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Sharon Morgan

Geliebter Feind





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Beschreibung

Aufgrund einer Reihe von unglücklichen Umständen gerät Seònaid Keith in das Lager des feindlichen Clans Gunn. Einst hatte ein Keith eine Frau von den Gunns entführt, die sich in ihrer Verzweiflung daraufhin das Leben genommen hat. Seither schwelt der Hass zwischen den Clans und jede Frau des Clan Keith warnt ihre Töchter, sich ja vor den Gunns fernzuhalten.

 

 

1. Die Attacke

 

 

 

 

Anfang Juli 1478 im Norden der schottischen Highlands auf Dirlot Castle

Seònaids Vater, der Chieftain des Clans Keith, hob feierlich seinen hölzernen Ale-Humpen an. Er war ein hochgewachsener Mann in den besten Jahren mit langen, schwarzen Locken und mächtigen Muskeln. »Auf unseren Sieg, darauf, dass der Chieftain der Gunns und seine Söhne heute ihr elendes Leben auf den Knien ausgehaucht haben!« Seine tiefe Stimme dröhnte durch die Halle von Dirlot Castle, das seinem Freund Alexander Sutherland gehörte.

Seònaid saß unweit von ihm in ihr schlichtes Gewand und ein violett-grün-kariertes Plaid gehüllt. Auch sie stieß mit ihrem Vater, ihrem Bruder Will, Sutherland und all den anderen an. Die blutige Fehde mit den blutrünstigen Barbaren hatte nun hoffentlich endlich ein Ende gefunden. Zu viele Tote hatte es gegeben, zu viele Witwen, Waisen und weinende Mütter.

Plötzlich vernahm Seònaid ein leises Surren, woraufhin eine Gänsehaut ihren Körper überzog. Al sie den Pfeil erblickte, war es längst zu spät. Dicht sauste er an dem Schlossherrn Alexander Sutherland vorüber und schlug mittig in die Brust ihres Vaters ein.

Ungläubig starrte er auf den Schaft des Pfeiles, wovon aus sich ein Blutfleck auf seinem Hemd rasch vergrößerte. Seine Hand griff danach, erschlaffte jedoch, der Bierkrug entglitt seiner anderen Hand. Blut spritzte über den Tisch, auf die Teller, über die Speisen, an die Wand und rann von dort herunter. Sein Blick erlosch, der schwere Leib stürzte seitlich von der Bank und krachte fast noch schneller als der Krug auf den Steinboden. Alles geschah innerhalb weniger Augenblicke. Schäumend breitete sich das Ale aus und vermischte sich mit der immer größer werdenden Blutlache. Kupfrig-süßer Geruch erfüllte die Luft und ließ Seònaid übel werden.

Sie schrie auf, zutiefst entsetzt über diesen hinterhältigen Mord an ihrem Vater. Schock ließ ihren Leib erbeben. Sie spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich, während ihr Herz raste. Es bestand kein Zweifel: Gilbert Keith war tot.

Dennoch wollte Seònaid sich der Panik nicht ergeben, sie kämpfte erbittert darum, einen klaren Kopf zu bewahren. Sie ergriff die neben ihr sitzende und immer noch hysterisch kreischende Verlobte ihres Vaters am Arm und zog sie und Sutherlands illegitimen fünfjährigen Sohn Iain mit sich unter den Tisch, außerhalb der Reichweite möglicher weiterer Pfeile. Der Schütze konnte sich schließlich noch in der Nähe befinden.

Hass loderte in ihr auf. Wenn jemand heute noch sein Leben lassen musste, so sollte das dieser hinterhältige Bogenschütze sein, wer auch immer er war.

Die blonde Lìosa zitterte am ganzen Leib und lamentierte um ihren toten Verlobten, während der kleine Iain weinte. Seònaid barg seinen bebenden Leib in ihren Armen und streichelte beruhigend über sein blondes Köpfchen. Sutherland, ihr Bruder Will und die anderen Männer stürzten derweil in Richtung der Tür.

Die Deckung kurzzeitig aufzugeben, war zwar gefährlich, aber leider notwendig, wenn sie draußen gegen den Feind kämpfen wollten. Es war ohnehin erstaunlich, dass der Schütze trotz der Wachen und der unwegsamen Umgebung so weit gekommen war. Bisher hatte Seònaid keinen weiteren Pfeil einschlagen hören, doch konnte sie sich auch täuschen. Außerdem war alles so verdammt schnell gegangen.

»Bleibt dort unten, bis wir die Umgebung gesichert haben«, vernahm sie Wills Stimme.

»Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Die Burg ist doch so gut gesichert«, sagte der Burgherr Alexander Sutherland, der zugleich der illegitime Sohn des legendären Grafen von Sutherland war.

Seònaid kämpfte nach wie vor gegen die Übelkeit an. Aus dem Augenwinkel sah sie die Leiche ihres Vaters in der Blutlache liegen. Rasch wandte sie den Blick ab. Gewiss erkaltete sie bereits. Es war ein einziger Albtraum.

Sie hörte, wie die Männer im Vorraum zu den Waffen griffen. In den Highlands nahm man aus Höflichkeit nur den Sgian Dubh, den verborgenen schwarzen Dolch, mit zu Tisch. Tränen liefen über ihre Wangen, sie zitterte am ganzen Leib. Nirgendwo war man sicher. Es konnte heute zu Ende sein, morgen oder noch während desselben Atemzugs. Träge rannen die Minuten dahin.

»Oh Gott! Oh nein! Ist er tot? Wir sollten mal nachsehen.« Gilberts ehemalige Verlobte war vollkommen verstört. Ihre Stimme bebte.

Tränen brannten auch in Seònaids Augen; sie blinzelte sie weg. Jetzt war keine Zeit dafür. Sie brauchte all ihre Sinne beisammen.

»Niemand lebt, nachdem ein Pfeil sein Herz durchbohrt hat«, sagte der zur Tür hereinlugende Alexander Sutherland trocken, während sein Sohn Iain sich weinend an Seònaids linkem Arm festklammerte. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass er wieder zurück war, was sie alarmierte. Aber bei dem lauten Schluchzen, das die Frau neben ihr abgab, war es kein Wunder, dass sie ihn nicht gehört hatte. Ein kalter Schauder überlief ihren Rücken, wenn sie daran dachte, dass ein Mörder sich ihr ebenso hätte anschleichen können.

Ob der Attentäter auch Frauen und Kinder töten würde? Es war nicht auszuschließen. Jemand, der aus dem Hinterhalt tötete, war entweder sehr verzweifelt oder überaus skrupellos. Auf jeden Fall war solch einer Person alles zuzutrauen.

Sutherland strich sich durchs rotbraune Haar. »Wir haben die Umgebung übrigens inzwischen gesichert. Es tut mir sehr leid für dich und deine Familie.« Trotz der tröstenden Worte klang seine Stimme so emotionslos wie immer. Nur Zorn kannte sie bisweilen als Ausdruck seiner Gefühle, aber sie hatte Sutherland noch nie gemocht und das mit gutem Grund.

»Wer steckt hinter dem Anschlag? Könnten es die Gunns gewesen sein?«, fragte Seònaid. »Ich dachte nämlich, sie wären besiegt, da man der Schlange den Kopf abgeschlagen hat. Aber vielleicht handelt es sich um einen Vergeltungsschlag ihrer Leute.« Das war das Erste, was Seònaid in den Kopf gekommen war, einfach weil der zeitliche Zusammenhang bestand. Das musste allerdings nichts bedeuten.

»Die Gunns besiegt?«, vernahm sie die Stimme eines der Krieger von draußen.

»Halts Maul!«, herrschte Sutherland ihn wütend an, bevor er sich Seònaid zuwandte. »Es ist durchaus möglich, dass diese Hunde dahinterstecken. Wenn sie es waren, dann sind sie elende Feiglinge, denn sie wurden in einem ehrenvollen Kampf besiegt zehn Mann gegen zehn Mann jeweils zu Pferde. Aber wir können uns nicht sicher sein, solange wir diesen hinterhältigen Schützen nicht gefasst haben. Wenn ich mich nicht täusche, lag dein Vater mit dem Clan Irvine in Fehde?«

Ihr Bruder William drängte sich an ihm vorbei und betrat den Raum.

Seònaid nickte. »Soweit ich weiß schon. Der Pfeil könnte auch für Euch vorgesehen gewesen sein. Er flog ganz knapp an Euch vorüber.«

Sutherland fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Der Gedanke ist mir ebenfalls gekommen. Den miesen Mackays traue ich solch eine Schandtat durchaus zu.«

Sutherland hatte aufgrund seiner aggressiven Art recht viele Feinde. Nicht umsonst nannte man ihn den Roten Ritter, wohl des Blutes wegen, das er bereits vergossen hatte.

William, der sich über die Leiche ihres Vaters beugte, schüttelte den Kopf. »Nay, das war kein Versehen. Hier war eindeutig ein außerordentlich befähigter Schütze zugange, denn er hat aufgrund des Grabens gar nicht so nahe an die Burg herankommen können, sonst hätten wir uns den Burschen nämlich schnappen können. Der Pfeil war für meinen Vater vorgesehen gewesen. Gewiss waren es die elenden Gunns. Keiner weiß, dass wir heute hier sind. Wahrscheinlich hat einer dieser Schurken beobachtet, wie wir in diese Richtung abgezogen sind.« Er wirkte betroffen.

Also hatte einer vom Clan Gunn für den Tod seines Chieftains und dessen Söhne bitterliche Rache genommen. Der Clan war jetzt praktisch führungslos, bis sie einen Nachfolger gewählt hatten. Vielleicht gedachte der Schütze gar, dass ihm aufgrund seiner Tat die anderen Clansmitglieder hold sein würden, wenn der neue Chieftain gewählt wurde.

Mit Abscheu im Blick betrachtete Sutherland seinen kleinen Sohn in Seònaids Armen. »Es gibt nichts Schlimmeres als Feiglinge. Das ist so verweichlicht.«

»Das sehe ich nicht so«, sagte Seònaid, da sie diese Aussage nicht nur angesichts seines zarten Alters für unangebracht hielt. Offenbar vernahm er ihre Worte nicht mehr, denn er stürmte wieder hinaus.

Kurz schloss William, der noch immer neben der Leiche seines Vaters hockte, die Augen. Sein Gesicht war kalkweiß. So erschüttert hatte sie ihren Bruder noch nie gesehen. Einige Momente später öffnete er die Augen wieder.

Dann begegnete sein gequälter Blick dem Seònaids. »Bring das Kind oben in seinen Raum und begib dich dann in dein Gemach. Dort ist es sicherer«

Ihr Herz klopfte noch schneller vor Panik. »Du glaubst, sie schaffen es, hier einzudringen? Sutherland sagte doch, die Gegend wäre gesichert.«

»Aye, es stimmt, wir haben niemanden gesehen, doch haben weder der Burggraben noch die natürlichen Barrieren durch den River Thurso und den Devil’s Pool und auch sämtliche von Sutherlands Wachen nichts genutzt. Der Schütze ist weiter gekommen, als wir es je für möglich gehalten haben. Sutherland sagte immer, dieser Raum sei uneinnehmbar wegen der Lage der Burg. Wir können also nicht sicher sein, ob sich nicht noch jemand von ihnen hier herumtreibt. Du weißt, was passieren wird, sollten die Gunns eine unserer Frauen in ihre blutigen Fänge bekommen … Ganz besonders du als Tochter des Clanführers wärst gefährdet. Auf solch eine Gelegenheit, grausame Rache nehmen zu können, warten diese kriegstreibenden Barbaren schon seit Jahren.«

Seònaid schluckte entsetzt. Sie rechnete mit unvorstellbaren Grausamkeiten. Sollte eine ihrer Frauen in die Hände der Gunns fallen, so hätte sie nicht die geringste Gnade zu erwarten. Eine lange, blutige Geschichte verband sie mit dem verfeindeten Clan, die sie mit Grauen erfüllte, wenn sie nur daran dachte.

Vor vielen Jahren hatte ein Keith eine Frau der Gunns, der er in unerwiderter Leidenschaft zugetan gewesen war, entführt und eingesperrt. Diese Frau namens Helen Gunn, damals bekannt als die Schönheit von Braemore, verabscheute Dugald Keith und seine amourösen Avancen derart, dass sie sich eines Tages in ihrer Verzweiflung von Ackergill Tower hinabstürzte.

Nur schaudernd konnte Seònaid an jener Stelle vorbeigehen, an der einst Helens schöner Leib aufgeschlagen war. Der Sturz soll sie sofort getötet haben. Diese Tragödie hatte den Grundstein für all das Morden, die Tränen, die Verzweiflung und den unbändigen Hass zwischen den beiden Clans gelegt.

William schloss ihrem Vater die Augen und sprach ein leises Gebet für ihn, in das sie einstimmte, auch wenn ihr Glaube nicht allzu stark war. Momente wie diese sowie Hexenverbrennungen und religiöse Kriege brachten umso mehr Zweifel daran auf. Obwohl sie ihrem Vater nie nahegestanden hatte, traf sein Tod sie dennoch immens.

William erhob sich. »Ich muss jetzt zu den anderen. Verlasse auf keinen Fall das Gebäude, egal, was du von draußen auch hören magst. Keineswegs ist sicher, dass sich niemand draußen herumtreibt.«

Besorgt blickte sie ihrem Halbbruder nach, in der Angst, auch noch ihn zu verlieren. Der Geruch des Blutes, vermengt mit dem des verschütteten Ales, war so durchdringend, dass sie erneut gegen den Brechreiz ankämpfen musste. Ihre Sinne waren offenbar überreizt. Sie wagte es kaum, den erkaltenden Leib ihres Vaters anzusehen. Dieser Tag würde ihr wohl ewig im Gedächtnis eingebrannt bleiben und vermutlich nicht nur ihr. Vor allem das Kind tat ihr sehr leid.

Sie nahm den kleinen Iain Sutherland bei der Hand, ergriff Lìosas Arm und führte sie beide rasch aus dem Raum und die schmale Treppe hinauf. Am liebsten würde sie Dirlot Castle so schnell wie möglich verlassen, denn hier hatte sie sich bereits bei früheren Besuchen nicht wohl gefühlt, obwohl die Lage der Burg wirklich traumhaft war. Es lag wohl eher an Sutherland und der düsteren Atmosphäre, die er verbreitete. Sie hatte nie verstanden, wie ihr Vater sich diesen Mann als einen seiner besten Freunde hatte wählen können. Er war oft hierhergekommen.

Der erste Raum oben links im Gang hatte ihrem Vater gehört. Die wenigen Kammern waren alle winzig, da die Burg klein war. Sie fragte sich, wo das Gesinde nächtigte.

»Kommst du allein zurecht oder möchtest du heute Nacht lieber bei mir übernachten?«, fragte Seònaid die Verlobte ihres Vaters.

Lìosa schüttelte den Kopf, sodass ihre langen, blonden Locken flogen. »Nay, es wird schon gehen, ansonsten wird Sutherland mir ein anderes Gemach zuweisen.«

»Das würde er gewiss, wenn eines frei wäre. Dirlot Castle ist nicht allzu groß.« Es wunderte sie ohnehin, dass es so viele Gemächer gab. Von innen wirkte das Gebäude deutlich größer als von außen, aber dieser Eindruck konnte sich auch aus der erhöhten Lage ergeben.

»Ich komme schon zurecht. Mach dir um mich keine Sorgen«, sagte die einstige Verlobte ihres Vaters.

Besorgt sah Seònaid Lìosa nach, wie sie im Gemach verschwand, das sie einst mit dem Keith-Chieftain geteilt hatte. Sie hob den schluchzenden Iain hoch. Für sein Alter war er recht klein und zierlich. Er schlang seine Arme um sie und schmiegte seinen süßen, warmen Leib an sie. Irgendwann wünschte sie sich auch ein Kind, doch der passende Mann war noch in weiter Ferne. Im Moment hatte sie ganz andere Probleme.

Seònaid fragte das Kind, wo sich sein Raum befand, und brachte es in sein Bett. Endlich tauchte dessen Amme auf, doch der kleine Iain bestand darauf, dass Seònaid noch ein bisschen bei ihm blieb. So wartete sie, bis er sich beruhigt hatte und eingeschlafen war.

Nachdenklich betrachtete sie das Kind. Iains kleines Gesicht war gerötet, die Fäustchen ruhten daneben. Die blonden Wimpern ruhten nun auf den Pausbacken. Einem Mann von dem Rufe Sutherlands hätte sie so einen süßen Sohn nicht zugetraut.

Sie fragte sich, wer Iains Mutter war. Niemals hatte sie während ihrer Besuche mit ihrem Vater hier eine Frau erblickt, die diese Rolle ausfüllte. Gerüchten zufolge sollte er von einer der Mägde abstammen, die bei der Geburt des Kleinen verstorben war. Auch wenn sie Alexander Sutherland nicht mochte, musste sie ihm zugutehalten, dass er zu seinem unehelichen Kind stand und es ihm zumindest materiell an nichts mangelte.

Ob er allerdings auch sein Erbe werden würde? Solange er keine ehelichen Nachkommen hatte, erschien das möglich. Ansonsten würde das Kind benachteiligt werden, befürchtete sie. Jetzt ruhte er friedlich und schien im Moment keine Albträume zu haben. Es erschien ihr sicher, ihn der Amme zu überlassen.

Seònaid schlich sich aus dem Raum, um Iain nicht aufzuwecken. Als sie durch den Gang zurücklief, vernahm sie aus Lìosas Gemach leises Stöhnen und rhythmische Geräusche. Sie erschrak. Wurde die arme Frau etwa von einem der Gunns oder einem anderen Feind geschändet? Wie sollte sie ihr nur helfen?

Von den Kriegern war noch niemand zurückgekehrt, doch unten vor der Tür hielten einige Wachen die Stellung. Ob sie auch die wenigen Fenster gesichert hatten?

Seònaid überlegte, ob sie schnell hinuntereilen sollte, um sich von ihnen Hilfe zu erbitten. Doch bis dahin war der Mann vermutlich schon fertig und die arme Frau womöglich von ihm geschwängert. Der Schaden war dann nicht mehr umkehrbar.

Sie nahm ihren Mut zusammen und öffnete die Tür, denn nur ein Überraschungsangriff versprach Erfolg. Sie wusste, dass ihr Vater stets einen Stuhl nahe der Tür stehen hatte zum Ablegen seiner Kleidung, welchen sie dem Eindringling über den Schädel schlagen konnte.

Sie erstarrte ob des Bildes, das sich ihr bot. Zuerst sah sie Alexander Sutherlands nackten, durchaus wohlgeformten Hintern und noch mehr von ihm, was sie eigentlich gar nicht erblicken wollte, wie etwa seine wackelnden Hoden. Seònaid war erschüttert. Dieser elende Vergewaltiger!

Sie wollte nach dem Stuhl greifen, als ihr auffiel, dass Lìosa offenbar genoss, was der Rote Ritter mit ihr tat. Ihre Augen waren geschlossen, das lustverzerrte Gesicht war leicht gerötet, die feuchten Lippen standen offen. Ein Stöhnen entrang sich ihrer Kehle.

Mit allem hätte sie gerechnet, nur damit nicht. Hier war ein strategischer Rückzug angebracht, bevor man sie noch entdeckte, und das konnte sie sich wirklich ersparen. Es war so schon peinlich genug. Rasch verließ sie den Raum und schloss die Tür so leise wie möglich hinter sich.

Seònaid lehnte sich kraftlos gegen die Wand. Viel Platz war in dem winzigen Flur nicht. Ihr Herz raste, Tränen traten in ihre Augen. Lìosa hatte die Trauer über ihren Vater offenbar erstaunlich schnell überwunden, und Sutherland war angeblich sein Freund gewesen. Sie verspürte Enttäuschung und Verwirrung.

»Geht es Euch gut?«, vernahm sie plötzlich eine besorgt klingende tiefe Stimme unweit von sich.

Seònaid erschrak, da sie nicht bemerkt hatte, wie der Mann sich ihr genähert hatte. Sie sollte künftig wirklich achtsamer sein. Blinzelnd erkannte sie ausgerechnet den schwarzhaarigen Hünen Ailig Dubh, Sutherlands rechte Hand. Der hatte ihr gerade noch gefehlt. Während einem ihrer früheren Besuche zusammen mit ihrem Vater auf Dirlot Castle hatte er unmissverständlich sein Interesse an ihr bekundet, indem er sie in eine dunkle Ecke gedrängt und versucht hatte, sie zu betatschen. Nur durch eine List hatte sie ihm entkommen können. Ihr Vater hatte ihr kein Wort geglaubt und nur gesagt, sie solle sich halt sittsam verhalten, dann würde sie auch keiner belästigen. Jetzt ohne ihren Bruder hatte sie gar keinen Schutz.

»Es geht schon«, sagte sie und versuchte, an ihm vorbei zu entwischen, doch er war schneller.

Er ergriff ihren Arm. »Ich bringe Euch zu Eurem Raum.«

Er würde sie hoffentlich nicht dort belästigen? Ob er mitbekommen hatte, was sie gesehen hatte?

Sie versuchte, ihm ihren Arm zu entwinden, doch er war stärker als sie. »Das ist nicht nötig. Bitte lasst mich los.«

Zu ihrer Überraschung gab er ihren Arm tatsächlich frei.

»Doch, es ist nötig. Ihr solltet Euch nicht allein hier im Gang aufhalten«, sagte Ailig Dubh.

»Seid Ihr etwa besorgt um mich? Ich glaube kaum, dass sich ein Feind hier oben aufhält«, sagte sie.

»Aye, ob Ihr es mir glaubt oder nicht, ich bin tatsächlich besorgt um Euch. Ihr habt heute viel mitgemacht. Wenn ich etwas für Euch tun kann, so lasst es mich wissen.« Es klang ehrlich. Auch machte er ihr diesmal überraschenderweise keine Avancen, sondern verhielt sich sehr zuvorkommend und höflich. Das erschien ihr höchst verdächtig. Gewiss führte er etwas im Schilde.

Er geleitete sie den Gang entlang bis zu ihrer Kammer, die er zu ihrem Entsetzen betrat und durchsuchte. Sie hoffte nur, er würde baldmöglichst wieder gehen.

»Ich glaube zwar nicht, dass jemand an unserer Verteidigung vorbeigekommen ist, doch sollt Ihr Euch hier sicher fühlen«, sagte Ailig Dubh.

Sicher fühlen würde sie sich hier auf der Burg niemals wieder, schon gar nicht, solange er sich mit ihr allein in diesem Raum aufhielt.

»Mindestens einer ist daran vorbeigekommen«, sagte sie schnippisch. Schließlich oblag Ailig Dubh die Sicherheit der Burg, und wenn diese wirklich sicher wäre, würde ihr Vater noch leben. Erneut begannen ihre Augen zu tränen. Mühsam kämpfte sie die ungeweinten Tränen zurück. Gerade vor ihm wollte sie nicht weinen.

Ernst sah er sie an. »Worüber ich untröstlich bin, das müsst Ihr mir glauben. Ihr habt mein aufrichtiges Beileid. Die nachlässigen Wachen werden ihre Strafe bekommen, dessen könnt Ihr Euch gewiss sein, auch wenn ich weiß, dass das nichts ungeschehen machen kann.«

»Nay, das kann es wohl nicht. Wäre es denn möglich, dass einer von den Gunns oder andere Schurken hier eindringen?« Sie hasste es, dass ihre Stimme zitterte, aber sie hatte einfach zu viel mitgemacht in den letzten Stunden. Erst die Angst um ihren Vater und Bruder wegen der Schlacht vor der Kapelle St. Tayre und jetzt das.

»Das ist eher unwahrscheinlich, denn unsere Burg ist gut gesichert, vor allem der hintere Teil, worin sich Eure Kammer befindet. Ich will nicht, dass Ihr unnötige Angst aussteht.«

Ihr entging nicht, dass er es nicht völlig ausschließen konnte, sondern nur für unwahrscheinlich hielt. Vermutlich war das ehrlicher, als etwas zu behaupten, was er gar nicht garantieren konnte.

»Danke«, sagte sie knapp.

Zu ihrer Überraschung ging Ailig Dubh zur Tür, ohne eine weitere Aufforderung und ohne das Alleinsein mit ihr auszunutzen.

Er wandte sich zu ihr um und sah sie besorgt an. »Braucht Ihr noch etwas?«

»Einen Whisky hätte ich gerne.« Ja, den könnte sie jetzt tatsächlich gebrauchen. Er würde sie wärmen, beruhigen und ihr somit leichter zum Schlafe verhelfen. Es würde ihr auch nichts bringen, die halbe Nacht wach zu bleiben. Sie hatte schon in der vergangenen Nacht schlecht geschlafen. Irgendwann würde sie vor Erschöpfung einschlafen und dann womöglich Eindringlinge überhören.

»Der wird Euch baldmöglichst gebracht werden. Ich wünsche Euch trotz allem eine geruhsame Nacht. Und noch einmal: Es tut mir sehr leid um Euren Verlust. Euer Vater war ein großer Clanführer und ein guter Freund meines Herrn. Er ist ein Verlust für uns alle.«

»Danke.«

Er wandte sich um, ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Völlig perplex sah sie ihm nach. Ailig Dubh, dieser raue, ruppige Kerl hatte ihr gegenüber Fürsorglichkeit und Mitgefühl gezeigt. Es geschahen noch Zeichen und Wunder. Offenbar war selbst ihm dieser tragische Anlass nahegegangen.