»Liebe Tante,« sagte eines Abends, grade acht Tage vor Weihnachten, die kleine Mathilde, »du erzählst mir immer von dem Christkindchen, aber gar nichts von seiner Mama. Sage mir doch, wer sie gewesen ist und wo sie gewohnt hat.«

»Nun, wenn du hübsch ruhig sitzen und zuhören willst und der Georg auch, dann will ich euch alles erzählen, was ich von dem Christkindchen, von seiner Mama, dem Knecht Nikolaus und dem Eselchen weiß.« – Es war sehr still und behaglich in Tantens Zimmer; im Ofen knisterte das Feuer und draußen auf der Straße der Schnee, wenn jemand vorüberging. Die Lampe brannte noch nicht, aber es war doch nicht ganz dunkel im Zimmer, denn die Gasflamme vor dem Fenster warf ihren flackernden Schein herein und malte bald tiefe Schatten, bald bunte Lichter auf die Wände und streifte mit glänzendem Schimmer die grünen Pflanzen und Sträucher des Blumentisches. Eine bessere Stunde zum Geschichtenerzählen als diese gibt es nicht. So rückten denn Mathildchen und Georg ihre kleinen Stühle ganz dicht an den Stuhl der Tante, und sie begann ihre Märlein und erzählte jeden Abend ein neues, bis endlich am neunten Abend und nachdem das letzte Märlein erzählt war, das liebe Christkind selber kam, um alle Märchen und Träume der Phantasie zu verwirklichen und überflüssig zu machen.

Erste Erzählung
Die Geschichte von der Frau Holle

Inhaltsverzeichnis

Vor ganz undenklich langer Zeit, da gab es noch gar kein Christkindchen, sondern nur eine Frau Holle, die wohnte nicht weit von uns auf der höchsten Spitze der Odenwaldberge, auf der kalten, windigen Böllsteiner Höhe. Die schönen Odenwaldberge waren damals noch nicht, wie jetzt, bis fast hinauf mit fruchtbaren Feldern und üppigen Wiesen bedeckt, sondern es zogen sich bis fast zu ihrem Fuße hinab dunkle Wälder, in denen Hirsche und Rehe herumsprangen, und wo eine Menge von Köhlern wohnten, die ganze Gebirge von Kohlen brannten und diese dann hinunter in die Ebene zum Verkaufe brachten. Zwischen den Wäldern aus Tannen- und Buchenbäumen aber wuchs noch ein kleiner Wald von Ginstern, so daß es im Frühjahr, wenn sie blühten, aussah, als sei der ganze Odenwald mit Gold bestreut. An diesen gelben Blüten naschten Millionen Bienchen den süßen Blumenstaub, und waren sie abgeblüht, dann kamen die Besenbinder, schnitten die Reiser ab und banden Besen davon. Für die Bienchen aber blühten nun ganze Felder von Heidekraut, und schien der Odenwald zuvor gelb, so war er jetzt an einzelnen Stellen fast rot. Wenn dann aber auch die Heide all ihre Süßigkeit hergegeben hatte und zu verblühen begann, so flogen die Bienchen hinunter in die Täler und brachten ihren Honigseim den Bäckern, die köstliche braune Lebkuchen davon machten. – So schön war es damals im Odenwald und ist es zum Teil noch, wenn es auch nicht alle Leute wissen und sehen.

Auf der höchsten Spitze aber, auf dem Böllstein, war schon zu jener Zeit ein großer freier Platz, der von hohen Tannen eingefaßt war, und auf dem eine Menge Steine und Felsen umherlagen. Da hatte die gute Frau Holle ihren Sitz und konnte über die andern Berge hinweg weit hinaussehen in das Land, bis an den Rhein, den Main und den Neckar. Sie liebte alle Menschen, die da herum wohnten in Städten und Dörfern, sie kannte sie alle und belohnte und bestrafte sie, je nachdem sie es verdienten. Andererseits kannte jedermann die Frau Holle; die Guten liebten und die Bösen fürchteten sie, denn sie sah mit ihren hellen, durchdringenden Augen rings umher alles, was geschah. – Die Frau Holle hatte auf dem Böllstein kein Haus, in dem sie wohnte, und wer am hellen Tage über den Berg ging, der merkte nichts von ihr; in lauen Sommernächten aber hörte man zwischen den Bäumen hervor ein Kichern und Zischeln und Lachen, daß es den Leuten ganz sonderbar zumute ward, und daß sie lieber einen weiten Umweg machten, ehe sie über den Berg gingen. Im Winter, wenn die Tage am kürzesten waren, sah man auch manchmal ein helles Feuer auf dem Böllstein glänzen, aber nur von weitem, denn da lag der Schnee ellenhoch, und es hätte sich keiner hinaufgetraut, wie auch keiner den Pfad kannte, der zwischen den Felsen durch unter die Erde und gerade hinein in Frau Hollens goldnen Saal führte, in dem sie wohnte. Der Saal war wunderschön; er hatte goldne Wände und eine silberne Decke, die von Säulen aus blauen Steinen getragen ward. Da drinnen saß die Frau Holle, umgeben von einer ganzen Schar kleiner Engelein, die rosenrote Flügel an den Schultern trugen und an Stelle der Kleider in ihre langen, blonden Locken gehüllt waren, welche ihnen bis auf die kleinen Füße herabfielen. Mit den Engelein arbeitete die fleißige Frau Holle Tag und Nacht; sie spannen, strickten und webten, daß es eine Lust war. Wenn aber der Frühling kam, dann stieg Frau Holle herauf auf die Erde, zog ein langes, grünes Kleid an, setzte einen Kranz von Kornblumen und Ähren auf und fuhr in einem goldnen Wagen, den zwei schneeweiße Kühe zogen, über das ganze weite Land, das sie von ihrer Höhe aus übersehen konnte. Wo sie vorüberkam, streute sie Samenkörner aller Art aus, und bald darauf prangte die Erde in den verschiedenartigsten Farben. Hier breitete eine grüne Wiese ihren Blumenteppich aus, dort wogte ein reifendes Kornfeld, daneben lag ein Acker mit blühendem Flachse wie ein blaues, über die Erde ausgespanntes Tuch, und gelbe Rapsfelder durchschnitten gleich langen Bändern die Flur nach allen Richtungen. Das alles ließ die gute Frau Holle wachsen – aber nur auf den Feldern der fleißigen Menschen. Auf denen der faulen dagegen ließ sie Disteln und Unkraut emporschießen. Wenn dann die Erde so schön geschmückt war, fuhr sie wieder heim in ihren goldnen Saal, und nur an milden Sommerabenden, wenn der Mond schien oder die Sterne flimmerten, stieg sie mit den Engelein wieder herauf, und da tanzten sie auf dem dichten Heidekraut, das den Böllstein bedeckt, den Ringelreihen, wozu alle Vögel im Walde musizierten. So trieben sie es den ganzen Sommer und Herbst über. Aber wenn die Blätter anfingen abzufallen und die Nordwinde zu sausen, da ward es gewaltig kalt auf dem Böllstein, so daß man sich des Nachts lieber in ein warmes Bett steckte, statt draußen herumzutanzen. Der Frau Holle ging es auch so, und sie befahl den Engelein, ihr Federbett zurechtzumachen und es tüchtig aufzuschütteln. Wenn die Engelein das hörten, waren sie sehr vergnügt; es gab für sie keine größere Lust, als Frau Hollens Bett zurechtzumachen. Sie schüttelten und rüttelten an den Federn, und eines warf unter lautem Lachen das andere hinein, so daß die Flocken bis über den Rhein und den Main hinüberflogen und stoben. Da sagten die Leute drunten im Tale und in der Ebene: »Es wird Winter, die Frau Holle schüttelt ihr Bettchen aus!« und sie holten die Pelzkappen und Pelzröcke hervor und steckten sich tief hinein. Die Frau Holle hatte aber auch einen dicken, warmen Pelzrock und eine Pelzmütze, die zog sie nun statt des schönen Kranzes über die Ohren. Für die Engelchen waren kleine Pelzröcke und Pelzkappen da, und wenn es ein schöner Winterabend war, zogen sie von der Böllsteiner Höhe aus und folgten der Frau Holle, wohin diese sie führte. Die Frau Holle war eine überaus fleißige und reinliche Frau und haßte nichts so sehr als Schmutz und Faulheit. So wie sie im Sommer die faulen Landwirte strafte, so machte sie es im Winter mit den schmutzigen und faulen Frauen und Mädchen. Darum kam sie des Abends in die großen Stuben, wo die Mütter und Töchter zusammensaßen und spannen, strickten und nähten. Sie setzte sich zu ihnen, arbeitete mit ihnen und gab genau acht, wer seine Sache gut machte. Wenn ein Kind ein schönes, reines Strick- und Nähzeug hatte, fand es am andern Morgen in seinem Körbchen eine hübsche neue Puppe oder ein Bilderbuch oder einen großen braunen Herzlebkuchen. – Den Strümpfen aber, die überall Jahresringe von Schmutz zeigten, und den Hemden und Schnupftüchern, die genäht waren, als ob sie von Sackleinen wären, war die Frau Holle todfeind. Da kamen die Engelein in der Nacht, fielen mit langen, feinen Scheren über die schlechte Arbeit her und zerschnitten sie in tausend kleine Stückchen, und wo ein unordentlicher Spinnrocken stand, da zerrupften und zerzupften sie ihn so gründlich, daß auf der Welt nichts mehr damit anzufangen war. Kamen dann am andern Morgen die unordentlichen Mädchen und Kinder an ihre Arbeit, so fanden sie die Bescherung, aber keine Christbescherung, keine Puppe, kein Bilderbuch, sondern nur schmutzige Fädchen und Läppchen, und hatten die Schande und den Spott obendrein.

Den schmutzigen Mamas aber ging es am allerschlimmsten: da brachten die Engelein in der Nacht lange Besen mit und fegten den Schmutz aus den Ecken hervor, wo man ihn hineingesteckt hatte. Sie kehrten alles an die Türschwelle, das gab oft einen Berg fast so hoch wie das Haus, und wenn die Leute am Morgen zur Türe hinauswollten, waren sie in ihrem eigenen Schmutz gefangen und mußten ihn erst hinwegschaffen, ehe sie wieder frei sichbewegen konnten. Auf diese Weise ward es wenigstens einmal im Jahre sauber im Hause, und es wäre ein rechtes Glück, wenn die Engelein jetzt auch noch manchmal zum Fegen in die Häuser kämen. Weil es aber jetzt so ungeheuer viele Bücher gibt, in denen alles, was die Frauen und Mädchen tun sollen, geschrieben steht, denken sie, sie könnten sich die Mühe sparen und brauchten kein gutes Beispiel mehr zu geben. Die Bücher tun es aber nicht allein, das sieht man deutlich alle Tage, und die Zeiten waren oft besser, wo die Frau Holle das schönste Beispiel für alt und jung gewesen. Wenn die fleißigen Mamas ihre Töchterchen recht loben wollten, dann wußten sie nichts Besseres zu sagen, als: »Du machst es fast so schön wie die liebe Frau Holle.«

Die gute Frau saß oft halbe Nächte lang bei den fleißigen Leuten. War sie aber müde und sehnte sich nach Hause in ihr weiches, warmes Bettchen, dann stand sie auf, öffnete das Fenster und warf das Klüngel Garn, das sie gesponnen hatte, hinaus, indem sie das eine Ende festhielt. Dann rief sie freundlich: »Gute Nacht, ihr lieben Leute!« setzte sich auf den Faden und ritt auf demselben so schnell wie der Wind hinauf nach dem Odenwald und grade in ihren goldnen Saal hinein. Da merkten es erst die Leute, wen sie zum Besuch gehabt, und waren nun noch einmal so fleißig.

So lebte die gute Frau Holle viele, viele, viele Jahre lang, da fühlte sie auf einmal, daß sie ein wenig alt und schwach werde und nicht mehr so recht fort könne. Im Frühling und im warmen Sonnenschein über Land zu fahren, das ging noch an, aber die Wintergeschäfte wollten ihr gar nicht mehr behagen. Es war auch ein schlechter Spaß, bei Schnee und Eis, bei Wind und Wetter auf einem Zwirnsfaden durch die Nacht zu reiten.

Nun hatte die Frau Holle einen lieben, alten Freund, das war der Storch. Der war weit gereist, hatte alle möglichen fernen Länder und Menschen gesehen und wußte immer guten Rat. Der kam einmal im Sommer zu ihr auf Besuch, denn im Winter ist es ihm im Odenwald viel zu kalt. Dem klagte sie ihre Not und sagte: »Lieber Storch, ich bin alt und gar allein, da möchte ich gern ein Töchterchen haben, mit dem ich spielen und das ich hinunter zu den Menschen schicken könnte, um die Fleißigen und Braven zu belohnen und die Faulen und Bösen zu bestrafen. Du bist so weise und gelehrt und bringst allen Menschenfrauen die kleinen Kinder, da muß es dich doch auch freuen, wenn die Kinder brav und gut werden und etwas lernen.«

»Ganz gewiß, Frau Holle, das versteht sich von selbst«, klapperte der Storch.

»Wenn ich nun ein kleines Mädchen hätte, würde ich es so lieb und fromm machen, daß alle Kinder ihm gleichen und von ihm geliebt sein möchten. Lieber Storch, bringe mir von deiner nächsten Reise ein kleines Töchterchen mit.«

»Meine liebe Frau Holle,« sagte der Storch, »das tue ich ja herzlich gern; das schönste, beste und frömmste Kind, das ich auf Erden finden kann, will ich euch hierherbringen. Aber nur ein wenig Geduld.«

Frau Holle nickte, und der Storch flog fort.