Inhaltsverzeichnis


Vorbericht
Vorerkenntniß von Wahrheit, Schein und Irrthum
I. Vorlesung
II. Vorlesung
III. Vorlesung
IV. Vorlesung
V. Vorlesung
VI. Vorlesung
VII. Vorlesung
Wissenschaftliche Lehrbegriffe vom Daseyn Gottes
VIII. Vorlesung
IX. Vorlesung
X. Vorlesung
XI. Vorlesung
XII. Vorlesung
XIII. Vorlesung
XIV. Vorlesung
XV. Vorlesung
XVI. Vorlesung
XVII. Vorlesung
Anmerkungen und Zusätze
Moses Mendelssohn

Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes

Vorerkenntniß von Wahrheit, Schein und Irrthum + Wissenschaftliche Lehrbegriffe vom Daseyn Gottes

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musaicumbooks@okpublishing.info
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-0721-3

Vorbericht

Inhaltsverzeichnis

Folgende Diskurse über das Daseyn Gottes enthalten das Resultat alles dessen, was ich über diesen wichtigen Gegenstand unsres Forschens vormals nachgelesen und selbst gedacht habe. Seit zwölf bis fünfzehn Jahren befinde ich mich nehmlich in dem äußersten Unvermögen, meine Kenntnisse zu erweitern. Eine sogenannte Nervenschwäche, der ich seitdem unterliege, verbietet mir jede Anstrengung des Geistes, und, welches den Aerzten selbst sonderbar vorkömmt, sie erschweret mir das Lesen fremder Gedanken fast noch mehr, als eigenes Nachdenken. Ich kenne daher die Schriften der großen Männer, die sich unterdessen in der Methaphysik hervorgethan, die Werke Lamberts, Tetens, Plattners und selbst des alles zermalmenden Kants, nur aus unzulänglichen Berichten meiner Freunde oder aus gelehrten Anzeigen, die selten viel belehrender sind. Für mich stehet also diese Wissenschaft noch itzt auf dem Punkte, auf welchem sie etwa um das fünf und siebenzigste Jahr dieses Jahrhunderts gestanden hat; denn so lange ist es her, daß ich genöthiget bin, mich von ihr zu entfernen; wiewohl ich es doch nie über mich habe erhalten können, der Philosophie völlig Abschied zu geben; so sehr ich auch mit mir selbst gekämpft habe. Ach! sie war in bessern Jahren meine treueste Gefährtinn, mein einziger Trost in allen Widerwärtigkeiten dieses Lebens; und itzt mußte ich ihr auf allen Wegen ausweichen, wie einer Todfeindinn: oder, welches noch härter ist, sie scheuen, wie eine verpestete Freundinn, die selbst mich warnet, allen Umgang mit ihr zu meiden. Ich hatte nicht Selbstverleugnung genug, ihr zu gehorchen. Es erfolgten von Zeit zu Zeit verstohlne Uebertretungen; wiewohl nie ohne reuevolle Büßung.

Mittlerweile wuchs mein Sohn J. heran, und die gute Anlage, die er zeigte, machte es mir zur Pflicht, ihn frühzeitig zur vernünftigen Erkenntniß Gottes anzuführen. Zuvörderst ließ ich ihn nach eigenem Gefallen selbst lesen und Ideen sammeln. Ich bin der Meynung, daß man beym Studium der Philosophie, so wie bey Erlernung der Sprachen, mit dem Gebrauch den Anfang machen, und mit der Regel endigen müsse. Das Studium der Form ist weder nützlich noch angenehm, wenn nicht die Anwendung beständig zur Seite gehen kann; und wie ist dieses möglich, wenn noch keine brauchbare Materialien angeschafft sind? Ich ließ ihn also zuerst Materie zusammentragen, und nun war es Zeit Form und Regel hinein zu bringen, und ihm zum ordentlichen und methodischen Nachdenken über diese wichtige Materie die erforderliche Anleitung zu geben.

Ich entschloß mich, die wenigen Stunden des Tages, in welchen ich noch heiter zu seyn pflege, die Morgenstunden, ihm zu diesem Behuf zu widmen, und hatte das Vergnügen, daß mein Schwiegersohn S. und auch W., der Sohn einer Familie, mit der ich seit vielen Jahren in freundschaftlicher Verbindung stehe, an unsren Bemühungen Theil nehmen wollten. Diese drey Jünglinge von schätzbaren Geistesgaben und noch beßrem Herzen, besuchten mich in den Morgenstunden; wir unterredeten uns von den Wahrheiten der natürlichen Religion; und wenn ich dazu aufgelegt war, hielt ich ihnen zusammenhangende Vorlesungen über einen und den andern Punkt aus derselben; aber wie leicht zu erachten, ohne allen Schulzwang. Sie hatten die Freyheit, mich zu unterbrechen, Einwürfe vorzubringen, sie unter sich zu beantworten, und ich brach zuweilen meinen Diskurs ab, um sie unter sich streiten zu lassen. Auf solche Weise sind die Aufsätze entstanden, davon ich den ersten Theil hiemit dem Publikum vorlege.

Ich weiß, daß meine Philosophie nicht mehr die Philosophie der Zeiten ist. Die Meinige hat noch allzusehr den Geruch jener Schule, in welcher ich mich gebildet habe, und die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts vielleicht allzueigenmächtig herrschen wollte. Despotismus von jeder Art reitzt zur Widersetzlichkeit. Das Ansehen dieser Schule ist seitdem gar sehr gesunken, und hat das Ansehen der spekulativen Philosophie überhaupt mit in seinen Verfall gezogen. Die besten Köpfe Deutschlands sprechen seit kurzem von aller Spekulation mit schnöder Wegwerfung. Man dringet durchgehends auf Thatsachen, hält sich blos an Evidenz der Sinne, sammelt Beobachtungen, häuft Erfahrungen und Versuche, vielleicht mit allzugroßer Vernachläßigung der allgemeinen Grundsätze. Am Ende gewöhnet sich der Geist so sehr ans Betasten und Begucken, daß er nichts für wirklich hält, als was sich auf diese Weise behandlen läßt. Daher der Hang zum Materialismus, der in unsren Tagen so allgemein zu werden drohet, und von der andern Seite, die Begierde zu sehen und zu betasten, was seiner Natur nach nicht unter die Sinne fallen kann, der Hang zur Schwärmerey.

Jedermann gestehet sich, daß das Uebel zu sehr einreißt, daß es Zeit sey, dem Rade einen Schwung zu geben, um dasjenige wieder empor zu bringen, was durch den Zirkellauf der Dinge zu lange ist unter die Füße gebracht worden. Allein ich bin mir meiner Schwäche allzusehr bewußt, auch nur die Absicht zu haben, eine solche allgemeine Umwälzung zu bewirken. Das Geschäft sey beßren Kräften aufbehalten, dem Tiefsinn eines Kants, der hoffentlich mit demselben Geiste wieder aufbauen wird, mit dem er niedergerissen hat. Ich begnüge mich mit der eingeschränktem Absicht, meinen Freunden und Nachkommen Rechenschaft zu hinterlassen, von dem, was ich in der Sache für wahr gehalten habe. Auch hatte ich eine besondre Veranlassung zur jetzigen Bekanntmachung dieser Schrift, die ich in dem folgenden Theile näher anzuzeigen Gelegenheit haben werde. Wie bald dieser erscheinen wird, kann ich für jetzt noch nicht bestimmen. Es wird hauptsächlich von dem Beyfall abhängen, mit welchem das Publikum diesen ersten Theil aufnehmen wird.

Vorerkenntniß von Wahrheit, Schein und Irrthum

Inhaltsverzeichnis

I. Vorlesung
II. Vorlesung
III. Vorlesung
IV. Vorlesung
V. Vorlesung
VI. Vorlesung
VII. Vorlesung

I. Was ist Wahrheit?

Inhaltsverzeichnis

Indem wir ausgehen, um Wahrheit zu suchen, meine Lieben! so nehmen wir an, daß Wahrheit zu finden sey, und daß es sichere Merkmale gebe, sie von Unwahrheit zu unterscheiden. Wir haben uns also vorläufig die Fragen zu beantworten: 1) Was ist Wahrheit? 2) An welchen Merkmalen wollen wir sie erkennen und von Schein und Irrthum unterscheiden?

Wer nicht anders spricht, als er denkt, der redet die Wahrheit. Wahrheit im Reden ist also Uebereinstimmung zwischen Worten und Gedanken, zwischen Zeichen und bezeichneter Sache. Da sich unsre Gedanken zu ihren Gegenständen gewissermaaßen eben so verhalten, wie Zeichen zum Bezeichneten; so haben einige diese Erklärung allgemein machen, und das Wesen der Wahrheit in die Uebereinstimmung zwischen Worten, Begriff und Sachen setzen wollen. Alle mögliche und würkliche Dinge, haben sie gesagt, sind gleichsam die Urbilder; unsre Begriffe und Gedanken die Abbildungen derselben; und die Worte wie die Schattenrisse der Gedanken. Wenn die Abbildung nichts mehr und nichts weniger enthält, als dem Vorbilde zukömmt, und der Schattenriß richtig andeutet, was in der Abbildung enthalten ist, so ist zwischen allen dreyen die vollständigste Uebereinstimmung, und diese nennen wir Wahrheit.

Ist schon diese Erklärung nicht unrichtig, so scheint sie doch nicht fruchtbar zu seyn. Wenn Wahrheit Uebereinstimmung ist; so ist Unwahrheit, Mißstimmung. Also ist Unwahrheit in Gedanken, Mißhelligkeit der Gedanken unter sich, oder mit ihren Urbildern, mit den Gegenständen, denen sie zukommen. Nun giebt es kein Mittel, die Gedanken mit ihren Gegenständen, d.i. die Nachbilder mit ihren Urbildern zu vergleichen. Wir haben blos die Nachbilder vor uns, und können einzig und allein vermittelst derselben von den Urbildern urtheilen. Wer sagt uns, ob diese Nachbilder treu sind, ob sie nicht mehr oder weniger enthalten, als ihren Urbildern in der That zukömmt, ob es überall Urbilder giebt, denen sie gleichen? Man sieht also, daß uns von dieser Seite wenigstens keine Merkmale angegeben werden, die Wahrheit zu erkennen und von Unwahrheit zu unterscheiden: lasset uns einen andren Weg versuchen.

In Absicht auf die Wahrheit im Sprechen, können wir es bei der vorigen Erklärung bewenden lassen. Wir haben es in unsrer Gewalt, die Worte mit den Gedanken zu vergleichen und zu sehen, in wie weit sie übereinstimmen. Die Gedanken selbst können von zwey verschiedenen Seiten betrachtet werden. Sie gehen entweder das Denkbare und nicht Denkbare, oder das Würkliche und nicht Würkliche an. Zuerst also von den Gedanken, in so weit sie denkbar oder nicht denkbar sind. Diese zerfallen abermals in 1) Begriffe, 2) Urtheile, 3) Schlüsse. Die Begriffe sind wahr, wenn sie Merkmale enthalten, die sich einander nicht aufheben, die also zugleich denkbar sind. Der Begriff eines Zirkels ist wahr; denn die Merkmale, die davon angegeben werden sind einander nicht widersprechend. So ist der Begriff des Zweifels z.B. ein wahrer Begriff, in so weit einem eingeschränkten Wesen die Wahrheitsgründe fehlen können, einen Satz mehr zu bejahen als zu verneinen. Der Begriff von der Gerechtigkeit, ja von der allervollkommensten Gerechtigkeit, ist ein wahrer Begriff; in so weit alle Merkmale, die in demselben zusammengenommen werden, sich einander nicht aufheben und also zugleich denkbar sind. Die allergrößeste Geschwindigkeit aber ist ein falscher Begriff; denn der allergrößeste Raum und die allerkleinste Zeit, die hier zusammengenommen werden, lassen weder einzeln, noch in der Verbindung, sich denken. Eben also sind die Begriffe von der allerhöchsten Ungerechtigkeit, von einer absoluten Tiefe oder Höhe, von einer Begierde nach dem Bösen als Bösem u. dgl. m. falsche Begriffe; indem wir einsehn können, daß in den Worten Merkmale zusammengenommen werden, die sich in den Begriffen widersprechen, und also zusammen nicht denkbar sind.

In den Urtheilen werden blos von dem Subjecte die Merkmale einzeln ausgesagt, die in dem Totalbegriff desselben enthalten sind. Urtheile also sind wahr, wenn sie von den Begriffen der Subjecte keine andre Merkmale aussagen, als die in denselben statt finden. Wahrheit in Urtheilen sowohl als in Begriffen kann also abermals in die Uebereinstimmung der Merkmale gesetzt werden, die in einem Begriff zusammengedacht und einzeln von ihm ausgesagt werden.

Alle Vernunftschlüsse gründen sich auf eine richtige Zergliederung der Begriffe. Man kann sich den gesammten Innbegriff der menschlichen Erkenntniß unter dem Bilde eines Baumes vorstellen. Die äussern Spitzen desselben kommen in Sprößlingen zusammen, diese vereinigen sich in Zweigen, die Zweige in Aesten, und die Aeste treffen endlich in einen Stamm zusammen. Man setze, daß die Fasern des Stammes durch alle Aeste, Zweige und Sprößlinge, so wie die Fasern der Aeste und Zweige durch alle Unterabtheilungen durchlaufen; daß sie aber bey jeder niedern Abtheilung solche Fasern aufnehmen, die sie in ihrer Abstammung nicht gehabt; so hat man ein sehr treffendes Bild von der Verwandschaft unsrer Begriffe. Alle einzelne Dinge kommen in verschiedene Arten, die Arten in Geschlechter, die Geschlechter in Classen zusammen, und die Classen vereinigen sich zuletzt in einem einzigen Stammbegriff, dessen Merkmale sie alle durchlaufen. Was von einem höhern Begriffe ausgesagt wird, muß auch allen niedrigem Begriffen zukommen; was aber von niedrigem Begriffen, als ihnen eigenthümlich, behauptet wird, kann nur einer Abtheilung des höhern Begriffs, nicht allen, mit gleichem Rechte zugeschrieben werden. Hierauf beruhet alle Bündigkeit unsrer Vernunftschlüße. Die Merkmale des Stammes kommen auch allen Aesten, die Merkmale der Aeste allen Zweigen zu, die aus ihnen entspringen: und so fort bis auf die äußersten Spitzen oder die einzelnen Dinge. Rückwärts hingegen können die eigenthümlichen Merkmale der Zweige nur einer Abtheilung des Astes; so wie die eigenthümlichen Merkmale des Astes nur einem Theile des allgemeinen Stammes zugeschrieben werden.

Die Wahrheit der Vernunftschlüsse bestehet also nicht weniger in der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, gewisse Begriffe und Merkmale in Gedanken zu vereinigen. In so weit also unsre Gedanken als denkbar oder nicht denkbar betrachtet werden, bestehet ihre Wahrheit in der Uebereinstimmung der Merkmale unter sich und mit den Folgen, die daraus gezogen werden. Alle menschliche Erkenntnisse, die, so wie die Mathematik und Logik, blos das Denkbare und nicht Denkbare angehen, erhalten also ihre Gewißheit durch den Satz des Widerspruches, der den höchsten Grad der Evidenz mit sich führet. In den strengen Beweisarten zergliedern wir blos die Begriffe, verfolgen die Merkmale des Stammes, durch alle Aeste und Zweige, vergleichen die gemeinschaftlichen mit den eigenthümlichen Merkmalen, und überzeugen uns dadurch von ihrer Denkbarkeit oder Nicht Denkbarkeit.

Alle Erkenntniß dieser Art, in so weit sie das Denkbare und Nicht Denkbare angehet, ist eine Folge von dem richtigen Gebrauch der Vernunft. Nur Mangel der Vernunft oder unrichtiger Gebrauch derselben kann uns auf Unwahrheit verleiten und das Denkbare mit dem Undenkbaren verwechseln lassen. Ferner haben die Wahrheiten, die zu dieser Gattung gehören, das gemeinschaftliche Kennzeichen, daß sie nothwendig und unveränderlich sind, und also von keiner Zeit abhängen. Bey ihnen läßt sich weder ein war, noch ein wird seyn anbringen. Alles ist, oder ist nicht. Begriffe, die sich mit einander vertragen, hören es nie auf zu thun; und die sich einander fliehen, sind nimmermehr in Verbindung zu bringen.

So nothwendig und unveränderlich aber diese Wahrheiten auch an und für sich selbst sind; so werden wir doch gewahr, daß sie uns nicht immer mit gleicher Lebhaftigkeit beywohnen. Ihre Anwesenheit in uns ist an die Zeit gebunden, ist der Veränderung unterworfen. Wir hatten die Begriffe nicht, sie entstunden, und es kömmt eine Zeit, in welcher sie vielleicht wieder verschwinden können. Sie sind Abänderungen unsers denkenden Wesens, denen als solche eine ideale Würklichkeit zugeschrieben werden kann. Sie sind aber, so wie wir selbst, das Subject dieser Abänderung, nicht nothwendige, sondern zufällige und veränderliche Wesen; sie sind nothwendig denkbar, werden aber nicht von uns nothwendig gedacht; so wie wir selbst unveränderlich denkbare, aber nicht unveränderliche würkliche Wesen sind. Die Sphäre des Würklichen ist also enger eingeschränkt als die Sphäre des Denkbaren; alles Würkliche muß denkbar seyn, aber sehr vieles wird gedacht werden können, dem nie eine Würklichkeit zukommen wird. Die Quelle des Würklichen ist also nicht der Satz des Widerspruches; nicht alles, was sich nicht widerspricht und also denkbar ist, hat deswegen gegründeten Anspruch auf die Würklichkeit; und wir haben einen andern Grundsatz aufzusuchen, der die Gränzlinie des Würklichen und nicht Würklichen mit eben der Bestimmtheit angebe, mit welcher der Satz des Widerspruches das Denkbare vom Nicht Denkbaren unterscheidet.

Lasset uns sehen, wie wir zur Idee des Würklichen gelangen, und mit welchem Grunde wir von manchen Dingen überführt sind oder überführt zu seyn glauben, daß sie Würklichkeit haben. Der Mensch ist sich selbst die erste Quelle seines Wissens; er muß also von sich selbst ausgehen, wenn er sich von dem, was er weiß, und was er nicht weiß, Rechenschaft geben will.

Das erste, von dessen Würklichkeit ich überführt bin, sind meine Gedanken und Vorstellungen. Ich schreibe ihnen eine ideale Würklichkeit zu, in so weit sie meinem Innern beywohnen, und als Abänderungen meines Denkvermögens von mir wahrgenommen werden. Jede Abänderung setzet etwas zum voraus, das abgeändert wird. Ich selbst also, das Subject dieser Abänderung, habe eine Würklichkeit, die nicht blos ideal, sondern real ist. Ich bin nicht blos Modification; sondern das modificirte Ding selbst: nicht blos Gedanken, sondern ein denkendes Wesen, dessen Zustand durch Gedanken und Vorstellungen abgeändert wird. Wir haben hier also die Quelle eines zwiefachen Daseyns, oder Würklichkeit: die Würklichkeit der Vorstellungen, und die Würklichkeit des vorstellenden Dinges; Abänderungen, und Vorwurf der Abänderungen; und von beyden glauben wir wenigstens hinlänglich überführt zu seyn.

So wie ich selbst nicht blos ein abwechselnder Gedanke, sondern ein denkendes Wesen bin, das Fortdauer hat; so läßt sich auch von verschiedenen Vorstellungen denken, daß sie nicht blos Vorstellungen in uns oder Abänderungen unsres Denkvermögens sind; sondern auch äußerlichen, von uns unterschiednen Dingen, als ihrem Vorwurfe, zukommen. So wie das denkende Wesen, wie wir gesehn, nicht blos Gedanken ist, sondern seine eigne Bestandheit und reales Daseyn hat, eben also kann das Gedachte eine Würklichkeit haben, die für sich bestehet, und nicht blos ideal ist. Es sind mehrere Dinge denkbar, die, so wie ich, ihre fortdauernde Würklichkeit haben, und deren Abbild in uns zum Theil anwesend ist, zum Theil auch vielleicht nicht anwesend seyn kann. Wir hätten also dreyerley zu betrachten: 1) den Gedanken, dessen Würklichkeit wir eine ideale Würklichkeit genannt haben, der bloß Abwechselung ist; 2) das Denkende oder die fortdauernde Substanz, bey welcher die Abwechselung geschieht, und der schon eine reale Würklichkeit zugeschrieben werden muß; und endlich 3) das Gedachte, oder den Vorwurf der Gedanken, dem wir in vielen Fällen geneigt sind, so wie uns selbst, ein reales Daseyn zuzuschreiben. Aber wie werden wir überführt, daß diese Dinge außer uns auch würkliches Daseyn haben, und etwas mehr sind, als bloße Gedanken in uns? So sehr unsere Natur uns auch zwinget, von manchen dieses mit Zuverläßigkeit anzunehmen, so möchten wir doch gerne den Grund wissen, aus welchem wir in Ansehung derselben über alle Zweifel weg sind.

Zuvörderst die Sinne und ihre mannichfaltige Erscheinungen. Wir sind geneigt, dasjenige außer uns für wirklich zu halten, was auf unsre Sinne einen Eindruck macht; wir werden aber auch gewahr, daß die Sinne zuweilen trügen. Sie verführen uns zuweilen ein Subject der Erscheinung gegenwärtig zu glauben, und wir werden nachher gewahr, daß diese Erscheinungen blos Vorstellungen in uns gewesen sind, und keinen Vorwurf außer uns gehabt haben. Es waren Einbildungen, Träume, Täuschungen, denen blos eine ideale Würklichkeit zukömmt, deren Vorwurf aber vor itzt wenigstens außer uns nirgend anzutreffen ist.

Um uns diesen Zweifel zu benehmen, schlagen wir gewöhnlicher Weise folgende Wege ein. Wir sehen zuvörderst auf die Uebereinstimmung verschiedner Sinne. Je mehrere Sinne uns das Daseyn eines gewissen Vorwurfs aussagen, desto sicherer glauben wir von seiner Würklichkeit zu seyn. Ich sehe das Bild einer Rose, greife hinzu und fühle, bringe sie zur Nase und rieche eben dasselbe, das ich in vielen Fällen, in Verbindung mit dem Anblik einer Rose, gefühlt und gerochen habe. Ich betrachte denselben Gegenstand in verschiedenen Entfernungen, in mancherley Lage, durch verschiedene Mittel, von welchen ich weiß, daß sie die sinnlichen Erscheinungen abändern. Ich betrachte die Gegenstände des Gesichts durch Wasser, durch Luft, durch vergrößernde oder verkleinernde Gläser: die Gegenstände des Gehörs, durch verstärkende oder schwächende Werkzeuge; die Gegenstände des Gefühls bringe ich an verschiedene Theile meines Körpers; und gebe auf die Eindrücke acht, die sie in aller dieser Verschiedenheit auf mich machen, unterscheide das Aehnliche von dem Unähnlichen in denselben. Ich erkundige mich nach den Eindrücken, welche dieselben Gegenstände auf andre Menschen machen, wenn sie in ihren Empfindungskreis kommen. Je mehr Uebereinstimmung sich in allem diesen befindet, desto mehr glauben wir von der äussern Würklichkeit versichert zu seyn. Je mehr Mishelligkeit, desto größer der Zweifel; oder vielmehr die Ueberredung, daß die sinnlichen Erscheinungen, deren wir uns bewußt, blos Gedanken in uns seyn und nichts außer uns zum Vorwurfe haben mögen.

Sind wir nun auf diese Weise von der objectiven Würklichkeit eines sinnlichen Gegenstandes überführt; so wenden wir auf denselben alle Wahrheiten der Mathematik und Logik an, die uns bekannt sind. Wir eignen ihm zuvörderst alle die Prädicate zu, die dem Begriffe desselben, vermöge dieser unumstößlichen Wahrheiten zukommen müssen; so wie wir alle die Eigenschaften von ihm entfernen, die ihm vermöge des Grundsatzes des Widerspruches nicht zukommen können. Auf solche Weise bilden wir Wahrheitssätze, deren Subject die Evidenz der sinnlichen Erkenntniß für sich hat; deren Prädicate aber, vermöge der angewandten mathematischen und logischen Regeln, so und nicht anders mit ihnen denkbar sind. Von diesen Sätzen gehen wir zu Vernunftschlüssen fort; und so entstehn die Lehrgebäude der angewandten Mathematik und Logik in der Naturlehre. Ferner: Je öfter zwey sinnliche Erscheinungen der Zeit nach auf einander gefolgt sind, je öfter wir gesehen, daß auf die sinnliche Erscheinung A eine von ihr unterschiedne sinnliche Erscheinung B sich ereignet hat, mit desto mehrerem Grunde schließen wir auf die beständige Verbindung dieser Erscheinungen; und so oft wir die sinnliche Würklichkeit der Erscheinung A gewahr werden, so erwarten wir mit Ueberzeugung auch die Erscheinung B. Je öfter wir gesehen, daß ein Gegenstand, welcher dem Gesichte, Gefühle und Geschmacke nach, dem Brodte ähnlich war, auch dem Körper eine gesunde Nahrung zu geben pflegte; mit desto größerer Ueberzeugung erwarten wir diese Folge auch jetzt von den sinnlichen Gegenständen, die dem Brodte ähnlich sind, ob wir gleich diese Erfahrung von ihnen noch nicht gemacht haben. Je öfter wir wahrgenommen, daß ein Gegenstand, der die sichtbaren und fühlbaren Eigenschaften einer Rose hat, in der Nähe eine gewisse Empfindung des Geruchs, und beym Genüsse eine gewisse Empfindung des Geschmackes zu erzeugen pflegt; mit desto mehrerer Zuverläßigkeit erwarten wir diese Empfindungen des Geruchs und Geschmacks, von jeder Blume, die sich unsren Sinnen des Gesichts und des Gefühls als eine Rose darstellt. Hiedurch wird die Anzahl der Grund und Heischesätze, deren wir uns in der Naturlehre so wie im gemeinen Leben bedienen, ins Unendliche vermehrt. Wir schließen von der Würklichkeit einer Erscheinung, auf die Mitwürklichkeit aller übrigen sinnlichen Erscheinungen, die mit ihr verbunden zu seyn pflegen; nicht mit der unumstößlichen Gewißheit, die man mathematisch oder logisch nennen kann, sondern mit dem Grade der Ueberzeugung, die auf die Lehre von der Wahrscheinlichkeit gegründet ist und Induction genennt wird. Den Grund von dieser Ueberzeugung, so wie den Grad von Evidenz, den sie gewähren kann, werden wir in der Folge näher betrachten. Ich begnüge mich für heute diese allgemeinen Wahrheitsbegriffe durch ein Beispiel zu erläutern. Ich genieße eine Speise, und sie gewähret meinem Gaumen den Geschmack des Salzes. Die Menschen, welche sie mitgenießen, verspüren dieselbe Empfindung: auch unserm Gesichte erscheint sie unter der Gestalt des gewöhnlichen Salzes: ich betrachte sie mikroscopisch, und ihre Theile haben die Bildung des Salzes: ich bringe sie in's Wasser, und sie löset sich auf, wie das Salz zu thun pfleget: und nun erwarte ich, daß sie in chymischen Untersuchungen auch dieselben Erscheinungen zeigen werde, die nach den Gesetzen dieser Kunst mit dem Salze verbunden sind; ich lasse es bey dieser vermuthlichen Erwartung nicht bewenden, ich untersuche einen Theil dieses Körpers vielmehr würklich durch chymische Processe. Wenn nun meine Erwartung eintritt, so schließe ich mit desto größerer Ueberzeugung auch auf die Würkung, die der Ueberrest dieses Gegenstandes in meinem Körper hervorbringen wird, nach der Menge der Erfahrungen, die mit ähnlichen Mitteln in ähnlichen menschlichen Körpern angestellt worden sind. Aus der Menge der Uebereinstimmungen, die ich erfahren habe, erwarte ich in ähnlichen Fällen auch ähnliche Uebereinstimmung; mit mehr oder weniger Evidenz, je größer oder kleiner die Menge der Fälle ist, in welcher ich Uebereinstimmung erfahren habe.

II. Ursache – Würkung – Grund – Kraft.

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Ich fahre fort, der ersten Quelle unsrer Erkenntniß von würklichen Dingen nachzuspüren, ob ich gleich in Gefahr bin, euch durch Spitzfindigkeiten zu ermüden. Man muß die Subtilitäten alle, wenigstens einmal in seinem Leben, klauben und ins Reine bringen, wenn man den Schlingen der Sophistik entgehen will. Wir haben gesehn, daß die öftere Folge zweyer Erscheinungen aufeinander uns die gegründete Vermuthung gebe, daß sie mit einander in Verbindung stehen. Wir nennen die vorhergehende Erscheinung die Ursache, die folgende aber die Würkung; und sind überführt, daß sie sich beide in einen logischen Satz verbinden lassen, d.h. in dem Begriffe der Ursache, als Subject, wird etwas anzutreffen seyn, woraus sich die Würkung als Prädicat begreiflich machen läßt. Dieses etwas, oder das Merkmal in der Ursache aus welchem sich die Würkung folgern läßt, nennen wir den Grund; und sagen: jede Würkung sey in ihrer Ursache gegründet. Mit denselben Gründen der Wahrheit schließen wir von zweyen Erscheinungen, die sich einander begleiten, daß sie einer dritten gemeinschaftlichen Ursache untergeordnet seyn müssen, ohne zu entscheiden, ob mittelbar oder unmittelbar?

Man bemerke hier eine dreyfache Quelle der Erkenntniß. Auch das Thier erwartet in ähnlichen Fällen ähnliche Erfolge; aber nicht aus demselben Erkenntnißgrunde. Die bloße Association der Begriffe thut bey den Thieren in solchen Fällen eben das, was die Erfahrung bey dem gemeinen Haufen der Menschen, und bey den Weltweisen die Vernunft verrichtet. Auch das Thier z.B. scheuet sich, einer schiefliegenden Fläche sich anzuvertrauen, und fürchtet herabzuglitschen. Die öftere Wiederholung desselben Falles hat die Ideen in der thierischen Seele dermaßen mit einander verbunden, daß bey dem Anblick der schiefliegenden Fläche, die Idee des Sinkens und Herabglitschens die lebhafteste wird, und die Furcht erzeuget. Der Mensch hingegen wird nicht bloß von der lebhaft gewordenen Vorstellung regiert, sondern bildet sich aus den öfters gemachten Erfahrungen den allgemeinen Vernunftsatz: daß alle schwere Körper von schiefliegenden Flächen herabglitschen. Er vermuthet mit Grunde der Wahrheit, daß in der entwickelten Idee einer schiefen Fläche etwas anzutreffen sey, woraus sich die Möglichkeit des Sinkens begreiflich machen läßt. Der Weltweise setzet die Erkenntniß des Grundes aus der Mechanik hinzu, und bringet den allgemeinen Satz näher zur reinen Vernunfterkenntniß.

In der Furcht, sich einer abschüssigen Fläche anzuvertrauen, die das Thier mit dem Menschen gemein hat, liegt ein förmlicher Schluß verborgen, der allmälig von der thierischen Erkenntniß bis zu einer reinen Vernunftwahrheit erhoben werden kann. Den Untersatz: dieses ist eine abschüssige Fläche, giebt der Sinn des Gesichts. Ohne weitere Entwickelung erwacht beym Thiere, vermöge der Ideenverbindung, die sich durch öfteres Wahrnehmen bey ihm festgesetzt hat, die Vorstellung des Falles, wird in seiner Seele zum herrschenden Begriff, und wirkt auf die Bewegungsfähigkeit. Die Vernunft aber findet hier mancherley zu entwickeln. Das Gesicht giebt uns die Erscheinung einer schiefen Fläche. – Wie, wenn das Gesicht uns täuschte? Unmöglich ist der Fall nicht; denn es hat uns öfters hintergangen. Allein die öftere Uebereinstimmung der Erscheinungen berechtigt uns zur Erwartung, daß sie, 1) in jedem andern Abstande, 2) in verschiedener Lage, und 3) durch verschiedene Sehungsmittel, die einer solchen Fläche zukommende Erscheinung nicht weniger geben; daß sie 4) auch dem Gefühle und jedem andern Sinne lebendiger Wesen, in so weit sie vom Räumlichen und Ausgedehnten unterrichten, nicht anders vorkommen und erscheinen werde; mit einem Worte, daß es nicht blos eine schiefe Fläche scheine, sondern wirklich sey. Wo so mancherley in so oft wiederhohlten Fällen, unter veränderten Umständen, dennoch übereinstimmet, da schließen wir auf einen außer uns befindlichen Gegenstand, der den Grund dieser Uebereinstimmung enthält. Die philosophische Erkenntniß thut hier zur gemeinen Evidenz weiter nichts hinzu, als daß sie sich nach den Grundsätzen der Vernunftkunst Rechenschaft zu geben sucht, mit welchem Recht wir dieses schließen; welchen Gebrauch wir hier von den Schlussesarten machen, die man Induktion und Analogie nennet.

Der Anblick der abschüssigen Fläche erwecket die Vorstellung des Herabglitschens, die so oft mit demselben verbunden gewesen. Der gedankenloseste Mensch läßt sich nicht blos von der lebhaft gewordenen Vorstellung regieren; sondern hat sich den Erfahrungssatz abgesondert: von einer schiefen Fläche u.s.w. davon er sich weiter keinen Grund angiebt, als daß er es so oft gesehn. Aus der Wiederholung schließt er auf Verbindung und bildet sich einen allgemeinen Satz, dessen er sich in vorkommenden Fällen, als Obersatz bedienet. Lehrt ihn eine ähnliche Erfahrung z.B. daß man vermittelst des Keils die Körper leichter spalte, und vermittelst der Schraube leichter in Bewegung setzen könne; so sind ihm dieses einzelne Sätze, von denen er Gebrauch macht, ohne etwas Vernunftmäßiges weiter daran zu ahnden. Der Weltweise führet seine Erkenntniß weiter zurük und suchet sie, so viel er kann, mit reiner Vernunfterkenntniß zu verbinden. Er findet z.B. in diesen dreyen Erfahrungssätzen dieselben allgemeinen Gesetze der Natur, das Gesetz von der Schwere der Körper und Mittheilung der Bewegung, blos durch die Verschiedenheit der Figuren verschiedentlich abgeändert. Was die Abänderungen betritt, welche diese Naturgesetze durch die Figur der schiefen Fläche, des Keils und der Schraube leiden müssen; so erklärt er sich dieselben nach geometrischen Grundsätzen, d.i. nach den Gesetzen des Denkbaren und Nicht Denkbaren: und findet, daß Keil und Schraube mit der schiefliegenden Fläche aus demselben Grundsatz begreiflich zu machen sind. Von dieser Seite also ist seine Erkenntniß, reine Vernunftwahrheit. Er sieht die Verbindung zwischen Subject und Prädicat von dieser Seite wenigstens deutlich ein, ohne sich auf die Erwartung zu verlassen, zu der ihn die Erfahrung berechtigt.

Aber die allgemeinen Gesetze der Natur selbst, die Gesetze der Schwere und der Bewegung, auf welche wir diese besondren Fälle zurückgeführt haben, erkennen wir so wissenschaftlich, so rein vernünftig nicht, als wir die Folgen und Abänderungen derselben durch die vorliegende Figur, zu erkennen fähig sind. Die sinnlichen Erscheinungen und deren Uebereinstimmung haben uns auf ein Object schließen lassen, das den Grund derselben enthält. Dieses Object nennen wir Körper; aber die uns bekannten Merkmaale des selben reichen noch nicht hin auf eine allgemeine Schwere, oder überhaupt auf eine Kraft der Bewegung zu schließen, welche mit demselben in einen logischen Satz verbunden seyn soll. Die Sätze: Alle Körper haben eine Schwere: Alle Körper haben eine Kraft der Bewegung, welche sie sich auf diese oder jene Weise mittheilen können, diese allgemeinen Gesetze der Natur sind auch dem Weltweisen vor der Hand nur noch Erfahrungssätze, die er vermittelst einer unvollständigen Induction allgemein gemacht hat; da sie allezeit unter ähnlichen Umständen wiederkamen, und niemals ausblieben, so schloß er auf eine innere Causalitätsverbindung zwischen Subject und Prädicat, ob er gleich diese Verbindung nicht deutlich einsehen kann. Die Vernunft half ihm blos die einzelnen Erfahrungssätze in allgemeine Gesetze der Natur verwandeln. Der Grund der allgemeinen Behauptung aber ist nicht wissenschaftlich, nicht reine Vernunfterkenntniß, sondern unvollständige Induction, welche die Stelle der reinen Vernunft vertreten muß.

Nicht, daß es dieser unvollständigen Induction an Ueberführungskraft oder Evidenz fehlen sollte; sie reicht vielmehr in vielen Fällen vollkommen zu, uns völlige Versicherung zu geben, und über allen Zweifel hinwegzusetzen. Ein jeder von uns erwartet mit ungezweifelter Gewißheit z.B., daß er sterben werde; ob gleich der Grund der Ueberzeugung blos unvollständige Induction ist. Niemand hat den mindesten Anstand, ein geheimes Geschäft, von welchem sein Leben oder seine Glückseligkeit abhängt, in Gegenwart eines Säuglings zu verrichten; ohne sich das Besorgniß irren zu lassen, von dem Kinde, oder von einem Hausthiere das ihn ansieht, verrathen zu werden. Worauf stützet sich hier die zweifellose Sicherheit? Nicht auf eine wissenschaftliche Vernunfterkenntniß; sondern blos auf unvollständige Induction, die aber der vollständigen so nahe kömmt, daß sie völlige Ueberzeugung zu geben hinreichend ist.

Dieselbe Bewandniß hat es mit unsrer Erkenntniß in der Seelenlehre und Moral. Sobald wir auf die Wissenschaft des Würklichen und Nicht Würklichen kommen, ist unsre Erkenntniß von vermischter Beschaffenheit. Zum Theil, unmittelbare Erfahrung, oder sinnliche Wahrnehmung desjenigen, so in uns selbst vorgeht: zum Theil, Vergleichung dieser unmittelbaren Beobachtungen, Entwickelung derselben, Bemerkung ihrer Aehnlichkeit, Zurückführung auf allgemeine Grundsätze, die sich bald auf Vernunft, bald auf vollständige oder unvollständige Induction gründen, und eine desto größere oder kleinere Ueberzeugung geben, je mehr oder weniger die Induction selbst vollständig ist. Diese Ueberzeugung kann auch hier zu einem solchen Grade der Evidenz heranwachsen, der keiner Bedenklichkeit weiter Raum läßt, und uns alle Sicherheit giebt, die wir von der reinen Vernunft nur immer erwarten können. Die Auseinandersetzung desjenigen, so in dieser Verrichtung dem innern Sinne, der reinen Vernunft, oder der bloßen Erfahrung zuzuschreiben sey, ist ein Geschäft der Seelenlehre und der Moral, das wir hier nicht weiter verfolgen können. Wenn jener Macedonische Held die Arzeney aus der Hand seines Arztes, frey von allem Argwohn, so verdächtig ihm auch die Redlichkeit seines Freundes gemacht worden, ohne Anstand zu sich nahm, und zur bewährten Freundschaft ein so unbefangnes Zutrauen äußerte; so war seine sittliche Ueberzeugung von sehr vermischter Natur. Sie gründete sich zum Theil auf Kenntniß des Menschen überhaupt und der Würkung, welche die Bewegungsgründe auf den Willen desselben haben; zum Theil auf die Erfahrungen und Beobachtungen, die er selbst und andre von der Freundschaft gesammlet hatten; und endlich auf die wiederhohlten Proben der Rechtschaffenheit, die ihm der Weise gegeben, den die Verläumdung verdächtig machen wollte. Alle diese Erkenntnisse sind aus innern Wahrnehmungen, wissenschaftlicher Entwickelung derselben, öfteren Erfahrungen und daraus gebildeten Inductionen zusammengesetzt; und aus dem Inbegriff derselben erwuchs bey ihm eine so unbefangne, über alle Zweifel erhabene, feste Ueberzeugung, die selbst der mathematischen Evidenz wenig nachgiebet.

Alle Ueberzeugung also, die bey der Wissenschaft des Würklichen und Nicht Würklichen nicht reine Vernunfterkenntniß ist, gründet sich auf die Uebereinstimmung verschiedener Sinne, unter mancherley Umständen und Veränderungen, und auf den öftern Erfolg verschiedener sinnlicher Erscheinungen, auf und neben einander. Wir haben also den Grund zu untersuchen, mit welchem wir in diesen Fällen zu schließen berechtigt sind. In meiner Abhandlung von der Wahrscheinlichkeit habe ich dieses deutlich aus einander gesetzt, und die Wahrheitsgründe gezeigt, mit welchen wir uns durch Analogie und Induction in solchen Fällen für überzeugt halten. Ich will das Wesentliche davon, um des Zusammenhangs willen, hier kürzlich wiederhohlen; empfehle euch aber, zum bessern Verständnisse, die Durchlesung und genaue Prüfung der daselbst vorkommenden Gründe, welche uns in der Folge nützlich seyn werden.