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David Signer

Dead
End

Erzählungen

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David Signer

lectorbooks, ein Imprint der Torat GmbH, Zürich

Wir danken der Stadt Zürich und dem Kanton St. Gallen für die Unterstützung dieses Buches.

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Gesamtproduktion: www.torat.ch

1. Auflage 2017

eISBN 978-3-906913-07-0

INHALT

Das Vermächtnis

Das Kreuz

Untertauchen in Varanasi

Die anonymen Anrufe

Alb – Die plötzliche Verdoppelung

Der Dissident

Erinnerungen an eine Vergessene

Unser versunkenes Trauma

DAS VERMÄCHTNIS

Am 14. Januar erhält Christian Hartmann einen Brief von der Anwaltskanzlei Ruiz & Stevenson in Madrid, adressiert an Christian Hartmann Hohensteiner, in dem ihm mitgeteilt wird, er habe von einem entfernten Verwandten geerbt und möge bitte nach Valencia, Spanien kommen, um die Formalitäten zu regeln. Falls er die nötigen Papiere bis zum 1. März nicht unterschreibe, falle das Geld an den Staat. Der verstorbene Verwandte ist laut Brief ein gewisser Jochen Hohensteiner, ohne Nachkommen oder direkte Angehörige. Bei ihren Recherchen sind die Anwälte auf Christian Hartmann in der Schweiz gestoßen, dessen früh verschiedene Mutter ledig Hohensteiner geheißen hatte.

Vielleicht hinterlässt der Verstorbene Schulden, ist Hartmanns erster Gedanke. Gewöhnlich wird man erst informiert, um welche Art Erbe es sich handelt, wenn man es offiziell annimmt; vielleicht werden einem dann nichts als Kosten aufgebürdet – aber man kann die Hinterlassenschaft nicht mehr ausschlagen. Hartmann zieht diese Möglichkeit unmittelbar in Betracht, weil seine Tante einmal in eine solche Falle getappt war.

Erst beim zweiten Lesen denkt er an Betrug – so wie bei diesen E-Mails, in denen man gebeten wird, sein Konto für einen Millionentransfer zur Verfügung zu stellen. Man muss dann, heißt es, angebliche Gebühren in vierstelliger Höhe vorauszahlen, bevor man seinen Anteil am Kuchen kriegt. Nach der Überweisung ist plötzlich Funkstille. Der Geschäftspartner ist verschwunden – und das Geld ebenfalls. Die sogenannte Nigeria-Connection.

Hartmann erinnert sich, dass man früher in seiner Familie gelegentlich von reichen entfernten Verwandten mütterlicherseits sprach.

Der Brief, dem ein Affidavit beiliegt, ist in perfektem Business-Englisch verfasst. Hartmann googelt den Namen der Anwaltskanzlei. Sie existiert. Im Brief ist auch die Rede von einer Sicherheitsfirma namens Standard – Security & Fiduciary, bei der das Erbe hinterlegt sei. Die Firma gibt es ebenfalls. Hartmann kennt sich, als Mathematiker bei einer globalen Versicherungsgesellschaft, aus mit internationaler Geschäftskorrespondenz. Alles erscheint ihm, zumindest auf den ersten Blick, seriös und professionell. Er erwägt, die Unterlagen seinem Cousin vorzulegen, Jurist bei einer Warenhauskette. Aber er sieht schon dessen skeptischen Spott, und falls er wirklich erben sollte …, sein Cousin braucht es nicht als Erster zu erfahren.

Li Mei. Vor drei Jahren schickte die Firma Hartmann nach Taipeh, um das Personal eines Tochterunternehmens in ein neues Computerprogramm einzuführen. Li war eine dieser Angestellten. Erst lagen ihre Hotelzimmer nebeneinander, in der letzten Nacht des Seminars dann sie selbst. Am nächsten Morgen lud Li ihn zu sich nach Hause ein. Sie hatte eine Wohnung in Hualien, hundert Meilen südlich der Hauptstadt. Es war ein altes Haus in einer engen, rauchigen Seitenstraße. Wie im Schanghai des 19. Jahrhunderts. Sie saßen auf Schemeln, tranken Tee aus fein bemalten, zerbrechlichen Porzellantassen, sprachen über die hohen Mieten in Taipeh, über ihren verstorbenen Vater, Laotse, Handeln durch Nichthandeln und vermieden die Zukunft. Sie schenkte ihm einen Glücksbringer mit Perlen, den er im Innern seines Koffers befestigte.

Am nächsten Tag übernachteten sie in einem windumtosten Hotel am Meer. Sie saßen auf der weißen Couch an der Fensterfront und blickten auf den verregneten Pazifik. Dann kurvten sie in Lis Wagen durch die dunklen, engen Tunnels ins Landesinnere, nach Taitung County. Dort stiegen sie in …

Hartmann reißt sich aus seinen Träumen.

Nach seiner Rückkehr telefonierten und mailten sie manisch. Der Abstand eines halben Weltumfangs ließ ihre Verliebtheit nicht erschlaffen. Im Gegenteil. Er spannte sie zum Zerreißen. Eines Tages schrieb sie in einer SMS: Ich weiß nicht, ob das sinnvoll ist – immer an dich zu denken, in Gedanken bei dir zu sein. Ich bin – wie ein Gespenst – gar nicht mehr hier in Taiwan. Und von da an beantwortete sie weder seine Anrufe noch seine Mails.

Sie wollte ihren hoch bezahlten Job in Taipeh nicht aufgeben; für ihn gab es keine Möglichkeit, im Fernen Osten zu arbeiten. Sie träumte von einer Familie. Aber das Land war teuer.

Hartmann stellt sich vor, wie er die Million nach Taipeh transferiert. Dann besteigt er ein Flugzeug, und zwei Tage später steht er vor ihrer Tür in Hualien.

»Hallo Li, hier bin ich. Und hier bleibe ich.«

Hartmann wählt die Nummer der Anwaltskanzlei. Ein Herr Dos Santos meldet sich. Derselbe, der den Brief unterzeichnet hat. Ein Schwall von Höflichkeiten, Formalitäten und Erklärungen in verschlungenem Spanisch und Englisch.

»Passen Sie auf«, unterbricht ihn Hartmann schließlich, »man hört so oft von Betrügereien. Ich möchte etwas klarstellen: Ich werde keinen Cent im Voraus bezahlen.«

Kein Problem, meint Dos Santos etwas pikiert. Es handle sich bei Ruiz & Stevenson schließlich um eine große und renommierte Kanzlei; sie seien durchaus fähig, ein paar tausend Euro Gebühren vorauszuzahlen.

Also doch, denkt Hartmann: ein paar tausend Euro.

»Wir reservieren ein Hotel für Sie, wir organisieren einen Flug. Wann können Sie kommen? Sie wissen, es eilt.«

»Ich rufe Sie zurück.«

»Wann?«

»Morgen.«

Bevor Dos Santos nachhakt, hängt Hartmann auf.

Um sich seine Bewegungsfreiheit zu bewahren, bucht er selbst einen Flug und ein Hotel, vom 18. bis zum 20. Januar. Palau de la Mar, eines der besten am Platz, fünf Sterne. Hypermodern, hell-minimalistisch, wie das United, in dem er damals mit Li logiert hatte.

Dos Santos hatte eine Kassette in einem Safe erwähnt. Vielleicht geht es nicht nur um eine Barschaft, sondern auch um Objekte.

Die Frage ist, wie er den Schatz in die Schweiz verschieben soll.

Möglicherweise wird er von Dos Santos & Co. bloß benutzt, damit sie an den Safeinhalt kommen. Um ihm das Ganze hinter der nächsten Ecke wieder abzunehmen. Auf jeden Fall besser, in einem sicheren Hotel unterzukommen als in einer lotterigen Pension, und sicher besser als in einer von ihnen organisierten Unterkunft.

Hartmann ruft die UBS an und erkundigt sich nach einer Filiale in Valencia. Ja, gibt es. Er ruft die angegebene Nummer an, will wissen, ob es möglich wäre, von dort aus Geld auf sein Konto in der Schweiz zu transferieren. Ja, erklärt ihm ein gewisser Herr Dominguez. Allerdings müsste er in diesem Fall ein Konto in Valencia eröffnen.

Hartmann vereinbart einen Termin und beglückwünscht sich zu seiner effizienten und professionellen Vorgehensweise.

Am nächsten Morgen ruft er Dos Santos an und teilt ihm mit, dass er in vier Tagen ankomme.

»Gut, wir buchen Ihnen einen Flug und ein Hotelzimmer«, sagt Dos Santos.

»Sie haben mich falsch verstanden – beides ist schon gebucht.«

»Wie das?! Wir sagten Ihnen doch, wir kümmern uns um alles.«

»Geht schon in Ordnung.«

»Herr Hartmann, aus Sicherheitsgründen ist es besser, wenn Sie sich an unsere Anweisungen halten. In welchem Hotel steigen Sie ab? Und um welche Zeit kommen Sie an?«

»Aus Sicherheitsgründen? Hören Sie mal, ich bin ein Klient von Ihnen, das ist alles. Und wegen des Hotels – ich kontaktiere Sie nach meiner Ankunft. Auf Wiederhören.« Als Hartmann am Nachmittag nochmals über die Transaktion nachdenkt, fragt er sich, wie es eigentlich um die Erbschaftssteuer steht. Müsste er nicht einen Teil des Geldes dem spanischen Staat abliefern?

Er ruft abermals Dos Santos an.

»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, sagt dieser. »Das Geld existiert eigentlich gar nicht.«

»Schwarzgeld …«

»Eigentlich braucht Sie das ja nicht zu kümmern, aber es war so: Nur ich, als Herr Hohensteiners Anwalt, wusste von diesem Safe. Das Geld lag nie auf einem Konto. Insofern kann der Staat auch keine Ansprüche stellen.«

Bleibt die Frage, wie Hartmann dieses Geld außer Landes schaffen soll. Das sind allerdings Probleme, die er nicht mit Dos Santos diskutieren mag.

Der Anwalt erklärt ihm umständlich das Prozedere der Safeöffnung. Es gebe zwei Codes. Der eine sei der Firma Standard – Security & Fiduciary bekannt, zum andern habe nur der juristische Nachfolger des verstorbenen Herrn Hohensteiner Zugang. Nebenbei erwähnt Dos Santos zum ersten Mal den Umfang der anfallenden Gebühren. 15 000 Euro – sowie das Honorar für den Anwalt: 20 Prozent der Erbschaft. Hartmann versteht nicht recht, was die Sache mit den Codes soll; vielleicht geht es einfach darum, ihn mit technischen Details von der Maßlosigkeit der Zahlungen abzulenken.

Im Moment gibt es jedoch Wichtigeres. Beim jetzigen Stand der Dinge kann er drei Möglichkeiten unterscheiden, die er auf einem Blatt notiert:

1. Die Erbschaft existiert nicht; es geht den Leuten nur darum, mir 15 000 Euro abzuknöpfen.

2. Die Erbschaft existiert und Dos Santos ist tatsächlich Hohensteiners Anwalt. Um an das Geld und den Code heranzukommen, braucht er einen echten oder vorgeschobenen Erben, zumindest jemanden mit dem Namen Hohensteiner. Ist das Geld einmal losgeeist, wird Dos Santos alles daran setzen, es mir wieder abzuknöpfen.

3. Alles ist normal und legal. Ich werde das Geld in Empfang nehmen, die Gebühren sowie 20 Prozent der Erbschaft als Honorar für Dos Santos zahlen. Das wirkt zwar überzogen, aber angesichts der dubiosen Herkunft des Geldes wäre es ungeschickt, den Fall der Polizei vorzulegen.

Wie geplant fliegt Hartmann am Morgen des 18. Januar nach Valencia, in der Innentasche seines Jacketts einen Umschlag mit 15 000 Euro. Er hat sich zwar vorgenommen, die Gebühren erst zu bezahlen, wenn er die Erbschaft in Händen hält, aber er weiß nicht, ob es möglich ist, in Valencia diese Summe auf einen Schlag abzuheben. Am Flughafen nimmt er ein Taxi und lässt sich zum Palau de la Mar fahren. Er bezieht sein Zimmer, verstaut das Geld im Safe und ruft Dos Santos an.

»Wir haben doch vereinbart, dass Sie uns gleich nach Ihrer Ankunft anrufen! Wir hätten Sie abgeholt. Wo sind Sie jetzt?«

»Im Hotel. Soll ich in Ihre Kanzlei kommen?«

»Ja, aber heute geht es nicht mehr. Morgen. So oder so müssen zuerst die Formalitäten mit der Firma Standard geregelt werden. Ich schicke den zuständigen Mann vorbei.«

Ich hätte mir ein Café in der Umgebung merken müssen, denkt Hartmann, zögert und gibt schließlich die Adresse des Hotels an. Dos Santos verspricht, der Angestellte sei um 16 Uhr dort.

Hartmann isst in der Nähe des Hotels in einem einfachen Lokal einen Teller Paella, dann schlendert er die palmengesäumte Hauptstraße hinunter und stattet den gigantischen, futuristischen Calatrava-Bauten, der Sehenswürdigkeit Valencias, einen Besuch ab. Allerdings nur von außen; es ist alles geschlossen, Mittagszeit, Siesta. Also nimmt er ein Taxi und lässt sich zum Museo de Bellas Artes fahren. Er durchstreift Saal um Saal, aber kaum einmal bleibt sein Blick an einem Gemälde hängen. Seine Gedanken sind woanders. Was, wenn diese Leute unbedingt zuerst das Geld wollen, bevor sie etwas herausrücken? Er nimmt sich vor, darauf zu bestehen, zumindest einen Blick auf die Kassette mit der Erbschaft werfen zu können. Um zu sehen, ob es wenigstens ein Zipfelchen Realität in der ganzen Geschichte gibt.

Die alten Ölgemälde triefen vor Katholizismus. Hunderte von Kreuzigungen. Wird ausnahmsweise einmal eine nackte Frau gezeigt, taucht unweigerlich ein Totenkopf daneben auf, der das Bild in ein Memento Mori verwandelt: Alle Lust ist vergänglich und vergeblich. Eines der wenigen Werke, das seine Aufmerksamkeit auf sich zieht, stammt von Velázquez und zeigt einen Toten in seinem Bett, die Hände zum ewigen Gebet gefaltet. Der größte Teil des Bildes ist tiefschwarz, ein schwarzes Tuch über dem Verstorbenen, ein finsterer Hintergrund, die unendliche Dunkelheit. Hartmann denkt an eine Nachbarin, deren Tochter kürzlich Selbstmord beging. Die Frau hatte ihm etwas Seltsames erzählt: Ein paar Tage vor der Tragödie besuchte sie mit einer Freundin ein Grab. Als sie den Friedhof verlassen wollten, erwischten sie eine falsche Abzweigung und landeten in einer Sackgasse. Sie kehrten um, fanden den Ausgang jedoch abermals nicht. So irrten sie umher wie in einem Labyrinth, bis sie schließlich wieder am besuchten Grab landeten und endlich von dort hinausgelangten.

Hartmann verlässt das Museum. Es bleiben ihm noch zweieinhalb Stunden. Er macht einen Umweg durch die Innenstadt. Zufällig kommt er am UBS-Gebäude vorbei, das allerdings reichlich heruntergekommen wirkt mit seiner alten Holztür, von der die Farbe abblättert. Wäre er bereit, hier eine Million zu deponieren? Er drückt auf die Klingel, ein Concierge öffnet.

»Zur UBS.«

»Haben Sie eine Verabredung?«

»Ja, mit Herrn Dominguez«, sagt Hartmann, und der Concierge führt ihn zum Lift, der immerhin etwas moderner wirkt als der miefige Eingang.

Private Wealth steht auf einer Messingplakette, als er aus dem Aufzug tritt. Eine Sekretärin begleitet ihn zu einer Sitzgruppe aus cremefarbenen Lederfauteuils und stellt ihm Mineralwasser auf das Glastischchen. Durch eine Scheibe blickt er in ein kleines, diskretes Sitzungszimmer. Designermöbel, helle, dicke Teppiche, die jedes Geräusch verschlucken. Wie in Zürich.

Die Sekretärin kommt zurück. »Herr Dominguez ist beschäftigt. Hätten Sie vielleicht die Freundlichkeit, morgen nochmals vorbeizukommen, wie abgemacht?«

»Kein Problem. Könnten Sie mir ein paar Unterlagen und Ihre Karte mitgeben?«

Als Hartmann mit den teuer aufgemachten Hochglanzprospekten und Jahresberichten unter dem Arm wieder auf die Straße tritt, hat er seine Mitte wiedergefunden.

Er kommt im Hotel an; es ist allerdings immer noch zu früh. Kann er hier irgendwo seine E-Mails einsehen? Man weist ihm einen Laptop an einer Theke in der Lobby zu. Die paar Spam-Mails sind schnell durchgesehen. Er googelt erneut Standard – Security & Fiduciary und landet auf der Homepage der Firma. Aber nach zwei weiteren Klicks stellt sich heraus, dass das Unternehmen weder in Madrid noch in Valencia Filialen unterhält.

Auf einem Beistelltischchen liegt ein Velázquez-Bildband. Er blättert ihn durch, aber das Bild, das er im Museum gesehen hat, findet er nicht.

Um 16.15 Uhr betritt ein Mann in einem lila Hemd das Foyer. Unter dem Arm eine rote Kartonmappe. Ein groß gewachsener Schwarzer mit Gym-Oberkörper. Er durchschreitet die Lobby bis zum Empfang, wirft einen Blick ins Restaurant und kehrt wieder um. Ihre Blicke streifen sich kurz, Hartmann schaut zur Seite. Obwohl er weiß, dass er es ist. Der Standard-Mann.

Ein Blick durch die Glastür. Der Schwarze steht draußen vor dem Eingang und spricht in sein Handy.

Hartmann legt Velázquez auf den Glastisch zurück, erhebt sich und geht auf den Unbekannten zu.

»Sind Sie von Standard Security?«

»Oh, Mister Hartmann – please excuse me for the delay!«

Er stellt sich als Plinius Owebe vor. Als Hartmann den Namen hört, will er ihn fragen, ob er aus Nigeria stamme, aber er lässt es sein.

Owebe führt ihn in ein Café in der Nähe, überschüttet ihn mit Informationen über die Sicherheitsvorkehrungen und holt schließlich ein Formular aus seinem Mäppchen. Im Briefkopf steht in Türkis: Blue Heaven – Storage, Security, Vault.

»Ich glaubte, Sie seien von Standard«, sagt Hartmann.

»We are allied«, antwortet Owebe.

Das Formular dient angeblich dazu, Hartmanns Personalien zu überprüfen. Zusätzlich wird die Polizei mit seiner Unterschrift dazu ermächtigt, den Inhalt des Safes zu konfiszieren, falls es sich dabei um Waffen, Drogen oder Ähnliches handelt. Auch gibt es einen Passus, mit dem er erklärt, dass er imstande sei, anfallende Gebühren zu begleichen.

»Worum handelt es sich denn eigentlich bei dieser ominösen Kassette?«, fragt Hartmann. »Ist die groß, schwer …?«

»Über den Inhalt kann ich Ihnen nichts sagen. Die Metallkassette wiegt 65 Kilogramm.«

Hartmann zögert einen Moment mit der Unterschrift. Er überlegt sich, ob ihn die Signatur zu irgendetwas verpflichtet. Es sieht nicht so aus – er unterschreibt.

»Wie geht es jetzt weiter?«

»Herr Dos Santos und ich holen Sie morgen um neun mit dem Chauffeur ab, dann fahren wir zum Safe. In der Zwischenzeit werden Ihre Angaben überprüft. Sie haben das Geld?«

»Ja …, das heißt … nicht hier«, stammelt er, plötzlich nervös geworden. »Ich trage es nicht bei mir, aber ich habe es.«

Er ärgert sich über seine offensichtliche Unsicherheit.

»Ich hoffe, es ist an einem sicheren Ort.«

»Ja, klar, im …« Er will sagen: »… im Safe des Hotelzimmers«, aber beendet den Satz mit: »Machen Sie sich keine Sorgen.« Das klingt doch bereits etwas cooler.

Owebe ruft den Anwalt an und teilt ihm mit, dass das Formular unterschrieben sei, er werde es gleich vorbeibringen.

Bevor sie sich verabschieden, bittet Hartmann um eine Visitenkarte. Owebe blickt eine Sekunde lang verdutzt, fängt sich dann und sagt: »Oh, leider habe ich sie im Büro vergessen. Ich bringe sie Ihnen morgen.«

»Könnten Sie mir bitte Adresse und Telefonnummer notieren?«

»Die brauchen Sie nicht, wir bringen Sie morgen hin.«

»Ich hätte sie trotzdem gerne, im Falle eines Falles.«

Dieses Mal ist es Owebe, der zunehmend nervöser wird. Er schreibt die Angaben auf eine Serviette und reicht sie ihm.

Dann verabschieden sie sich und Hartmann geht zum Hotel zurück.

Im Foyer setzt er sich nochmals an den Computer, sucht die Homepage der Anwaltskanzlei Ruiz & Stevenson und vergleicht die Nummer, die im Schreiben der Kanzlei stand, mit den offiziellen Büronummern. Sie stimmen nicht überein. Aber gut, das muss nichts bedeuten; vielleicht hat er Dos Santos’ Handynummer erhalten.

Er fragt am Empfang, ob er telefonieren könne, ruft die Kanzlei-Nummer von der Homepage an und fragt die Sekretärin, ob sie ihn mit dem Anwalt Dos Santos verbinden könne.

»Es tut mir leid, aber hier arbeitet kein Herr Dos Santos.« Hartmann verlässt das Hotel, hält ein Taxi an und bittet den Fahrer, ihn zur Adresse zu bringen, die Owebe notiert hat.

»Diese Straße sagt mir nichts«, murmelt der Fahrer.

»Vielleicht liegt sie irgendwo in einem Außenquartier«, meint Hartmann.

Der Fahrer holt ein dickes, zerfleddertes Buch aus dem Handschuhfach und schlägt die Straße nach.

»Gibt es nicht in Valencia. Was suchen Sie denn – ein Wohnhaus, eine Firma?«

»Das Unternehmen heißt Blue Heaven – Storage, Security, Vault.«

»Haben Sie eine Telefonnummer?«

Hartmann reicht ihm den Zettel.

»Das ist eine Madrider Nummer«, sagt der Fahrer.

Hartmann bedankt sich und steigt wieder aus.

In der Hotellobby setzt er sich nochmals an den Computer und googelt Blue Heaven. Es existiert keine solche Firma in Spanien.

»Möchten Sie etwas trinken?«

Hartmann bestellt Tee mit einem Glas Porto und setzt sich damit in den Fauteuil im Nebenraum mit der Bibliothek.

Er erinnert sich, wie er damals mit Li in die nebligen Berge hochgefahren war. Sie folgten einer wilden Schlucht mit einem reißenden Fluss und kamen durch mehrere Tunnels, grob in den Fels getrieben, lang gezogene Höhlen, unverputzt. Wie in der Schweiz, bloß dass man hie und da aufs Meer hinuntersah oder einen rot bemalten Tempel passierte. Li hatte ein Zimmer gebucht in einem Hotel mitten in einem Ureinwohner-Reservat. Das Gebäude war in der traditionellen Bauweise gehalten, es gab Ethnofood, in längs halbiertem Bambusrohr oder auf Blättern serviert, und in der Eingangshalle konnte man lokales Kunsthandwerk erstehen. Nach dem Abendessen kauften sie eine Flasche einheimischen Kirschenwein und ließen sich im Zimmer auf die Strohmatten fallen. Die Fenster lagen gleich über dem Fußboden, sodass man im Liegen auf das grau verhangene Gebirge sah. Sie tranken abwechslungsweise aus der Flasche, und nach einer halben Stunde fühlten sie sich – er meinte: »wie beim Gleitschirmfliegen«, sie: »wie beim Tauchen«. Sie erzählten sich Rückwärtsgeschichten: begannen beim Ende und gingen dann Satz um Satz zurück in die Vergangenheit. So landeten sie schließlich bei ihren frühesten Kindheitserinnerungen, und er hatte die Idee, dass sie nur weit genug zurückgehen müssten, um am selben Ort zu landen; so wie man sagt, Parallelen träfen sich im Unendlichen.

Die Liebesnacht war … wie ein Tauchgang in einem Korallenriff … Meilen um Meilen in die Dunkelheit hinunter, ohne Sauerstoffgerät.

Hartmann fantasiert, wie er vorginge, wenn die Geldkassette erst einmal in seinem Besitz wäre. Wie bei einer Schachpartie geht er im Kopf verschiedene Spielverläufe durch.

Vielleicht wäre es am besten, in der Sicherheitsfirma gleich einen neuen Tresor anzumieten und die Kassette vorerst einmal dort zu lassen. So könnte er das Risiko vermeiden, mit dem Schatz auf die Straße hinauszutreten. Aber nach allem, was er eruiert hat, ist der Firma nicht zu trauen. Vielleicht doch eher UBS. Aber die ganze offizielle Bankprozedur … Die könnte er umgehen, indem er das Geld bei einer anderen Sicherheitsfirma deponierte. Er muss dringend abklären, ob es in Valencia noch weitere solche Depots gibt. Dann hat er eine Idee: morgen sicherheitshalber nicht mit Owebe und seinen Leuten zu fahren, sondern per Taxi. Der Fahrer sollte dann vor der unsicheren Sicherheitsfirma auf ihn warten. Sobald er das Geld hätte, würde er sich zum Bahnhof fahren lassen und es dort in einem Schließfach verstauen. Aber mit der Bahn zu fahren, wäre zu riskant. Man könnte sich allzu leicht an seine Fersen heften. Er könnte mit einem gemieteten Auto beispielsweise bis Barcelona entwischen und erst dort auf die Eisenbahn umsteigen. Blieb das Problem mit dem Grenzübertritt. Eigentlich musste man größere Summen Bargeld deklarieren. Aber das Risiko einer Kontrolle war wohl minimal. Blieb die Frage mit der Versteuerung. Eine andere Möglichkeit wäre, gar nicht erst zu versuchen, das ganze Erbe zu transferieren, weder per Bank noch per Bahn; stattdessen würde er es hier auf einem Konto oder in einem Safe lassen und käme einfach von Zeit zu Zeit her, um einen Teil abzuheben.

Sein Handy klingelt. Dos Santos. »Es tut mir furchtbar leid«, sagt der Winkeladvokat, »aber ich muss mich kurzfristig nach Paris begeben. Ein wichtiger Klient. Ich fliege noch heute Abend. Ich werde jedoch meine Repräsentantin schicken, sie wird sich um alles kümmern.«

»Ich glaube Ihnen nicht.«

»Bitte? Was meinen Sie? Sie können ihr vollumfänglich vertrauen, sie vertritt mich. Falls es Probleme gibt, rufen Sie mich an.«

»Sie arbeiten gar nicht bei Ruiz & Stevenson. Ich habe nachgefragt.«

»Wie bitte? Ach, wir haben eine neue Telefonistin. Wahrscheinlich kennt sie noch nicht alle Partner.«

»Ich habe mit einem der Advokaten gesprochen«, lügt er.

»Machen Sie sich keine Sorgen. Folgen Sie einfach den Anweisungen. Herr Owebe hat die Papiere weitergeleitet, meine Leute arbeiten unter Hochdruck daran. Frau Da Silva wird also wie abgemacht morgen um neun bei Ihnen sein.«

Hartmann fragt am Hotelempfang nach einem englischsprachigen Taxifahrer. Nach einer Viertelstunde kommt der Fahrer seines Vertrauens zur Lobby herein.

»Ich möchte, dass Sie morgen um neun Uhr hierherkommen. Meine Leute werden in ihrem Wagen vorausfahren, wir folgen ihnen im Taxi. Dann werden wir ein Geschäft abwickeln, in einem Haus. Sie warten im Taxi draußen. Wenn ich rauskomme, fahren wir entweder zum Hotel zurück oder zum Bahnhof. Falls ich nach einer Viertelstunde nicht wieder auftauche, rufen Sie die Polizei.«

Der Taxifahrer macht ein missmutiges Gesicht.

»Hier, zur Anzahlung.« Hartmann drückt ihm einen Zwanzig-Euro-Schein in die Hand.

Sie tauschen ihre Visitenkarten aus. Bevor der Fahrer zu seinem Auto geht, verdrückt er sich mit dem Mann vom Hotelempfang in eine Ecke, wo sie mit gedämpfter Stimme, aber heftiger Gestik diskutieren. Hartmann zieht sich in sein Zimmer zurück.

Als er eine Viertelstunde später durchs Fenster schaut, um nachzusehen, ob das Taxi noch da ist, sieht er einen schwarzen Range Rover auf dem Gehsteig, etwa zwanzig Meter vom Hoteleingang entfernt. Hinter dem Steuer sitzt ein Mann.

Hartmann nimmt eine Dusche und erinnert sich an das Zimmer in Taipeh. Bad und Schlafzimmer waren lediglich durch eine große Glasscheibe getrennt. Damit die fernsehverrückten Taiwaner auch während des Badens freie Sicht auf den Bildschirm haben, hatte er gemeint. Aber Li klärte ihn auf, es gehe darum, dass man der Frau beim Duschen zusehen könne. Später sprach Hartmann mit einem Taiwaner in Zürich darüber.

»Sie war eine Romantikerin«, sagte dieser. »In Wirklichkeit sind die Scheiben dazu da, dass ein Pärchen, das es im Badezimmer treibt, währenddessen Pornos schauen kann.« Aber die Scheibe war sowieso beschlagen vom Dampf, und in beide Richtungen sah man nur verschwommene Umrisse.

Nach der Dusche tritt Hartmann im hoteleigenen weißen Bademantel erneut ans Fenster und schiebt den Vorhang ein wenig zur Seite. Der Range Rover mit dem Mann, von dem er nur den Hinterkopf sieht, steht immer noch dort. Hartmann notiert sich das Kennzeichen.

Als er damals im Flugzeug saß, das ihn von Taipeh via Hongkong nach Europa zurückspedierte, wollte er gerade sein Handy ausschalten, als eine SMS von Li ankam.

Vielleicht schläfst du, aber ich vermisse dich. I never thought there’s a man like U will rich my life. To be with U, I know what’s intoxication.

Er musste lachen über das Wort »intoxication«. Oft kam es zu Konfusionen während ihrer Gespräche, und dann benutzte sie eine elektronische Übersetzungshilfe, die die Verwirrung noch vergrößerte. Sie meinte wohl so etwas wie »liebeskrank« oder »von Sehnsucht infiziert«.

Und drei Monate später antwortete sie nicht mehr auf seine Nachrichten. Unermüdlich schickte er ihr weiter Mails und SMS – ohne Antwort. Er verstand es nicht, und er konnte sie nicht fragen warum. Monumentale Ratlosigkeit. Er fühlte sich bestürzend allein gelassen. Ihr Zusammensein war so natürlich gewesen, es schien so selbstverständlich, dass es immer so weitergehen würde.

Wie sie damals spätabends in den heißen Felsenquellen badeten und sie ihn nach seiner Blutgruppe fragte, die angeblich Rückschlüsse auf den Charakter erlaube.

»A«, sagte er.

»Wir würden gut zusammenpassen«, meinte sie.

Er fragte sie, ob die Kinder eigentlich die Blutgruppe des Vaters oder der Mutter erbten oder eine eigene hätten. »Es ist komplizierter«, erklärte sie und versuchte auszurechnen, welche Gruppe ihre gemeinsamen Kinder haben könnten. Aber dann …, so wenig später … Sie teilte ihm nicht einmal mit, dass sie nichts mehr mitteilen würde. Und nichts mehr teilen würde mit ihm. »Share«, dieses Wort, das sie so oft benutzte. Häufig schoss sie mit ihrem Handy ein Foto von dem Ort, wo sie gerade war – ein Park mit blühenden Bäumen, eine schön gestaltete Bar –, und schickte es ihm. Share with you, schrieb sie dann dazu. Und nun fühlte er sich »intoxikiert«. Kein Übersetzungsfehler. Genau so. Die Inkubationszeit, die Frist, bis die Vergiftung zu wirken begann, betrug ein paar Monate, aber nun war sie da. Ein Süchtiger auf Entzug. Er lebte eigentlich nicht mehr, ohne sie. Wie ein Geist schlich er herum, auch er. Ausgehöhlt. Li Mei – »die schöne Frucht«. Er wäre bereit gewesen, Chinesisch für sie zu lernen, Taoist zu werden, Karaoke zu singen, einen Kimono zu tragen – was auch immer.

»Deine Puppenaugen«, hatte sie gesagt.

Seine Augen waren braun und schmal. »Chinese« nannten sie ihn manchmal als Kind. Er hatte immer gerne Filme aus China, überhaupt aus dem Fernen Osten geschaut. Er liebte auch die alte Kolonialliteratur à la Somerset Maugham, Graham Greene, Marguerite Duras. Schanghai, Macao, Saigon, Hanoi, Rangun, Bangkok, die verruchten Häfen, Opium, Freudenhäuser, Konkubinen, Schmuggler, Seidenanzüge …

Er schaltet das Radio ein. »A Thousand Kisses Deep« von Leonard Cohen. Mit der seltsamen Zeile: »You live your life as if it’s real.«

Das lässt ihn an einen anderen Song von Cohen denken, »In My Secret Life«.

Er summt ihn vor sich hin, während er auf die Straße hinunterschaut.

»And I miss you so much

There’s no one in sight.

And we’re still making love

In my secret life.«

Er holt die 15 000 Euro aus dem Safe und schaut sich im Zimmer nach einem Briefumschlag oder einer kleinen Plastiktüte um. Nichts. Also geht er ins Bad und zieht einen Hygienebeutel aus dem Behälter an der Wand. Darin verstaut er das Bündel Noten und steckt es in seine Schuhe. Beim Anprobieren drückt es ein wenig, aber für eine Stunde sollte es gehen.

Einen Moment denkt er an seine Wohnung in der Schweiz und stellt mit Erschrecken fest, wie fremd sie ihm vorkommt und wie gleichgültig sie ihm ist, obwohl er noch keinen Tag fort ist. Durch die Vorhänge blickt er wieder auf die Straße hinunter; der schwarze Geländewagen steht noch immer dort. In der Mappe mit den Unterlagen des Hotels schaut er unter Notfallnummern nach und programmiert Polizei – 112 in sein Handy.

Hartmann braucht frische Luft. Kaum hat er das Hotel verlassen und ist einige hundert Meter eine steil abfallende Nebenstraße hinuntergegangen, klingelt sein Telefon. Der Anwalt. Der »Anwalt«.

»Ich wollte mich erkundigen, ob alles nach Plan läuft. Fühlen Sie sich wohl in Valencia?«

»Ja, aber ich werde morgen nicht mit Owebe und dem Chauffeur fahren. Ich nehme ein Taxi und fahre ihnen nach.«

»Machen Sie sich keine Sorgen. Folgen Sie den Instruktionen. Wir sollten keine Außenstehenden involvieren. Das ist eine vertrauliche Angelegenheit, zwischen Ihnen und uns.«

»Ja, aber wir machen es so, wie ich gesagt habe.«

»Ich bin nicht glücklich, Herr Hohensteiner.«

»Darum geht es hier nicht. Wir sprechen über ein Geschäft. Sie treffen Ihre Vorsichtsmaßnahmen, ich die meinen.«

»Hören Sie mal«, und nun wird Dos Santos plötzlich laut, »Sie haben sich von Anfang an nicht an unseren Plan gehalten. Wir hätten Ihnen den Flug und das Hotel gebucht, Sie abgeholt, ein Sightseeing-Programm organisiert, aber Sie haben von Beginn an unsere Abmachungen nicht eingehalten und …«

»Diktate, nicht Abmachungen. Diktate.«

»Sie sind undankbar. Wissen Sie überhaupt, welchen Aufwand wir für Sie betrieben haben? Und Sie, Sie danken es uns mit Misstrauen, Nachspionieren, Vorwürfen. Mit Ihrem irrationalen Verhalten gefährden Sie alles. Christian – wir machen es so wie abgemacht, oder der Deal platzt!«

»Für Sie bin ich nicht Christian. Und alles, was Sie sagen, macht mich bloß noch misstrauischer.«

Dann hängt er auf.

Er hat das Gefühl, verfolgt zu werden, und betritt einen Comestibles-Laden, wo er eine kleine Flasche Sherry und ein Säckchen getrocknete Orangen kauft.

Kaum ist er wieder auf die Straße hinausgetreten, klingelt sein Handy erneut.

»Sie haben recht, misstrauisch zu sein«, sagt Dos Santos mit weicher, fast zärtlicher Stimme. »Sie sind intelligent, und da ist es nur normal, Vorsicht walten zu lassen. Ich kenne Owebe. Diese Leute von den Sicherheitsfirmen sind oft etwas rohe Typen, und …«

»Und warum kommen dann morgen nicht Sie?«

»Es tut mir sehr, sehr leid, dass ich Sie nicht persönlich begleiten kann. Geschäfte … Aber meine Patricia, meine Repräsentantin, wird sich um Sie kümmern. Sie ist eine warmherzige, liebenswerte junge Frau …«

»Ich brauche kein warmherziges Fräulein – ich brauche jemanden, der mich notfalls beschützen könnte.«

»Sie wird Sie beschützen. Fahren Sie wie abgemacht mit den anderen, es wird nichts passieren. Rufen Sie mich an, wenn es Probleme gibt. Patricia erwartet Sie morgen früh, Sie freut sich bereits, Sie kennenzulernen. Auf Wiederhören, trinken Sie etwas, gönnen Sie sich einen schönen Abend. Sie machen sich zu viele Sorgen.«

Hartmann biegt um die Ecke und stößt beinahe mit einem Mann in einem langen, schmutzigen Mantel zusammen. Er erschrickt furchtbar, ein Adrenalinstoß, sein Herz stockt, und noch Minuten später rinnt ihm der Schweiß den Körper hinunter.

Nachts träumt er von einem schwarzen VW Käfer, der oben an einem Abhang steht.

Eine schwarze Katze sitzt drin. Er selbst duckt sich unten in der Wiese auf den Boden und beobachtet den Wagen. Li Mei nähert sich dem Auto, ahnungslos. Er schreit: »Erschieß sie, bevor sie dich erschießt!« Im letzten Moment drückt sie ab, der Wagen kippt den Hang hinunter, und Hartmann selbst kann gerade noch knapp zur Seite rollen.

In einer anderen Traumszene fährt er morgens auf der Autobahn. In der Nacht hat es geschneit und noch immer fallen dicke Flocken auf die Straße. Es ist ein schöner, neuer Wagen, den er fährt – der erste seines Lebens. Er nimmt eine Ausfahrt. Zu schnell. Er weiß, dass es riskant ist zu bremsen. Aber er weiß auch, dass es eigentlich keine Rolle mehr spielt: Ob er nun abbremst oder versucht, die Kurve ohne Bremsung zu erwischen, er wird ins Schlingern geraten. Und so ist es auch. Egal was er am Steuer oder mit den Pedalen tut. Der Wagen dreht sich, knallt voll in die Leitplanke. Er hört das Blech knirschen, weiß, dass der teure Wagen futsch ist – und ist unendlich traurig. Wie ein Spaltpilz befällt die Sinnlosigkeit nach und nach und unaufhaltsam alles, was noch Wert oder Bedeutung für ihn hatte.

Hartmann schläft nicht gut. Er taucht in diese deprimierenden Träume ein, dann versucht er, sich zu befreien, aufzutauchen, aber nur, um in seinem wirren, endlosen Schachspiel alle möglichen Züge durchzugehen. »Was mache ich, wenn sie darauf beharren, dass ich zuerst die Gebühren zahle, bevor sie den Safe öffnen? Wie reagiere ich, wenn sie nicht zulassen, dass ich ihnen mit dem Taxi folge? Soll ich die 15 000 Euro mitnehmen oder im Hotel lassen? Oder dem Taxifahrer übergeben?«

Er ist erleichtert, als der Wecker endlich klingelt und er aufstehen und duschen kann. Sorgfältig bindet er sich eine blau-gelbe Krawatte um und zieht dann den schwarzen Flanellanzug an, seinen besten, den er fein säuberlich im Garderobenschrank aufgehängt hat. Desinteressiert bedient er sich am exquisiten Frühstücksbuffet. Es deprimiert ihn, so viel Geld auszugeben, nur für sich selbst.

Pünktlich um neun erscheint der Taxifahrer und um halb zehn Owebe. Dos Santos’ Repräsentantin ist ein Witz. Als sie sich auf dem Gehsteig vor dem Hotel begrüßen, bringt sie bloß ein kaum hörbares »Hola« über die Lippen.

»Sie spricht nicht so gut Englisch«, sagt Owebe entschuldigend.

Circa achtzehnjährig, Mulattin, nicht besonders hübsch und eingekleidet aus dem Ramschladen, gleicht sie eher einer ausgebeuteten Haushaltshilfe mit ein paar wenigen Schuljahren als der Repräsentantin eines reputierten Anwalts.

»Also, verlieren wir keine Zeit«, sagt Owebe. »Steigen Sie ein!«

»Ich folge Ihnen im Taxi.«

»Das ist nicht so vorgesehen.«

»Vieles war nicht so vorgesehen. Fahren Sie voraus!«

In diesem Moment erinnert sich Hartmann: Nach der Unterzeichnung des Formulars im Café rief Owebe Dos Santos an. Und sie hatten sich auf Englisch unterhalten. Klar, Dos Santos heißt nicht Dos Santos. Wahrscheinlich eher Barunga oder Siwenga oder Uwubu; sie stecken alle unter einer Decke. Die Nigeria-Connection.

Owebe ist so wütend über Hartmanns Renitenz, dass er zumindest mimisch die Kontrolle verliert und für einen Sekundenbruchteil eine hasserfüllte Fratze zeigt. Sein wahres Gesicht. Er wendet sich sofort ab, als ob er es selbst gemerkt hätte, und geht zum Wagen zurück.

Jetzt oder nie, denkt Hartmann.

»Okay, wir lassen es bleiben«, ruft er. »Übung abgeblasen. Auf Wiedersehen, hat mich gefreut.«

Er dreht sich um und geht zum Hoteleingang zurück. Erleichtert.

Owebe hechtet ihm geradezu nach.

»Okay, cool down, man«, sagt er in einem ganz neuen Tonfall. »Kein Grund, nervös zu werden. Wir ziehen es jetzt durch, ganz easy, right

Der Taxifahrer steht mit sichtlichem Unbehagen etwas abseits unter einem Baum. Owebe bemerkt ihn, geht rasch hinüber und bespricht sich im Flüsterton mit ihm, während er ihm den Arm um den Hals legt.

Dann kommt er zurück und sagt lachend: »No problem, guys, let’s go!«

Der Taxifahrer winkt Hartmann heran. Er steigt ein, denkt oder hofft bis zuletzt, Owebe würde ihn daran hindern. Das würde ihm die Möglichkeit geben, den ganzen Deal abzusagen und sich einfach davonzumachen. Aber nichts geschieht und sie fahren los.

Sie gelangen in einen grauen, gesichtslosen Vorort mit Garagen, Einkaufszentren, Wohnblocks, der sich irgendwo auf der Welt befinden könnte. Hinter einem Hangar halten sie an. Ein großer, staubiger Platz, still und menschenleer. Nur von Ferne ist das monotone Brausen des Morgenverkehrs zu hören.

Owebe steigt aus dem vorderen Auto aus, der Fahrer ebenfalls. Bloß das Mädchen bleibt drin.

Sie kommen zum Taxi.

»Das ist also Blue Heaven?«, fragt Hartmann.

»Ja, man erwartet uns. Gib mir das Geld!«

»Sicher nicht hier draußen. Gehen wir rein.«

»Es ist besser, wenn ich alleine gehe. Wo ist das Geld?«

Unbedacht und gehorsam greift seine Hand nach unten, zu seinem Schuh. In diesem Moment trifft ein harter Schlag seine Schläfe, er verliert das Bewusstsein. Er kehrt zum schwarzen Käfer und dem schachartigen Labyrinth seines Traums zurück. Will sich nach Taiwan manövrieren, aber es gelingt ihm nicht. Irgendwann kommt er wieder nach Valencia. Spürt, wie er auf dem harten Boden liegt, und will die Augen öffnen. Merkt, dass sie schon offen sind, er aber trotzdem nichts sieht. Hört Stimmen um sich herum. Die junge Frau schluchzt und schreit.

»Du Schlampe, tu nicht so!«, will er ihr zurufen. »Ich weiß genau, dass du eine Komplizin bist!«

Aber er kriegt kein Wort heraus.

Ich bin in der Hölle, denkt er, und ich bin selbst schuld. Ich sah es kommen, ich hätte jederzeit aussteigen können – und tat es nicht.

Er hofft, irgendwo in der Dunkelheit Li Mei zu begegnen. Aber in diesem Moment wird ihm klar, dass sie ihn schon fast vergessen hat. Wahrscheinlich ist sie glücklich mit einem anderen Mann zusammen, vielleicht sogar verheiratet. Vielleicht wäre er gerettet worden, hätte sie jetzt nur einen Moment an ihn gedacht. Stattdessen denkt sie an den morgigen Sitzungstermin, an die Statistik, die sie noch durchgehen muss, ans Abendessen mit ihrer Freundin in der Innenstadt, an die bevorstehenden Ferien auf Turtle Island. Er versucht, die Arme zu heben und sie auf sich aufmerksam zu machen.

»Ich habe etwas für dich«, will er rufen. Aber sie ist zu weit weg und bemerkt ihn nicht. Immerhin habe ich überlebt, denkt er. Wie lange war ich wohl weg? Wo ist der Taxifahrer? Ob das Augenlicht zurückkehrt? Und das Geld – ist es noch in meinem Schuh?

Wenn ich hier rauskomme, fliege ich mit meinem gesamten Ersparten nach Taiwan. Warum habe ich nicht schon früher daran gedacht? Und wenn nicht – wenn ich hier umkomme zwischen diesen Wellblechwänden? Könnte ich die 15 000 doch wenigstens Li hinterlassen – anstatt diesen Idioten …

Plötzlich spürt er eine kühle Berührung an der Kehle. Sie geben mir zu trinken, denkt er. Dann taucht er abermals ab, verliert den Halt. Treibt hinaus, weit fort. Aber nicht nach Hualien zu Li.

DAS KREUZ

Schwierig, so kurzfristig noch ein Zimmer in Berlin zu kriegen. Lediglich ein Doppelbett in einem Hostel ist noch frei. Das hätte Fred gerade noch gefehlt: Mit Mirko im Ehebett. Doch schließlich stößt Mirko über einen Bekannten auf den Neffen eines Hotelbesitzers, und der Onkel schaufelt ihnen ein Zimmer frei. Bei der Ankunft stellt sich allerdings heraus, dass es kein richtiges Hotel ist. Es heißt Dietrich-Bonhoeffer-Haus und ist eher eine Art protestantisches Tagungszentrum. Unser Haus ist ein NICHTRAUCHERHOTEL sticht Fred beim Einchecken ins Auge.

Das Berghain. Das letzte Mal musste Mirko zwei Stunden anstehen. Also beschließen sie, schon um fünf vor zwölf da zu sein. Es ist noch geschlossen, aber bereits hat sich eine Schlange gebildet. Zum Glück haben sie etwas Ecstasy geschmissen, das Warten fällt ihnen leicht.

Der Türsteher des Berghain sieht aus wie ein Höllenhund. Lippen und Augenbrauen gepierct, Tätowierungen quer übers Gesicht wie ein wilder Malaie aus einem Abenteuerbuch und ein Körper kompakt wie ein Panzerschrank. Die Besucher werden gründlich gefilzt, aber nicht nach Drogen, sondern nach Fotoapparaten. Es könnte ja jemand beim Sniffen oder Fixen geknipst werden. Hier sind die Aufseher auf der Seite der Illegalität.

Das Gebäude ist ein gigantisches ehemaliges Stromwerk. Eine Halle hoch wie eine Kathedrale, rohe Betonwände, alles wummert und vibriert wie in einem Bergwerkstollen. Eisentreppen führen in den obersten Bereich. Durch die Stufen sieht man hinunter, schwindelerregend tief.

Mirko und Fred verlustieren sich in der Panorama-Bar. Eine muskulöse She-DJ legt ebenso muskulösen Sound auf. An der Seitenwand des Raumes hängt das Foto einer riesigen Möse. Einer, der mit Mirko und Fred reingekommen ist und schon am Eingang total verladen wirkte, sitzt nun seit seiner Ankunft mit offenem Mund und glasigen Augen vor dem Bild und staunt und staunt.

Mirko kann etwas Koks auftreiben. Es gibt eine Behindertentoilette, wohin sich die beiden gleich mal verdrücken. Erst versuchen sie es auf der glatten Oberfläche des Chromstahlrads mit den Klopapierrollen. Aber die liegt so tief, dass sie zum Sniffen neben der WC-Schüssel halb in die Knie gehen müssen, und das ist läppisch. Dann entdecken sie das Glas vor dem Spiegel über dem Waschbecken.

Eigentlich steht Fred nicht auf Koks. Es verdirbt ihm die Stimmung eher. Auch heute ist er vom Ecstasy angenehm aufgekratzt, aber nach der Linie ist seine Fröhlichkeit wie eingefroren. Er wird distanziert und schweigsam. Da gibt es nur die Flucht nach vorn. Noch eine Linie. Koks ist das Gegenteil von Nahrung: Je mehr man zu sich nimmt, umso hungriger wird man. Um die Koks-Kälte abzumildern, nehmen sie zum Dessert noch etwas Ecstasy.

Vorsichtig steigt Fred die Eisentreppe wieder hinunter zum Haupt-Dancefloor und taucht in die Menge. Aber der Sound ist brutal laut, die Bässe gehen durch Mark und Bein, er braucht – was ihm bisher noch nie passiert ist – Ohrenstöpsel. Die Vorstellung jedoch, sie in dieser Menschenmenge irgendwo zu besorgen, überfordert ihn. Er hat die Orientierung verloren, lustvoll verloren. Netterweise steht Mirko eine Viertelstunde später mit gelben Ohrenstöpseln neben ihm. Unglaublich. Telepathie. Vielleicht hat Fred ihm auch etwas gesagt. Er kann nicht mehr auseinanderhalten, was er bloß gedacht und was er gesagt hat. Natürlich sehen die Stöpsel peinlich aus. Aber es ist lustig. Der Sound dringt nur von fern durch die Ohren, wie beim Tauchen.

Sie machen eine Rauchpause. Unter Wasser schwimmen sie zum Rauchersalon, aber weil der so voll ist, setzen sie sich mit der Zigarette davor. Sofort kommt ein Aufseher angerannt und ermahnt sie, Rauchen sei bloß im Raucherraum gestattet. Bisschen absurd angesichts der wesentlich härteren Drogen, die allerorts konsumiert werden, findet Fred.

Weil sie nichts spüren vom Ecstasy, oder es zumindest meinen, genehmigen sie sich noch eine halbe. Dann schleppen ein paar Frauen die Ledersessel aus der Lounge ins Pissoir. Jetzt sitzen sie dort gemütlich in der Ecke, rauchen, trinken und schauen den Jungs zu, wie sie in den Blechtrog pinkeln.

Die düsteren Zwischengänge nebenan sind gesäumt von Betonkabäuschen, die aussehen wie Schlafkojen. Manche pennen dort drin, andere haben sich zu zweit hineingequetscht und knutschen herum. Zu viel mehr reicht der Platz nicht. Wie diese Billighotels, wo man in Röhren reingeschoben wird. Na gut, es soll ja klitzekleine Schwarze Löcher geben, warum also nicht auch Mini-Darkrooms?

Mirko hat Fred sein T-Shirt mit dem fluoreszierenden Kaninchen ausgeliehen. Ein voller Erfolg. Alle fragen ihn, ob es von Hanson sei. Fred kennt Hanson nicht, wahrscheinlich so ein Star-Designer. Manchmal sagt er »Ja«, manchmal auch »Nein, von Mirko«.

Sie gehen auf eine weitere Zigarette in den Raucherraum. Als sie durch die schmutzige Scheibe blicken, sind sie erstaunt. Eben erst sind sie angekommen, und jetzt ist es draußen schon taghell. Hoher Norden, Mitternachtssonne? Auf der gegenüberliegenden Mauer steht: How long is now?

Weiterreise. »Bar 25«, schlägt Mirko vor, ist sich aber nicht sicher, ob man sie reinlässt. »Undurchsichtige Türpolitik«, murmelt er. Unterwegs ruft eine Italienerin Fred euphorisch zu: »Coniglio! Coniglio! Molto amabile!«

Am Eingang der Bar 25 torkelt gerade eine andere verrückte Truppe aus dem Berghain rein. »Gehören die zu euch?«, fragt sie die Türsteherin, auf Fred und Mirko weisend. »Sicher«, sagt einer aus der Gruppe mit einem Nylonstrumpf auf dem Kopf, und sie sind drin.

Die Bar 25 sieht aus wie ein alter Zirkus, eine Bretterbudensiedlung, auch ein bisschen wie ein Wildwestkaff, mit einem Saloon, wo der trockene Wind die Flügeltüren auf- und zustößt. Die bunt bemalten Holzverschläge liegen gleich an der Spree. Vaudeville, Gaukler, fauler Zauber, Rummelplatz, Zigeunersiedlung, Artistenwagen. Fehlen bloß die ausgerissenen Giraffen und Orang-Utans.

Jemand fragt Fred: »Haste mal ’ne Fluppe?« Klar doch; es ist derselbe, der gesagt hat, dass sie zu ihnen gehören, inzwischen ohne Nylonstrumpf. Sie stehen um die Feuerstelle herum, alles erscheint Fred unglaublich romantisch.

»So stelle ich mir das Paradies vor«, sagt er zu Mirko.

Er bestellt Prosecco, der hier mit Eiswürfeln serviert wird. Jedes Mal, wenn Fred das Glas irgendwo hinstellt und dann für den zweiten Schluck danach greift, ist es verschwunden. Er bestellt ein neues Glas, es geschieht wieder dasselbe. Schließlich schnappt er sich das Glas einer Frau in der Nähe, nimmt einen Schluck, stellt es hin, aber als er wieder danach greift, ist es ebenfalls weg. Vielleicht ein kleines Schwarzes Loch, das ihm nachläuft. Oder es vergehen zwischen dem ersten und dem zweiten Schluck Stunden. So etwas ist ihm schon einmal passiert. Auf einer Party in Zürich. Er ging mit einer Frau zur Theke, und während er überlegte, was er trinken sollte, war es plötzlich nicht mehr acht, sondern elf Uhr. Seltsamerweise war auch die Frau weg.

Wo ist er stehen geblieben? Ach ja, vor der Toilette. Da beugt sich also eine gewisse Juliane über eine Blondine und versucht ihr etwas zu erklären. Hilfsbereit, wie Fred ist, reicht er ihr ein paar Wörter, die ihr vielleicht fehlen (er hat ja genug davon).

»Auf was bist du?«, fragt sie ihn. Sie spüre da so eine gewisse ähnliche Wellenlänge.

»Ich bin Fred.«

Sie selbst ist auf LSD, »aber am Abklingen«, sagt sie. Da ist er sich allerdings nicht so sicher.

Er schwimmt zurück zur Theke. Hubert oder wie er heißt, der Sozialarbeit studiert und den sie schon im Berghain kennen- und schätzen gelernt haben, bietet ihnen eine Linie an. Kokain neutralisiert Ecstasy, denkt Fred. Eine sinnlose Kombination. Aber man will ja nicht unhöflich sein.

Er setzt sich wieder ans Feuer. Woher kommt nur all der Rauch, denkt er.

»Kein Feuer ohne Rauch«, sagt der mit der Fluppe postwendend, eine Aussage von taoistischer Tiefe, findet Fred, hustend.

Plötzlich kommt er wieder in Schuss und geht in die Blockhütte am Wasser tanzen, wo er erneut auf Hubert, den Sozialarbeiter, trifft.

»Was war das eigentlich für eine Linie?«, fragt er ihn.

»Speed mit MDMA.«

Gerade am Vortag hat Fred Mirko erzählt, dass die Kampfpiloten unter Hitler Speed schluckten für ihre Angriffsflüge. Wieder so ein rätselhafter Zusammenhang.

Draußen rauscht eine Frau im Hochzeitskleid vorbei. Es ist allerdings schon ziemlich zerschlissen und die Schärpe zieht durch den Dreck. Aber sie trägt es mit Würde, wie eine Märchenprinzessin. In der Hand hält sie ein Plastikschwert. Jedes Mal, wenn sie damit jemanden berührt, ist er verzaubert.

Dann schwebt wieder Juliane vorbei.

»Ich bin zweiundzwanzig«, sagt sie.

»Ich vierundvierzig«, sagt Fred.

Sie können es nicht fassen. Genau das Doppelte! Kann das Zufall sein?

Sie schleppt ihn zu einem alten Fotoautomaten. Für zwei Euro gibt’s vier schwarz-weiße Passbilder. Fred wirft die Münzen ein. Die Maschine funktioniert tatsächlich. Sie sehen göttlich aus auf dem Streifen.

»Gibst du mir auch ein Bild?«, fragt Fred.

»Wir gehören zusammen«, sagt Juliane, »wir können die Bilder doch nicht zerschneiden«, und steckt die Fotos in ihre Tasche. Sie hat blonde Haare und unvorstellbar blaue Augen. »Wie ein See«, sagt Fred.

»Ich habe als Kind oft Wanderungen um den Bodensee mit meinen Eltern gemacht.«

»Ah, deshalb«, antwortet er.

Wieder diese Koinzidenz, mit dem Bodensee und ihm als Schweizer … Unglaublich.

»Trägst du blaue Linsen?«, fragt er.

»Nein, die Farbe ist echt. Hattest du auch mal Linsen?«