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Inhalt

Kein Morgen wie jeder andere

Ein hexischer Notfall

Das Bilderalbum in der Hexenkugel

Das Tal der wilden Hexen

Der verschwundene Feuersplitter

Drei Mutproben

Wie man einen Wirbelsturm strickt

Eine versteckte Erinnerung

Ein Wirbelsturm auf Abwegen

In geheimer Mission

Licht ins Dunkel

Karla vergeht das Lachen

Theater in den Bergen

Hinter dem Vorhang

Der große Ausbruch

Die Drachen-Dompteurin

Jeder, wie er lustig ist

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Kein Morgen wie jeder andere

Die Sonne hatte sich noch nicht über den Dächern des Neustädter Vororts Gersthof blicken lassen, da gingen im Hause Blocksberg schon die Lichter an. Bernhard und Barbara Blocksberg wollten heute ganz früh zu einer Reise aufbrechen.

Bernhard hatte einen guten Riecher bewiesen, als er an einem Preisausschreiben der Neustädter Zeitung teilgenommen hatte. Eine ganze Woche am Meer hatte er dabei gewonnen – für zwei Personen. Für sich und seine Frau Barbara. Ihre Tochter Bibi hatte Ferien und würde in der Zeit bei Oma Grete wohnen. Das war auch für Bibi eine tolle Aussicht: Mit ihrer Oma verstand sie sich bestens!

Man muss wissen, dass Oma Grete keine ganz normale Oma war. Nicht einmal für Hexenverhältnisse! Sie war die ausgeflippteste Oma, die man sich nur vorstellen konnte. Klar, dass Bibi sich auf den Besuch freute!

Doch jetzt saß sie erst mal mit verschlafenem Gesicht in der Küche, wo ihre Eltern sich vor der Reise noch mit einem kräftigen Frühstück stärken wollten.

Bibi hatte um diese Zeit noch keinen Hunger. Müde schaute sie aus dem Fenster. Draußen war es fast noch dunkel. Die kleine Hexe gähnte ausgiebig, während sich ihre Mutter einen starken Kaffee in den Becher goss. Vater Bernhard war noch nicht in der Küche. Man hörte ihn irgendwo im Flur rumpeln.

„Holt er jetzt etwa doch die Fahrräder vom Dachboden?“, fragte sich Barbara und schüttelte den Kopf. „Die müssen doch wirklich nicht mit. Man kann überall welche mieten!“

„Oder welche hexen“, meinte Bibi mit müdem Grinsen.

„Na, das kommt wohl leider nicht infrage“, erwiderte Barbara. „Ich habe deinem Vater versprochen, den ganzen Urlaub über nicht zu hexen.“

Bibi verzog das Gesicht. „Hmm ... wie langweilig …“

In diesem Augenblick ging die Küchentür auf und Bernhard kam herein. Tatsächlich behielt seine Frau recht mit ihrer Vermutung, was die Fahrräder betraf. Über Bernhards Schulter sahen Bibi und Barbara zwei Räder im Flur an die Wand gelehnt stehen. Barbara gab keinen Kommentar dazu ab. Manchmal war es besser zu schweigen.

„Guten Morgen, meine beiden Lieblingshexen!“, begrüßte Bernhard die zwei mit seinem breitesten Lächeln. Offensichtlich hatte er blendende Laune! Er trug ein Hawaiihemd und eine Sonnenbrille.

„Wieso hast du denn die Brille auf?“, kicherte Bibi.

„Tja, ich wollte schon in Urlaubsstimmung kommen!“, strahlte Bernhard.

„Nun sei nicht albern, Bernhard. Eine Sonnenbrille – wo es noch nicht mal hell draußen ist“, holte Barbara ihren Mann auf den Boden der Tatsachen zurück.

Bernhard zog als Antwort die Augenbrauen hinter den abgedunkelten Gläsern hoch. Dann setzte er sich auf seinen Platz, nahm die Brille ab und legte sie neben seinen Teller.

„So, wo bleibt mein Frühstück? Na los, hex-hex!“, verlangte er gut gelaunt und schlug sein Messer auffordernd gegen den Teller.

„Hex-hex?“, wunderte sich Barbara. „Ich dachte, ich soll nicht ...“

„Nicht im Urlaub! Aber noch sind wir ja zu Hause“, erwiderte Bernhard.

„Ich mach das schon ...“, lächelte Bibi, räkelte sich noch einmal und murmelte: „Eene meene Hasenpfötchen, für Papi hier ein Honigbrötchen! Hex-hex!“

Schon tauchte ein mit Honig bestrichenes Brötchen auf Bernhards Teller auf. Bernhard griff beherzt danach.

„So, Bibi“, hob er an, während er den ersten Bissen kaute, „nun wollen wir noch mal alles durchsprechen. Also, denkst du bitte daran, dich bei Oma Grete nicht auf jede verrückte Hexerei einzulassen? Du weißt ja, deine Oma ist ein bisschen anders als normale Omas ...“

Bibi verdrehte die Augen. Was jetzt kam, war die unvermeidliche Belehrung, die ihr Vater jedes Mal herbetete, bevor er sie zu Oma Grete ließ.

Das müsste doch irgendwie abzukürzen sein! Bibi biss sich schelmisch auf die Lippe, dann flüsterte sie: „Eene meene Karussell, Papi spricht zu Ende schnell! Hex-hex!“ Das Hex-Plingpling ertönte, und Bernhard ratterte den Rest rasend schnell herunter, mit einer putzigen Mäuschenstimme. Gleichzeitig stopfte er sich im Rekordtempo das Brötchen hinein, ein hastiger Bissen nach jedem Satz.

Schon war das Brötchen verputzt und er war angelangt bei: „... und tu nichts, was ich nicht auch tun würde!“

„Also, Bibi!“, rügte ihre Mutter sie.

„Was ... was ist passiert?“, wollte Bernhard verdutzt wissen, nachdem Barbara die Hexerei kurzerhand beendet hatte.

Seine Frau klärte ihn auf.

„Also, das finde ich nicht in Ordnung“, protestierte Bernhard. „Deinen alten Vater so zu veralbern!“

Barbara warf verschmitzt ein: „Weißt du, woran du mich gerade erinnert hast?“

Bernhard legte fragend den Kopf schief.

Barbara fuhr fort: „An unser erstes Treffen. Da hast du auch so schnell gesprochen. Und deine Stimme war ganz schön hoch!“

„Bestimmt, weil du aufgeregt warst, stimmt‘s, Papi?“, vermutete Bibi.

Bernhard schien das Thema unangenehm zu sein. Er setzte sich die Sonnenbrille wieder auf und erhob sich vom Tisch. „So! Ich bin dann hier fertig! Ich gehe schon mal das Auto packen! Das ist schließlich Männersache!“

Damit stolzierte er aus der Küche. Barbara warf ihm einen liebevollen Blick hinterher. Seit ihrem ersten Treffen hatte sich ihr Mann gar nicht so sehr verändert …

Wenig später fuhr das Auto der Blocksbergs aus der Einfahrt. Bibi winkte ihren Eltern nach. Als sie hinter der Straßenbiegung verschwunden waren, überkam Bibi ein wohliges Gefühl von Ferien und Freiheit. Das würde eine prima Zeit werden! Bei Oma Grete war immer was los. Und diesmal würde sogar Moni mitkommen. Moni würde staunen, was Bibi für eine coole Oma hatte!

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Mit einem gut gelaunten Summen auf den Lippen ging sie ins Haus zurück. Bevor sie aufbrach, hexte sich Bibi in der Küche ein üppiges Frühstück. „Hmm ... gut gemacht, Bibi!“, lobte sie sich, als ihr der Geruch von Kakao und frischen Milchbrötchen in die Nase stieg. Mit großem Appetit machte sie sich über das gehexte Frühstück her.

Bibi ahnte nicht, was zur gleichen Zeit in einer Höhle in den Finsterbergen vor sich ging. Auch hier war eine Hexe in ihrer Küche zugange. Allerdings handelte es sich nicht um eine herkömmliche Küche wie bei den Blocksbergs, sondern um eine richtige Hexenküche, die in die schroffe Höhlenwand gehauen war. Und Frühstück, so wie Bibi, machte sich die Hexe dort auch nicht. Statt in einer Tasse Kakao rührte sie schwungvoll in einem großen Kessel. Darin waberte ein fast gefährlich aussehender Brei.

Bibi kannte die Hexe nicht. Doch schon bald würden sich ihre Wege auf abenteuerliche Weise kreuzen ...

„Uuuh ... gleich ist es so weit!“, freute sich die Hexe, während sie sich schnuppernd über den Kessel beugte. Aus einem aufgeschlagenen Hexbuch las sie sich die letzten Zutaten vor: „Drei Mohnblütenblätter!“, hauchte sie und ließ mit großen, dramatischen Handbewegungen die Blütenblätter in den giftgrünen Brei segeln. „Nun: dreißig Gramm getrocknete Motten!“, fuhr sie fort und schüttete diese aus einem Glas. „Und als allerletztes: der Schatten eines schlafenden Bären!“, wisperte sie, als dürfte sie keiner hören. Dabei war außer ihr niemand in der Hütte anwesend. Trotzdem führte sie sich auf, als würde ein gewaltiges Publikum sie beobachten.

Mit großen Schritten eilte die Hexe zu ihrem Wandschrank, wo sie die wichtigste Zutat aufbewahrte. Beim Schreiten wehte eine leuchtend rote Federboa um ihr glänzendes pechschwarzes Kleid. Das sah beeindruckend aus! Praktisch war es allerdings nicht. Die Boa war so lang, dass die Hexe immer wieder darüber stolperte – so wie jetzt!

„Bei allen schlüpfrigen Schlingpflanzen!“, keuchte sie, als sich die Boa zwischen ihren Füßen verhedderte. Sie ruderte mit den Armen und fiel nach vorn. Im letzten Moment konnte sie sich am Stiel ihres Besens festhalten, der an die Wand gelehnt stand. „Hach! Danke, mein lieber Potzblitz!“, seufzte sie laut. Dann warf sie den Kopf in den Nacken und wirbelte mit einer großen Geste die Federboa über die Schulter. „Du bist meine letzte Rettung in diesen schweren Zeiten!“ Ein Ächzen erklang, als die Hexe sich auf den krummen, kohlschwarzen Besenstiel aufstützte. Schnell ließ sie ihn los. „Oh, und verletzt sind wir, du und ich!“ Sie schüttelte theatralisch den Kopf. „Ach, schau dich nur an! Ein Schatten deiner selbst. Aber uuuh ... ich werde dich rächen! Du wirst wieder stark werden! Und fliegen wie ein junger Adler! Oh, das wird ein Triumph werden – für uns beide!“

Die Hexe ging zum Schrank und nahm ein großes Einmachglas heraus. Düster waberte es darin. Es war nicht leicht gewesen, einem Bären seinen Schatten abzuhexen, denn zuerst einmal hatte sie natürlich einen Bären finden müssen – und selbst hier in den Bergen lebten nur wenige Exemplare. Und dann musste er ja auch noch schlafen. Dummerweise war das Tier, das sie ausgespäht hatte, jedes Mal aufgewacht, wenn sie sich im Flüsterflug genähert hatte. Es hatte ein Weilchen gedauert, bis sie darauf kam, woran es lag. Das Tier hatte ihren, nicht gerade dezenten, Duft „Schwefelherz“ gewittert und war stets davon erwacht. Nachdem sie den Duft weggelassen hatte, war ihr Vorhaben endlich gelungen.

Jetzt hielt die Hexe den Schatten des Bären im Einmachglas in Händen. Erregt kichernd schritt sie zum Kessel. Sie schraubte das Glas auf. Geheimnisvolle schwarze Spiralen krochen heraus, bis groß und dunkel der Schatten eines Bären über dem Kessel hing.

Die Hexe sprach mit getragener Stimme: „Eene meene Schicksalswenden, Schatten, sollst den Trank vollenden! Hex-hex!

Der Schatten zog sich zusammen und wurde in einer schwarzen Spirale von dem leise glucksenden Brei aufgesogen. Sofort fing dieser heftig an zu blubbern und schillernde Blasen zu werfen.

„Und nun zuletzt – die Tarnung!“, grinste sie. Sie füllte den Brei in eine große gefettete Springform und sprach: „Eene meene Märchenwald, Kuchen sei deine Gestalt! Eene meene ohne Kummer, sorgst für langen, tiefen Schlummer! Hex-hex!“

Schon hatte sich der Brei in einen harmlos aussehenden Kuchen verwandelt. Die Hexe schnupperte daran. „Köstlich! Perfekt für meinen Plan“, rief sie und stürmte mit dem Kuchen aus ihrer Höhle hinaus ins Freie. Dort stand sie - wie auf einem Balkon ohne Geländer - auf einem imposanten Felsvorsprung, der sich hoch über einer gähnenden Schlucht erhob.

Die Hexe hielt den Kuchen hoch und brach in schauriges Hexengelächter aus. Dann sprach sie mit einer dramatischen Stimme: „Eene meene Ohrenschmaus, von den Bergen klingt Applaus! Hex-Hex!“

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Da erhob sich mit einem Mal tosender Applaus von den Felswänden. „Bravo! Bravo!“ und „Zugabe! Zugabe!“, hallte es von den Bergen ringsum wider. Dabei flogen der Hexe wie von Geisterhand bunte Blumen entgegen. Sie verbeugte sich tief, hob eine Blume auf und steckte sie in den Kuchen. Dann stellte sie ihn zum Auskühlen ab.