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David Van Reybrouck

Für einen anderen
Populismus

Ein Plädoyer

 

 

Aus dem Niederländischen

von Arne Braun

 

 

 

 

 

 

Wallstein Verlag

 

 

 

 

 

 

 

 

Erstveröffentlichung bei De Bezige Bij, Amsterdam.

Titel der Originalausgabe: Pleidooi voor populisme

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

© 2008; 2011 David Van Reybrouck

© der deutschen Ausgabe Wallstein Verlag, Göttingen 2017

www.wallstein-verlag.de

Umschlagabbildung: © blackred

 

ISBN (Print) 978-3-8353-3157-0

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4177-7

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4178-4

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Populismus versus Demokratie

Die Diplomdemokratie

Die Kulturkluft

Populismus als Demokratie

1880 oder 1930?

Danksagung

Anmerkungen

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Nie war ich nervöser vor der Veröffentlichung eines Buches als damals, als ich Pleidooi voor populisme (dt. Für einen anderen Populismus) schrieb. Meine besten Freunde rieten von der Publikation ab, mein Verleger prophezeite starken Gegenwind und erste Leser reagierten mit Argwohn. War das nicht ketzerisch oder sogar gefährlich? Ich hätte Sympathie gezeigt, wurde mir vorgeworfen, für Rechtsextremisten, für Wähler von populistischen Parteien und für all die fremdenfeindlichen Schattenseiten in Belgien und den Niederlanden, zwei Ländern, die zur Zeit der Erstveröffentlichung (September 2008) noch perplex waren über den Wahlerfolg der radikalen Rechten im Vorjahr.

Aber im Laufe der Zeit bekam das Buch intensive kritische Aufmerksamkeit, ausgehend von der kulturellen Szene in Flandern. Das führende Kunstmagazin Rekto: Verso widmete dem Buch eine ganze Rubrik, das Brüsseler Theater Beursschouwburg organisierte eine Diskussion zum Thema. Später veröffentlichten niederländische Wochenmagazine wie De Groene und Vrij Nederland längere Interviews. Dass das Buch schließlich mit den beiden führenden Essay-Preisen ausgezeichnet wurde, dem Jan Herlo Essay-Preis in den Niederlanden und dem Flämischen Kulturpreis für Kritik und Essay, war natürlich erfreulich und nahm mir die Angst, ich könnte verdächtigt werden, Ideen nahezustehen, die auf den ersten Blick sehr befremdlich erscheinen.

Aber was waren das für befremdliche Ideen, die der Essay aufwarf? Dass die Verwendung des Wortes »Populismus« als schnelle Beleidigung nicht besonders hilfreich war, um die großen und neuen politischen Aufgaben anzugehen, mit denen unsere Gesellschaft konfrontiert wurde. Dass es ein schwerwiegender und gefährlicher Fehler war, nicht zwischen den populistischen Wählern und den populistischen Anführern zu unterscheiden. Dass diese Dämonisierung großer Teile der Wählerschaft als eine Art demokratischer »Schimmel«, wie ein belgischer Politiker es genannt hat, auf lange Sicht enorm kontraproduktiv sein würde.

Ich erinnere mich an die tiefe Frustration wegen der Leichtigkeit, mit der das Wort »Populist« in öffentlichen Debatten benutzt wurde (und immer noch wird), um politische Gegner zu attackieren. Rhetorisch mag das effektiv sein, aber intellektuell ist es jämmerlich und moralisch ist es unfair. Inspiriert durch Slavoj Žižeks Plädoyer für die Intoleranz hatte ich mich entschieden, ein paar schwierige Themen anzusprechen.

Die zentrale Frage, die meinem leicht provokativen Titel zugrunde liegt, war: Wer schenkt heute der weißen Unterschicht Beachtung außer den Populisten? Wer setzt sich für sie ein, gerade wenn es alles andere als sicher ist, dass die Populisten einlösen, was sie versprechen? Ihre »Verpflichtung« gegenüber den eigenen Wählern entpuppt sich oft als eine zynische Art politischen Unternehmertums, das populäre Ressentiments anzapft und schürt, um eine Wahl zu gewinnen und das daraus resultierende Mandat zu nutzen, um weiterhin elitäre Interessen zu verfolgen. Die ganze Zeit werden die Wähler mit Reden und Spektakeln durch die Illusion eingelullt, dass sich jemand um ihre Bedürfnisse kümmert. Es genügt, einen Blick auf die USA zu werfen, ein Land, das einmal als »Führer der freien Welt« bekannt war, um diesen Zynismus in der Realität zu beobachten.

Die Fragen bleiben. Wenn heute Menschen ohne höheren Schulabschluss mit höherer Wahrscheinlichkeit eine populistische Partei wählen (ich habe dargelegt, dass es so ist) und wenn Bildung die entscheidende soziale Trennlinie in einer Epoche der »wissensbasierten Ökonomien« geworden ist (die »Diplomdemokratie« ist ein Faktum) – wie klug ist es dann, den Aufstieg der populistischen Parteien ihren Wählern vorzuwerfen?

Während des US-Präsidentschaftswahlkampfs 2016 bezeichnete Hillary Clinton einen Teil der Wählerschaft von Trump als einen »Haufen von Bedauernswerten«. War das klug?

Und bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 2016 forderte Martin Schulz, damals Vorsitzender des Europaparlaments, uns auf, dem Aufstieg des Populismus in Europa »laut und deutlich zu widersprechen«. Er forderte nicht weniger als einen »Aufstand der Anständigen«. Dafür erhielt er stehende Ovationen.

Könnte ich nur diese Begeisterung teilen!, dachte ich. Natürlich, genau so wie Schulz, mache ich mir Sorgen über den Populismus, aber es hat keinen Zweck, nur die politische Perversion anzugreifen, ohne die tieferen Ursachen zu beachten.

Nehmen wir mal an, ich wäre ein ungelernter, schlecht bezahlter Fabrikarbeiter aus Mecklenburg-Vorpommern, immerhin mit gesetzlichem Jahresurlaub, aber doch mit einer ungewissen Zukunft. Und nehmen wir mal an, dass ich zuhörte, wie der Vorsitzende des Europaparlaments, also jemand aus der Spitze der politischen Elite, bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse, des Hochamts der kulturellen Elite, für einen »Aufstand der Anständigen« plädierte – dürfte ich dann nicht wütend werden? Würde es mich nicht ankotzen, dass eine Elite es wagt, zu suggerieren, ich sei unanständig, obwohl ich doch ein Leben lang schwer arbeite und Steuern zahle? Warte nur! Ich werde vielleicht noch schneller und öfter und leidenschaftlicher Alternative für Deutschland wählen.

Trotz seiner guten Absichten hat Martin Schulz durch diese Rede die Kluft zwischen Elite und Masse vergrößert.

Ich habe oft an meine Großeltern gedacht, als ich dieses Buch geschrieben habe. Keiner von ihnen hat eine höhere Bildung genossen. Meine Großväter waren Arbeiter, die in und um Brügge herum gearbeitet haben und einigermaßen über die Runden kamen, indem sie etwa zusätzlich noch etwas Landwirtschaft betrieben wie einer meiner Großväter. Meine Großmütter kümmerten sich um die Familien mit drei beziehungsweise sechs Kindern. Und dennoch fühlten sie sich ihr ganzes Leben durch die großen politischen Parteien repräsentiert, die sie immer gewählt haben. Ihre Sorgen und Hoffnungen erreichten diejenigen an der Macht über die verschlungenen Kanäle der Parteien, Gewerkschaften oder der Kirche. Aber wären meine Großeltern heute noch am Leben, könnte es gut sein, dass sie sich durch die Sprache und die Lockmittel der populistischen Anführer angesprochen fühlen würden. Bei einigen ihrer Nachfahren ist es tatsächlich so. Auch in meiner weitläufigen Familie gibt es einige Verwandte, meist solche, die keine höhere Schule besuchen konnten, die wirklich für populistische Parteien stimmen.

Natürlich wurde das Buch nicht geschrieben, um meine Verwandten zu verteidigen, aber ganz sicher, um die populistischen Wähler nicht einfach auszugrenzen.

Andere Autoren haben sich ähnlichen Arbeiten gewidmet. Seit mein Essay erschienen ist, hat etwa Owen Jones sein bahnbrechendes Buch Chaves. The Demonization of the Working Class über die Situation in Großbritannien veröffentlicht (2011). Hillbilly Elegy (2016), ein einflussreiches Werk von J. D. Vance, präsentiert eine einfühlsame Innensicht der sogenannten »white trash«-Gesellschaft in den USA und wird gerade verfilmt. In Europa hat der französische Autor Didier Eribon mit seiner Autobiographie Rückkehr nach Reims einen großen Anstoß für die öffentliche Debatte gegeben, besonders in Deutschland, wo es in einer Inszenierung von Thomas Ostermeier auf die Bühne gebracht wird. Inzwischen hat Bernd Stegemann Das Gespenst des Populismus. Ein Essay zur Politischen Dramaturgie (2017) veröffentlicht, auch das ein Versuch, ein Tabu zugunsten von mehr Verständnis für die Wähler populistischer Parteien aufzubrechen.

Als eine der letzten Nationen in Europa wird auch Deutschland seit kurzem mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus konfrontiert, einem Phänomen, das in den Niederlanden schon seit fünfzehn Jahren und in Flandern schon seit fünfundzwanzig Jahren existiert. Als Flame, der in den Niederlanden veröffentlicht wird und 2016/17 in Berlin wohnte, sehe ich kopfschüttelnd zu, wie Deutschland heutzutage genau die gleichen Fehler macht wie unsere Länder vor vielen Jahren.

Dieselbe Verwirrung und Gleichsetzung von populistischen Führern und populistischen Wählern. Dieselbe Dämonisierung des realen sozialen Unbehagens. Dieselbe Neigung, mehr Sympathie für Flüchtlinge zu hegen als für Arbeiter und Ungelernte. Dieselbe panische Angst vor dem Faschismus, wodurch Rechtsextremismus aber gerade befördert wird.

Das scheint mir nicht besonders klug zu sein. Jüngste Referenden und Wahlen in den USA, in Großbritannien, in Österreich, den Niederlanden und Frankreich haben gezeigt, wie tief gespalten unsere Gesellschaften sind. Unabhängig davon, wer gewonnen oder verloren hat, haben all diese Gesellschaften die Existenz von etwas bestätigt, das der »Neue große Unterschied« genannt werden kann: die Kluft zwischen »offenen« und »geschlossenen« Wählern, zwischen Wählern mit oder ohne höheren Schulabschluss, zwischen Jung und Alt, zwischen Stadt- oder Landbevölkerung. Bis zu einem gewissen Grad überlappen sich diese Kategorien sogar.

Es kann sein, dass die deutsche Demokratie stabil und robust bleibt, so wie es die letzten Jahrzehnte der Fall war, aber es besteht auch die reelle Chance, dass dieser »Neue große Unterschied« die deutsche Politik prägen wird. Wenn, dann würde das, aus offensichtlichen historischen Gründen, mit einiger Verspätung geschehen, aber es würde zeigen, dass Deutschland bei weitem nicht immun ist gegen die große Transformation der repräsentativen Demokratie, wie wir sie kennen. Eine wichtige neuere Studie des Chatham House betätigt das: Basierend auf Untersuchungen in zehn europäischen Ländern erwies sich die Spaltung zwischen Elite und Öffentlichkeit als ein tatsächlich europäisches Phänomen. Deutschland war als eines der untersuchten Länder in diese Studie eingeschlossen.

Dieses Buch über den Populismus ist eine leidenschaftliche Aufforderung, hinter den populistischen Anführern die Wähler und hinter den Wählern die Staatsbürger zu sehen. Auch wenn die von mir vorgeschlagenen Lösungen eher unbestimmt und vage erscheinen (ein Parlament, dessen Mitglieder besser die sozialen Schichten der Bevölkerung repräsentieren, ein aufgeklärterer Populismus, eine Gesellschaft, die mehr Begegnungen zwischen »oben« und »unten« ermöglicht), fürchte ich, dass meine Diagnose angesichts der jüngsten Entwicklungen immer noch Bestand hat. Nur ein paar Jahre nach der Erstveröffentlichung dieses Buches schlug ich in meinem Essay Gegen Wahlen (auf Deutsch 2016) konkreter vor, wie aus passiven Wählern aktive Staatsbürger werden könnten. In gewisser Weise war Gegen Wahlen eine Antwort auf die Fragen, die zum ersten Mal in Für einen anderen Populismus aufgeworfen wurden.

Statt nur populistischen Führern zu widersprechen, müssen wir die Bürger auch selbst sprechen lassen, und zwar nicht nur durch Wahlen oder Volksabstimmungen, denn das sind primitive Instrumente, sondern durch wirkliche Bürgerbeteiligung. Es existieren echte Alternativen für Deutschland. Wir brauchen keinen sogenannten Aufstand der Anständigen. Die Anständigen haben schon genug Macht. Wir brauchen einen Aufstand der demokratischen Beratung, der demokratischen Rücksprache. Denn Bürger sind mehr als nur Wähler, und Demokratie ist mehr als nur der Mechanismus von Wahlen alle paar Jahre.

Heute finde ich es befremdlich, wie progressive Intellektuelle und Liberale so leichthin Mitleid für Flüchtlinge und Asylsuchende empfinden, ohne eine vergleichbare Form von Empathie für einheimische Sozialhilfeempfänger aufzubringen, auch wenn die vielleicht etwas besser dran sind. Aber wenn wir wirklich an eine inklusive Gesellschaft glauben – warum werden dann die Sorgen eines großen Teils der Wähler so wenig berücksichtigt? Eine wirkliche inklusive Gesellschaft darf in ihrem Mitgefühl nicht selektiv sein. Wir müssen lernen, diejenigen zu lieben, die wir allzu gern und allzu leicht hassen. Vielleicht ist das alles, was ich sagen will.

 

David Van Reybrouck, Berlin im Juli 2017

 

 

 

»Guckt mal! Nun guckt doch mal!«

Wir lehnten uns aus dem Fenster einer Ferienwohnung in Middelkerke, einem der vielen fachmännisch verschandelten Badeorte an der belgischen Küste. Das Appartement bot Aussicht auf die noch unversehrte See, aber es waren nicht die verlockenden Wellen, die an jenem glutheißen Tag unsere Aufmerksamkeit erregten. Es waren die Badegäste unten. Wir schauten zu, wie sie über den Deich schlenderten, über den Boulevard, wie das in den Niederlanden so vornehm heißt, auch wenn wir nur wenig Vornehmes daran finden konnten. Was für eine traurige Prozession! Fünfzigjährige mit monströsen Wampen, die an Waffeltüten mit schnell schmelzendem Pistazieneis schlabberten. Frauen mit ganz offensichtlich wasserstoffblondiertem Haar: Von oben sahen wir die schwarzen Furchen auf ihren Scheiteln. Kinder, die fast genauso fettleibig waren wie die aufblasbaren Krokodile, die sie heulend hinter sich her schleiften. Männer in Bermudas, obwohl sie längst keine Bermudas mehr tragen dürften. Tattoos, Tangas, Titten, prall vor Silikon. Fritten mit Gulaschsauce, im Hochsommer! Middelkerke war zu einem Klein-Blankenberge geworden, der belgischen Variante von Zandvoort oder Blackpool.

»Mein Gott, was für ein Plebs!«, seufzte einer von uns.

Homo marginalis