Goethes Wahlverwandtschaften

[1919–22]

Jula Cohn gewidmet

Inhaltsverzeichnis
I
II
III

Kleine Prosa.

Inhaltsverzeichnis
Denkbilder
Satiren, Polemiken, Glossen
Berichte
Illustrierte Aufsätze
Hörmodelle
Das kalte Herz
Rundfunkgeschichten für Kinder
Geschichten und Novellistisches
Geschichten und Rätsel
Sonette
Miszellen

Rundfunkgeschichten für Kinder

Inhaltsverzeichnis
Berliner Dialekt
Straßenhandel und Markt in Alt- und in Neuberlin
Berliner Puppentheater
Das dämonische Berlin
Ein Berliner Straßenjunge
Berliner Spielzeugwanderung I
Berliner Spielzeugwanderung II
Borsig
Die Mietskaserne
Theodor Hosemann
Besuch im Messingwerk
〈Fontanes »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«〉
Hexenprozesse
Räuberbanden im alten Deutschland
Die Zigeuner
Die Bastille, das alte französische Staatsgefängnis
Caspar Hauser
Dr. Faust
Cagliostro
Briefmarkenschwindel
Die Bootleggers
Neapel
Untergang von Herculanum und Pompeji
Erdbeben von Lissabon
Theaterbrand von Kanton
Die Eisenbahnkatastrophe vom Firth of Tay
Die Mississippi-Überschwemmung 1927
Wahre Geschichten von Hunden

Autobiographische Schriften.

Inhaltsverzeichnis
Lebensläufe
Aufzeichnungen 1906–1932
Berliner Chronik

Ursprung des deutschen Trauerspiels

Damals wie heute meiner Frau gewidmet

Inhaltsverzeichnis
Erkenntniskritische Vorrede
Trauerspiel und Tragödie
Trauerspiel und Tragödie. (Zweiter Teil)
Trauerspiel und Tragödie. (Dritter Teil)
Allegorie und Trauerspiel. (Erster Teil)
Allegorie und Trauerspiel. (Zweiter Teil)
Allegorie und Trauerspiel. (Dritter Teil)

Trauerspiel und Tragödie. (Dritter Teil)

Inhaltsverzeichnis

Ich sitz/ ich lieg/ ich steh/ ist alles in Gedancken.

Ich finde nirgends Ruh/ muß selber mit mir zancken/

Andreas Tscherning: Melancholey Redet selber

Die großen deutschen Dramatiker des Barock waren Lutheraner. Während in den Jahrzehnten der gegenreformatorischen Restauration der Katholizismus mit der gesammelten Macht seiner Disziplin das profane Leben durchdrang, hatte von jeher das Luthertum antinomisch zum Alltag gestanden. Der rigorosen Sittlichkeit der bürgerlichen Lebensführung, die es lehrte, stand seine Abkehr von den ›guten Werken‹ gegenüber. Indem es die besondere, geistliche Wunderwirkung diesen absprach, die Seele auf die Gnade des Glaubens verwies und weltlich-staatlichen Bereich zur Probstatt eines religiös nur mittelbaren, zum Ausweis bürgerlicher Tugenden bestimmten Lebens machte, hat es im Volke zwar den strengen Pflichtgehorsam angesiedelt, in seinen Großen aber den Trübsinn. Schon bei Luther selbst, dessen letzte zwei Lebensjahrzehnte von steigender Seelenbeladenheit erfüllt sind, meldet sich ein Rückschlag auf den Sturm gegen das Werk. Ihn freilich trug noch der ›Glaube‹ darüber hin, aber der verhinderte nicht, daß das Leben schal ward. »Was ist der Mensch, | Wenn seiner Zeit Gewinn, sein höchstes Gut | Nur Schlaf und Essen ist? Ein Vieh, nichts weiter, | Gewiß, der uns mit solcher Denkkraft schuf | Voraus zu schaun und rückwärts, gab uns nicht | Die Fähigkeit und göttliche Vernunft, | Um ungebraucht in uns zu schimmeln« – dies, Hamlets, Wort ist wittenbergische Philosophie und ist: Aufruhr dagegen. Ein Stück germanischen Heidentums und finsteren Glaubens an die Schicksalsverfallenheit sprach sich in jener überladnen Reaktion aus, die zuletzt das gute Werk schlechthin, nicht seinen Verdienst- und Bußcharakter allein, aus dem Felde schlug. Jeder Wert war den menschlichen Handlungen genommen. Etwas Neues entstand: eine leere Welt. Der Calvinismus – wie düster er war – begriff diese Unmöglichkeit und korrigierte sie in etwas. Der lutherische Glaube sah mit Argwohn auf diese Verflachung und widersetzte sich ihr. Welchen Sinn hatte das Menschenleben, wenn nicht einmal, wie im Calvinismus, der Glaube bewährt werden mußte? Wenn er einerseits nackt, absolut, wirksam war, andererseits die Menschenhandlungen sich nicht unterschieden? Man hatte keine Antwort, es sei denn in der Moral der kleinen Leute – ›Treue im Kleinen‹, ›rechtschaffen leben‹ – die damals heranwuchs und der das taedium vitae der reichen Naturen sich gegenüberstellte. Denn die tiefer Schürfenden sahen sich in das Dasein als in ein Trümmerfeld halber, unechter Handlungen hineingestellt. Dagegen schlug das Leben selbst aus. Tief empfindet es, daß es dazu nicht da ist, um durch den Glauben bloß entwertet zu werden. Tief erfaßt es ein Grauen bei dem Gedanken, so könne sich das ganze Dasein abspielen. Tief entsetzt es sich vor dem Gedanken an Tod. Trauer ist die Gesinnung, in der das Gefühl die entleerte Welt maskenhaft neubelebt, um ein rätselhaftes Genügen an ihrem Anblick zu haben. Jedes Gefühl ist gebunden an einen apriorischen Gegenstand und dessen Darstellung ist seine Phänomenologie. Die Theorie der Trauer, wie sie als Pendant zu der von der Tragödie absehbar sich zeigte, ist demnach nur in der Beschreibung jener Welt, die unterm Blick des Melancholischen sich auftut, zu entrollen. Denn die Gefühle, wie vage immer sie der Selbstwahrnehmung scheinen mögen, erwidern als motorisches Gebaren einem gegenständlichen Aufbau der Welt. Wenn für das Trauerspiel im Herzen der Trauer die Gesetze, entfaltet teils, teils unentfaltet, sich finden, so ist es weder der Gefühlszustand des Dichters noch des Publikums, dem ihre Darstellung sich widmet, vielmehr ein vom empirischen Subjekt gelöstes und innig an die Fülle eines Gegenstands gebundenes Fühlen. Eine motorische Attitüde, die in der Hierarchie der Intentionen ihren wohlbestimmten Ort hat und Gefühl nur darum heißt, weil es nicht der höchste ist. Bestimmt wird er durch die erstaunliche Beharrlichkeit der Intention, die unter den Gefühlen außer diesem vielleicht – und das nicht spielweis – nur der Liebe eignet. Denn während im Bereiche der Affektivität nicht selten Anziehung mit der Entfremdung in dem Verhältnis einer Intention zum Gegenstande alterniert, ist Trauer zur besondern Steigerung, kontinuierlichen Vertiefung ihrer Intention befähigt. Tiefsinn eignet vor allem dem Traurigen. Auf der Straße zum Gegenstande – nein: auf der Bahn im Gegenstande selbst – progrediert diese Intention so langsam und feierlich wie die Aufzüge der Machthaber sich bewegen. Der leidenschaftliche Anteil am Prunke der Haupt- und Staatsaktionen, ein Ausbruch aus den Schranken frommer Häuslichkeit zum einen Teil, entsprang zu einem andern jener Neigung, mit welcher Tiefsinn sich zur Gravität gezogen fühlt. In ihr erkennt er seinen eigenen Rhythmus wieder. Die Verwandtschaft von Trauer und Ostentation, wie sie so großartig von den Sprachbildungen des Barock belegt wird, hat hierin eine ihrer Wurzeln; nicht minder die Versunkenheit, der diese großen Konstellationen der Weltchronik als ein Spiel vor Augen stehen, das Anschaun zwar um der Bedeutung willen lohnen mag, die zuverlässig sich darin enträtseln läßt, dessen unabsehbare Wiederholung aber die Lebensunlust melancholischen Geblütes zur trostlosen Herrschaft befördert. Selbst dem Erbe der Renaissance gewann das Zeitalter die Stoffe ab, die den kontemplativen Starrkrampf vertiefen mußten. Von der stoischen ἀπάϑεια zur Trauer ist es nur ein Schritt, möglich freilich erst im Raume des Christentums. Pseudoantik wie alles Antikische des Barock erweist sich auch seine Stoik. Für sie fällt eine Rezeption des rationalen Pessimismus viel weniger ins Gewicht als die Verödung, der die stoische Praxis den Menschen entgegenführt. Die Ertötung der Affekte, mit der die Lebenswellen verebben, aus denen sie sich im Leibe erheben, vermag die Distanz von der Umwelt bis zur Entfremdung vom eigenen Körper zu führen. Indem man dies Symptom der Depersonalisation als schweren Grad des Traurigseins erfaßte, trat der Begriff von dieser pathologischen Verfassung, in welcher jedes unscheinbarste Ding, weil die natürliche und schaffende Beziehung zu ihm fehlt, als Chiffer einer rätselhaften Weisheit auftritt, in einen unvergleichlich fruchtbaren Zusammenhang. Ihm ist gemäß, daß in dem Umkreis der »Melencolia« Albrecht Dürers die Gerätschaften des tätigen Lebens am Boden ungenutzt, als Gegenstand des Grübelns liegen. Dies Blatt antizipiert in vielem das Barock. Das Wissen des Grüblers und das Forschen des Gelehrten haben sich auf ihm so innig wie in den Menschen des Barock verschmolzen. Die Renaissance durchforscht den Weltraum, das Barock die Bibliotheken. Sein Sinnen geht in die Buchform ein. »Kein größeres Buch weiß die Welt als sich selbst; dessen fürnehmstes Theil aber ist der Mensch, welchem Gott anstatt eines schönen Titulbildes sein unvergleichliches Ebenbild hat vorgedruckt, überdas ihn zu einem Auszuge, Kern und Edelgesteine der übrigen Theile solches großen Weltbuches gemacht.« Das ›Buch der Natur‹ und das ›Buch der Zeiten‹ sind Gegenstände des barocken Sinnens. In ihnen hat es das Behauste und Gedeckte. Aber es steckt darinnen auch die bürgerliche Befangenheit des kaiserlich gekrönten Poeten, der längst nicht mehr die Würde Petrarcas hatte und sich über die Ergötzungen seiner ›Nebenstunden‹ vornehm erhebt. Nicht zuletzt galt das Buch als immerwährendes Monument auf dem schriftreichen Naturschauplatze. Ayrers Verleger hat in einer Vorrede zu den Werken des Dichters, die merkwürdig durch die Betonung der Melancholie als Stimmung seiner Zeit ist, diese Bedeutung des Buches, in der er ein Arcanum gegen die Anfechtungen des Trübsinns empfehlen will, ausgesprochen. »In bedenckung dessen, das die Pyramides, Seulen und Büldnussen allerhand materien mit der zeit schadhafft oder durch gewalt zerbrochen werden oder wol gar verfallen … das wol gantze Stadt versuncken, vntergangen vnd mit wasser bedeckt seien, da hergegen die Schrifften vnd Bücher dergleichen vntergang befreyet, dann was jrgendt in einem Landt oder Ort ab vnd vntergehet, das findet man in vielen andern vnd vnzehlichen orten vnschwer wider, also das, Menschlicher weiß davon zu reden, nichts Tauerhaffters vnd vnsterblichers ist, als eben die Bücher.« Der gleichen Mischung von Behagen und Kontemplation gehört es zu, daß »barocker Nationalismus« »in Verbindung mit politischer Aktion … ebensowenig getreten, als sich barocke Konventionsfeindschaft bis zum revolutionären Willen des Sturm und Drang oder dem romantischen Kriege gegen das Philisterium von Staat und öffentlichem Leben verdichten sollte«. Die eitle Geschäftigkeit des Intriganten galt als das würdelose Gegenbild der leidenschaftlichen Kontemplation, der einzig und allein die Gabe zugebilligt wurde, den Hochgestellten der satanischen Verstrickung der Geschichte, in welcher das Barock nur Politik sah, zu entbinden. Und doch: auch die Versenkung führte allzu leicht ins Bodenlose. Das lehrt die Theorie der melancholischen Veranlagung.

In diesem imposanten Gute, das dem Barock die Renaissance als Erbstück übergab, an dem fast zwei Jahrtausende gemodelt hatten, besitzt die Nachwelt einen geraderen Kommentar des Trauerspiels als die Poetiken ihn bieten konnten. Harmonisch ordnen sich um dies die philosophischen Gedanken und die politischen Überzeugungen an, welche der Darstellung der Geschichte als eines Trauerspiels zugrunde liegen. Der Fürst ist das Paradigma des Melancholischen. Nichts lehrt so drastisch die Gebrechlichkeit der Kreatur, als daß selbst er ihr unterworfen ist. Es ist eine der gewaltigsten Stellen der »Pensées«, an welcher Pascal mit dieser Überlegung dem Fühlen seines Zeitalters die Stimme leiht. »L’Ame ne trouve rien en elle qui la contente. Elle n’y voit rien qui ne l’afflige quand elle y pense. C’est ce qui la contraint de se répandre au dehors, et de chercher dans l’application aux choses extérieures, à perdre le souvenir de son état véritable. Sa joie consiste dans cet oubli; et il suffit, pour la rendre misérable, de l’obliger de se voir et d’être avec soi.« »La dignité royale n’est-elle pas assez grande d’elle-même pour rendre celui qui la possède heureux par la seule vue de ce qu’il est? Faudra-t-il encore le divertir de cette pensée comme les gens du commun? Je vois bien que c’est rendre un homme heureux que de le détourner de la vue de ses misères domestiques, pour remplir toute sa pensée du soin de bien danser. Mais en sera-t-il de même d’un Roi? Et sera-t-il plus heureux en s’attachant à ces vains amusements qu’à la vue de sa grandeur? Quel objet plus satisfaisant pourrait-on donner à son esprit? Ne serait-ce pas faire tort à sa joie d’occuper son âme à penser à ajuster ses pas à la cadence d’un air, ou à placer adroitement une balle, au lieu de le laisser jouir en repos de la contemplation de la gloire majestueuse qui l’environne? Qu’on en fasse l’épreuve; qu’on laisse un Roi tout seul, sans aucune satisfaction des sens, sans aucun soin dans l’esprit, sans compagnie, penser à soi tout à loisir, et l’on verra qu’un Roi qui se voit est un homme plein de misères, et qu’il les ressent comme un autre. Aussi on évite cela soigneusement et il ne manque jamais d’y avoir auprès des personnes des Rois un grand nombre de gens qui veillent à faire succéder le divertissement aux affaires, et qui observent tout le temps de leur loisir pour leur fournir des plaisirs et des jeux, en sorte qu’il n’y ait point de vide. C’est-à-dire qu’ils sont environnés de personnes qui ont un soin merveilleux de prendre garde que le Roi ne soit seul et en état de penser à soi, sachant qu’il sera malheureux, tout Roi qu’il est, s’il y pense.« Dem gibt das deutsche Trauerspiel vielfältig Echo. Nicht so bald ist es da und es tönt schon aus ihm zurück. Leo Armenius redet vom Fürsten so: »Er zagt vor seinem schwerdt. Wenn er zu tische geht, | Wird der gemischte wein, der in crystalle steht, | In gall und gifft verkehrt. Alsbald der tag erblichen, | Kommt die beschwärzte schaar, das heer der angst geschlichen, | Und wacht in seinem bett. Er kan in helffenbein, | In purpur und scharlat niemahl so ruhig seyn | Als die, so ihren leib vertraun der harten erden, | Mag ja der kurtze schlaff ihm noch zu theile werden, | So fällt ihn Morpheus an und mahlt ihm in der nacht | Durch graue bilder vor, was er bey lichte dacht, | Und schreckt ihn bald mit blut, bald mit gestürztem throne, | Mit brandt, mit ach und tod und hingeraubter crone.« Und epigrammatisch: »Wo scepter, da ist furcht!« Oder: »Die traurige Melankoley wohnt mehrentheiles in Pallästen.« Diese Aussagen betreffen so sehr die innere Verfassung des Souveräns als seine äußere Lage und sind mit Grund an Pascal anzuschließen. Denn mit dem Melancholischen ist es »zu Anfang … als mit Einem, den der tolle Hund gebissen hat: es kommen ihm erschreckliche Träume, er fürchtet sich ohn’ Ursach«. So Aegidius Albertinus, der münchner Erbauungsschriftsteller, in »Lucifers Königreich und Seelengejäidt«, einem Werke, das für die populäre Auffassung charakteristische Belege enthält, gerade weil es von neuen Spekulationen unberührt geblieben war. Ebendort heißt es denn auch: »An den Herrnhöfen ist es gemeinklich Kalt/ vnnd allzeit Winter/ dann die Sonn der Gerechtigkeit ist weit von jhnen … derowegen Zittern die Hofleut auß lauter Kälte/ Forcht vnd Trawrigkeit.« Sie sind vom Schlage des gebrandmarkten Höflings, wie Guevara, den Albertinus übersetzte, ihn geschildert hat, und gedenkt man in ihm des Intriganten, vergegenwärtigt man den Tyrannen, so ist das Bild des Hofs nicht weit verschieden von dem Bild der Hölle, welche ja die Stätte der ewigen Traurigkeit genannt wird. Auch ist der »Trauergeist«, der bei Harsdörffer begegnet, mutmaßlich niemand anders als der Teufel. Derselben Melancholie, welche mit den Schauern der Angst ihre Herrschaft über den Menschen antritt, schreiben die Gelehrten jene Erscheinungen zu, unter denen das Ende der Despoten obligat sich vollzieht. Daß schwere Fälle in die Tobsucht münden, gilt als sicher. Und der Tyrann bleibt bis in seinen Untergang Modell. »Also vergehen ihm bei lebendigem Leibe die Sinnen, denn er siehet und höret nicht mehr die Welt, so um ihn her lebet und webet, sondern allein die Lügen, so der Teufel ihm ins Gehirn malet und in die Ohren bläst, bis er am letzten Ende anhebt zu rasen und in Verzweiflung vergeht.« So nach Aegidius Albertinus der Ausgang des Melancholikers. Charakteristisch und befremdend genug begegnet in der »Sophonisbe« der Versuch, die »Eifersucht« als allegorische Figur so zu bestreiten, daß ihr Gebären nach dem Bild des wahnwitzigen Melancholikers gezeichnet wird. Mutet nämlich die allegorische Refutation der Eifersucht an dieser Stelle sonderbar schon darum an, weil die des Syphax auf Masinissa mehr als begründet ist, so ist es äußerst auffallend, daß zunächst die Narrheit der Eifersucht als Sinnestäuschung charakterisiert wird – indem sie Käfer, Grashüpfer, Flöhe, Schatten usw. für Nebenbuhler hält –, dann aber die Eifersucht, den Aufklärungen der Vernunft zum Trotz, jene Geschöpfe in der Erinnerung an Mythen als verwandelte göttliche Nebenbuhler beargwöhnt. Das Ganze ist also nicht die Charakteristik einer Leidenschaft, sondern einer schweren Geistesstörung. Albertinus rät es förmlich an, die Melancholiker in Ketten zu schließen, »damit auß solchen Fantasten keine Wütrich/ Tyrannen vnd der Jugendt oder Weibermörder gebrütet werden. In Ketten erscheint denn auch Hunolds Nebucadnezar.

Die Kodifikation dieses Symptomkomplexes geht ins hohe Mittelalter zurück, und die Form, welche im XII. Jahrhundert die Ärzteschule von Salerno in ihrem Haupte Constantinus Africanus der Temperamentenlehre gegeben hat, ist bis zur Renaissance in Kraft geblieben. Ihr zufolge gilt der Melancholische als »neidisch, traurig, habgierig, geizig, treulos, furchtsam und lehmfarben«, der humor melancholicus als die »unedelst complex«. Die Ursache dieser Erscheinungen fand die Humoralpathologie im Überfluß des trockenen und kalten Elements im Menschen. Als dieses Element galt die schwarze Galle – bilis innaturalis oder atra im Gegensatz zur bilis naturalis oder candida –, wie das feuchte und warme – sanguinische – Temperament im Blute, das feuchte und kalte – phlegmatische – im Wasser und das trockene und warme – cholerische – in der gelben Galle gegründet gedacht wurde. Des weitern war nach dieser Theorie die Milz von ausschlaggebender Bedeutung für die Bildung der unheilvollen schwarzen Galle. Das in sie hinabfließende und in ihr überhandnehmende ›dicke und dürre‹ Blut mindert das Lachen des Menschen und ruft die Hypochondrie hervor. Die physiologische Herleitung der Melancholie – »Oder ists nur phantasey, die den müden geist betrübet, | Welcher, weil er in dem cörper, seinen eignen kummer liebet?« heißt es bei Gryphius – mußte für das Barock, dem das Elend des Menschentums in seinem kreatürlichen Stande so genau vor Augen stand, höchst eindrucksvoll sein. Wenn aus den Tiefen des kreatürlichen Bereiches, an das die Spekulation des Zeitalters mit den Banden der Kirche selber sich gefesselt sah, die Melancholie aufsteigt, so war ihre Allmacht erklärt. In der Tat ist sie unter den kontemplativen Intentionen die eigentlich kreatürliche und von jeher hat man bemerkt, daß ihre Kraft im Blick des Hundes nicht geringer sein muß als in der Haltung des grübelnden Genius. »Gnädiger Herr, die Traurigkeit ist zwar nicht für Tiere, sondern für Menschen gemacht; allein wenn die Menschen ihr über alles Maß nachhängen, so werden sie zu Tieren«, mit diesen Worten wendet sich Sancho an Don Quichote. Theologisch gewendet, findet sich – und schwerlich als Ergebnis eigner Deduktionen – der gleiche Gedanke bei Paracelsus. »Die Fröligkeit vnn die Traurigkeit/ ist auch geboren von Adam vnn Eua. Die Fröligkeit ist in Eua gelegen/ vnn die Traurigkeit in Adam … So ein frölichs Mensch/ als Eua gewesen ist/ wirdt nimmermehr geboren: Deßgleichen als traurig als Adam gewesen ist/ wirdt weiter kein Mensch geboren. Dann die zwo Materien Adae vnd Euae haben sich vermischt/ daß die Traurigkeit temperiert ist worden vonn der Fröligkeit/ vnnd die Fröligkeit deßgleichen von der Traurigkeit … Der Zorn/ Tyranney/ vnnd die Wuetend Eigenschafft/ deßgleichen die Mildte/ Tugentreiche / vnnd Bescheidenheit/ ist auch von ihn beyden hie: daß Erste von Eua, das Ander von Adamo, und durch Vermischung eingetheilt inn alle Proles.« Adam, als Erstgeborner reines Geschöpf, hat die kreatürliche Traurigkeit, Eva, geschaffen ihn zu erheitern, hat die Fröhlichkeit. Die konventionelle Verbindung von Melancholie und Raserei ist nicht beobachtet; Eva mußte als Anstifterin des Sündenfalles bezeichnet werden. Ursprünglich ist freilich diese trübe Auffassung der Melancholie nicht. Vielmehr ist sie in der Antike dialektisch gesehen worden. Unter dem Begriffe der Melancholie bindet eine kanonische Aristotelesstelle die Genialität an den Wahnsinn. Mehr als zwei Jahrtausende lang hat die Symptomenlehre der Melancholie, wie sie im xxx. Kapitel der »Problemata« entwickelt ist, gewirkt. Hercules Aegyptiacus ist der Prototyp des vor seinem Zusammenbruch im Wahnsinn zu den höchsten Taten beflügelten Ingeniums. »Die Gegensätze der intensivsten, geistigen Tätigkeit und ihres tiefsten Verfalles« werden in solcher Nachbarschaft mit immer gleich starkem Grauen den Betrachter an sich reißen. Es kommt hinzu, daß melancholische Genialität besonders im Divinatorischen sich zu bekunden pflegt. Antik – der Aristotelischen Abhandlung »De divinatione somnium« entlehnt – ist die Anschauung, daß Melancholie das seherische Vermögen begünstige. Und dieser unverdrängte Rest antiker Theoreme kommt in der mittelalterlichen Überlieferung von den just Melancholischen beschiedenen Seherträumen an den Tag. Auch im XVII. Jahrhundert begegnen solche, freilich immer wieder ins Düstere gewandten Charakteristiken: »Allgemeine Traurigkeit ist eine Wahrsagerin alles zukünftigen Unheils.« Sowie mit größtem Nachdruck Tschernings schönes Gedicht »Melancholey Redet selber«: »Ich Mutter schweren bluts/ ich faule Last der Erden| Wil sagen/ was ich bin/ und was durch mich kan werden. | Ich bin die schwartze Gall/ ’nechst im Latein gehört/ | Im Deutschen aber nun/ und keines doch gelehrt. | Ich kan durch wahnwitz fast so gute Verse schreiben/ | Als einer der sich last den weisen Föbus treiben/ | Den Vater aller Kunst. Ich fürchte nur allein | Es möchte bey der Welt der Argwohn von mir seyn/ | Als ob vom Höllengeist ich etwas wolt’ ergründen/| Sonst könt’ ich vor der Zeit/ was noch nicht ist/ verkünden/| Indessen bleib ich doch stets eine Poetinn/| Besinge meinen fall/ und was ich selber bin. | Und diesen Ruhm hat mir mein edles Blut geleget | Und Himmelischer Geist/ wann der sich in mir reget/| Entzünd ich als ein Gott die Hertzen schleunig an/| Da gehn sie ausser sich/ und suchen eine Bahn | Die mehr als Weltlich ist. Hat jemand was gesehen/| Von der Sibyllen Hand so ists durch mich geschehen.« Die Langlebigkeit dieses gewiß nicht verächtlichen Schemas tieferer anthropologischer Analysen ist erstaunlich. Noch Kant malte das Bild des Melancholikers mit den Farben, in denen es bei älteren Theoretikern erscheint. »Rachbegierde … Eingebungen, Erscheinungen, Anfechtungen … bedeutende Träume, Ahndungen und Wunderzeichen« sprechen die »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen« ihm zu.

Wie in der Schule von Salerno antike Humoralpathologie vermittelt durch die Wissenschaft Arabiens wiederauflebt, so war Arabien auch der Konservator der anderen hellenistischen Wissenschaft, aus der die Lehre vom Melancholiker sich nährte: der Astrologie. Als Hauptquelle mittelalterlicher Sternweisheit hat man die Astronomie des Abû Ma sar, die ihrerseits von spätantiken abhängt, aufgewiesen. Die Theorie der Melancholie steht in genauem Zusammenhang mit der Lehre von den Gestirneinflüssen. Und unter ihnen konnte nur der unheilvollste, jener des Saturn, der melancholischen Gemütsart vorgesetzt sein. So offenkundig in der Theorie des melancholischen Temperamentes das astrologische und medizinische System geschieden bleiben – so wollte Paracelsus aus dem letzteren die Melancholie durchaus und ganz ausschließlich in das erste weisen –, so offenkundig die harmonisierenden Spekulationen, die man aus beiden ausgesponnen hat, zufällig in bezug auf den empirischen Charakter scheinen müssen, desto erstaunlicher, ja schwerer erklärlich ist die Fülle anthropologischer Einsichten, in welche sie mündet. Entlegene Einzelheiten wie die Neigung des Melancholischen zu weiten Reisen tauchen auf: von daher Meer am Horizont der Dürerschen »Melencolia«; aber auch der fanatische Exotismus Lohensteinscher Dramen, die Lust des Zeitalters an Reisebeschreibungen. Hier ist die astronomische Deduktion dunkel. Anders wenn die Erdferne und die damit gegebene lange Umlaufszeit des Planeten nicht mehr im bösen Sinne, dem die Ärzte von Salerno folgen, vielmehr mit einem Hinweis auf die göttliche Vernunft, die dem bedrohlichen Gestirn den fernsten Platz verordnet, in einem segensreichen aufgefaßt und andererseits der Tiefsinn des Betrübten aus Saturn begriffen wird, der, »als höchster und dem täglichen Leben fernstehender Planet, als der Urheber jeder tiefen Kontemplation die Seele von Äußerlichkeiten ins Innere ruft, sie immer höher steigen läßt und schließlich mit dem höchsten Wissen und prophetischen Gaben beschenkt«. In Umdeutungen dieser Art, wie sie der Wandlung jener Lehren ihren faszinierenden Charakter geben, bekundet sich ein dialektischer Zug der Saturnvorstellung, der aufs erstaunlichste der Dialektik des griechischen Melancholiebegriffs sich zuordnet. Diese lebendigste Funktion des Saturnbildes aufgedeckt zu haben, darin beruht wohl die Vollendung, welche Panofsky und Saxl in ihrer schönen Studie über »Dürers Melencolia I« den Entdeckungen ihres außerordentlichen Vorbildes, den Studien Giehlows über »Dürers Melencolia I und den maximilianischen Humanistenkreis« gegeben haben. So heißt es denn in der jüngeren Schrift: »Diese ›Extremitas‹ nun, die die Melancholie den anderen drei ›Temperamenten‹ gegenüber für alle folgenden Jahrhunderte so bedeutungsvoll und problematisch, so beneidenswert und unheimlich gemacht hat … – sie begründet auch die tiefste und entscheidendste Entsprechung zwischen der Melancholie und dem Saturn … Wie die Melancholie, so verleiht auch der Saturn, dieser Dämon der Gegensätze, der Seele auf der einen Seite die Trägheit und den Stumpfsinn, auf der andern die Kraft der Intelligenz und Kontemplation, wie sie bedroht auch er die ihm Unterworfenen, mögen sie an und für sich noch so erlauchte Geister sein, stets mit den Gefahren des Trübsinns oder der irren Ekstase – er, der um … Ficino zu zitieren, ›selten gewöhnliche Charaktere und Schicksale bezeichnet, sondern Menschen, die von den andern verschieden sind, göttliche oder tierische, glückselige oder vom tiefsten Elend darniedergebeugte‹.« Was diese Dialektik des Saturn betrifft, so verlangt sie nach einer Erklärung, »die nur in der inneren Struktur der mythologischen Kronosvorstellung als solcher gesucht werden kann … Die Kronosvorstellung ist nicht nur dualistisch in bezug auf die Wirkung des Gottes nach außen, sondern auch in bezug auf sein eigenes, gleichsam persönliches Schicksal, und sie ist es außerdem in solchem Umfang und in solcher Schärfe, daß man den Kronos geradezu als einen Gott der Extreme bezeichnen könnte. Auf der einen Seite ist er der Herrscher des goldenen Zeitalters … – auf der andern ist er der traurige, entthronte und geschändete Gott …; auf der einen Seite erzeugt (und verschlingt) er unzählige Kinder – auf der andern Seite ist er zu ewiger Unfruchtbarkeit verdammt; auf der einen Seite ist er … ein durch plumpe List zu übertölpelnder Unhold – auf der andern ist er der alte weise Gott, der … als höchste Intelligenz, als ein προμήϑευς und προμάντιος verehrt wird … In dieser immanenten Polarität des Kronosbegriffs … findet der besondere Charakter der astrologischen Saturn-Vorstellung seine letzte Erklärung – jener Charakter, der letzten Endes durch einen ganz besonders ausgeprägten und grundsätzlichen Dualismus bestimmt wird.« »Noch der Dantekommentator Jacopo della Lana hat z. B. diese immanente Antithetik wieder ganz klar herausgearbeitet und in scharfsinniger Weise begründet, indem er darlegt, daß der Saturn vermöge seiner Qualität, als erdenschweres, kaltes, trockenes Gestirn, die völlig materiellen, nur zu harter Landarbeit sich eignenden Menschen erzeuge – vermöge seiner Lage aber, als höchster der Planeten, gerade umgekehrt die äußerst spirituellen, allem Erdenleben abgekehrten ›religiosi contemplativi‹.« Im Raume dieser Dialektik spielt die Geschichte des Melancholieproblems sich ab. In ihr führt die Magie der Renaissance den Höhepunkt herauf. Während die Aristotelischen Einsichten in die seelische Doppelheit der melancholischen Gemütsanlage genauso wie die Antithetik des Saturneinflusses im Mittelalter einer rein dämonischen Darstellung dieser beiden, wie sie der christlichen Spekulation sich fügte, Platz gemacht hatten, trat mit der Renaissance aus den Quellen der ganze Reichtum alter Grübeleien neu zutage. Diesen Wendepunkt entdeckt und ihn mit der Wucht einer dramatischen Peripetie dargestellt zu haben, macht das hohe Verdienst und die höhere Schönheit der Arbeit von Giehlow aus. Der Renaissance, die die Umdeutung der saturnischen Melancholie im Sinne einer Lehre vom Genie mit einer auch im Denken der Antike niemals erreichten Rücksichtslosigkeit vollzog, stand nach dem Ausdruck Warburgs »die Saturnfürchtigkeit … im Mittelpunkte des Sternglaubens«. Schon das Mittelalter hatte des saturnischen Anschauungskreises in mannigfachen Umbildungen sich bemächtigt. Der Monatsbeherrscher, »der griechische Zeitgott und der römische Saatendämon« sind zum Schnitter Tod mit seiner Sense geworden, die nun nicht mehr der Saat, sondern dem Menschengeschlecht gilt, so wie es nicht mehr der Jahresumlauf mit seiner Wiederkehr von Aussaat, Ernte, Winterbrache ist, der die Zeit beherrscht, sondern das unerbittliche Abrollen jedes Lebens zum Tode. Dem Zeitalter aber, das die Quellen okkulter Natureinsicht um jeden Preis sich zu erschließen bestrebt war, stellte das Bild des Melancholischen die Frage, wie es gelingen könne, dem Saturn die Geisterkräfte abzulauschen und doch dem Wahnsinn zu entgehn. Die erhabene Melancholie, Melencolia »illa heroica« des Marsilius Ficinus, des Melanchthon galt es von der gemeinen und verderblichen abzulösen. Zu einer präzisen Diätetik des Leibes und der Seele tritt der astrologische Zauber: die Veredlung der Melancholie ist das Hauptthema des Werkes »De vita triplici« von Marsilius Ficinus. Das magische Quadrat, welches auf der Tafel zu Häupten der Dürerschen »Melancholie« sich eingezeichnet findet, ist das Planetensiegel des Jupiter, dessen Einfluß den trüben Kräften des Saturn sich widersetzt. Neben dieser Tafel hängt als Hinweis auf das Sternbild Jupiters die Waage. »Multo generosior est melancholia, si coniunctione Saturni et Iouis in libra temperetur, qualis uidetur Augusti melancholia fuisse.« Unter dem jovialischen Einfluß wandeln die schädlichen Eingebungen sich in segensreiche, Saturn wird zum Protektor der erhabensten Forschungen; die Astrologie selber gehört ihm zu. So konnte Dürer zu dem Vorhaben gelangen, »in den saturnischen Gesichtszügen auch die divinatorische Geisteskonzentration auszudrücken«.

Die Theorie der Melancholie ist um eine Anzahl alter Sinnbilder kristallisiert, in die denn freilich erst die Renaissance mit beispielloser interpretativer Genialität die imposante Dialektik jener Dogmen hineingedeutet hat. Unter den Requisiten, die vor der Dürerschen Melancholie sich drängen, ist der Hund. Nicht zufällig will eine Schilderung des Aegidius Albertinus von dem Gemütszustand des Melancholikers an die Tollwut gemahnen. Nach alter Überlieferung »beherrscht die Milz den Organismus des Hundes«. Er hat dies mit dem Melancholiker gemein. Entartet jenes, als besonders zart beschriebene Organ, so soll der Hund die Munterkeit verlieren und der Tollwut anheimfallen. Soweit versinnlicht er den finsteren Aspekt der Komplexion. Andererseits hielt man sich an den Spürsinn und die Ausdauer des Tieres, um in ihm das Bild des unermüdlichen Forschers und Grüblers besitzen zu dürfen. »Ausdrücklich sagt Pierio Valeriano in seinem Kommentar zu dieser Hieroglyphe, daß derjenige Hund im Aufspüren und Laufen der beste wäre, welcher ›faciem melancholicam prae se ferat‹.« Auf dem Dürerschen Blatte zumal wird die Ambivalenz dieses Sinnbilds dadurch bereichert, daß das Tier schlafend dargestellt ist: kommen die bösen Träume aus der Milz, so sind doch auch die divinatorischen das Vorrecht des Melancholikers. Als Gemeingut von Fürsten und Märtyrern sind sie den Trauerspielen bekannt. Aber noch diese Wahrträume sind aus geomantischem Traumschlaf im Schöpfungstempel, nicht als erhabene oder gar heilige Einflüsterung zu verstehen. Denn alle Weisheit des Melancholikers ist der Tiefe hörig; sie ist gewonnen aus der Versenkung ins Leben der kreatürlichen Dinge und von dem Laut der Offenbarung dringt nichts zu ihr. Alles Saturnische weist in die Erdtiefe, darin bewährt sich die Natur des alten Saatengottes. Saturn gibt nach Agrippa von Nettesheim »den Samen der Tiefe und … die verborgenen Schätze«. Der Blick nach unten kennzeichnet dort den Saturnmenschen, der den Grund mit den Augen durchbohrt. So auch Tscherning: »Wem ich noch unbekandt/ der kennt mich von Geberden | Ich wende fort und für mein’ Augen hin zur Erden/| Weil von der Erden ich zuvor entsprossen bin/| So seh ich nirgends mehr als auff die Mutter hin.« Die Eingebungen der Muttererde dämmern aus der Grübelnacht dem Melancholischen auf wie Schätze aus dem Erdinnern; blitzschnell einschlagende Intuition ist ihm fremd. Zum vollen Reichtum ihrer esoterischen Bedeutung kommt die Erde, vormals als kaltes trocknes Element allein belangvoll, in einer wissenschaftlichen Gedankenwendung des Ficinus. Es ist die neue Analogie von Schwerkraft und gedanklicher Konzentration, mit der das alte Sinnbild in den großen Deutungsprozeß des Renaissancephilosophen sich einfügt. »Naturalis autem causa esse videtur, quod ad scientias, praesertim difficiles consequendas, necesse est animum ab externis ad interna, tamquam a circumferentia quadam ad centrum sese recipere atque, dum speculatur, in ipso (ut ita dixerim) hominis centro stabilissime permanere. Ad centrum vero a circumferentia se colligere figique in centro, maxime terrae ipsius est proprium, cui quidem atra bilis persimilis est. Igitur atra bilis animum, ut se et colligat in unum et sistat in uno comtempleturque, assidue provocat. Atque ipsa mundi centro similis ad centrum rerum singularum cogit investigandum, evehitque ad altissima quaeque comprehendenda.« Wenn hierzu Panofsky und Saxl gegen Giehlow bemerken, davon, daß Ficinus dem Melancholiker die Konzentration ›empfehle‹, dürfe nicht gesprochen werden, so sind sie im Recht. Mit einer Behauptung aber, die wenig bedeutet gegenüber der Analogienreihe, welche Denken – Konzentration – Erde – Galle umfaßt, und zwar nicht einzig und allein, um vom ersten zum letzten Gliede zu führen, sondern doch wohl auch in unverkennbarer Anspielung auf eine neue Deutung der Erde im alten Weisheitsgefüge der Temperamentenlehre. Verdankt doch diese alter Meinung nach ihre Kugelgestalt und damit, wie schon Ptolemäus fand, ihre Vollendung und zentrale Stellung im Weltraum der Konzentrationskraft. So dürfte denn auch Giehlows Vermutung, die Kugel des Dürerschen Blattes sei ein Denksymbol des Grübelnden nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen sein. Und diese »reifste, geheimnisvolle Frucht der maximilianeischen kosmologischen Kultur«, wie Warburg sie nennt, dürfte recht wohl für einen Keim gelten, in dem die Allegorienfülle des Barock, noch gebändigt von der Kraft eines Genius zu sprengender Entfaltung bereit liegt. Die Rettung älterer Symbole der Melancholie, wie dieses Blatt und wie die zeitgenössische Spekulation sie gab, ist doch an einem wohl vorbeigegangen, wie es denn auch der Aufmerksamkeit Giehlows und andrer Forscher sich entzogen zu haben scheint. Es ist der Stein. Sein Platz im Inventar der Sinnbilder ist ihm gewiß. Liest man bei Aegidius Albertinus vom Melancholiker: »Die Trübsal, als welche sonsten das Herz in Demut erweicht, machet ihn nur immer störrischer in seinem verkehrten Gedanken, denn seine Tränen fallen ihm nicht ins Herz hinein, daß sie die Härtigkeit erweichten, sondern es ist mit ihm wie mit dem Stein, der nur von außen schwitzt, wenn das Wetter feucht ist«, so möchte man kaum einhalten, um in diesen Worten einer besonderen Bedeutung nachzugehen. Aber das Bild ändert sich, wenn in der Hallmannschen Leichenrede auf Herrn Samuel von Butschky der Satz begegnet: »Er war von Natur tieffsinnig und Melancholischer Complexion, welche Gemüther einer Sache beständiger nachdencken/ und in allen Actionibus behuttsam verfahren. Das Schlangenvolle Medusen Haupt/ wie auch das Africanische Monstrum, nebst dem weinenden Crocodille dieser Welt konten seine Augen nicht verführen/ viel weniger seine Glieder in einen unarthigen Stein verwandeln.« Und zum dritten Male der Stein in Filidors schönem Zwiegespräch zwischen der Melancholei und der Freude: »Melankoley. Freude. Jene ist ein altes Weib/ in verächtlichen Lumpen gekleidet/ mit verhülleten (!) Haupt/ sitzet auff einem Stein/ unter einem dürren Baum/ den Kopff in den Schooß legend/ Neben ihr stehet eine Nacht-Eule … Melankoley: Der harte Stein/ der dürre Baum/| Der abgestorbenen Zypressen/| Giebt meiner Schwermuth sichern Raum | und macht der Scheelsucht mich vergessen … Freude: Wer ist diß Murmelthier| hier an den dürren Ast gekrümmet?| Der tieffen Augen röthe | straalt/ wie ein Blut Comete/| der zum Verderb und Schrecken glimmet … | Jetzt kenn ich dich/ du Feindin meiner Freuden/| Melanckoley/ erzeugt im Tartarschlund | vom drey geköpfften Hund’. | O! sollt’ ich dich in meiner Gegend leiden?| Nein/ warlich/ nein! | der kalte Stein/| der Blätterlose Strauch/| muß außgerottet seyn | und du/ Unholdin/ auch.«

Es mag sein, daß unter dem Sinnbild des Steins nur die augenfälligste Gestalt des kalten, trocknen Erdreichs zu sehen ist. Aber denkbar ist es sehr wohl, ja angesichts der Stelle bei Albertinus nicht unwahrscheinlich, daß mit der trägen Masse auf den eigentlich theologischen Begriff des Melancholikers angespielt ist, der in dem einer Todsünde vorliegt. Das ist die Acedia, die Trägheit des Herzens. Von ihr stellte der schleichende Umlauf des matten Saturnlichts zu dem Melancholiker eine Beziehung her, die – sei’s nun auf astrologischer Grundlage oder auf anderer – bereits in einer Handschrift des XIII. Jahrhunderts bezeugt ist. »Von der tracheit. Du vierde houbet sunde ist. tracheit. an gottes dienste. Du ist so ich mich kere. von eime erbeitsamen. unt sweren guoten werke, zuo einer itelen ruowe. So ich mih kere. von deme guoten werke, wande ez mir svere ist. da von kumet bitterkeit des hercen.« Bei Dante ist die Acedia das fünfte Glied in der Ordnung der Hauptsünden. In ihrem Höllenkreise herrscht die eisige Kälte und das weist auf die Daten der Humoralpathologie, die kalte trockene Beschaffenheit der Erde zurück. Als Acedia rückt die Melancholie des Tyrannen in neue, geschärfte Beleuchtung. Ausdrücklich ordnet Albertinus den Symptomenkomplex des Melancholischen der Acedia zu: »Artlich wirdt die Accidia oder Trägheit dem Biß eines wütigen Hundts verglichen/ dann wer von demselbigen gebissen wird/ dervberkompt alsbaldt ersdiröckliche Träum/ er förchtet sich im Schlaf/ wird Wütig/ Vnsinnig/ verwirfft alles Getranck/ förchtet das Wasser/ bellet wie ein Hund/ vnd wirdt dermassen forchtsamb/ daß er auß forcht niderfellt. Dergleichen Leut sterben auch bald/ wann jhnen nicht geholfen wirdt.« Zumal die Unentschlossenheit des Fürsten ist nichts als saturnische Acedia. Saturn macht »apathisch, unentschlossen, langsam«. An der Trägheit des Herzens geht der Tyrann zugrunde. Wie hierin die Gestalt des Tyrannen, so ist durch die Treulosigkeit – einen anderen Zug des Saturnmenschen – die Figur des Höflings betroffen. Nichts Schwankenderes ist vorstellbar als der Sinn des Hofmanns, wie die Trauerspiele ihn malen: der Verrat ist sein Element. Es ist nicht Flüchtigkeit noch unbeholfene Charakterzeichnung der Autoren, wenn in den kritischen Augenblicken die Schranzen, kaum daß sie Zeit zur Besinnung sich gönnen, den Herrscher verlassen, zur Gegenpartei übertreten. Vielmehr trägt ihr Handeln eine Gesinnungslosigkeit zur Schau, die zum Teil bewußte Geste des Machiavellismus, zu einem anderen aber trostloser und schwermütiger Anheimfall an eine für undurchdringlich erachtete Ordnung unheilvoller Konstellationen ist, welche einen geradezu dinglichen Charakter annimmt. Krone, Purpur, Szepter sind ja im letzten Grunde doch Requisiten im Sinne des Schicksalsdramas, und sie haben ein Fatum an sich, dem der Höfling als sein Augur am ersten sich unterwirft. Seine Untreue gegen den Menschen entspricht einer in kontemplativer Ergebenheit geradezu versunkenen Treue gegen diese Dinge. Mit dieser hoffnungslosen Treue zum Kreatürlichen und zu dem Schuldgesetze seines Lebens steht der Begriff dieses Verhaltens selbst erst am Orte seiner adäquaten Erfüllung. Alle wesentlichen Entscheidungen vor Menschen nämlich können gegen die Treue verstoßen, in ihnen walten höhere Gesetze. Restlos angemessen ist sie einzig dem Verhältnis des Menschen zur Dingwelt. Sie kennt kein höheres Gesetz und die Treue keinen Gegenstand, dem sie ausschließlicher gehörte als der Dingwelt. Diese ruft sie denn auch immer um sich hervor, und jedes Geloben oder Gedenken aus Treue umgibt sich mit den Bruchstücken der Dingwelt als ihren eigensten, sie nicht überfordernden Gegenständen. Unbeholfen, ja unberechtigt spricht sie auf ihre Weise eine Wahrheit aus, um derentwillen sie freilich die Welt verrät. Die Melancholie verrät die Welt um des Wissens willen. Aber ihre ausdauernde Versunkenheit nimmt die toten Dinge in ihre Kontemplation auf, um sie zu retten. Der Dichter, von dem das Folgende überliefert wird, spricht aus dem Geiste der Schwermut. »Péguy parlait de cette inaptitude des choses à être sauvées, de cette résistance, de cette pesanteur des choses, des êtres mêmes, qui ne laisse subsister enfin qu’un peu de cendre de l’effort des héros et des saints.« Die Beharrlichkeit, die in der Intention der Trauer sich ausprägt, ist aus ihrer Treue zur Dingwelt geboren. So ist ebensowohl die Untreue zu verstehen, welche die Kalender dem Saturnmenschen zusprechen, wie auch die ganz vereinzelte dialektische Gegensetzung, das »treu in der Liebe«, das Abû Ma sar dem Saturnmenschen nachsagt,, umzudeuten. Die Treue ist der Rhythmus der emanatistisch absteigenden Intentionsstufen, in welcher die aufsteigenden der neuplatonischen Theosophie beziehungsvoll verwandelt sich abspiegeln.

Mit der charakteristischen Haltung gegenreformatorischer Reaktion folgt die Typenbildung im deutschen Trauerspiele überall dem mittelalterlichen Schulbild der Melancholie. Doch die von dieser Typik grundverschiedene Gesamtform dieses Dramas: Stil und Sprache, sind nicht zu denken ohne jene kühne Wendung, mit der die Renaissancespekulationen in den Zügen der weinenden Betrachtung] den Widerschein eines fernen Lichtes gewahrten, das aus dem Grunde der Versenkung ihr entgegenschimmerte. Einmal zumindest ist dem Zeitalter gelungen, die menschliche Gestalt zu beschwören, die dem Zwiespalt neuantiker und medievaler Beleuchtung entsprach, in welchem das Barock den Melancholiker gesehen hat. Aber nicht Deutschland hat das vermocht. Es ist der Hamlet. Das Geheimnis seiner Person ist beschlossen im spielerischen eben dadurch aber gemessenen Durchgang durch alle Stationen dieses intentionalen Raums, wie das Geheimnis seines Schicksals beschlossen ist in einem Geschehen, das diesem seinem Blick ganz homogen ist. Hamlet allein ist für das Trauerspiel Zuschauer von Gottes Gnaden; aber nicht was sie ihm spielen, sondern einzig und allein sein eigenes Schicksal kann ihm genügen. Sein Leben, als vorbildlich seiner Trauer dargeliehener Gegenstand, weist vor dem Erlöschen auf die christliche Vorsehung, in deren Schoß seine traurigen Bilder sich in seliges Dasein verkehren. Nur in einem Leben von der Art dieses fürstlichen löst Melancholie, indem sie sich begegnet, sich ein. Der Rest ist Schweigen. Denn alles nicht Gelebte verfällt unrettbar in diesem Raume, in dem das Wort der Weisheit nur trügerisch geistert. Shakespeare allein vermochte aus der barocken, unstoischen wie unchristlichen, pseudoantiken wie pseudopietistischen Starre des Melancholikers den christlichen Funken zu schlagen. Wenn anders der Tiefblick, mit dem Rochus von Liliencron Saturnkindschaft und Male der Acedia in Hamlets Zügen las, um seinen besten Gegenstand nicht betrogen sein soll, wird er in diesem Drama das einzigartige Schauspiel ihrer Überwindung im christlichen Geiste erblicken. Nur in diesem Prinzen kommt die melancholische Versenkung zur Christlichkeit. Das deutsche Trauerspiel hat sich nie zu beseelen, den Silberblick der Selbstbesinnung in seinem Inneren nie zu erwecken vermocht. Es ist sich selbst erstaunlich dunkel geblieben und hat den Melancholiker nur mit den grellen und verbrauchten Farben der mittelalterlichen Komplexionenbücher zu malen gewußt. Warum also dieser Exkurs? Die Bilder und Figuren, die es stellt, widmet es dem Dürerschen Genius der geflügelten Melancholie. Seine rohe Bühne beginnt vor ihm ihr inniges Leben.

Trauerspiel und Tragödie

Inhaltsverzeichnis

Der ersten Handlung. Erster Eintritt. Heinrich. Isabelle. Der Schauplatz ist der Königl. Saal. Heinrich. Ich bin König. Isabelle. Ich bin Königin. Heinrich. Ich kan und will. Isahelle. Ihr könt nicht und must nicht wollen. Heinrich. Wer will mirs wehren? Isahelle. Mein Verboth. Heinrich. Ich bin König. Isahelle. Ihr seyd mein Sohn. Heinrich. Ehre ich euch schon als Mutter/ so müsset ihr doch wissen/ das ihr nur Stiefmutter seyd. Ich will sie haben. Isabelle. Ihr sollt sie nicht haben. Heinrich. Ich sage: Ich will sie haben/ die Ernelinde.

Filidor: Ernelinde Oder Die Viermahl Braut