Erstes Kapitel.

Inhaltsverzeichnis


»Nun, Peter, siehst du noch nichts?« So fragte – es war am 20. Mai 1859 – auf der Landstraße nach X… in Rußland ein Mann von 45 Jahren, der in einem Paletot und karierten Beinkleidern, barhäuptig und staubbedeckt vor der Tür einer Schenke stand. Der Bediente, an den er diese Frage richtete, war ein junger blonder Mensch mit vollen Backen und kleinen matten Augen, dessen rundes Kinn ein farbloser Flaum bedeckte. –

Alles an diesem Bedienten, von den pomadisierten Haaren und den mit Türkisen geschmückten Ohrringen an bis zu seinen studierten Bewegungen, verriet einen Diener von der neuen Fortschrittsgeneration. Aus Rücksicht für seinen Herrn blickte er herablassend auf die Landstraße und antwortete mit Würde:

»Man sieht absolut nichts!«

»Nichts?« fragte der Herr. –

»Absolut nichts!« wiederholte der Diener. –

Der Herr seufzte und ließ sich auf die Bank nieder. – Während er so mit übergeschlagenen Beinen dasitzt und seine Augen nachdenklich umherschweifen läßt, wollen wir die Gelegenheit benutzen, den Leser mit ihm bekannt zu machen.

Er heißt Nikolaus Petrowitsch Kirsanoff und besitzt fünfzehn Werst von der Schenke ein Gut mit 200 Bauern; dort hat er (wie er sich auszudrücken beliebt, seit er sich der neuen Ordnung gemäß mit ihnen arrangierte) eine »Pachtung« errichtet, die 2000 Dessätinen umfaßt. Sein Vater, einer unserer Generale von 1812, ein Mann von wenig Bildung, sogar roh, ein Russe vom reinsten Wasser, aber ohne einen Schatten von Bösartigkeit, war unter dem Harnisch ergraut. Zum Brigadegeneral und später zum Kommandanten einer Division ernannt, bewohnte er die Provinz, wo er mit Rücksicht auf seinen Rang eine ziemlich bedeutende Rolle spielte. Nikolaus Petrowitsch, sein Sohn, war in Südrußland geboren, ebenso dessen älterer Bruder Paul, auf den wir noch zu sprechen kommen. Er war bis zum Alter von 14 Jahren von Hofmeistern erzogen worden, je billiger, desto besser, umgeben von knechtisch willfährigen Adjutanten und anderen Individuen von der Intendanz oder dem Generalstab. Seine Mutter, eine geborene Koliasin, die unter dem väterlichen Dach Agathe geheißen, hatte verheiratet den Namen Agathokleia Kuzminischna angenommen und verleugnete in nichts das Auftreten, welches die Frauen der höheren Offiziere charakterisiert; sie trug prachtvolle Hüte und Hauben, rauschende seidene Roben, trat in der Kirche immer zuerst vor, um das Kreuz zu küssen, sprach viel und sehr laut, reichte alle Morgen ihren Kindern die Hand zum Kuß und gab ihnen jeden Abend ihren Segen; mit einem Wort – sie war die große Dame der Provinzialhauptstadt. Obwohl Nikolaus Petrowitsch für eine Memme galt, so wurde er doch als der Sohn eines Generals gleich seinem Bruder Paul zum Militärdienst bestimmt, allein am selben Tage, an dem er zum Regiment einrücken sollte, brach er ein Bein und hinkte von da an sein Leben lang, nachdem er zwei Monate im Bett zugebracht hatte. Somit gezwungen, auf die Wahl der Soldatenkarriere für seinen Sohn zu verzichten, blieb dem Vater nur übrig, ihn in den Zivildienst zu bringen; er führte ihn nach zurückgelegtem achtzehnten Jahr nach Petersburg, um dort in die Universität einzutreten. Paul erhielt im nämlichen Jahr den Offiziersrang in einem Garderegiment. Die beiden jungen Leute nahmen eine gemeinschaftliche Wohnung und lebten dort unter der keineswegs strengen Überwachung eines Oheims von mütterlicher Seite, eines höheren Beamten. Ihr Vater war wieder zu seiner Division und seiner Frau zurückgekehrt. Von fernher sandte er seinen Söhnen ganze Stöße grauen Papiers zu, bedeckt mit einer Schrift, welche die geübte Hand eines Regimentsschreibers verriet. Am Ende jedes Briefes las man aber in einem sorgfältig ausgezirkelten Namenszug die Worte: »Peter Kirsanoff, Generalmajor«. Im Jahre 1835 verließ Nikolaus Petrowitsch die Universität mit dem Titel eines Kandidaten, und in demselben Jahre übersiedelte der General, der nach einer unvorhergesehenen Inspektion in den Ruhestand versetzt worden war, mit seiner Frau dauernd nach Petersburg. Er hatte sich nahe dem Taurischen Garten ein Haus gemietet und war im Englischen Klub zugelassen worden, als ihn plötzlich ein Schlaganfall seiner Familie entriß. Agathokleia Kuzminischna folgte ihm bald nach; sie konnte sich in das zurückgezogene Leben, das sie in der Hauptstadt nun zu führen hatte, nicht finden. Der Verdruß, sozusagen sich nun selbst in den Ruhestand versetzt zu sehen, führte sie rasch dem Grabe zu. Was Nikolaus Petrowitsch anbelangt, so hatte er sich noch bei Lebzeiten seiner Eltern und zu ihrem großen Bedauern in die Tochter des Hauseigentümers, eines Subalternbeamten, bei dem er wohnte, verliebt. Sie war eine junge Person von angenehmen Gesichtszügen und einem nicht ungebildeten Geist; sie las in den »Revuen« die ernsthaftesten Artikel der »wissenschaftlichen Abteilung«. Bald nach beendeter Trauerzeit wurde die Hochzeit gefeiert, und der glückliche Nikolaus Petrowitsch zog sich, nachdem er die ihm durch väterliche Protektion verschaffte Stelle im Ministerium der Domänen quittiert hatte, mit seiner Mascha in ein Landhaus nahe dem Wasserbau- und Forstinstitut zurück; später mietete er sich in der Stadt eine kleine hübsche Wohnung mit einem etwas kalten Salon und einer wohlgehaltenen Treppe; endlich zog er sich ganz aufs Land zurück, wo ihn seine Frau bald mit einem Sohn beschenkte. Die beiden Gatten führten ein ruhiges und glückliches Leben; sie verließen sich fast nie, spielten vierhändig auf dem Piano und sangen Duette. Die Frau trieb Blumenzucht und überwachte den Geflügelhof; der Mann beschäftigte sich mit der Landwirtschaft und ging von Zeit zu Zeit auf die Jagd. Arkadius, ihr Sohn, wuchs heran und lebte in gleicher Weise und Heiterkeit. So gingen zehn Jahre wie ein Traum dahin. Allein 1847 starb Madame Kirsanoff, ein unerwarteter Schlag, der ihren Mann so schwer traf, daß seine Haare in wenig Wochen ergrauten. Er wollte sich eben anschicken, zu seiner Zerstreuung ins Ausland zu reisen, als das Jahr 1848 das Reisen unmöglich machte. Gezwungen, auf sein Landgut zurückzukehren, brachte er dort einige Zeit in vollkommener Untätigkeit zu, dann aber legte er Hand daran, Verbesserungen in seiner Verwaltung einzuführen. Zu Anfang des Jahres 1855 führte er Arkad nach Petersburg auf die Universität und blieb dort drei Winter bei ihm, fast ohne das Haus zu verlassen und in stetem Verkehr mit den jungen Kameraden seines Sohnes. Während des Winters 1858 hatte er ihn nicht gesehen, und wir begegnen dem Vater jetzt im Monat Mai des folgenden Jahres mit bereits ganz weiß gewordenem Kopf, etwas gedunsen und gebückter Haltung. Er erwartet seinen Sohn, der jetzt eben die Universität mit dem Titel Kandidat verließ, ganz so wie er selbst es seinerzeit getan.

Der Bediente, mit dem er soeben gesprochen hatte, war mittlerweile aus Takt, vielleicht auch weil er nicht gerade unter den Augen seines Herrn bleiben wollte, ins Hoftor getreten und schickte sich an, seine Pfeife anzuzünden. Kirsanoff senkte das Haupt und heftete die Augen auf die wurmstichigen Stufen der Treppe; ein großes, scheckiges junges Huhn mit langen gelben Beinen ging dort stark tapsend auf und ab; eine ganz mit Asche gepuderte Katze betrachtete es nicht allzu freundschaftlich von der Höhe des Geländers, auf dem sie kauerte. Die Sonne brannte; aus der dunkeln Stube, die den Eingang zur Herberge bildete, drang der Geruch von frischgebackenem Roggenbrot. Kirsanoff überließ sich seinen Träumereien. Mein Sohn … Kandidat … Arkascha … diese Worte gingen ihm nicht aus dem Kopf. Er gedachte seiner Frau: »Sie hat uns zu früh verlassen,« murmelte er traurig vor sich hin. In diesem Augenblicke ließ sich eine große Taube auf die Straße nieder und lief schnell einer Wasserlache bei einem Brunnen zu; Kirsanoff beobachtete sie, sein Ohr aber vernahm schon in der Ferne das Geräusch eines Wagens. – Das könnte wohl der Herr Sohn sein, meinte der Bediente, der plötzlich vom Stalltor hervorkam.

Kirsanoff stand hastig auf und sah die Landstraße hinab. Es währte nicht lange, so erschien ein mit drei Pferden bespannter Tarantaß. Bald auch gewahrte Kirsanoff den Rand einer Studentenmütze und darunter die teuren Züge eines bekannten Gesichts …

»Arkascha! Arkascha!« rief Kirsanoff und begann mit emporgehobenen Händen zu laufen. Einige Augenblicke später hafteten seine Lippen auf der bartlosen, sonnverbrannten und staubigen Wange des jungen Kandidaten.

Zweites Kapitel.

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»Erlaube mir, mich abzuklopfen, Papa,« sagte Arkad mit vor Ermüdung etwas heiserer, aber wohlklingender Stimme, freudig die väterlichen Liebkosungen erwidernd, »ich bedecke dich ja mit Staub.«

»Tut nichts, tut nichts,« erwiderte Kirsanoff mit gerührtem Lächeln, gleichzeitig jedoch versuchte er den Mantelkragen seines Sohnes und seinen eigenen Paletot abzustäuben. »Laß dich nur ansehen, laß dich nur ansehen!« setzte er hinzu und trat einige Schritte zurück. Dann lief er schnell der Schenke zu und rief: »Allons! kommt her, Pferde heraus, geschwind, geschwind!«

Kirsanoff schien viel bewegter zu sein als sein Sohn; es war eine eigene Unruhe an ihm und er schien fast außer Fassung. Arkad trat ihm in den Weg.

»Erlaube mir,« sagte er, »dir meinen Freund Bazaroff vorzustellen, von dem ich dir in meinen Briefen oft gesprochen habe. Er will die Liebenswürdigkeit haben, einige Zeit bei uns auf dem Lande zuzubringen.«

Kirsanoff kehrte sich schnell um und schritt auf einen jungen Mann zu, der soeben vom Tarantaß herabgestiegen war, eingehüllt in einen mit Schnüren besetzten langen Kaban; er schüttelte ihm kräftig die rote breite Hand, die dieser nicht allzu eifrig dargeboten hatte.

»Ihr Besuch freut mich sehr,« sagte er zu ihm. »Erlauben Sie mir, Sie um Ihren und Ihres Herrn Vaters Namen zu bitten.«

»Eugen Wassilieff,« antwortete Bazaroff langsam mit gehobener Stimme, und indem er den Kragen seines Kaban zurückschlug, ließ er Kirsanoff sein Antlitz vollkommen sehen. Er hatte ein langes mageres Gesicht mit offener Stirn, eine oben breite, nach der Spitze zu feiner werdende Nase, große grünliche Augen und lang herabhängende sandfarbige Favoris; ein ruhiges Lächeln lag auf seinen Lippen; seine ganze Physiognomie drückte Intelligenz und Selbstvertrauen aus.

»Ich hoffe, mein lieber Eugen Wassiliewitsch,« erwiderte Kirsanoff, »daß Sie sich bei uns nicht langweilen werden.«

Bazaroffs Lippen öffneten sich ein wenig, allein er antwortete nichts und begnügte sich damit, seine Mütze zu lüften. Trotz seines dichten Haarwuchses von tiefem Kastanienbraun ließen sich leicht die mächtigen Erhöhungen seines breiten Schädels wahrnehmen.

»Arkad,« fragte plötzlich Kirsanoff, zu seinem Sohn gewendet, »soll man gleich anspannen oder wollt ihr euch vorher ein wenig ausruhen?«

»Wir wollen uns zu Hause ausruhen, Papa, laß anspannen.«

»Sogleich, sogleich,« erwiderte Kirsanoff lebhaft. »He! Peter, hörst du? Allons! mach, daß wir aufs schnellste fortkommen!«

Peter, der in seiner Eigenschaft als perfekter Bedienter sich darauf beschränkt hatte, von ferne zu grüßen, statt seinem Herrn die Hand zu küssen, verschwand von neuem hinter der Stalltüre.

»Ich bin in der Kalesche gekommen,« sagte Kirsanoff zögernd zu seinem Sohn, »aber es gibt Pferde für deinen Tarantaß …«

Während er so mit Arkad sprach, trank dieser frisches Wasser, das ihm die Wirtin in einem zinnernen Krug gebracht, und Bazaroff, der sich soeben seine Pfeife angezündet hatte, trat zu dem mit dem Ausspannen der Pferde beschäftigten Kutscher.

»Ich bin nun in Verlegenheit,« sagte Kirsanoff, »meine Kalesche ist nur zweisitzig. Wie machen wirs?«

»Er fährt im Tarantaß,« erwiderte Arkad halblaut, »kümmere dich nicht um ihn, ich bitte dich, er ist ein vortrefflicher Junge und macht keine Umstände, du wirst es sehen.«

Kirsanoffs Kutscher fuhr mit der Kalesche vor.

»Lustig, spute dich, du alte Haareule!« rief Bazaroff seinem Postillion zu.

»Hast du’s gehört, Mituka?« rief ein anderer Postillion, der mit den Händen in den Hintertaschen seines Tulups einige Schritt entfernt stand; »der Herr hat dich eine Haareule genannt, der hat recht.«

Mituka begnügte sich, statt aller Antwort den Kopf zu schütteln, daß seine Mütze wackelte, und nahm seinem mit Schaum bedeckten Sattelpferd die Zügel ab.

»Geschwind, geschwind, helft ein wenig, ihr Bursche!« rief Kirsanoff, »ihr sollt ein gutes Trinkgeld haben.«

Einige Minuten später waren die Pferde angespannt. Nikolaus Petrowitsch bestieg mit seinem Sohn die Kalesche, Peter schwang sich auf den Bock. Bazaroff sprang in den Tarantaß, drückte seinen Kopf in ein Lederkissen, und die beiden Gefährte fuhren in raschem Trabe davon.

Drittes Kapitel.

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»So wärst du nun also Kandidat und wieder auf dem Weg nach Hause,« sagte Kirsanoff zu seinem Sohn und legte ihm die Hand bald auf die Wangen, bald auf die Schultern.

»Was macht mein Oheim?« fragte Arkad, der trotz seiner aufrichtigen und fast kindischen Freude doch gerne der Unterhaltung eine ruhigere Wendung gegeben hätte.

»Er ist wohl; er hatte die Absicht, mit mir dir entgegenzufahren; er hat sich aber, warum weiß ich nicht, wieder anders besonnen.«

»Und du hast lange auf mich gewartet?« fragte Arkad.

»Seit beinahe fünf Stunden.«

»Wirklich? wie gut du bist!«

Arkad wandte sich zu seinem Vater und drückte ihm einen schallenden Kuß auf die Wange. Kirsanoff antwortete darauf mit einem leisen Lächeln:

»Du wirst sehen, was ich dir für ein hübsches Reitpferd habe zurichten lassen! Und Papier findest du auch in deinem Zimmer.«

»Bekommt Bazaroff auch eins?«

»Man wird ihn unterbringen, sei ruhig …«

»Sei freundlich gegen ihn, ich bitte dich; ich kann dir nicht sagen, wie befreundet wir sind!«

»Kennst du ihn schon lange?«

»Nein.«

»Darum hab ich ihn auch im vorigen Winter nicht kennen gelernt. Mit was beschäftigt er sich?«

»Hauptsächlich mit den Naturwissenschaften. Aber er weiß alles; nächstes Jahr will er sein Doktorexamen machen.«

»Ah, er studiert Medizin,« erwiderte Kirsanoff und schwieg einige Minuten.

»Peter,« fragte er plötzlich den Bedienten, »sind das nicht welche von unsern Bauern, die da unten vorüberfahren?«

Der Bediente wandte den Kopf nach der Seite, die ihm sein Herr mit der Hand bezeichnete. Mehrere Wägelchen, deren Pferde ausgezäumt waren, rollten schnell auf einem engen Querwege dahin; auf jedem ein oder zwei Bauern in offenen Tulups.

»Wirklich,« antwortete der Bediente.

»Wo gehen denn die hin? Etwa in die Stadt?«

»Sehr wahrscheinlich; die gehen in die Schenke,« sagte Peter mit verächtlichem Tone und neigte sich etwas zum Kutscher, wie um diesen zum Zeugen zu nehmen. Allein der Kutscher gab durchaus kein Zeichen der Zustimmung; er war ein Mann vom alten Regime, der keine von den Tagesideen teilte.

»Die Bauern machen mir dieses Jahr viel Sorge,« sagte Kirsanoff zu seinem Sohn; »sie zahlen ihre Abgaben nicht. Was dabei tun?«

»Bist du mit den Tagelöhnern mehr zufrieden?«

»Ja,« erwiderte Kirsanoff zwischen den Zähnen; »allein man verführt sie mir; das ist das Übele. Und dann arbeiten sie doch nicht mit wahrem Eifer und verderben das Ackergerät. Doch sind wenigstens die Felder eingesät. Mit der Zeit wird sich alles machen. Es scheint, du interessierst dich jetzt für die Landwirtschaft?«

»Es fehlt euch hier an Schatten, das ist schade,« sagte Arkad, ohne auf die letzte Frage seines Vaters zu antworten.

»Ich habe auf der Seite des Hauses, die dem Nordwind ausgesetzt ist, eine große Markise über dem Balkon herrichten lassen,« erwiderte Kirsanoff, »man kann jetzt im Freien zu Mittag speisen.«

»Das sieht wohl etwas zu sehr nach einer Villa aus. Übrigens tut es nichts. Welch reine Luft atmet man hier! wie würzig ist sie! Ich glaube wahrhaftig, dieser herrliche Geruch ist unserem Lande eigentümlich. Und wie der Himmel …«

Arkad hielt hier plötzlich inne, warf einen schüchternen Blick hinter den Wagen und schwieg.

»Gewiß,« antwortete Kirsanoff; »du bist hier geboren, und folglich muß alles in deinen Augen …«

»Nach meiner Meinung liegt am Ort, wo man geboren ist, sehr wenig,« unterbrach ihn Arkad.

»Doch …«

»Nein, der tut absolut nichts zur Sache.«

Kirsanoff sah seinen Sohn verstohlen an, und die beiden öffneten fast während der Fahrt von einer halben Werst nicht den Mund.

»Ich weiß nicht, ob ich dich schon davon in Kenntnis gesetzt habe,« nahm endlich Kirsanoff wieder das Wort, »daß deine alte gute Yegorowna gestorben ist.«

»Wirklich, die gute alte Frau! Und Prokofitsch, lebt er noch immer?«

»Ja, der ist noch derselbe, immer zänkisch, wie vor alters. Du wirst keine großen Veränderungen in Marino finden, ich sags dir voraus.«

»Hast du noch denselben Verwalter?«

»Das ist vielleicht die einzige Veränderung, die ich vorgenommen habe. Den habe ich fortgeschickt, nachdem ich mich entschlossen, keine freien Dworowi mehr im Dienst zu behalten, oder wenigstens ihnen keine Funktion anzuvertrauen, die irgendeine Verantwortlichkeit mit sich führt.«

Arkad wies mit den Augen auf Peter.

»Il est libre, en effet,« sagte Kirsanoff, »allein er ist ein Kammerdiener. Als Verwalter habe ich jetzt einen Bürger, der mir ein intelligenter Mann zu sein scheint. Ich gebe ihm jährlich 250 Rubel. Übrigens,« fuhr Kirsanoff fort und faßte dabei Stirn und Augenbrauen mit der Hand, eine Bewegung, die ihm eigen war, wenn er sich in Verlegenheit fühlte, »ich habe dir soeben gesagt, du werdest eben keine Veränderung in Marino finden. Ganz richtig ist das nicht, und ich halte es für meine Pflicht, dich vorher in Kenntnis zu setzen, obgleich dennoch …«

Hier hielt er inne und fuhr bald darauf französisch fort:

»Ein strenger Moralist würde ohne Zweifel meine Aufrichtigkeit unpassend finden, allein erstens könnte das, was ich dir anvertrauen will, doch nicht geheim bleiben, und zweitens weißt du wohl, daß ich stets meine eigenen Ansichten über die Beziehungen zwischen Vater und Sohn gehabt habe. Nach all dem gebe ich übrigens zu, daß du das Recht haben würdest, mich zu tadeln … In meinem Alter … mit einem Wort … das junge Mädchen … von dem du wahrscheinlich schon hast sprechen hören …«

»Fenitschka?« fragte Arkad ungezwungen.

Kirsanoff errötete etwas.

»Sprich den Namen nicht so laut aus, ich bitte dich. Ja … nun, sie wohnt jetzt im Hause; ich habe ihr … zwei kleine Stübchen eingeräumt. Übrigens kann alles wieder geändert werden.«

»Warum denn? Papa, ich bitte dich!«

»Wird dein Freund einige Zeit bei uns bleiben? Es wird etwas Verwirrung machen …«

»Meinst du Bazaroffs wegen, so hast du unrecht. Er ist über all das hinweg.«

»Nein, auch deinetwegen,« fuhr Kirsanoff fort. »Fatalerweise ist der Flügel des Hauses nicht in bestem Stand.«

»Das wird sich finden, Papa; es kommt mir aber vor, als suchtest du dich zu entschuldigen. Was hast du doch für ein zartes Gewissen!«

»Ja, ohne Zweifel, ich sollte mir ein Gewissen daraus machen,« meinte Kirsanoff, der mehr und mehr errötete.

»Geh doch, lieber Vater, ich bitte dich!« erwiderte Arkad mit wohlwollendem Lächeln. ›Welche Idee, sich über so etwas entschuldigen zu wollen,‹ sagte der junge Mann zu sich selbst, und indem er diesem Gedanken nachhing, erwachte in ihm eine nachsichtige Zärtlichkeit für die gute und schwache Natur seines Vaters, mit einem gewissen Gefühl von geheimer Überlegenheit verbunden.

»Sprechen wir von der Sache nicht weiter, ich bitte dich,« fuhr er fort, im unwillkürlichen Genuß jener geistigen Unabhängigkeit, die ihn so hoch über jede Art von Vorurteil erhob.

Kirsanoff, der fortfuhr, sich die Stirne zu reiben, betrachtete ihn zum zweitenmal durch die Finger und fühlte es wie einen Stich im Herzen … allein er mußte sich doch selbst anklagen.

»Hier beginnen unsere Felder,« hob er nach langem Schweigen an.

»Und das Gehölz gegenüber, gehört uns das nicht auch?« fragte Arkad.

»Doch; ich habe es aber eben jetzt verkauft und es wird vor Ende des Jahrs noch geschlagen werden.«

»Warum hast du es verkauft?«

»Ich hatte Geld nötig; übrigens werden ja ohnehin alle dieser Ländereien bald den Bauern gehören.«

»Und diese zahlen dir keine Abgaben?«

»Das ist die Frage; zuletzt werden sie wohl bezahlen müssen.«

»Es tut mir leid um das Gehölz,« sagte Arkad, indem er sich umschaute.

Das Land, durch das sie fuhren, war gerade nicht malerisch. Eine weite angebaute Ebene erstreckte sich bis zum Horizont, und der Boden erhob sich stellenweise nur, um sich bald wieder zu senken; in seltenen Zwischenräumen erschienen kleine Wäldchen, und etwas weiter ab schlängelten sich mit niedrigem vereinzeltem Gesträuch bekleidete Schluchten hin, die ziemlich getreu den Zeichnungen entsprachen, wie sie sich auf den alten, noch von der Regierung der Kaiserin Katharina herdatierenden Flurkarten finden. Hie und da stieß man auch auf kleine Bäche, von nackten Ufern, oder auf Weiher, von schlechten Dämmen eingehegt; dann kamen arme Dörfer, deren niedrige Häuschen schwarze, zerfetzte Strohdächer trugen; armselige Scheunen zum Dreschen des Getreides, mit Wänden aus geflochtenen Baumzweigen und enormen, vor leeren Tennen gähnenden Toren; Kirchen, die einen aus Backsteinen, deren Gipsüberzug am Abfallen war, die andern aus Holz, mit schiefstehenden Kreuzen am Giebel und von schlecht unterhaltenen Gottesäckern umgeben. Arkad fühlte sein Herz ein wenig beklemmt. Als ob es so hätte sein müssen, hatten alle Bauern, die ihnen in den Weg kamen, ein klägliches Aussehen und ritten auf kleinen Mähren. Die Weidenbäume an der Straße mit ihren zerrissenen Rinden und ihren abgeschnittenen Zweigen nahmen sich wie Bettler in Lumpen aus, Kühe mit ungebürsteten Haaren, mager und scheu, weideten gierig das Gras längs der Gräben ab; man hätte glauben sollen, sie seien eben irgendwelchen mörderischen Klauen entkommen, und mitten im Glanz des Frühlings mahnte der Anblick dieser armen Tiere an das weiße Gespenst des endlosen, unbarmherzigen Winters mit seinem Frost und seinen Schneestürmen. – »Nein,« sagte Arkad zu sich, »das ist keine reiche Gegend; sie zeigt nichts von Wohlstand, nichts von beharrlichem Fleiß; so kann sie unmöglich bleiben, da muß eine Änderung geschaffen werden … Aber wie greift man das an?«

Während Arkad hierüber nachdachte, war um ihn her der Lenz in schönster Entwicklung. Überall lichtes Grün: unter dem sanften Atem eines warmen, leichten Windes schwoll und glänzte alles, die Bäume, die Gebüsche, das Gras; von allen Seiten ertönten die nie endenden Triller der Lerchen, Kiebitze wiegten sich rufend über den feuchten Wiesen oder liefen still über die Ackerschollen weg; Raben, deren schwarzes Gefieder sich schön von dem zarten Grün der Saaten abhob, ließen sich da und dort sehen; nur im Roggen, der schon zu bleichen begann, waren sie schwerer zu unterscheiden, kaum dann, wenn ihre Köpfe auf einen Moment über dies wallende Meer aufragten. Arkad bewunderte dies Gemälde und seine trüben Gedanken schwanden allmählich. Er legte seinen Mantel ab und heftete einen so freudigen und kindlichen Blick auf seinen Vater, daß dieser sich nicht enthalten konnte, ihn von neuem in seine Arme zu schließen.

»Bald sind wir da,« sagte Kirsanoff; »sobald wir auf diese Anhöhe gekommen sind, sehen wir das Haus. Wir beide werden uns verstehen, Arkad; du hilfst mir unser Gut verwalten, wenn es dich nicht zu sehr langweilt. Wir müssen uns eng aneinander anschließen und einander ganz kennen lernen. Nicht wahr?«

»Gewiß,« antwortete Arkad, »aber welch herrlicher Tag!«

»Zu Ehren deiner Ankunft, mein Lieber. Ja, der Frühling steht in seinem schönsten Glanz. Übrigens geht mirs wie Puschkin, du entsinnst dich der Verse:

Frühling, holde Liebeszeit,
Wie beschleicht mich Traurigkeit!«

»Arkad!« rief Bazaroff von seinem Tarantaß her, »schick mir ein Streichholz; unmöglich, die Pfeife in Brand zu bringen.«

Nikolaus Petrowitsch schwieg, und Arkad, der ihm mit einiger Überraschung, aber nicht ohne Interesse zugehört hatte, beeilte sich, ein silbernes Büchschen aus seiner Tasche zu langen und Peter damit zu Bazaroff zu schicken.

»Willst du eine Zigarre?« rief dieser.

»Gerne,« antwortete Arkad.

Peter brachte mit dem Büchschen eine dicke schwarze Zigarre, die Arkad sogleich zu rauchen anfing, deren Geruch aber so stark war, daß Kirsanoff, der in seinem Leben nie geraucht hatte, unwillkürlich die Nase abwandte, doch ohne seinem Sohn, den er nicht stören wollte, seinen Widerwillen zu verraten.

Eine Viertelstunde später hielten die beiden Gefährte vor dem Peristyl eines hölzernen, noch neuen Hauses, dessen Mauern grau verblendet und dessen eisernes Dach rot angestrichen war. Dies war Marino, sonst auch der »Neuhof« oder – von den Bauern – das »Waisenhaus« genannt.

Viertes Kapitel.

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Die Ankunft der Herren versammelte nicht jene Menge von Dworowis auf der Treppe, wie dies wohl ehemals zu geschehen pflegte; ein kleines zwölfjähriges Mädchen erschien unter der Türe und bald hernach ein junger Bursche, Peter sehr ähnlich, in grauer Livree mit weißen Wappenknöpfen; es war der Diener von Paul Petrowitsch. Stillschweigend öffnete er die Wagentür und schlug das Spritzleder des Tarantaß zurück. Kirsanoff, gefolgt von seinem Sohne und Bazaroff, durchschritt einen düstern, schlecht möblierten Saal, in dessen Hintergrund für einen Augenblick die Gestalt einer jungen Frau sichtbar wurde; dann führte er seine Gäste in ein nach dem neuesten Geschmack dekoriertes Zimmer.

»Da wären wir nun zu Hause,« sagte Kirsanoff, seine Mütze abnehmend und seine Haare schüttelnd. »Vor allen Dingen wollen wir zu Nacht speisen und uns ausruhen.«

»Ich werde einen Bissen nicht verschmähen,« erwiderte Bazaroff, streckte sich und warf sich auf ein Kanapee.

»Ja ja, geschwind das Abendessen,« fuhr Kirsanoff fort und stampfte, ohne eigentlich zu wissen warum, mit den Füßen. »Da kommt ja gerade Prokofitsch.«

Ein magerer Mann in den Sechzigern, mit weißem Haar und braunem Gesicht, war in das Zimmer getreten. Er trug einen kastanienfarbigen Frack mit kupfernen Knöpfen und eine rosarote Krawatte. Er küßte Arkad die Hand, grüßte Bazaroff und stellte sich, die Hände auf dem Rücken, an der Türe auf.

»Da wäre er nun, Prokofitsch,« redete ihn Nikolaus Petrowitsch an. »Endlich haben wir ihn wieder. Nun, wie findest du ihn?«

»Ei, im allerbesten Stand,« erwiderte der Greis lächelnd, allein alsbald nahm er wieder seine ernsthafte Haltung an und zog seine dichten Augenbrauen zusammen. »Soll ich den Tisch decken?« fragte er mit wichtiger Miene.

»Ja ja, sei so gut. Aber würde Eugen Wassiliewitsch nicht vielleicht gerne vorher in sein Zimmer gehen?«

»Nein, ich danke. Sie sind wohl so gütig, diese Art Felleisen und diesen Fetzen dahin bringen zu lassen?« setzte er hinzu, indem er seinen Kaban auszog.

»Ganz wohl! Prokofitsch, nimm den Rock des Herrn.« Der alte Kammerdiener faßte den »Fetzen« mit einigem Staunen an, hob ihn über seinen Kopf empor und entfernte sich auf den Zehenspitzen. –»Und du, Arkad, willst du nicht auf dein Zimmer gehen?«

»Ja, ich möchte mich gern ein wenig säubern,« antwortete Arkad. Während er jedoch der Tür zuschritt, trat ein Mann von mittlerem Wuchs in den Salon, der einen englischen Swit von dunkler Farbe, eine nach der letzten Mode niedrige Krawatte und lackierte Halbstiefel trug. Es war Paul Petrowitsch. Er schien etwa 45 Jahre alt; seine sehr kurzgeschnittenen grauen Haare hatten den tiefen Glanz des noch unbearbeiteten Silbers, die Züge seines klaren, runzellosen Gesichts von gallichtem Teint waren von großer Regelmäßigkeit und mit äußerster Feinheit gezeichnet. Man sah wohl, daß er einst sehr schön gewesen sein mußte, besonders waren seine schwarzen und länglich geschnittenen feucht glänzenden Augen bemerkenswert. In Pauls elegantem Äußeren hatte sich noch die jugendliche Harmonie und etwas schwungvoll Aufstrebendes erhalten, das die Schwere der Erde nicht zu kennen scheint und gewöhnlich mit dem zwanzigsten Jahre verloren geht. Paul zog seine wohlgeformte Hand mit langen rosenroten Nägeln aus der Hosentasche, eine Hand, deren Schönheit noch von schneeweißen, am Handgelenk von großen Opalen zusammengehaltenen Manschetten erhöht wurde, und bot sie seinem Neffen dar. Nachdem das europäische shake-hands vollzogen war, gab er ihm nach russischer Sitte drei Küsse, das heißt, er berührte dreimal seine Wange mit seinem parfümierten Schnurrbart und sagte: »Sei willkommen.«

Sein Bruder stellte ihn auch Bazaroff vor, er neigte sich jedoch kaum gegen ihn, ohne ihm die Hand zu reichen, steckte sie vielmehr wieder in seine Hosentasche.

»Ich glaubte schon, ihr kämet heute nicht mehr,« sagte er mit einer Kopfstimme von angenehmem Klang und zeigte, sich anmutig wiegend und die Schultern hebend, seine schönen weißen Zähne. »Ist euch unterwegs etwas zugestoßen?«

»Zugestoßen ist uns nichts,« erwiderte Arkad; »wir haben uns nur Zeit gelassen. Jetzt haben wir aber Hunger wie die Wölfe. Treibe Prokofitsch ein wenig, Papa; ich komme sogleich wieder.«

»Wart, ich begleite dich!« rief Bazaroff und stand schnell vom Diwan auf; damit gingen die beiden jungen Leute hinaus.

»Was ist das?« fragte Paul.

»Ein Freund von Arkascha; wie er mir sagt, ein sehr intelligenter junger Mann.«

»Er bleibt einige Zeit hier?«

»Ja.«

»Der haarbuschige Gesell?«

»Ja, wahrscheinlich.«

Paul trommelte mit seinen Nägeln leicht auf den Tisch.

»Ich finde Arkad s’est dégourdi,« fuhr er fort; »es freut mich sehr, ihn wiederzusehen.«

Das Abendessen ging in ziemlicher Stille vorüber. Bazaroff namentlich sprach fast nichts, aß aber um so mehr. Kirsanoff erzählte mehrere Vorfälle aus seinem Pächterleben, wie er es nannte, setzte seine Ansichten über die Maßregeln auseinander, die seiner Meinung nach die Regierung hinsichtlich des Komitees, der Deputationen, der notwendig gewordenen Aushilfe durch Maschinenarbeit usw. ergreifen sollte. Paul – der nie zu Nacht speiste – ging langsam im Zimmer auf und ab, trank von Zeit zu Zeit ein paar Tropfen Rotwein aus einem kleinen Glase und warf noch seltener ein Wort oder vielmehr einen Ausruf, wie: ah! ei! hm! dazwischen.

Arkad erzählte Neuigkeiten von Petersburg, allein er fühlte sich etwas verlegen, wie dies meistens jungen Leuten begegnet, die, nachdem sie kaum die Kinderschuhe vertreten haben, wieder an den Ort zurückkommen, wo man gewöhnt war, sie als Kinder zu betrachten und demgemäß zu behandeln. Er machte unnötig lange Phrasen, vermied, das Wort Papa auszusprechen, und ließ sichs sogar einfallen, es durch »Vater« zu ersetzen, was er dann freilich nur zwischen den Zähnen murmelte; mit affektierter Gleichgültigkeit schenkte er sich viel mehr Wein ein, als ihm schmeckte, hielt sich aber für verbunden, ihn zu trinken. Prokofitsch ließ ihn nicht mehr aus den Augen und bewegte immer die Lippen, wie wenn er etwas kaute. Fast unmittelbar nach beendigtem Souper trennte man sich.

»Weißt du auch, daß dein Onkel ein kurioser Kauz ist?« sagte Bazaroff, der sich auf Arkads Bett gesetzt hatte und eine sehr kurze Pfeife rauchte. »Diese Eleganz auf dem Lande! Das ist wahrlich seltsam. Und seine Nägel! die könnte man auf die Ausstellung schicken.«

»Du weißt nicht,« entgegnete Arkad, »daß er der Löwe seiner Zeit war; ich erzähle dir einmal seine Geschichte. Er war ein bezaubernder Mann, der allen Weibern den Kopf verrückte.«

»Das ists also! Er lebt noch in der Erinnerung jener schönen Zeit. Unglücklicherweise gibt es hier aber keine Eroberungen zu machen. Ich konnte nicht satt werden, ihn zu betrachten; diese komischen Vatermörder! Man meint, sie seien aus Marmor, und wie glattrasiert sein Kinn ist! Arkad, weißt du, daß all das höchst lächerlich ist?«

»Ich geb es zu, aber nichtsdestoweniger ist er ein ausgezeichneter Mensch.«

»Ein echtes Stück Altertum. Dein Vater, das ist ein braver Mann. Er sollte es bleiben lassen, so gerne Verse zu lesen; er wird wenig von der Landwirtschaft verstehen, aber ein guter Kerl ist er.«

»Mein Vater ist ein seltener Mensch.«

»Hast du bemerkt, wie verlegen er war; wahrhaftig ganz schüchtern.«

Arkad erhob den Kopf, um zu zeigen, daß er es wenigstens nicht sei.

»Es ist ein komisches Volk, diese grauköpfigen Romantiker. Sie geben ihrem ganzen Nervensystem eine derartige Entwicklung, daß das Gleichgewicht darüber verloren geht. Laß uns jetzt aber zu Bett gehen. Ich habe in meinem Zimmer zwar eine englische Wascheinrichtung, aber die Türe schließt nicht. Doch über so etwas setzt man sich hinweg; das englische Lavoir bleibt immer ein Fortschritt.«

Bazaroff entfernte sich und Arkad fühlte sich von großem Wohlbehagen ergriffen. Es ist ein süßes Ding, unter dem väterlichen Dach zu schlafen, in dem wohlbekannten alten Bett, unter einer Decke, die befreundete Hände, vielleicht die der guten Amme, genäht haben, diese zärtlichen und unermüdlichen Hände, die das Kind auferzogen. Arkad gedachte wieder seiner Yegorowna und wünschte ihr die ewige Glückseligkeit; zum Beten brachte ers nicht einmal für sich selbst.

Beide Freunde schliefen bald ein; nicht ebenso einige andere Bewohner des Hauses. Kirsanoff hatte die Rückkehr seines Sohnes sehr aufgeregt. Er legte sich zwar nieder, löschte das Licht aber nicht; den Kopf auf die Hand gestützt, hing er noch lange seinen Gedanken nach. Sein Bruder blieb, in einem breiten Lehnstuhl hingestreckt, vor einem im Kamin brennenden schwachen Steinkohlenfeuer bis gegen 1 Uhr nach Mitternacht sitzen. Er hatte sich nicht ausgekleidet, nur die lackierten Halbstiefel hatte er mit roten chinesischen Pantoffeln ohne Absätze vertauscht. Er hielt die letzte Nummer von »Galignani« in der Hand, las aber nicht. Seine Augen waren auf den Kamin gerichtet, auf dem eine bläuliche Flamme hin und her schwankte … Gott weiß, was er dachte; aber es war nicht die Vergangenheit allein, in der seine Träumereien umherirrten; der Ausdruck düsterer Versunkenheit lag auf ihm, was nicht der Fall ist, wenn man sich bloß Erinnerungen hingibt. Im Hintergrund eines kleinen Zimmerchens auf der Rückseite des Hauses saß, in eine blaue Duschagreika gekleidet, mit einem weißen Tuch über dem schwarzen Haar, eine junge Frau namens Fenitschka, die, obwohl fast vor Schlaf umsinkend, Ohr und Augen auf eine halbgeöffnete Türe gerichtet hielt, durch die man ein kleines Bett gewahrte mit einem schlafenden Kinde darin; man hörte sein gleichmäßiges ruhiges Atmen.

Fünftes Kapitel.

Inhaltsverzeichnis


Bazaroff war am folgenden Morgen zuerst erwacht und alsbald aus dem Hause gegangen.

»Nun,« sagte er zu sich, »schön ist das Land da herum eben nicht, das kann man nicht sagen.«

Als Kirsanoff seine Bauern ablöste, behielt er für seine neue Wirtschaft nur ungefähr vier Dessätinen ganz ebenen und unbebauten Bodens übrig. Auf diesem baute er sich ein Wohnhaus und die nötigen Wirtschaftsgebäude; seitwärts legte er einen Garten an und grub einen Teich und zwei Brunnen; aber die Bäume, die er pflanzte, kamen schlecht fort, der Teich füllte sich langsam und das Wasser der Brunnen war salzig. Doch gaben die Akazien und die Fliedersträuche des Bosketts dann und wann einigen Schatten, und jetzt wurde dort das Mittagessen oder der Tee eingenommen. Bazaroff durchwandelte rasch alle Fußwege des Gartens, besichtigte den Hühnerhof, den Stall, entdeckte zwei junge Dworowis, mit denen er sofort Bekanntschaft machte, und nahm sie mit, um in einem Sumpf, eine Werst vom Hause entfernt, Frösche zu fangen.

»Wozu brauchst du deine Frösche, Herr?« fragte ihn eines der Kinder.

»Das will ich dir sagen,« erwiderte Bazaroff, der die besondere Gabe hatte, Leuten der unteren Volksklasse Vertrauen einzuflößen, obwohl er sie, weit entfernt von eigentlicher Herablassung, gewöhnlich ziemlich zurückhaltend behandelte. »Ich schneide die Frösche auf und sehe nach, was in ihrem Innern vorgeht. Da wir beide, du und ich, auch solche Frösche sind, aber Frösche, die auf zwei Füßen gehen, so lerne ich dann daraus, was in unserem eigenen Leib vorgeht.«

»Und warum willst du das wissen?«

»Damit ich mich nicht irre, wenn du krank wirst und ich dir helfen soll.«

»Also bist du ein ›Doktor‹?«

»Ja.«

»Waska, höre einmal, der Herr sagt, wir seien Frösche.«

»Ich fürchte mich vor den Fröschen,« antwortete Waska, ein barfüßiges Kind von etwa sieben Jahren mit weißen Flachshaaren, in einen Kaftan von grobem grauem Tuch mit stehendem Kragen gekleidet.

»Warum soll man sie denn fürchten? Beißen sie denn?«

»Vorwärts, ihr Philosophen, geht ins Wasser,« rief ihnen Bazaroff zu.

Kaum war Bazaroff ausgegangen, als auch Kirsanoff erwachte und aufstand. Er ging in Arkads Zimmer, den er schon angekleidet traf. Vater und Sohn traten auf die Terrasse, über die eine Markise ausgespannt war; ein kochender Samowar erwartete sie auf einem Tische zwischen dichten Fliederbüschen. Die kleine Dienerin, die den Abend zuvor zuerst unter dem Peristyl zu ihrer Begrüßung erschienen war, kam alsbald und meldete mit feiner Stimme:

»Fedosia Nikolajewna ist nicht ganz wohl und läßt fragen, ob Sie sich den Tee gütigst selbst bereiten wollen oder ob sie Duniascha schicken soll?«

»Ich werde ihn selbst bereiten,« gab Kirsanoff schnell zur Antwort. »Wie trinkst du ihn lieber, Arkad? Willst du Rahm oder Zitronen?«

»Mir ist Rahm lieber,« sagte Arkad, und nach kurzem Schweigen fuhr er in fragendem Tone fort:

»Lieber Papa? …«

Kirsanoff betrachtete seinen Sohn mit einiger Verlegenheit.

»Was meinst du?« fragte er ihn.

Arkad schlug die Augen nieder.

»Verzeih, Papa, wenn dir meine Frage ungelegen ist, aber deine Offenheit von gestern gibt mir das Recht, gleichfalls aufrichtig zu sein. Willst du nicht böse werden?«

»Sprich!«

»Du ermutigst mich zu der Frage … Wenn Fen … wenn sie den Tee nicht servieren will – bin ich nicht die Ursache?«

Kirsanoff wandte etwas den Kopf.

»Vielleicht …« gab er endlich zur Antwort; »sie denkt … sie schämt sich.«

Arkad warf einen raschen Blick auf den Vater.

»Da hat sie sehr unrecht,« gab er zur Antwort. »Du kennst meine Ansichten. (Arkad gefiel sich in diesem Ausdruck.) Es wäre mir äußerst leid, wenn ich dich auch nur im mindesten in deinem Leben, in deinen Gewohnheiten stören würde. Zudem weiß ich gewiß, daß du keine schlechte Wahl getroffen, und daß, wenn du ihr erlaubt hast, unter unserem Dache zu leben, sie dessen auch würdig ist. Überhaupt aber ist ein Sohn nicht der Richter seines Vaters, und ich zumal … und noch dazu eines Vaters wie du, der niemals meine Freiheit in irgend etwas beschränkt hat …«

Arkad hatte die ersten Worte mit zitternder Stimme vorgebracht; er kam sich großherzig vor, und doch begriff er gleichzeitig wohl, daß es das Ansehen hatte, als lese er seinem Vater die Lektion; aber der Laut unserer eigenen Stimme berauscht, und Arkad trug das Ende seines kleinen Diskurses mit Festigkeit und selbst etwas deklamatorischem Tonfall vor.

»Ich danke dir, Arkascha,« gab ihm der Vater mit unterdrückter Stimme zur Antwort, indem er sich wiederholt Stirn und Augenbrauen rieb. »Deine Vermutungen sind begründet. Es ist sicher, daß, wenn das junge Mädchen nicht eine empfehlenswerte Person wäre … Es ist nicht bloß die Anwandlung einer Laune … In der Tat, es setzt mich in Verlegenheit, über alles das mit dir zu reden, aber einsehen wirst du wohl, daß es ihr fast nicht möglich war, hier vor dir zu erscheinen, zumal am ersten Tag nach deiner Ankunft.«

»Wenn dem so ist,« rief Arkad in einer neuen Anwandlung von Edelmut, »so will ich sie selbst begrüßen,« und damit sprang er vom Stuhle auf. »Ich werde es ihr auseinandersetzen, daß sie vor mir nicht zu erröten braucht.«

»Arkad,« rief sein Vater und stand gleichzeitig auf, »tu mir den Gefallen … das geht nicht an … Da unten … Ich habe dich ja noch nicht in Kenntnis gesetzt …«

Allein sein Sohn hörte ihn schon nicht mehr; mit einem Sprunge hatte er die Terrasse verlassen. Kirsanoff verfolgte ihn mit den Augen und sank in höchster Unruhe in seinen Stuhl zurück. Sein Herz klopfte heftig. Kamen ihm die fremden Beziehungen, die notwendig zwischen seinem Sohne und ihm eintreten mußten, zum Bewußtsein; dachte er darüber nach, ob es von Arkad nicht rücksichtsvoller gewesen wäre, wenn er jede Anspielung auf das Verhältnis vermieden hätte, oder machte er sich Vorwürfe über seine Schwäche? Dies war schwer zu unterscheiden. Alle diese Gefühle wogten in seiner Brust durcheinander. Die Röte, die seine Stirne überzogen hatte, blieb beharrlich, und sein Herz klopfte nach wie vor heftig.

Da ließen sich beschleunigte Schritte hören, und Arkad erschien wieder auf der Terrasse.

»Wir haben jetzt Bekanntschaft gemacht, lieber Vater,« rief er triumphierend und zärtlich zugleich. »Fedosia Nikolajewna ist wirklich unwohl und wird erst später kommen. Aber warum hast du mir nicht gesagt, daß ich ein Brüderchen habe? Ich hätte es schon gestern mit eben der Freude geküßt, mit der es soeben geschah.«

Nikolaus Petrowitsch wollte antworten; er wollte sich erheben und die Arme ausbreiten. Arkad warf sich ihm an den Hals.

»Wie? man küßt sich noch einmal?« rief Paul hinter ihnen.

Sein Erscheinen war Vater und Sohn gleich willkommen; es ist uns oft nicht leid, wenn den rührendsten Situationen ein Ziel gesetzt wird.

»Wundert dich das?« erwiderte Kirsanoff heiter. »Da kommt endlich Arkascha nach langer Zeit wieder heim; ich habe seit gestern noch nicht einmal Zeit gehabt, mir ihn recht anzusehen.«

»Mich wundert das keineswegs,« erwiderte Paul, »es geht mir ja selbst fast wie dir.«

Arkad trat auf seinen Oheim zu, der ihm abermals die Wangen mit seinem parfümierten Schnurrbart streifte.

Paul setzte sich an den Tisch. Er trug ein elegantes Morgenkostüm nach englischem Geschmack; ein kleiner Fes zierte seinen Kopf. Dieser Kopfputz und eine nachlässig geknüpfte Krawatte waren wie eine Andeutung der Freiheit, zu welcher das Landleben berechtigt; aber der gestärkte Hemdkragen, diesmal farbig, wie es die Mode für eine Morgentoilette vorschreibt, umschloß mit der gewöhnlichen Unbiegsamkeit sein wohlrasiertes Kinn.

»Wo ist denn dein neuer Freund?« fragte er Arkad.

»Er ist schon ausgegangen; er steht gewöhnlich sehr früh auf und macht irgendeinen Ausflug. Man darf sich aber nicht um ihn bekümmern, er haßt die Förmlichkeiten.«

»Ja, das sieht man wohl.«

Paul strich langsam Butter auf sein Brot.

»Denkt er längere Zeit hierzubleiben?«

»Das weiß ich nicht; er will auch seinen Vater besuchen.«

»Wo wohnt sein Vater?«

»In unserem Gouvernement, etwa 80 Werst von hier. Er hat dort ein kleines Besitztum. Er ist ein alter Militärchirurg.«

»Ti .. ti .. ti … Den Namen kenne ich ja, glaube ich. Nikolaus, erinnerst du dich nicht eines Doktors Bazaroff, der in der Division unseres Vaters diente?«

»Ja, ich glaube mich seiner zu erinnern.«

»Ganz gewiß. Also der Doktor ist sein Vater, he!« sagte Paul und bewegte den Schnurrbart. »Und was ist denn eigentlich Herr Bazaroff Sohn?« setzte er langsam hinzu.

»Was er ist?« Arkad lachte. »Soll ich Ihnen, lieber Onkel sagen, was er eigentlich ist?«

»Tu mir diesen Gefallen, mein teurer Neffe.«

»Er ist ein Nihilist.«

»Wie?« fragte der Vater. Paul aber erhob sein Messer, dessen Spitze ein Stückchen Butter trug, und blieb unbeweglich.

»Ja, er ist ein Nihilist,« wiederholte Arkad.

»Ein Nihilist!« sagte Kirsanoff. »Das Wort muß aus dem Lateinischen nihil: nichts, kommen, soweit ich es beurteilen kann, und bedeutet mithin einen Menschen, der … nichts anerkennen will.«

»Oder vielmehr, der nichts respektiert,« sagte Paul, der wieder sein Butterbrot zu streichen fortfuhr.

»Ein Mensch, der alle Dinge vom Gesichtspunkte der Kritik aus ansieht,« erwiderte Arkad.

»Kommt das nicht auf dasselbe heraus?« fragte der Onkel.

»Nein, durchaus nicht; ein Nihilist ist ein Mensch, der sich vor keiner Autorität beugt, der ohne vorgängige Prüfung kein Prinzip annimmt, und wenn es auch noch so sehr im Ansehen steht.«

»Und damit bist auch du einverstanden? Das ist recht und gut?« erwiderte Paul.

»Je nachdem, lieber Onkel. Es gibt Leute, die sich dabei wohl befinden, wie im Gegenteil andere, die sich ganz schlecht dareinzufinden wissen.«

»Wahrhaftig? Nun, ich sehe, das geht über meinen Gedankenkreis. Leute der alten Zeit wie ich, denken, daß es durchaus nötig ist, gewisse Prinzipien (Paul sprach dies Wort wie die Franzosen mit einer gewissen Weichheit aus, während Arkad im Gegensatz es hart akzentuierte) ohne Prüfung, um deinen Ausdruck zu gebrauchen, anzunehmen. Ihr wollt uns das alles umstoßen. Gebe euch Gott Gesundheit und den Generalsrang! Was uns anbetrifft, so wollen wir uns damit begnügen, euch zu bewundern, meine Herren – wie sagtest du doch?«

»Nihilisten!« antwortete Arkad, indem er auf jede Silbe Nachdruck legte.

»Ja, wir zu unserer Zeit, wir hatten Hegelisten, jetzt sind es Nihilisten. Wir werden sehen, wie ihr es angreift, um im Nichts, im Vakuum, wie unter einer pneumatischen Maschine zu existieren. Und jetzt, lieber Bruder, sei so gut und ziehe die Glocke, ich möchte meinen Kakao trinken.«