü­mer be­sich­ti­gen, die man vor kur­z­em in ei­nem von Os­ten her ge­gen den See ver­lau­fen­den Tale aus­ge­gra­ben hat­te. Die vier An­kömm­lin­ge wa­ren voll In­ter­es­se für He­lia­nes Mit­tei­lun­gen über jene Rui­nen und be­schlos­sen, sich ihr und Sar­nac an­zu­schlie­ßen. Nach­her woll­te man zu sechst in die Ber­ge wan­dern.

2

Jene Rui­nen wa­ren gut zwei­tau­send Jah­re alt.

Sie wa­ren die Über­res­te ei­ner klei­nen al­ten Stadt, die ein Ei­sen­bahnk­no­ten­punkt von ei­ni­ger Be­deu­tung ge­we­sen war, und ei­nes Ei­sen­bahn­tun­nels durchs Ge­bir­ge. Der Tun­nel war ein­ge­stürzt, aber man war bei den Aus­gra­bun­gen hin­durch­ge­drun­gen und hat­te meh­re­re zer­stör­te Züge ge­fun­den, die of­fen­bar dicht von Sol­da­ten und Flücht­lin­gen be­setzt ge­we­sen wa­ren. Die Über­res­te die­ser Men­schen, von Rat­ten und an­derm Un­ge­zie­fer zer­nagt, la­gen in den Ei­sen­bahn­wa­gen und auf den Schie­nen. Au­gen­schein­lich war der Tun­nel mit Spreng­stof­fen ver­bar­ri­ka­diert ge­we­sen und hat­te die Züge samt den In­sas­sen be­gra­ben. Spä­ter war die Stadt selbst und alle ihre Ein­woh­ner durch ein Gift­gas ver­nich­tet wor­den; wel­che Art von gif­ti­gem Gas man da­bei ver­wen­det hat­te, soll­te von den em­sig ar­bei­ten­den For­schern erst fest­ge­stellt wer­den. Es hat­te eine un­ge­wöhn­lich kon­ser­vie­ren­de Wir­kung aus­ge­übt, so daß vie­le der Leich­na­me mehr Mu­mi­en als Ske­let­te wa­ren; und in vie­len Häu­sern fan­den sich Bü­cher, Pa­pie­re, Ge­gen­stän­de aus Pa­pier­maché und Ähn­li­ches recht gut er­hal­ten vor. So­gar wohl­fei­le Baum­woll­stof­fe wa­ren un­ver­sehrt ge­blie­ben, nur hat­ten sie alle Far­be ver­lo­ren. Nach der Ka­ta­stro­phe war die Ge­gend of­fen­bar ei­ni­ge Zeit hin­durch ganz un­be­wohnt ge­blie­ben, und ein Erd­rutsch hat­te den tiefer ge­le­ge­nen Teil des Ta­les ver­sperrt, das Ge­wäs­ser ab­ge­dämmt und Stadt und Tun­nel un­ter ei­ner Schlamm­schicht be­gra­ben. Nun hat­te man die Erd- und Schlamm­mas­sen durch­bro­chen und dem Fluß­lauf sei­ne ur­sprüng­li­che Rich­tung wie­der­ge­ge­ben, und da­bei wa­ren die Spu­ren ei­nes der cha­rak­te­ris­ti­schen Un­glücks­fäl­le aus der letz­ten Kriegs­pe­ri­ode der Mensch­heits­ge­schich­te ans Ta­ges­licht ge­för­dert wor­den.

Auf die sechs Fe­ri­en­wan­de­rer mach­te die Be­sich­ti­gung des Or­tes einen star­ken, ja fast all­zu er­schüt­tern­den Ein­druck. Sar­nac be­son­ders, der im­mer noch an Über­mü­dung litt, fühl­te sich tief er­grif­fen. Man hat­te das in der Stadt ge­sam­mel­te Ma­te­ri­al ge­ord­net und in ei­nem aus Glas und Stahl er­bau­ten Mu­se­um un­ter­ge­bracht. Vie­le der Leich­na­me wa­ren voll­stän­dig er­hal­ten; eine kran­ke alte Frau, durch das Gas mu­mi­fi­ziert, war in das Bett zu­rück­ge­legt wor­den, aus dem die Was­ser­flu­ten sie her­aus­ge­schwemmt hat­ten; das ein­ge­schrumpf­te Kör­per­chen ei­nes Säug­lings lag in ei­ner Wie­ge. Die Bett­la­ken und De­cken wa­ren aus­ge­bleicht und ver­färbt, doch konn­te man sich ganz gut vor­stel­len, wie sie einst aus­ge­se­hen ha­ben moch­ten. Die Leu­te wa­ren of­fen­bar über­rascht wor­den, wäh­rend sie das Mit­tags­mahl zu­be­rei­te­ten; in vie­len Häu­sern war eben der Tisch ge­deckt ge­we­sen. Nun hat­te man die al­ten ma­schi­nen­ge­web­ten Tisch­tü­cher und die plat­tier­ten Eß­be­ste­cke, die zwei Jahr­tau­sen­de un­ter Schlamm, Schilf und Fi­schen ver­bor­gen ge­le­gen hat­ten, wie­der her­vor­ge­holt und auf den Ti­schen ge­ord­net; es wa­ren große Men­gen sol­chen trau­ri­gen, ver­färb­ten Geräts aus dem ent­schwun­de­nen Le­ben der Ver­gan­gen­heit zu se­hen.

Die Fe­ri­en­wan­de­rer gin­gen nicht sehr weit in den Tun­nel hin­ein. Der An­blick, der sich hier bot, war ih­nen zu schreck­lich; Sar­nac stol­per­te über eine Schie­ne und zer­schnitt sich an den Scher­ben ei­nes zer­bro­che­nen Wag­gon­fens­ters die Hand. Die Wun­de schmerz­te ihn spä­ter und heil­te nicht schnell ge­nug. Of­fen­bar war ir­gend ein Gift in sie ge­drun­gen, und sie ließ ihn nachts nicht schla­fen.

Den gan­zen Tag spra­chen die sechs von den Schre­cken der letz­ten Krie­ge, die die Welt ge­se­hen hat­te, und von dem Elend des Da­seins in je­nem Zeit­al­ter. Iris und Stel­la mein­ten, das Le­ben da­mals müs­se kaum zu er­tra­gen ge­we­sen sein, müs­se von der Wie­ge bis zum Gra­be aus nichts als Haß, Schre­cken, Man­gel und Un­be­ha­gen be­stan­den ha­ben. Be­ryll hin­ge­gen ver­trat die An­sicht, daß die Men­schen da­mals nicht un­glück­li­cher und nicht glück­li­cher ge­we­sen sei­en als er selbst. Es gebe, be­haup­te­te er, in je­dem Zeit­al­ter einen Nor­mal­zu­stand; jede Er­he­bung des Ge­fühls oder der Hoff­nung dar­über hin­aus be­deu­te Glück, je­des Hin­ab­sin­ken un­ter das Durch­schnitts­maß Un­glück; es kom­me da­bei nicht dar­auf an, wie der Nor­mal­zu­stand be­schaf­fen sei. »Jene Men­schen er­fuh­ren in der einen wie in der an­dern Hin­sicht star­ke Er­schüt­te­run­gen«, sag­te er. Wohl habe es in ih­rem Le­ben mehr Dun­kel­heit und mehr Schmerz ge­ge­ben, trotz­dem sei­en sie al­les in al­lem nicht un­glück­li­cher ge­we­sen. He­lia­ne neig­te zur glei­chen An­sicht.

Sala­ha je­doch er­hob Ein­wän­de ge­gen Be­rylls psy­cho­lo­gi­sche Be­trach­tung. Sie sag­te, ein kran­ker Kör­per oder ein Le­ben un­ter ver­haß­tem Zwang kön­ne ein an­dau­ern­des Nie­der­ge­drückt­sein des Ge­müts ver­ur­sa­chen. Es kön­ne vor­wie­gend un­glück­li­che Ge­schöp­fe ge­ben, so wie es vor­wie­gend glück­li­che gebe.

»Ge­wiß«, warf Sar­nac da­zwi­schen, »so­bald sie näm­lich einen Ideal­zu­stand zu er­stre­ben be­gin­nen.«

»Wa­rum nur führ­ten sie sol­che Krie­ge?«, rief Iris. »Wa­rum ta­ten sie ein­an­der so Schreck­li­ches an? Sie wa­ren doch Men­schen wie wir.«

»Nicht bes­ser«, sag­te Be­ryll, »und nicht schlech­ter. So weit es sich um die na­tür­li­che Ver­an­la­gung han­delt. Kei­ne hun­dert Ge­ne­ra­tio­nen tren­nen uns von ih­nen.«

»Sie hat­ten einen eben­so großen und eben­so wohl­ge­form­ten Schä­del wie wir.«

»Die Ärms­ten in dem Tun­nel!«, sag­te Sar­nac. »Wie schreck­lich, auf sol­che Wei­se in ei­nem Tun­nel ein­ge­schlos­sen zu­grun­de zu ge­hen! Da­bei scheint mir, es müs­se sich da­mals je­der dau­ernd so ge­fühlt ha­ben, als sei er in ei­nem Tun­nel ein­ge­schlos­sen.«

In­zwi­schen war ein Ge­wit­ter her­auf­ge­zo­gen, das ihr Ge­spräch un­ter­brach. Sie woll­ten über einen nicht sehr ho­hen Ge­birgspaß zu ei­nem Gä­stehaus am obe­ren Ende des Sees und ge­rie­ten un­weit der Paß­hö­he in das Un­wet­ter. Es gab ei­ni­ge hef­ti­ge Don­ner­schlä­ge, und kei­ne hun­dert Schritt von ih­nen ent­fernt wur­de eine Tan­ne vom Blitz ge­trof­fen. Sie ju­bel­ten bei dem herr­li­chen An­blick. Der to­sen­de Aufruhr der Ele­men­te er­füll­te sie mit Freu­de. Der Re­gen peitsch­te ihre kräf­ti­gen, nack­ten Kör­per, ein Wind­stoß um den an­dern mach­te sie tau­meln, la­chend und atem­los wa­ren sie im­mer wie­der ge­nö­tigt, ste­hen zu blei­ben. Es war nicht leicht, den Weg zu fin­den; eine Zeit­lang hat­ten sie die an Bäu­men und Fel­sen an­ge­brach­te Mar­kie­rung ver­lo­ren. Das Un­wet­ter ging schließ­lich in einen gleich­mä­ßi­gen Re­gen­guß über, und sie platsch­ten stol­pernd den von Gischt be­deck­ten Fel­sen­pfad hin­un­ter, ih­rem Ziel ent­ge­gen. Er­hitzt und naß, als ob sie eben aus dem Bade ge­stie­gen wä­ren, lang­ten sie an; nur Sar­nac, der mit He­lia­ne hin­ter den an­dern zu­rück­ge­blie­ben war, fühl­te sich müde und fror. Der Lei­ter des Gä­stehau­ses schloß die Fens­ter­la­den, mach­te ih­nen mit Holz und Tan­nen­zap­fen ein Feu­er an und be­rei­te­te ein war­mes Nachtes­sen.

Bald kam das Ge­spräch wie­der auf die aus­ge­gra­be­ne Stadt und die ein­ge­schrumpf­ten Leich­na­me, die nun im Schei­ne des elek­tri­schen Lich­tes in­ner­halb der Glas­wän­de des stil­len Mu­se­ums la­gen, gleich­gül­tig fort­an ge­gen den Son­nen­schein wie ge­gen die Stür­me des Le­bens.

»Ob sie je­mals lach­ten wie wir?«, frag­te Sala­ha. »Ein­fach aus Freu­de zu le­ben?«

Sar­nac sprach we­nig. Er saß dicht am Feu­er, warf von Zeit zu Zeit Tan­nen­zap­fen in die Glut und be­trach­te­te sie, wie sie auf­flamm­ten und knis­ternd ver­brann­ten. Nach ei­ner Wei­le er­hob er sich, sag­te, er sei müde, und ging zu Bett.

3

Es reg­ne­te die gan­ze Nacht und auch den nächs­ten Mor­gen bis ge­gen Mit­tag, dann hei­ter­te sich das Wet­ter auf. Am Nach­mit­tag wan­der­te die klei­ne Ge­sell­schaft wei­ter, das Tal auf­wärts ge­gen die Ber­ge, die be­stie­gen wer­den soll­ten. Man ging ge­mäch­lich und gönn­te sich einen und einen hal­b­en Tag für eine Stre­cke, die ei­gent­lich leicht an ei­nem Tag zu­rück­ge­legt wer­den konn­te. Der Re­gen hat­te al­les er­frischt, und eine Fül­le von Blu­men war auf­ge­blüht.

Der fol­gen­de Tag war hei­ter und son­nig.

Am frü­hen Nach­mit­tag ge­lang­ten sie zu ei­ner von As­pho­dil­len be­sä­ten Wie­se auf ei­nem Pla­teau und la­ger­ten sich dort, um den mit­ge­brach­ten Pro­vi­ant zu ver­zeh­ren. Sie wa­ren nur zwei Stun­den von dem Schutz­haus ent­fernt, in dem sie die Nacht ver­brin­gen woll­ten, es be­stand dar­um kein Grund, gleich wei­ter zu wan­dern. Sar­nac war trä­ge und ge­stand, daß er Lust ver­spü­re, zu schla­fen. Er hat­te in der Nacht et­was Fie­ber ge­habt, und Träu­me von ver­schüt­te­ten und durch Gift­gas ge­tö­te­ten Men­schen hat­ten ihn ge­quält. Die an­de­ren wa­ren be­lus­tigt über den Ein­fall, am hel­len Tag schla­fen zu wol­len, He­lia­ne aber sag­te, sie wer­de sei­nen Schlum­mer be­hü­ten. Sie such­te ihm einen Platz im Gras, Sar­nac leg­te sich ne­ben ihr nie­der und schlief, an sie ge­lehnt, so plötz­lich und ver­trau­ens­voll ein wie ein Kind. Und wie die Wär­te­rin ei­nes Kin­des saß sie an sei­ner Sei­te und be­deu­te­te den an­de­ren, kei­nen Lärm zu ma­chen.

»Nach die­sem Schlaf wird er ge­sun­det sein«, sag­te Be­ryll lä­chelnd und stahl sich mit Iris da­von, wäh­rend Sala­ha und Stel­la in die an­de­re Rich­tung gin­gen, um einen na­he­ge­le­ge­nen Fels­vor­sprung zu er­klet­tern, von wo aus sie einen um­fas­sen­den und viel­leicht sehr schö­nen Aus­blick auf die Seen un­ten zu ge­win­nen hoff­ten.

Ei­ni­ge Zeit lag Sar­nac ganz still, dann be­gann er sich im Schla­fe un­ru­hig hin und her zu be­we­gen. He­lia­ne neig­te ihr war­mes Ant­litz auf­merk­sam zu dem sei­nen hin­ab. Er wur­de wie­der ru­hig, be­weg­te sich aber bald aufs neue und mur­mel­te et­was, doch wa­ren kei­ne Wor­te zu un­ter­schei­den. Dann warf er sich hef­tig her­um, schlug mit den Ar­men um sich und sag­te: »Ich kann es nicht er­tra­gen. Nein, ich kann nicht! Es ist aber nicht mehr zu än­dern. Du bist be­schmutzt und ent­ehrt für alle Zeit.« He­lia­ne faß­te ihn sanft und leg­te ihn wie­der be­quem zu­recht, wie eine Mut­ter ihr Kind. »Liebs­te«, flüs­ter­te er und griff im Schla­fe nach ih­rer Hand …

Als die an­de­ren zu­rück­ka­men, war er eben er­wacht.

Er saß auf­recht mit ver­schla­fe­nem Ge­sicht, und He­lia­ne knie­te ne­ben ihm, die Hand auf sei­ner Schul­ter. »Wach auf!«, sag­te sie.

Er sah sie an, als ob er sie nicht kenn­te, dann blick­te er ver­dutzt auf Be­ryll. »Es gibt also noch ein Le­ben!«, sag­te er schließ­lich.

»Sar­nac!«, rief He­lia­ne und schüt­tel­te ihn. »Kennst du mich denn nicht?«

Er strich sich mit der Hand über die Stirn. »Ja«, sag­te er zö­gernd. »Dein Name ist He­lia­ne. Ich weiß schon. He­lia­ne … nicht Het­ty – – nein. Ob­gleich du Het­ty sehr ähn­lich bist. Son­der­bar! Und ich – ich hei­ße Sar­nac.

Ja, ge­wiß! Ich bin Sar­nac.« Er lä­chel­te Sala­ha zu. »Ich mein­te aber, ich sei Har­ry Mor­ti­mer Smith. Wahr­haf­tig! Vor ei­nem Au­gen­blick noch war ich Har­ry Mor­ti­mer Smith … Har­ry Mor­ti­mer Smith.«

Er blick­te um sich. »Ber­ge«, sag­te er, »Son­nen­schein und wei­ße Nar­zis­sen. Ja­wohl – wir gin­gen heu­te vor­mit­tag hier her­auf. Bei ei­nem Was­ser­fall spritz­te Cle­lia mich an … Ich er­in­ne­re mich ganz ge­nau … Trotz­dem lag ich eben in ei­nem Bett – er­schos­sen. Ich lag in ei­nem Bett … Ein Traum? … Dann habe ich ein gan­zes Men­schen­le­ben ge­träumt, ein Le­ben, das sich vor zwei­tau­send Jah­ren ab­spiel­te!«

»Was meinst du nur?«, frag­te He­lia­ne.

»Ein gan­zes Le­ben – Kind­heit, Ju­gend, Man­nes­al­ter. Und Tod. Er tö­te­te mich. Der arme Teu­fel! – Er tö­te­te mich!«

»Ein Traum?«

»Ja, ein Traum – aber ein äu­ßerst le­ben­di­ger Traum. Der wirk­lichs­te der Träu­me, den man sich den­ken kann. Wenn es ein Traum war … Nun kann ich alle dei­ne Fra­gen be­ant­wor­ten, He­lia­ne. Ich habe ein gan­zes Le­ben durch­lebt in je­ner al­ten Welt. Ich weiß …

Es ist mir im­mer noch so, als wäre je­nes Le­ben die Wirk­lich­keit und die­ses hier nur ein Traum … Ich lag im Bett. Vor fünf Mi­nu­ten noch be­fand ich mich in ei­nem Bett. Ich lag im Ster­ben … Der Arzt sag­te: ›Es geht zu Ende.‹ Und ich hör­te noch, wie mei­ne Frau durchs Zim­mer auf mich zu­kam …«

»Dei­ne Frau!«, rief He­lia­ne.

»Ja – mei­ne Frau – Mil­ly.«

He­lia­ne blick­te mit hoch­ge­zo­ge­nen Au­gen­brau­en und hilflo­sem Aus­druck zu Sala­ha hin­über.

Sar­nac starr­te sie in traum­haf­ter Ver­wun­de­rung an. »Mil­ly«, wie­der­hol­te er ganz lei­se. »Sie stand am Fens­ter.«

Ei­ni­ge Au­gen­bli­cke lang sprach nie­mand.

Be­ryll stand, den Arm um Iris’ Schul­ter ge­legt.

»Er­zäh­le uns mehr da­von, Sar­nac. War es schlimm, zu ster­ben?«

»Es war mir, als sän­ke ich hin­ab, im­mer tiefer, in einen ganz stil­len Raum – und dann er­wach­te ich hier oben.«

»Er­zäh­le es uns, so­lan­ge es noch als le­ben­di­ge Wirk­lich­keit vor dir steht.«

»Woll­ten wir nicht das Schutz­haus vor An­bruch der Nacht er­rei­chen?«, sag­te Sala­ha mit ei­nem Blick nach der Son­ne.

»Fünf Mi­nu­ten von hier ent­fernt steht ein klei­nes Gä­stehaus«, mein­te Iris da­ge­gen.

Be­ryll setz­te sich ne­ben Sar­nac. »Er­zähl’ uns dei­nen Traum gleich. Wenn dir die Erin­ne­rung dar­an schwin­det oder dei­ne Er­zäh­lung uns nicht in­ter­es­siert, ge­hen wir wei­ter; fes­selt sie uns aber, so hö­ren wir dich hier zu Ende und über­nach­ten in dem klei­nen Hau­se. Der Platz hier ist schön, die grau­vio­let­ten Fel­sen mit dem leich­ten Ne­bel­dunst in den Spal­ten sind so herr­lich, daß ich sie eine Wo­che lang be­trach­ten könn­te, ohne zu er­mü­den. Er­zähl’ uns dei­nen Traum, Sar­nac.«

Er schüt­tel­te den Ge­fähr­ten. »Wach auf, Sar­nac!«

Sar­nac rieb sich die Au­gen. »Es ist eine so selt­sa­me Ge­schich­te. Und so vie­les wird zu er­klä­ren sein.«

Er dach­te eine Wei­le nach.

»Es ist eine lan­ge Ge­schich­te.«

»Das ver­steht sich, wenn sie einen gan­zen Le­bens­lauf schil­dert.«

»Ich will erst für uns alle Rahm und Obst aus dem Gä­stehaus her­beiho­len«, sag­te Iris, »dann möge Sar­nac mit sei­ner Er­zäh­lung be­gin­nen. Fünf Mi­nu­ten nur, und ich bin wie­der da.«

»Ich kom­me mit«, sag­te Be­ryll und eil­te ihr nach.

Was nun folgt, ist die Ge­schich­te, die Sar­nac er­zähl­te.

Zweites Kapitel – Der Anfang des Traumes

1

»Mein Traum be­gann«, sag­te er, »wie un­ser al­ler Le­ben be­ginnt, in Bruch­stücken, mit ei­ner Rei­he un­zu­sam­men­hän­gen­der Ein­drücke. So ent­sin­ne ich mich zum Bei­spiel, daß ich ein­mal auf ei­nem Sofa lag, auf ei­nem Sofa, das mit ei­nem merk­wür­dig har­ten, rot und schwarz ge­mus­ter­ten, schon fa­den­schei­ni­gen Stoff be­zo­gen war; ich schrie – warum, weiß ich nicht mehr. Mein Va­ter er­schi­en in der Tür des Zim­mers und blick­te mich an. Er sah un­heim­lich aus, war halb be­klei­det, in Ho­sen und ei­nem Fla­nell­hemd, und das blon­de Haar stand ihm un­ge­bürs­tet in die Höhe; er ra­sier­te sich eben und hat­te das Kinn voll Sei­fen­schaum. Und er war böse, weil ich schrie. Ich glau­be, ich hör­te als­bald zu schrei­en auf, bin des­sen aber nicht si­cher. Ein an­der­mal knie­te ich auf dem­sel­ben har­ten, rot und schwarz ge­mus­ter­ten Sofa ne­ben mei­ner Mut­ter, sah zum Fens­ter hin­aus – das Sofa stand ge­wöhn­lich mit der Rück­sei­te ge­gen das Fens­ter­brett – und be­ob­ach­te­te, wie der Re­gen auf die Stra­ße fiel. Das Fens­ter­brett roch ein we­nig nach Far­be – wei­che, schlech­te Far­be war es, die in der Son­ne Bla­sen ge­wor­fen hat­te. Es reg­ne­te hef­tig und die Stra­ße, aus san­di­gem, gelb­li­chem Lehm, war schlecht. Sie war mit schmut­zi­gem Was­ser be­deckt, und der Re­gen­guß ver­ur­sach­te eine Men­ge glän­zen­der Bla­sen, die der Wind vor sich her trieb, bis sie platz­ten und ih­nen wie­der neue folg­ten.

›Schau sie dir an, Lieb­ling‹, sag­te mei­ne Mut­ter, ›wie Sol­da­ten.‹

Ich glau­be, ich war noch sehr klein, als sich dies er­eig­ne­te, aber ich hat­te doch schon oft Sol­da­ten mit Hel­men und Ba­jo­net­ten vor­über­mar­schie­ren ge­se­hen.«

»Das dürf­te also ei­ni­ge Zeit vor dem Gro­ßen Krieg und dem so­zia­len Zu­sam­men­bruch ge­we­sen sein«, sag­te Be­ryll.

»Ja, ei­ni­ge Zeit«, er­wi­der­te Sar­nac. Er dach­te nach. »Ein­und­zwan­zig Jah­re vor­her. Das Haus, in dem ich ge­bo­ren wur­de, war kaum drei Ki­lo­me­ter von dem großen bri­ti­schen Mi­li­tär­la­ger zu Low­cliff in Eng­land ent­fernt; zur Ei­sen­bahn­sta­ti­on Low­cliff hat­ten wir nur ei­ni­ge hun­dert Schritt zu ge­hen. ›Sol­da­ten‹ wa­ren die auf­fäl­ligs­te Er­schei­nung in mei­ner Welt au­ßer­halb mei­nes Heims. Sie tru­gen leb­haf­te­re Far­ben als an­de­re Leu­te. Mei­ne Mut­ter pfleg­te mich je­den Tag in ei­nem so­ge­nann­ten Kin­der­wa­gen spa­zie­ren zu fah­ren, da­mit ich an die fri­sche Luft käme, und so oft Sol­da­ten auf­tauch­ten, rief sie: ›Ei, die schö­nen Sol­da­ten!‹

›Sol­da­ten‹ muß ei­nes mei­ner frü­he­s­ten Wör­ter ge­we­sen sein. Ich zeig­te mit mei­nem in Wol­le gehüll­ten Fin­ger­chen auf sie – da­mals zog man näm­lich den Kin­dern ganz un­glaub­lich viel an, und ich trug so­gar Hand­schu­he – und sag­te: ›Da­ten.‹

Ich will ver­su­chen, euch zu schil­dern, wie mein Heim be­schaf­fen und was für Leu­te mei­ne El­tern wa­ren. Der­glei­chen Haus­hal­te, Wohn­häu­ser und Orte gibt es nun seit lan­gem nicht mehr, es sind uns kaum Über­res­te von ih­nen er­hal­ten, und wenn ihr auch wahr­schein­lich viel über die da­ma­li­ge Le­bens­wei­se ge­hört und ge­lernt habt, so be­zweifle ich doch, daß ihr euch die Din­ge, die mich um­ga­ben, rich­tig vor­stel­len könnt. Der Name des Or­tes war Cher­ry Gar­dens; er ge­hör­te zu dem grö­ße­ren Ort Sand­bour­ne und war etwa drei Ki­lo­me­ter vom Meer ent­fernt. Auf der einen Sei­te lag die Stadt Cliff­sto­ne, von der aus Dampf­schif­fe nach Frank­reich hin­über ver­kehr­ten, auf der an­dern Low­cliff mit sei­nen end­lo­sen Rei­hen häß­li­cher ro­ter Zie­gel­bau­ten für das Mi­li­tär und ei­nem großen Ex­er­zier­platz. Land­ein­wärts er­streck­te sich eine Art Pla­teau, von neu­en, roh be­schot­ter­ten Stra­ßen durch­zo­gen – ihr könnt euch nicht vor­stel­len, was für Stra­ßen das wa­ren! – und be­deckt von Ge­mü­se­gär­ten und eben fer­tig­ge­stell­ten oder noch im Bau be­grif­fe­nen Häu­sern; und da­hin­ter kam eine Hü­gel­ket­te, nicht sehr hoch, aber ziem­lich steil, mit Gras be­wach­se­ne, sonst je­doch kah­le Hü­gel, die Downs. Die Downs bil­de­ten einen reiz­vol­len Ab­schluß mei­ner klei­nen Welt ge­gen Nor­den, wäh­rend sie im Sü­den von ei­nem sa­phir­far­be­nen Mee­res­strei­fen be­grenzt wur­de, und die­se ihre bei­den Grenz­li­ni­en wa­ren wohl das ein­zig wahr­haft Schö­ne in ihr. Al­les üb­ri­ge war von mensch­li­cher Ver­wor­ren­heit be­rührt und ent­stellt wor­den. Schon als ganz klei­ner Jun­ge dach­te ich oft, was wohl hin­ter je­nen Hü­geln lie­gen möge, doch erst in mei­nem sie­ben­ten oder ach­ten Jah­re trieb mich die Wiß­be­gier, sie zu be­stei­gen.«

»Gab es da­mals noch kei­ne Ae­ro­pla­ne?«, frag­te Be­ryll.

»Die ers­ten Flug­ver­su­che wur­den ge­macht, als ich elf oder zwölf Jah­re alt war. Ich sah den ers­ten Ae­ro­plan, der den Kanal zwi­schen dem eu­ro­päi­schen Fest­land und Eng­land über­quer­te. Er galt als et­was ganz Wun­der­ba­res. (›Das war er wohl auch‹, mein­te He­lia­ne.) Ich zog mit ei­ner Schar an­de­rer Kna­ben aus, und wir dräng­ten uns durch die Men­ge, die sich rings um die son­der­ba­re Ma­schi­ne ge­sam­melt hat­te und sie an­starr­te – sie glich ei­ner rie­si­gen Heuschre­cke aus Se­gel­tuch mit aus­ge­spann­ten Flü­geln –, es war auf ei­nem Feld in der Nähe von Cliff­sto­ne. Man be­wach­te das Wun­der­ding, die Leu­te wur­den mit­tels Stan­gen und Sei­len da­von fern­ge­hal­ten.

Es fällt mir schwer, euch zu schil­dern, was für Orte Cher­ry Gar­dens und Cliff­sto­ne wa­ren – ob­wohl wir eben die Rui­nen von Do­mo­dos­so­la be­sucht ha­ben. Auch die Stadt Do­mo­dos­so­la muß recht plan­los an­ge­legt ge­we­sen sein, aber jene bei­den Orte brei­te­ten sich noch weit zweck- und sinn­lo­ser über Got­tes Erd­bo­den hin aus. Ihr müßt wis­sen, daß die drei­ßig oder vier­zig Jah­re, die mei­ner Ge­burt vor­an­gin­gen, eine Zeit ver­hält­nis­mä­ßi­gen Wohl­stands, eine Pe­ri­ode der Pro­duk­ti­vi­tät ge­we­sen wa­ren. Selbst­ver­ständ­lich war dies in je­nen Ta­gen kei­nes­wegs das Re­sul­tat ir­gend­wel­cher Staats­kunst oder Voraus­sicht; es er­gab sich zu­fäl­lig – etwa so, wie sich mit­ten im Lauf ei­nes Re­gen-Sturz­ba­ches da oder dort ein ru­hi­ger klei­ner Tüm­pel bil­det.

Die Geld- und Kre­dit­ge­ba­rung funk­tio­nier­te leid­lich gut; Han­del und Ver­kehr blüh­ten; es gab kei­ne weit um sich grei­fen­den Seu­chen, nur we­ni­ge grö­ße­re Krie­ge und et­li­che be­son­ders gute Ern­ten. Das Er­geb­nis die­ses Zu­sam­men­wir­kens güns­ti­ger Be­din­gun­gen war ein deut­lich wahr­nehm­ba­rer Auf­schwung in der Le­bens­füh­rung der All­ge­mein­heit; doch wur­de die­ser Fort­schritt durch eine star­ke Be­völ­ke­rungs­zu­nah­me zum größ­ten Teil wie­der auf­ge­ho­ben. ›Da­mals wur­de der Mensch sich selbst zur Heuschre­cken­pla­ge‹, wie es in un­se­ren Schul­bü­chern heißt. In mei­nem spä­te­ren Le­ben soll­te ich des öf­tern über ein ver­bo­te­nes The­ma lei­se flüs­tern hö­ren, näm­lich über eine ver­nünf­ti­ge Ein­schrän­kung der Ge­bur­ten; in den Ta­gen mei­ner Kind­heit je­doch be­fand sich die gan­ze Mensch­heit in ei­nem Zu­stand völ­li­ger und sorg­fäl­tig be­hü­te­ter Un­wis­sen­heit über die grund­le­gen­den Tat­sa­chen des mensch­li­chen Le­bens und Glücks. Die Men­schen um mich her­um stan­den un­ter dem Druck ei­ner un­vor­her­ge­se­he­nen und un­ge­hemm­ten Ver­meh­rung. Sinn­lo­se Ver­meh­rung, das war das Grund­mo­tiv mei­ner Um­ge­bung, mein Dra­ma, mei­ne At­mo­sphä­re.«

»Sie hat­ten aber doch Leh­rer, Pries­ter, Ärz­te und Herr­scher, die sie ei­nes Bes­sern hät­ten be­leh­ren kön­nen«, sag­te Sala­ha.

»Die be­lehr­ten sie kei­nes Bes­sern«, er­wi­der­te Sar­nac. »Die Füh­rer und Len­ker des Le­bens wa­ren da­mals höchst ab­son­der­li­che Leu­te. Es gab ih­rer zahl­lo­se, aber sie lei­te­ten nie­man­den. Weit da­von ent­fernt, Män­ner und Frau­en über eine Ein­schrän­kung der Ge­bur­ten oder die Ab­wehr von Krank­hei­ten zu be­leh­ren oder ein edel­mü­ti­ges Zu­sam­men­ar­bei­ten der All­ge­mein­heit zu for­dern, tra­ten sie sol­chem Fort­schritt viel­mehr hin­dernd in den Weg. Der Ort Cher­ry Gar­dens war etwa fünf­zig Jah­re vor mei­ner Ge­burt ent­stan­den; aus ei­nem win­zi­gen Dörf­chen war er zu ei­nem so­ge­nann­ten städ­ti­schen Vo­r­ort ge­wor­den. In je­ner al­ten Welt, in der es we­der Frei­heit noch Füh­rung gab, wur­de der Grund und Bo­den in Fle­cken der ver­schie­dens­ten Art und Grö­ße auf­ge­teilt, und die Be­sit­zer konn­ten, ab­ge­se­hen von ei­ni­gen we­ni­gen är­ger­li­chen und zweck­lo­sen Ein­schrän­kun­gen, die ih­nen auf­er­legt wa­ren, da­mit tun, was sie woll­ten. In Cher­ry Gar­dens nun kauf­ten so­ge­nann­te Häu­ser­spe­ku­lan­ten Grund­stücke – oft­mals ganz un­ge­eig­net für ihre Zwe­cke, und bau­ten Wohn­häu­ser für den zu­neh­men­den Schwarm der Be­völ­ke­rung, die kein an­de­res Ob­dach hat­te. Die­ses Bau­en er­folg­te völ­lig plan­los. Der eine Spe­ku­lant bau­te hier, der an­de­re dort, je­der aber bau­te so bil­lig als mög­lich und ver­kauf­te oder ver­mie­te­te, was er ge­baut hat­te, so teu­er er konn­te. Man­che die­ser Häu­ser stan­den in Rei­hen, an­de­re von­ein­an­der ge­trennt, mit klei­nen Pri­vat­gär­ten rings­her­um – man nann­te sie Gär­ten, in Wirk­lich­keit aber wa­ren es ver­wil­der­te oder öde Grund­stücke – ein­ge­zäunt, um frem­de Leu­te da­von fern­zu­hal­ten.«

»Wa­rum woll­te man frem­de Leu­te da­von fern­hal­ten?«

»Es freu­te den Haus­be­sit­zer, das zu tun – es war ihm eine Be­frie­di­gung. Da­bei aber wa­ren die Gär­ten kei­nes­wegs den Bli­cken Neu­gie­ri­ger ver­schlos­sen, je­der­mann konn­te über den Zaun gu­cken, wenn es ihm be­lieb­te. Und je­des Haus hat­te sei­ne ei­ge­ne Kü­che – es gab kei­ne öf­fent­li­che Spei­se­an­stalt in Cher­ry Gar­dens –, so­wie sei­ne be­son­de­ren Haus­hal­tungs­ge­rä­te. In der Re­gel be­stand der Haus­halt aus ei­nem Mann, der au­ßer Haus ar­bei­te­te, um sei­nen Le­bens­un­ter­halt zu ver­die­nen – man leb­te da­mals ei­gent­lich nicht, um zu le­ben, son­dern viel­mehr, um sei­nen Le­bens­un­ter­halt zu ver­die­nen –, und nur zum Es­sen und zum Schla­fen heim­kam, und aus ei­ner Frau, sei­nem Weib, die al­len Dienst ver­sah, für Nah­rung sorg­te, das Haus rein hielt, und so wei­ter, und auch Kin­der ge­bar, eine Men­ge un­ge­woll­ter Kin­der – sie ver­stand es eben nicht bes­ser. Sie war viel zu be­schäf­tigt, als daß sie sie hät­te gut pfle­gen kön­nen, und vie­le von ih­nen star­ben. Den größ­ten Teil des Ta­ges ver­brach­te sie mit der Zu­be­rei­tung der Mahl­zei­ten. Sie koch­te – nun, im­mer­hin, es war ja wohl eine Art Ko­chen!«

Sar­nac mach­te eine Pau­se und run­zel­te die Stirn. »Das Es­sen da­mals! Nun ja! Jetzt hab’ ich es ja je­den­falls über­stan­den.«

Be­ryll lach­te be­lus­tigt.

»Fast je­der­mann litt an Ver­dau­ungs­stö­run­gen, und die Zei­tun­gen wim­mel­ten von Heil­mit­te­l­an­zei­gen«, fuhr Sar­nac fort, im­mer noch ganz düs­ter in sei­ner rück­bli­cken­den Be­trach­tung.

»Es wäre mir nie­mals ein­ge­fal­len, die­se Sei­te des Le­bens der Ver­gan­gen­heit ins Auge zu fas­sen«, mein­te He­lia­ne.

»Sie war aber von grund­le­gen­der Be­deu­tung«, sag­te Sar­nac. »Die da­ma­li­ge Welt war in je­der Hin­sicht krank.

Je­den Mor­gen, den Sonn­tag aus­ge­nom­men, nach­dem der Mann sich an sei­ne Ar­beit be­ge­ben hat­te und die Kin­der aus den Bet­ten ge­holt und an­ge­zo­gen und die grö­ße­ren in die Schu­le ge­schickt wor­den wa­ren, mach­te die Haus­frau ein we­nig Ord­nung, und dann kam die Fra­ge der Le­bens­mit­tel­be­schaf­fung – für ihr häus­li­ches Ko­chen. Je­den Werk­tag­mor­gen fuh­ren Män­ner mit klei­nen Pony-Wa­gen oder Hand­kar­ren, die sie vor sich her­scho­ben, die Stra­ßen von Cher­ry Gar­dens ent­lang. Sie hat­ten Fleisch, Fi­sche, Ge­mü­se und Obst zum Ver­kauf auf ih­ren Kar­ren – all das dem Wet­ter aus­ge­setzt und jeg­li­chem Schmutz, der da­her ge­weht kam – und rie­fen mit lau­ter Stim­me aus, wel­che Art von Ware sie feil­bo­ten. Die Erin­ne­rung läßt mich wie­der auf dem schwarz-ro­ten Sofa am Fens­ter ste­hen, ich bin noch ein­mal ein klei­ner Jun­ge. Es gab da einen Fisch­ver­käu­fer, der mir be­son­de­ren Ein­druck mach­te. Was für eine Stim­me der hat­te! Ich ver­such­te, sein präch­ti­ges Ge­schrei mit mei­nem schril­len Kin­der­stimm­chen nach­zuah­men: ›Ma­kre­len, kauft Ma­kre­len, schö­ne Ma­kre­len! Drei ein Shil­ling. Ma­kre­len!‹

Die Haus­frau­en ka­men aus den ge­hei­men Schlupf­win­keln ih­rer Wohn­stät­ten her­vor, um zu kau­fen oder zu feil­schen, und ver­trie­ben sich, wie man da­mals sag­te, bei die­ser Ge­le­gen­heit ein we­nig die Zeit mit den Nach­ba­rin­nen. Doch war nicht al­les, was sie brauch­ten, bei den Stra­ßen­ver­käu­fern zu ha­ben. Hier setz­te die Tä­tig­keit mei­nes Va­ters ein. Er hat­te einen klei­nen La­den, war ein so­ge­nann­ter Krä­mer. Er ver­kauf­te Obst und Ge­mü­se, arm­se­li­ges Obst und er­bärm­li­ches Ge­mü­se, von der Art eben, wie man es da­mals zu zie­hen ver­stand, fer­ner Koh­len, Pe­tro­le­um (man be­nütz­te da­mals Pe­tro­le­um­lam­pen), Scho­ko­la­de, Ing­wer­bier und an­de­re Din­ge, die für die bar­ba­ri­sche Haus­hal­tung je­ner Zeit nö­tig wa­ren. Über­dies han­del­te er mit Schnitt­blu­men und Topf­pflan­zen, so­wie mit Sa­men, Stöck­chen, Bind­fa­den und Har­ken für die klei­nen Gär­ten. Sein La­den be­fand sich in ei­ner Rei­he mit ei­ner An­zahl an­de­rer; die Häu­ser­zei­le war ge­nau so wie eine ge­wöhn­li­che Häu­ser­zei­le im Ort, nur hat­te man die Erd­ge­schoß­räu­me zu La­den ge­macht. Mein Va­ter er­warb sei­nen und un­se­ren Le­bens­un­ter­halt, in­dem er sei­ne Wa­ren so bil­lig ein­kauf­te, als er konn­te, und mög­lichst viel da­für zu be­kom­men trach­te­te. Es war ein sehr ärm­li­cher Ver­dienst, denn Cher­ry Gar­dens hat­te au­ßer ihm noch ei­ni­ge Krä­mer auf­zu­wei­sen, tüch­ti­ge Ker­le, und wenn er zu­viel Pro­fit auf sei­ne Wa­ren schlug, gin­gen sei­ne Kun­den wei­ter und kauf­ten bei sei­nen Kon­kur­ren­ten, und er ver­dien­te dann über­haupt nichts.

Ich, mein Bru­der und mei­ne bei­den Schwes­tern – mei­ne Mut­ter hat­te sechs Kin­der ge­bo­ren und vier da­von wa­ren am Le­ben – ver­brach­ten un­se­re Tage in die­sem La­den oder in des­sen nächs­ter Nähe. Im Som­mer wa­ren wir meist vor dem Hau­se oder in ei­nem Zim­mer ober­halb des Ge­schäf­tes, in der kal­ten Jah­res­zeit aber kos­te­te es zu­viel Geld und zu­viel Mühe, in je­nem Zim­mer Feu­er an­zu­ma­chen – man heiz­te in ganz Cher­ry Gar­dens mit of­fe­nem Koh­len­feu­er – und da muß­ten wir denn in die fins­te­re un­ter­ir­di­sche Kü­che, in der mei­ne Mut­ter, die Ärms­te, koch­te, so gut sie es ver­stand.«

»Ihr wart ja Höh­len­be­woh­ner!«, rief Sala­ha.

»Tat­säch­lich. Wir nah­men alle un­se­re Mahl­zei­ten in dem un­ter­ir­di­schen Raum ein. Im Som­mer wa­ren wir wohl sonn­ver­brannt und rot­bä­ckig, im Win­ter aber wur­den wir in­fol­ge die­ses – Höh­len­le­bens blaß und recht ma­ger. Mein Bru­der, der zwölf Jah­re äl­ter war als ich und mir rie­sen­groß er­schi­en, hieß Ernst, mei­ne bei­den Schwes­tern Fan­ny und Pru­dence. Ernst fing bald an, au­ßer Haus zu ar­bei­ten, et­was spä­ter ging er dann nach Lon­don, und ich sah ihn nur sel­ten, bis zu der Zeit, da ich selbst nach Lon­don kam. Ich war das jüngs­te Kind. Als ich neun Jah­re alt war, faß­te mein Va­ter Mut, ver­wan­del­te Mut­ters Kin­der­wa­gen in einen klei­nen Schub­kar­ren und be­nütz­te ihn fort­an zur Lie­fe­rung von Koh­len und ähn­li­chen Wa­ren.

Fan­ny, die äl­te­re von mei­nen bei­den Schwes­tern, war ein sehr hüb­sches Mäd­chen; ihre zar­te Haut­far­be stand in lieb­li­chem Ge­gen­satz zu den na­tür­lich ge­well­ten brau­nen Haa­ren, die ihr Ge­sicht an­mu­tig um­rahm­ten, und sie hat­te sehr dunkle blaue Au­gen. Auch Pru­dence hat­te eine hel­le, aber viel mat­te­re Ge­sichts­far­be, und ihre Au­gen wa­ren grau. Sie neck­te mich viel oder nör­gel­te an mir her­um, Fan­ny hin­ge­gen be­ach­te­te mich ent­we­der gar nicht oder war sehr freund­lich mit mir, und ich lieb­te sie in­nig. Merk­wür­di­ger­wei­se kann ich mich an das Aus­se­hen mei­ner Mut­ter nicht deut­lich er­in­nern, ob­wohl sie selbst­ver­ständ­lich die Haup­trol­le in mei­nem jun­gen Le­ben spiel­te. Sie war mir wohl zu ver­traut, als daß ich ihr die Art von Auf­merk­sam­keit zu­ge­wen­det hät­te, die dem Ge­dächt­nis ein Bild ein­prägt.

Ich lern­te von mei­ner Fa­mi­lie, und zwar haupt­säch­lich von mei­ner Mut­ter spre­chen. Kei­ner von uns sprach gut. Die Re­de­wen­dun­gen, de­ren wir uns be­dien­ten, wa­ren dürf­tig und schlecht, wir spra­chen vie­les falsch aus, und lan­ge Wör­ter ver­mie­den wir, denn sie wa­ren uns zu ge­fähr­lich und dünk­ten uns an­ma­ßend. Ich hat­te sehr we­nig Spiel­zeug; ich ent­sin­ne mich ei­ner klei­nen Blech­lo­ko­mo­ti­ve, ei­ni­ger Zinn­sol­da­ten und ei­ner recht spär­li­chen Men­ge von höl­zer­nen Bau­klöt­zen. Nie­mand wies mir einen be­stimm­ten Platz an, wo ich hät­te spie­len kön­nen; hat­te ich mein Spiel­zeug auf dem Wohn­zim­mer­tisch aus­ge­brei­tet, so kam si­cher­lich ge­ra­de eine Mahl­zeit und feg­te mir al­les hin­weg. Ich weiß noch ganz ge­nau, wie ger­ne ich mit Ge­gen­stän­den aus dem La­den ge­spielt hät­te, be­son­ders mit den Brenn­holz­bün­deln, die es da gab, und mit ge­wis­sen rad­för­mi­gen Zündspä­nen, die sehr ver­lo­ckend auf mich wirk­ten. Mein Va­ter aber ent­mu­tig­te der­ar­ti­ge Wün­sche. Er sah mich nicht gern im La­den, so­lan­ge ich noch zu klein war, um ihm zu hel­fen, und so hielt ich mich, wenn ich nicht ins Freie durf­te, meist in dem er­wähn­ten obe­ren Zim­mer auf oder in dem Kel­ler­raum, der als Kü­che diente. Wenn der La­den ge­schlos­sen war, wur­de er für mei­ne Kna­ben­phan­ta­sie ein kal­ter, dunk­ler, höh­len­ar­ti­ger Ort; düs­te­re Schat­ten lau­er­ten dar­in, in de­nen Schreck­li­ches ver­bor­gen sein moch­te, und selbst wenn ich auf dem Weg zur Schlaf­stu­be die Hand mei­ner Mut­ter ganz fest hielt, fürch­te­te ich mich hin­durch­zu­ge­hen. Es war da auch im­mer ein un­an­ge­nehm dump­fer Ge­ruch von ver­fau­len­dem Zeug; er än­der­te sich stets ein we­nig, je nach dem Obst oder Ge­mü­se, das ge­ra­de am meis­ten ver­langt wur­de, das Pe­tro­le­um war aber ein stän­di­ges Ele­ment dar­in. An Sonn­ta­gen, wenn der La­den den gan­zen Tag ge­schlos­sen blieb, mach­te er einen an­dern Ein­druck auf mich. Er war dann nicht so dro­hend dun­kel, nur sehr, sehr still. Wenn ich zur Kir­che oder zur Sonn­tags­schu­le ge­führt wur­de, kam ich hin­durch. (Ja, ja, von der Kir­che und der Sonn­tags­schu­le will ich euch so­fort er­zäh­len.) Als ich mei­ne Mut­ter auf dem To­ten­bet­te lie­gen sah – sie starb, da ich noch nicht ganz sech­zehn Jah­re alt war –, kam mir als­bald der sonn­täg­li­che La­den in den Sinn …

So war das Heim ge­ar­tet, liebs­te He­lia­ne, in dem ich mich im Trau­me sah. Und ich glaub­te fest, daß mein Le­ben dort an­ge­ho­ben habe. Es war der tiefs­te Traum, den ich je­mals träum­te. So­gar dich hat­te ich ver­ges­sen.«

2

»Und wie wur­de das zu­fäl­lig in die Welt ge­setz­te Kind für das Le­ben vor­be­rei­tet?«, frag­te Be­ryll. »Wur­de es in ei­nem Kin­der­gar­ten er­zo­gen?«

»Es gab da­mals kei­ne Kin­der­gär­ten, wie wir sie heu­te be­sit­zen«, sag­te Sar­nac. »Man hat­te so­ge­nann­te Ele­men­tar­schu­len, und eine sol­che be­such­te ich, nach­dem ich das sechs­te Le­bens­jahr vollen­det hat­te; mei­ne Schwes­ter Pru­dence brach­te mich zwei­mal täg­lich hin.

Auch hier fällt es mir schwer, euch ein ge­treu­es Bild der Wirk­lich­keit zu ver­mit­teln. Un­se­re Ge­schichts­bü­cher be­rich­ten euch von den An­fän­gen ei­ner all­ge­mei­nen Er­zie­hung in je­ner fer­nen Zeit und von dem ei­fer­süch­ti­gen Groll der al­ten Pries­ter­schaf­ten und ge­wis­ser pri­vi­le­gier­ter Per­so­nen ge­gen die neue Art von Leh­rern; doch kön­nen sie euch kei­ne le­ben­di­ge Vor­stel­lung von den elend aus­ge­stat­te­ten Schul­häu­sern ge­ben, in de­nen eine viel zu spär­li­che Zahl von Lehr­per­so­nen wirk­te, noch von der tap­fe­ren Ar­beit die­ser schlecht be­zahl­ten und für ihre Auf­ga­be schlecht vor­be­rei­te­ten Män­ner und Frau­en, de­nen die Mensch­heit die ers­ten ro­hen Ver­su­che auf dem Ge­bie­te der Volks­er­zie­hung zu dan­ken hat. In der Schu­le zu Cher­ry Gar­dens hat­te ein ha­ge­rer, dun­kel­haa­ri­ger Mann, der im­mer hus­te­te, die grö­ße­ren Kna­ben un­ter sich, und ein som­mer­spros­si­ges klei­nes Frau­chen von etwa drei­ßig Jah­ren plag­te sich mit den klei­ne­ren ab. Heu­te sehe ich ein, daß sie Mär­ty­rer wa­ren. Wie er ge­hei­ßen, habe ich ver­ges­sen, der Name des klei­nen Frau­chens war Miß Mer­rick. Sie hat­ten rie­sen­große Klas­sen zu lei­ten und be­werk­stel­lig­ten den Un­ter­richt größ­ten­teils mit Hil­fe von Stim­me und Ge­bär­de und mit ei­ner schwar­zen Ta­fel, auf der sie mit Krei­de schrie­ben. Ihre Aus­stat­tung mit Lehr­mit­teln war er­bärm­lich. Die ein­zi­gen, die ih­nen in ge­nü­gen­der Men­ge zur Ver­fü­gung stan­den, wa­ren ab­ge­grif­fe­ne schmut­zi­ge Le­se­bü­cher, Bi­beln und Ge­sang­bü­cher und eine An­zahl von klei­nen Schie­fer­ta­feln in Holz­rah­men, auf de­nen wir mit Grif­feln schrie­ben, um Pa­pier zu spa­ren. Zei­chen­ma­te­ri­al hat­ten wir ei­gent­lich gar nicht; die meis­ten von uns lern­ten nie­mals zeich­nen. Ihr könnt es mir glau­ben! Vie­le nor­mal ent­wi­ckel­te Er­wach­se­ne je­ner Zeit wa­ren nicht im­stan­de, auch nur eine Schach­tel zu zeich­nen. Es gab in je­ner Schu­le nichts, wor­an die Schü­ler hät­ten zäh­len ler­nen kön­nen; es gab auch kei­ner­lei geo­me­tri­sche Mo­del­le. Bil­der wa­ren nur sehr spär­lich vor­han­den: ei­nes, das die Kö­ni­gin Vic­to­ria dar­stell­te, und ein Blatt mit Tie­ren; zwei sehr ver­gilb­te Land­kar­ten von Eu­ro­pa und Asi­en wa­ren um zwan­zig Jah­re ver­al­tet. Die Grund­re­geln der Ma­the­ma­tik lern­ten wir, in­dem wir sie im Chor auf­sag­ten. Wir stan­den in Rei­hen und lei­er­ten ein son­der­ba­res Lied, das Ein­mal­eins ge­nannt:


›Ein­mal­zwei–­sin­zwei,
zwei­mal­zwei–­sin­vier,
drei­mal­zwei–s­in­sechs,
vier­mal­zwei–­si­nacht.‹

Wir san­gen auch im Chor – ein­stim­mig – meist re­li­gi­öse Hym­nen. Die Schu­le be­saß ein al­tes, aus zwei­ter Hand ge­kauf­tes Kla­vier, auf dem man un­ser Ge­heul be­glei­te­te. Als die­ses In­stru­ment er­stan­den wur­de, gab es in Cliff­sto­ne und Cher­ry Gar­dens große Auf­re­gung, man nann­te den Kauf einen Lu­xus, eine Ver­wöh­nung der ar­bei­ten­den Klas­sen.«

»Eine Ver­wöh­nung der ar­bei­ten­den Klas­sen!«, wie­der­hol­te Iris. »Es wird wohl stim­men. Aber es ist mir völ­lig un­be­greif­lich.«

»Ich kann euch nicht al­les und je­des er­klä­ren«, sag­te Sar­nac. »Aber ihr dürft mir’s glau­ben: Eng­land be­dach­te die Kin­der sei­nes ei­ge­nen Vol­kes mit ei­nem äu­ßerst dürf­ti­gen Un­ter­richt und das nur wi­der­wil­lig; üb­ri­gens ver­fuh­ren an­de­re Län­der ziem­lich ähn­lich. Man sah die Din­ge da­mals ganz an­ders als heu­te. Die gan­ze Mensch­heit war be­ses­sen von der Idee des Wett­be­werbs. Ame­ri­ka, das sich ei­nes viel grö­ße­ren Wohl­stands er­freu­te als Eng­land – so weit man in Be­zug auf die da­ma­li­ge Zeit über­haupt von Wohl­stand re­den kann –, hat­te wenn mög­lich noch schlech­te­re und schä­bi­ge­re Schu­len für die Mas­se des Volks … Ja, mei­ne Lie­ben! Ich sage euch, es war so. Ich bin dar­an, euch eine Ge­schich­te zu er­zäh­len, nicht euch das Uni­ver­sum zu er­klä­ren … Selbst­ver­ständ­lich lern­ten wir Kin­der trotz der hin­ge­bungs­vol­len Be­mü­hun­gen so tap­fe­rer Men­schen wie Miß Mer­rick sehr we­nig und die­ses We­ni­ge schlecht. Der größ­te Teil mei­ner Erin­ne­run­gen an die Schul­zeit be­deu­tet Lan­ge­wei­le. Wir sa­ßen auf Holz­bän­ken an ab­ge­nutz­ten Pul­ten, zahl­lo­se Rei­hen hin­ter­ein­an­der. Ich sehe noch all die klei­nen Köp­fe vor mir – und ganz vorn stand Miß Mer­rick und ver­such­te, uns In­ter­es­se an den Flüs­sen Eng­lands bei­zu­brin­gen:

›Tai. Weer. Tih­söm­ber.‹«

»Hast du nun eben das ge­tan, was man da­mals flu­chen nann­te?«, frag­te Sala­ha.

»Ach nein! Das ist Geo­gra­phie. Und Ge­schich­te war so:


›Wil­lem­daro­be­rer – tau­send­sechs­und­sech­zig
Wil­lem­ru­fiß – tau­send­siebn­un­dacht­zig.‹«

»Was hat das be­deu­tet?«

»Für uns Kin­der? Ziem­lich das­sel­be, was es für euch be­deu­tet – Kau­der­welsch. O die Stun­den, die­se nicht en­den­wol­len­den Stun­den der Kind­heit in der Schu­le! Wie end­los lan­ge sie schie­nen! Habe ich ge­sagt, ich hät­te in mei­nem Trau­me ein gan­zes Le­ben durch­lebt? In der Schu­le durch­leb­te ich Ewig­kei­ten. Selbst­ver­ständ­lich er­fan­den wir al­ler­lei, um uns zu un­ter­hal­ten. Wir zwick­ten oder puff­ten zum Bei­spiel un­se­ren Nach­barn und sag­ten: ›Gib’s wei­ter.‹ Oder wir spiel­ten ver­stoh­len mit klei­nen Ku­geln. Es ist ko­misch, wenn ich be­den­ke, daß ich nicht durch den Re­chen­un­ter­richt, son­dern durch das ver­bo­te­ne Ku­gel­spiel zäh­len lern­te, ad­die­ren, sub­tra­hie­ren, und so wei­ter.«

»Aber was leis­te­ten Miß Mer­rick und der hus­ten­de Mär­ty­rer nun ei­gent­lich?«, frag­te Be­ryll.

»Ach, sie konn­ten ja nicht, wie sie woll­ten. Sie wa­ren in eine Ma­schi­ne ein­ge­spannt. Es gab re­gel­mä­ßi­ge In­spek­tio­nen und Prü­fun­gen, um fest­zu­stel­len, ob sie sich an die Vor­schrif­ten hiel­ten.«

»Der Sings­ang ›Wil­lem­daro­be­rer‹ und so wei­ter«, sag­te He­lia­ne, »das be­deu­te­te doch et­was? Dem lag doch, wenn auch ver­bor­gen, ir­gend­ei­ne ver­nünf­ti­ge oder halb­wegs ver­nünf­ti­ge Idee zu­grun­de?«

»Wohl mög­lich«, mein­te Sar­nac nach­denk­lich. »Ich habe sie aber nie ent­de­cken kön­nen.«

Iris ver­such­te, ihm zu Hil­fe zu kom­men. »Du sag­test, es sei Ge­schich­te ge­we­sen …?«

»Ja, ja«, be­stä­tig­te Sar­nac. »Ich glau­be, die Kin­der soll­ten In­ter­es­se am Tun und Trei­ben der Kö­ni­ge und Kö­ni­gin­nen von Eng­land ge­win­nen. Wahr­schein­lich war das eine der lang­wei­ligs­ten Rei­hen von Mon­ar­chen, die die Welt je ge­se­hen hat. In­ter­essant wur­den sie uns nur zeit­wei­se, wenn sie Ge­walt­tä­tig­keit an den Tag leg­ten. Es gab da be­son­ders einen Herr­scher, den wir ger­ne moch­ten, Hein­rich VIII. hieß er; der hat­te eine der­ar­ti­ge Lie­bes­gier in sich und be­saß da­bei so viel Ehr­furcht vor der Hei­lig­keit der Ehe, daß er sei­ne Ge­mah­lin je­weils er­mor­de­te, be­vor er die nächs­te nahm. Und dann gab es einen ge­wis­sen Al­fred, der Ku­chen ba­cken soll­te – ich weiß nicht, warum – und sie an­bren­nen ließ, was sei­nen Fein­den, den Dä­nen, auf ir­gend­ei­ne rät­sel­haf­te Wei­se Scha­den brach­te.«

»Aber das kann doch nicht al­les ge­we­sen sein, was man euch an Ge­schich­te lehr­te!«, rief He­lia­ne.

»Kö­ni­gin Eli­sa­beth von Eng­land trug eine Hals­krau­se, und Ja­kob der Ers­te von Eng­land und Schott­land küß­te sei­ne Günst­lin­ge.«

»Aber Ge­schich­te!«

Sar­nac lach­te. »Ja, es ist ab­son­der­lich. Nun, da ich wie­der wach bin, sehe ich das sehr gut ein. Ihr könnt mir’s aber glau­ben, mehr wur­de uns nicht ge­lehrt.«

»Er­zähl­te man euch nichts über An­fang und Ende des Le­bens, nichts über sei­ne un­end­li­chen Freu­den und Mög­lich­kei­ten?«

Sar­nac schüt­tel­te den Kopf.

»In der Schu­le nicht«, sag­te Stel­la, die of­fen­bar noch gut wuß­te, was in ih­ren Lehr­bü­chern ge­stan­den hat­te. »Das ge­sch­ah in der Kir­che. Sar­nac ver­gißt die Kir­chen. Ihr müßt be­den­ken, daß je­nes Zeit­al­ter ei­nes in­ten­si­ver Re­li­gio­si­tät war. Es gab al­lent­hal­ben Stät­ten der An­dacht. Ein gan­zer Tag von sie­ben wur­de der Be­trach­tung des Mensch­heits­schick­sals und dem Stu­di­um der gött­li­chen Ab­sich­ten ge­wid­met. Der Ar­bei­ter fei­er­te an die­sem Tage. Von ei­nem Ende des Lan­des bis zum an­dern war die Luft er­füllt vom Klan­ge der Kir­chen­glo­cken und vom Ge­sang der Gläu­bi­gen. Lag dar­in nicht eine ge­wis­se Schön­heit, Sar­nac?«

Sar­nac lä­chel­te sin­nend. »Es war nicht ganz so, wie du sagst. Un­se­re Ge­schichts­bü­cher be­dür­fen in die­ser Hin­sicht ei­ner klei­nen Re­vi­si­on.«

»Aber man sieht doch zahl­lo­se Kir­chen und Ka­pel­len auf al­ten Pho­to­gra­phien und ki­ne­ma­to­gra­phi­schen Bil­dern. Auch be­sit­zen wir ja noch eine Men­ge der da­ma­li­gen Ka­the­dra­len. Man­che von ih­nen sind recht schön.«

»Sie muß­ten al­le­samt ge­stützt, die Mau­ern mit Stahl­klam­mern zu­sam­men­ge­hef­tet wer­den«, sag­te He­lia­ne, »weil sie nach­läs­sig oder ge­wis­sen­los er­baut wor­den wa­ren. Und sie stam­men nicht aus Sar­nacs Zeit.«

»Mor­ti­mer Smit­hs Zeit«, ver­bes­ser­te Sar­nac. »Sie wur­den Jahr­hun­der­te frü­her er­baut.«

3

»Ihr dürft die Re­li­gio­si­tät ei­nes Zeit­al­ters nicht nach sei­nen Tem­peln oder Kir­chen be­ur­tei­len«, fuhr Sar­nac fort. »Ein un­ge­sun­der Kör­per birgt in der Re­gel man­cher­lei in sich, was er ab­zu­sto­ßen nicht die Kraft hat; je schwä­cher er ist, de­sto we­ni­ger ver­mag er dem Wachs­tum ab­nor­mer und un­nüt­zer Ge­bil­de zu steu­ern, die an sich mit­un­ter ganz schön sind.

Ich will ver­su­chen, euch das re­li­gi­öse Le­ben in mei­ner Hei­mat und die re­li­gi­öse Sei­te mei­ner Er­zie­hung zu schil­dern. Es gab in Eng­land eine Art Staats­kir­che, doch hat­te die­se zu mei­ner Zeit ihr of­fi­zi­el­les An­se­hen bei der Ge­samt­heit des Vol­kes be­reits zum größ­ten Teil ein­ge­büßt. Sie be­saß zwei Got­tes­häu­ser in Cher­ry Gar­dens; das eine, äl­te­re, stamm­te aus den Ta­gen, da der Ort ein Dörf­chen ge­we­sen war, es hat­te einen vier­e­cki­gen Turm und war, ver­gli­chen mit an­de­ren Kir­chen, recht klein; das an­de­re war neu­er, ge­räu­mi­ger und mit ei­nem spit­zen Turm ver­se­hen. Über­dies hat­ten zwei nicht der Staats­kir­che an­ge­hö­ren­de christ­li­che Sek­ten, die Kon­gre­ga­tio­na­lis­ten und die Metho­dis­ten, so­wie auch die alte rö­misch-ka­tho­li­sche Glau­bens­ge­mein­de ihre Ka­pel­len in Cher­ry Gar­dens. Jede die­ser Kir­chen gab vor, die ein­zig wah­re Form des Chris­ten­tums zu ver­tre­ten, und jede un­ter­hielt einen Geist­li­chen, das grö­ße­re Got­tes­haus der Staats­kir­che so­gar zwei, einen Pfar­rer und einen Un­ter­pfar­rer. Ihr denkt nun ge­wiß, daß in die­sen Kir­chen Ähn­li­ches dar­ge­bo­ten wur­de wie in den Ge­schichts­mu­se­en und Vi­si­on­stem­peln, die un­se­re heu­ti­ge Ju­gend be­sucht; ihr denkt, daß dort die Ge­schich­te der Mensch­heit und das große Aben­teu­er des Le­bens, an dem wir alle teil­ha­ben, so ein­drucks­voll und schön als mög­lich ge­schil­dert, daß die Zu­hö­rer an die Bru­der­schaft al­ler Men­schen ge­mahnt und aus dem Kreis selbst­süch­ti­ger Ge­dan­ken em­por­ge­ho­ben wur­den … Laßt mich euch be­rich­ten, was Re­li­gi­on und Kir­che für mich be­deu­te­ten.

Der ers­ten re­li­gi­ösen Un­ter­wei­sun­gen, die ich er­hielt, ent­sin­ne ich mich nicht mehr. Sehr früh lern­te ich ein klei­nes Ge­bet in Ver­sen aus­wen­dig, das mit den Wor­ten an­hob:

›Sanf­ter Je­sus, lieb und lind,
Blick auf mich, dein klei­nes Kind!‹

Ein an­de­res Ge­bet, das ich lern­te, blieb mir fast völ­lig un­ver­ständ­lich. Schon die An­fangs­wor­te ›Va­ter un­ser – der du – bis in den Him­mel –‹ wa­ren mir ein Rät­sel. Es war dar­in von ›Schul­den‹ die Rede, fer­ner ent­hielt es die Bit­te ›Gib uns un­ser täg­li­ches Brot‹ und den Wunsch ›Zu uns kom­me dein Reich‹. Mei­ne Mut­ter muß mich die­se Ge­be­te ge­lehrt ha­ben, als ich noch ganz klein war, und ich sag­te sie je­den Abend auf, manch­mal auch des Mor­gens. Sie hielt of­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­