image

© 2017 by :TRANSIT Buchverlag

Postfach 121111 | 10605 Berlin

www.transit-verlag.de

Umschlaggestaltung und Layout:
Gudrun Fröba
ISBN 978-3-88747-348-8
eISBN 978-3-88747-351-8

Dietmar Sous

SAN TROPEZ

Roman

image

für Win

INHALT

Ich

Mitch

Dave

Frisör

Bruns

Topsi

Otto

Yllka

Helen

Benz

Rüchel

Sylvia

Helen

Boris

Otto

Mitch

Otto

Mitch

Ich

Mitch

ICH

bin schuld, dass zwei Freunde von mir nicht mehr am Leben sind. Genau genommen ein Fast-Freund und ein Bekannter, meinetwegen: ein guter Bekannter. Ich habe sie, wie man so schön sagt, auf dem Gewissen.

Einen Grund, sich zu stellen, gibt es nicht. Romanhelden und schwermütige Hollywoodfiguren würden das dennoch tun. Ich bin da nicht so zimperlich. Was nicht heißt, dass mir die Sache gleichgültig wäre.

Kein Staatsanwalt hat mich zur Fahndung ausgeschrieben, keine Mordkommission muss sich wegen mir die Nächte um die Ohren schlagen. Die Zeitungen schweigen sich aus; selbst das Blatt, das auf Mord und Totschlag spezialisiert ist, hält, was mich betrifft, das Maul. Es wurde ja auch kein Bremskabel durchtrennt, Gebrauch von Schuss- oder Stichwaffen fand nicht statt. Kein Schlagring traf auf einen arglosen Schädel. Falls überhaupt, war Gift nur im übertragenen Sinn im Spiel.

Auf einen Freispruch kann ich trotzdem nicht hoffen.

MITCH

Da war ein großes Ypsilon am Himmel. Dünner Regen fiel. Ich erkannte den Mann vor der Haustür sofort. Er sah immer noch aus wie jemand, der in seinem ganzen Leben keine Schaufel in die Hand nehmen würde. Mit verklärtem Blick schaute er den Zugvögeln nach. Sein Begleiter, eine schwarz-weiß gefleckte Dogge, schmatzte und machte ein Gesicht, das auf den IQ einer Stechmücke schließen ließ.

»Was willst du?«, sagte ich.

»Einen Kaffee. Mit viel Milch und einem Hauch Zucker. Und schönen guten Tag, übrigens.«

Mein Herz schlug schnell. Widerwillig ließ ich die beiden rein. Der Hund hieß Boris und roch penetrant nach Köter. Er gehörte Mitchs Schwester, die für zwei Wochen nach New York geflogen war. Mitch hüte zurzeit Haus und Hund, plauderte er los.

Boris setzte sich auf seinen fetten Hintern und himmelte den stellvertretenden Chef an.

»Schönes Tier, oder?«, sagte Mitch.

»Wunderschön«, antwortete ich. »Da fällt ne Menge Fleisch an. Im China-Restaurant haben sie immer Bedarf. Zweite Straße rechts.«

Mitch lächelte süßsauer.

»Wäre schade um den Kerl. Er ist sehr gelehrig. Wir trainieren jeden Tag.«

»Was trainiert ihr denn? Besonders dumm aus der Wäsche schauen?«

»Personenschutz«, sagte Mitch wichtig. Er legte sein Handy und eine Packung Zigaretten auf den Tisch und inspizierte die in die Jahre gekommene Küche, dabei zog er seine Lederjacke aus, ließ sie achtlos auf den Boden fallen. Den schwarzen Hut nahm er nicht ab. Vielleicht hatte er Haarprobleme. Ich hätte sie ihm gewünscht.

Das Handy klimperte die Anfangstakte eines Kraftwerk-Songs. Das Model. Mitch straffte sich und wurde gleich energisch. In akzentfreiem Englisch sagte er, die USA sollten verdammt noch mal warten, er wünsche nicht, gestört zu werden. Im Übrigen seien McGuinness und Flint für den Fall zuständig, und falls die es nicht auf die Reihe kriegten, aber nur dann, dürfe ein Phil Appelbe in der Tottenham Court Road kontaktiert werden. Over and out!

Wohl aus Stolz auf sein weltgewandtes, sprachbegabtes Ersatz-Herrchen kriegte Boris eine mächtige Erektion. Mitch tätschelte den Nacken des Viehs und lächelte nachsichtig. Als er damit fertig war, bot er mir eine Zigarette an. Immer noch diese filterlosen französischen, die nach Ziegenscheiße riechen.

»Seit fünfunddreißig Jahren nicht mehr«, sagte ich.

»Wahnsinn, fünfunddreißig Jahre!«, sagte Mitch und glättete sein fast knielanges weißes Hemd, bevor er mich an den Kaffee erinnerte. Unschlüssig wischte ich einen Brotkrümel vom Tisch, schwankte zwischen passivem Widerstand und zähneknirschender Kollaboration.

Mitch. Im letzten Jahr auf dem Gymnasium fuhr er samstags mit Vatis Mercedes vor. Im Sommer ohne Verdeck. Kippe im Mundwinkel, der linke Arm hing raus, Radio voll aufgedreht. Auf dem Beifahrersitz oft Mädchen, an die schwer bis unmöglich ranzukommen war. Ehrenrunden um den Schulparkplatz, Hupkonzert. Die Frage Was kostet die Welt? wurde von Mitch erfunden.

Er hatte schon ein Fahrrad mit Rennradlenker, als wir anderen im Viertel noch mit Tretrollern kämpften. Mitch fuhr gern freihändig, pfiff dabei den neuesten Schlager. Als ich endlich ein Rad hatte, ohne gebogenen Lenker, hob ich auch die Hände in die Luft. Seitdem klafft eine Lücke zwischen meinen oberen Vorderzähnen, auf die ich pfeifen könnte.

Mitch bearbeitete Boris’ Ohren, als hinge sein Leben davon ab. Wie zu sich selbst sagte er: »Waren das gerade Kraniche oder Wildgänse?«

Er nahm seinen Hut ab. Dichtes, kaum ergrautes Haar. Er hatte Chancen, mit dem mittleren Alain Delon verwechselt zu werden.

Boris’ Ständer schrumpfte endlich. Ich putzte mir die Nase. Mitch betrachtete seine Halbstiefel aus Schlangenleder. Mit meinen Hausschuhen aus braunem Cord stand ich auf verlorenem Posten. Die Stille zog sich.

Anscheinend hatte Mitch zwischen Sohle, halbhohem Absatz und Klettverschluss ein neues Gesprächsthema entdeckt.

»Wer wird denn deutscher Meister dieses Jahr? Der HSV oder Gladbach?«

»Der VfL Bochum.«

»Freut mich. Die Leute aus dem Ruhrgebiet sind so authentisch. Und einen Humor haben die, extratrocken!«

Mitch hatte schon damals keine Ahnung von Fußball, dafür angeblich umso mehr vom Vögeln. Mit achtzehn prahlte er damit, bei seinen Besuchen im Puff, die er eigentlich nicht nötig habe, wie er betonte, seien ihm noch nie Kosten entstanden. Weil er es ihnen so grandios besorgte, hätten die Frauen auf Bezahlung verzichtet.

»Was willst du?«, fragte ich wieder.

»Fünfhunderttausend Euro. Bist du dabei?«

Helen kam vom Einkaufen zurück.

»Du?«, sagte sie und befreite sich von Gemüse und einer Familienpackung Papiertaschentücher. Sie musterte den Besucher von oben bis unten.

»Hast dich gut gehalten, Mitch.«

Da war etwas Zärtliches in ihrem Blick, das mir Angst machte. Die beiden umarmten sich, redeten laut durcheinander. Helen war immer noch eine attraktive Frau. Manchmal vergaß ich das. Mitch nannte sie Baby, und ihm fielen siebenundsiebzig Komplimente ein. Und wieder drückte er sie und ihre herrliche Oberweite an sich.

Boris gefiel dieses Treiben genau so wenig wie mir. Er verengte die Augen, knurrte. Um Helen und das Herrchen auf Zeit darauf aufmerksam zu machen, dass es mich auch noch gab, sagte ich: »Eine halbe Million, Mitch? Willst du eine Bank überfallen?«

Helen löste sich aus der Umarmung. Sie strich über ihre Haare und sagte: »Was redest du da?«

»Ein Scherz«, sagte Mitch.

»Sehr witzig.«

Helen schien einen Moment lang verärgert zu sein, dann kehrte ihr Strahlen zurück, für das Boris und ich nicht viel übrig hatten.

»Kaffee, Mitch? Mit viel Milch und einem Hauch Zucker?«

Ich strafte Helen mit Blicken, gegen die sie lächelnd Berufung einlegte. Ich fragte mich, ob ich mich auch gut gehalten hatte.

Helen führte den Gast ins Wohnzimmer und forderte mich auf, eine Schallplatte aufzulegen.

Von dem Gute-Laune-Zeug aus dem Küchenradio abgesehen, hörten wir nicht viel Musik. Schon gar nicht Platten. Hin und wieder mal mal eine ruhige CD an Abenden, wenn Regenwetter und nichts im Fernsehen war.

Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich die letzte Scheibe aus einer Hülle genommen hatte. Der Plattenteller drehte sich bestimmt nicht mehr, war eingerostet, verharzt. Doch Helen wollte es unbedingt stimmungsvoll haben und erhöhte den Druck aus der Küche heraus, wo sie für Mitch Kaffeewasser in Wallung brachte.

»Die von David Bowie, du weißt schon.«

Der Plattenspieler funktionierte. Boris zu Füßen, redete Mitch über seine Berliner Jahre Anfang der Achtziger. Damals gab es noch die Wehrpflicht und die DDR, und wer seinen Wohnsitz im Westteil der Stadt hatte, war von Militär und Zivildienst befreit. Mitch nutzte das clever aus. Beim Kellnern lernte er die Einstürzenden Neubauten kennen, und fast wäre er bei denen eingestiegen, aber London rief. An seinem zweiten Abend dort entdeckte ihn die Modekönigin Vivienne Westwood, die meinte, jemand mit seinem Aussehen gehöre unbedingt in die Klamotten-Branche. Mitch arbeitete als Model, weltweit, und schon bald entwarf er selbst mit großem Erfolg Kleider für die betuchte Dame. Frech, mitunter avantgardistisch, aber immer tragbar, war sein Prinzip.

Boris hing an Mitchs Lippen.

Der Modeschöpfer schlürfte Kaffee, schloss genießerisch die Augen. Sein Handy öffnete sie ihm wieder.

»Tempo, Mitch«, rief Helen. »Die Queen. Hat bestimmt wieder nichts anzuziehn.«

Die Ironie in ihrem feinen Reim war nicht zu überhören. Mitch überhörte sie: er nickte ohne den Anflug eines Lächelns. Zwei Minuten später waren er und Boris aus dem Haus. Allerdings drohte Mitch mit Wiedersehen. Das würde ich zu verhindern wissen. Sein Gerede von der halben Million nahm ich nicht ernst. Die übliche Wichtigtuerei.

Beschwingt wegen des unverhofft schnellen Abgangs der Besucher, sang ich bei Ashes to Ashes für Bowie die zweite Stimme, womit ich Helen zum Lachen brachte. Das passierte auch nicht jeden Tag.

DAVE

Mitte Juli 1979, nach den Ereignissen in Südfrankreich, sagten Mitch und ich uns vom progressiven Rock los, von Räucherstäbchen, Joints und marokkanischen Sitzkissen.

Davor hatten wir einen gemeinsamen Lieblingssong. San Tropez von Pink Floyd. Er war anders als das, was die Band sonst spielte. Das Lied war nicht mal vier Minuten lang und ungewohnt lässig, ohne psychedelische Angebereien. Melancholisch und ein bisschen geheimnisvoll. Eine Einladung zum Schlendern, Schweifen. Ein Versprechen. Wie ein kühler Hauch bei fünfunddreißig Grad. Leichtes Leben, am Strand liegen, träge und betäubt und ohne Sorgen. Bikinis und Sonnenbrillen, Malerlicht von früh bis spät.

Dass Saint Tropez überlaufen war von Schwerreichen, Prominenten und ihren Bewunderern, wussten wir. Es war uns egal. Wir wollten da hin, unbedingt. Den Song erleben. San Tropez.

Am Abend vor der Abreise fuhr ich zu meinem Opa. Er hatte angerufen, was selten geschah. Das Telefon war für ihn eine Erfindung, der er misstraute, die er nicht richtig verstand. Deshalb schrie er immer in den Hörer. Ich solle vorbeikommen, er habe was für mich.

Besuche bei ihm waren für mich eine Qual. Er brauchte nur meine Fransenjacke mit den indianischen Stickereien zu sehen, schon hieß es: »Ist schon wieder Karneval?«

Wenn ich was von mir erzählte, von meinen Ansichten und Plänen, ließ er mich spüren, dass er jedes Wort für die Hirngespinste eines langhaarigen Vollidioten hielt. Mehr als einmal prophezeite er mir eine Karriere als Schiffschaukelbremser, Kesselflicker, Scherenschleifer. Dabei hatte er selber Flausen im Kopf. Er schwärmte von der Arbeiterklasse und dem Sieg des Proletariats über die Ausbeuter und Parasiten.

Der Alte saß in seinem Fernsehsessel und kriegte schlecht Luft. Auf dem Bildschirm bereitete sich ein sowjetischer Stabhochspringer auf seinen Einsatz vor.

»Hab gehört, du willst zu den den Millionären von Sankt Tropez. Da bist du ja richtig.«

Er sprach Tropez wie Trapez mit o aus.

»Als ich so alt war wie du, wär ich da nur zum Bombenlegen runtergefahren.«

Er kämpfte sich aus dem Sessel und ging ins Nebenzimmer, wo, wie jeder in der Familie wusste, seine Flaschen und Gläser warteten. Der Sportler aus der Sowjetunion ballte triumphierend die Fäuste. Er hatte gesiegt, für die Arbeiterklasse und meinen Opa.

Als der zurückkam, hatte er wässrige gerötete Augen und einen Briefumschlag in der Hand. Der war für mich.

»Lass die Puppen tanzen. Aber ordentlich. Und schreib mir ne Karte, wenn du Zeit dazu hast.«

Am nächsten Tag stand ich um sieben Uhr morgens an der Autobahn Richtung Frankreich. Mitch verspätete sich natürlich. Mir tat schon jetzt der Rücken weh, ich hatte zuviel in meinen Rucksack gepackt. Schlecht geschlafen hatte ich auch und den Blues. Ich bereute, dass wir uns diesen Bonzenort in Südfrankreich ausgesucht hatten. Da passten wir doch gar nicht hin, außerdem konnten wir kein Französisch. Mit Latein und Altgriechisch würden wir kaum was reißen. Der Franzose sprach auch kein Englisch, von Deutsch ganz zu schweigen, hatten wir im Unterricht gelernt. Dann die lange Reise, über zwölfhundert Kilometer. Alles nur wegen diesem blöden Lied. Viel lieber wäre ich jetzt nach Amsterdam getrampt. Ein Katzensprung.

Als Mitch auch um zwanzig nach sieben noch nicht aufgetaucht war, wuchs meine Hoffnung auf ein gutes Ende. Vielleicht war er über Nacht krank geworden. Sommergrippe, Magen-Darm.

Ein Cabrio-Fahrer raste mit fliegenden Haaren vorbei. Er warf mir eine leere Cola-Dose vor die Füße. Ein Lkw drängte mich in den Straßengraben. Es sah nach Regen aus. Ich tastete nach meinem Brustbeutel. Er war noch da. Mein Opa, der sonst regelmäßig Weihnachten und meinen Geburtstag vergaß, hatte mir fünfhundert Mark geschenkt, zehn Fünfzigerscheine. Das Kuvert durfte ich erst zu Hause öffnen. Der Alte hatte sich einen Ausbruch von Dankbarkeit ersparen wollen.

Da kam Mitch lässig schlurfend und mit zwei Plastiktüten als Rucksack-Ersatz. Er war nicht allein. Sie hieß Biggi. Dunkelhaarig, lange Beine. Genau mein Typ. Sie und Mitch sahen übernächtigt aus. Sie hatten sich erst vor ein paar Stunden kennengelernt, gab Mitch bekannt. Ich starrte ihn wütend an. Von einer Reise zu dritt war nie die Rede gewesen.

Biggis Reisegepäck bestand aus ihrer Handtasche. Mitch sagte, Biggi sei die Klassenbeste in Französisch. Davon würden wir profitieren.

»Naja, die Zweitbeste«, sagte sie. Auch ihre Stimme gefiel mir.

Mitch hielt den Daumen in den Wind. Eine Lkw-Kolonne rauschte vorbei. Biggi gähnte, rauchte und kaute Kaugummi. Sie holte Taschenspiegel und Kajalstift aus ihrer Handtasche. Mitch machte sich über meinen Schlafsack lustig. Völlig überflüssig sei der. Spießig. Mitch hatte den Reiseführer seiner Eltern überflogen. Bei Nachttemperaturen von über fünfundzwanzig Grad legte man sich einfach an den Strand und fertig.

Ein verbeulter VW hielt. Mitch stieß einen Jubelschrei aus. Der Fahrer wollte zwar nicht zur Côte d’ Azur, aber immerhin nach Paris.

»Zwei von euch kann ich mitnehmen«, sagte er.

Mitch verhandelte ein bisschen herum, dann fragte er mich, was wir tun sollten.

»Du kannst entscheiden«, sagte er nobel. Der Fahrer hupte ungeduldig.

»Haut schon ab«, sagte ich.

»Okay«, rief Mitch und riss die Beifahrertür auf. »Morgen oder übermorgen im Café Sénéquier. Im Yachthafen. Kennt da jeder. Abgemacht?«

Es regnete immer noch nicht, aber ich ging trotzdem weg von der Autobahn. In Klein Mexiko, zwischen Bahnhof und Straßenstrich, würde ich einen Teil meiner Fünfziger in eine Pistole und ein paar Schuss Munition investieren und dann auf Mitch warten. Anschließend Flucht nach Amsterdam und dort vom Restgeld wenigstens eine Puppe tanzen lassen.

Als ich eine halbe Stunde später aus dem Bus stieg, hatte ich einen neuen Plan.

Der Mann am Fahrkartenschalter blätterte hin und her in seinem Kursbuch, eine Zigarette zwischen den Lippen. Hinter mir bildete sich eine Warteschlange.

»Keine direkte Zugverbindung«, sagte der Kartenverkäufer und lächelte, als sei das eine gute Nachricht. Saint Tropez habe keinen Bahnhof. Ich müsse erst nach Lüttich, von dort weiter über Brüssel nach Paris, Umstieg nach Marseille, die letzte Etappe mit Bummelzug, Bus oder Schiff. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Mit etwas Glück sei ich gegen Mitternacht am Ziel.

»Mit etwas Pech«, fügte er hinzu und lächelte wieder, »erst sehr viel später.«

Dann wollte ich lieber doch nicht, das war mir zu umständlich.

»Einfach oder zurück?«

Ich schüttelte den Kopf und sagte nein. Anscheinend hatte der Mann mich falsch verstanden, weil er außer mir noch seinen bellenden Husten bedienen musste.

»Also einfach.«

Der Fahrkartendrucker wurde in Bewegung gesetzt.

Kurz hinter Aachen kontrollierten deutsche Zöllner Pässe und Gepäck, dann kamen die Belgier. In puncto Freundlichkeit schienen sie alle bei ihren DDR-Kollegen in die Lehre gegangen zu sein. Deren ungemütliche Bekanntschaft hatte ich im vergangenen Jahr auf der Klassenfahrt nach Berlin gemacht.

Ich teilte mir ein Raucherabteil mit Ralf und Rolf. Die kamen aus Recklinghausen und waren Zwillinge, was man ihnen nicht ansah. Der eine rothaarig, der andere blond. Sie mussten nach Nizza, vier Wochen Sprachschule, Training für das Abi im nächsten Jahr.

Erst einmal trainierten sie das Saufen. Aus Höflichkeit nahm ich einen Schluck auf nüchternen Magen. Für Musik war auch gesorgt. Die beiden hatten einen batteriegetriebenen Kassettenrecorder dabei, der Moon Child von King Crimson spielte. Ralf schüttelte seine roten Haare und schimpfte über die Punkbands, die zurzeit grassierten.

»Alles Nazis. Hast du die Fotos gesehen mit den Hakenkreuzen?«

»Nichtskönner«, ergänzte Rolf. »Drei Akkorde, allerhöchstens.«

Beide bewunderten meine bestickte Fransenjacke. Ich behauptete, sie unter geheimnisvollen Umständen einem echten Indianerhäuptling abgekauft zu haben. Der Kassettenrecorder spielte schon wieder Moon Child.

»Kann man nicht oft genug hören«, sagte Ralf.

Von Paris sah ich nur Beton, Müll, Werbeplakate und einen Afrikaner, der auf seine Bongos einschlug und uns Flüche hinterherrief, weil wir kein Geld in seinen offenen Koffer warfen. Wir hatten gerade mal eine halbe Stunde, um vom Gare du Nord zum Gare de Lyon zu kommen. Obwohl angetrunken, fanden sich die Zwillinge im Labyrinth aus Sackbahnhöfen und U-Bahnstationen zurecht. Es waren ihre dritten Sprachferien in Nizza. Ich tastete nach meinem Brustbeutel. Er und die übrig gebliebenen Fünfziger waren noch da.

Im letzten Waggon nach Marseille fanden wir ein Abteil für uns allein. Ralf startete den Kassettenrecorder. Moon Child.

»Jetzt wird’s grausam«, sagte Rolf. »Achthundertfünfzig Kilometer immer nur geradeaus.«

»Was hältst du von ein paar Greenies?«, antwortete sein Bruder.

Wir schossen durch einen Tunnel. Moon Child.

»Qualität bleibt eben Qualität«, sagte Rolf.

Greenies machten schöne Träume und verkürzten die langweilige Reisezeit. Die Brüder nahmen jeweils fünf, mir empfahlen sie drei. Ich wollte aber keine Anfängerdosis mit halbschönen Träumen.

Ein Wald flog vorbei. Unvermittelt zählte Rolf Namen von Zechen aus dem Kreis Recklinghausen auf.

»Graf Schwerin, Graf Moltke, Baldur, König Ludwig, Auguste Victoria, Emscher-Lippe.«

»Ewald und Ewald Fortsetzung,«, ergänzte Ralf.

»Furzsitzung?«, sagte sein Bruder. »Hast du Furzsitzung gesagt?«

Die beiden kriegten sich nicht ein vor Lachen und steckten mich damit an. Wir krümmten uns, drohten zu platzen und zu ersticken, zerknautschte Gesichter, Jaulen und Kreischen, bis eine Ampel von Türkis auf Violett umsprang und die Achterbahn mit zweihundert Sachen losfuhr. Ich suchte nach Halt, fand keinen, fing an zu schwitzen. Aus der Achterbahn wurde eine Zwölferbahn. Mein Sitz drehte sich wie eine Astronauten-Zentrifuge. Ich flog durch das Abteildach, Richtung Pluto, hörte ich jemanden mit piepsiger Stimme sagen, als erster Mensch, ausgerechnet ich. Ralf und Rolf übernahmen die Kommandozentrale und gaben mir Koordinaten durch. Mein Herz schlug wie ein Hammerwerk, bis mir das Mondkind um die Ohren flog und in alle Einzelteile zerbrach.

Jemand schüttelte mich, redete auf mich ein. Ich verstand kein Wort, blieb liegen, wo ich lag, tonnenschwer und das Gehen verlernt. Rührte keinen Finger, Toter Mann. Ich konnte nicht mal bis null zählen. Im Hintergrund falsches Lachen. Das Meer rauschte wie eine ewige Toilettenspülung. Überall Sand. Zwischen den Zähnen, auf der Zunge, in meiner Nase. Wunde Augen, Haare wie zementiert.

Alles tat weh, als ich mir quälend langsam auf die Beine half. Neben mir wälzte sich eine giftige Autoschlange. Meine Kopfschmerzen waren so stark, dass das Wort Enthauptung seinen Schrecken verlor. Die Sonne stach und stach. Mir war kalt. Ich schleppte mich und hielt dabei mein Gesicht fest, damit es in der Hitze nicht zerlief.