Einflüsse des Enthusiasmus auf das Glück

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Es ist Zeit, von der Glückseligkeit zu reden! Ich habe dies Wort mit großer Besorgnis zurückgehalten, weil man besonders seit einem Jahrhundert die Glückseligkeit in so grobe Freuden, in ein so selbstisches Leben, in so beengte Berechnungen plaziert hat, daß selbst ihr Bild entweiht worden ist. Aber man kann dennoch mit Vertrauen sagen, von allen Gefühlen sei der Enthusiasmus dasjenige, was die meiste Glückseligkeit gewährt, das einzige, das sie wahrhaft gewährt, das einzige, das uns befähigt, das menschliche Geschick in allen Lagen zu ertragen, in die uns das Schicksal versetzen kann.

Vergebens will man sich auf materielle Genüsse beschränken; die Seele bricht allenthalben hervor. Stolz, Ehrgeiz, Eigenliebe, dies alles rührt noch von der Seele her, obwohl ein Gifthauch darin weht. Welches jammervolle Dasein, das diejenigen haben, die sich selbst beinahe ebensosehr, wie andere, belügend, alle großmütigen Bewegungen, die in ihrem Herzen aufkeimen, wie eine Krankheit der Einbildungskraft betrachten, die man in der freien Luft zerstreuen muß! Welche armselige Existenz, die so viele andere führen, die sich damit begnügen, nichts Böses zu tun, und die Quelle, aus der alle schönen Handlungen und alle großen Gedanken herstammen, als Narrheit behandeln! Aus Eitelkeit ziehen sie sich in eine träge Mittelmäßigkeit zurück, die sie dem Licht von außen hätten zugänglich machen können; sie verurteilen sich selbst zu jener Eintönigkeit der Ideen, zu einer Kälte des Gefühls, in der die Tage dahinschwinden, ohne Früchte, ohne Fortschritte, ohne Erinnerungen; und wenn die Zeit nicht ihre Züge furchte, welche Spuren würden ihnen von ihrem Vorüberwandeln geblieben sein? Müßte man nicht alt werden und sterben, welcher ernste Gedanke würde jemals durch ihren Kopf gehen?

Gewisse Schwätzer sagen, der Enthusiasmus mache das Alltagsleben unschmackhaft; und da man sich nicht immer in dieser Stimmung befinde, so sei es besser, sie niemals kennenzulernen. Wohlan, warum haben sie sich denn gefallen lassen, jung zu sein und selbst zu leben, da dies doch nicht immer dauern kann? Warum haben sie – wofern ihnen jemals dergleichen begegnet sein sollte – geliebt, da der Tod sie trennen konnte von den Gegenständen ihres Wohlwollens? Welche traurige Wirtschaft, die man mit der Seele treibt! Sie ist uns gegeben worden, damit sie entwickelt, vervollkommnet und zu einem edlen Zweck sogar verschwendet wird.

Je mehr man das Leben betäubt, je mehr man sich dem nur materiellen Dasein nähert, desto mehr, sagt man, werde die Macht zu leiden vermindert. Dies Argument verführt sehr viele Menschen. Eigentlich besteht die Kunst darin, so wenig als möglich zu leben. Indessen liegt selbst in der Herabsetzung ein Schmerz, über den man sich keine Rechenschaft ablegt und der unablässig im geheimen verfolgt. Die Langeweile, die Scham und selbst die Beschwerde, die er verursacht, werden durch die Eitelkeit in Frechheit und Verachtung verwandelt; aber sehr selten befindet man sich in dieser dürftigen und bornierten Lebensweise wohl, die alle Hilfsquellen abschneidet, wenn wir vom äußeren Glück verlassen werden. Der Mensch hat ein Bewußtsein für das Schöne wie für das Gute, und wenn die Abweichung von dem letztern ihm Gewissensbisse verursacht, so gibt der Verlust des erstem ihm das Gefühl der Leere.

Man beschuldigt den Enthusiasmus der Flüchtigkeit. Das Dasein würde freilich allzu viel Glückseligkeit in sich tragen, wenn man so schöne Rührungen festhalten könnte; aber weil sie sich leicht zerstreuen, so muß man sie zu erhalten suchen. Poesie und schöne Künste dienen im Menschen zur Entwickelung dieser Glückseligkeit edlen Ursprunges, die matte Herzen auffrischt und an die Stelle einer unruhigen Lebenssattheit das habituelle Gefühl der göttlichen Harmonie bringt, von der die Natur und wir einen Teil ausmachen. Jede Pflicht, jede Freude, jedes Gefühl erhält von dem Enthusiasmus, ich weiß nicht welchen Schein der Obereinstimmung mit dem reinen Zauber der Wahrheit.

Vielen Schriftstellern erscheinen die Arbeiten des Geistes als eine beinahe mechanische Beschäftigung, die ihr Leben ungefähr ebenso ausfüllt, wie jeder andere Beruf es ausfüllen würde; ja, der letztere hat wohl gar in ihren Augen den einen oder den andern Vorzug. Aber haben dergleichen Menschen eine Idee von dem erhabenen Glück des Gedankens, wenn der Enthusiasmus ihn belebt? Wissen sie, von welcher Hoffnung man sich durchdrungen fühlt, wenn man durch die Gabe der Beredsamkeit eine tiefe Wahrheit zu offenbaren glaubt, eine Wahrheit, die ein edles Band zwischen uns und allen den Seelen stiftet, die mit der unsrigen gleich empfinden?

Schriftsteller ohne Enthusiasmus kennen auf der literarischen Bahn nur Kritiken, Nebenbuhlereien, Eifersüchtelei, kurz alles, was die Ruhe bedroht, wenn man sich in die Leidenschaften der Menschen mischt. Dergleichen Angriffe und Ungerechtigkeiten tun bisweilen weh; aber wie könnte der wahre innige Genuß des Talents dadurch gestört werden? Wenn ein Buch erscheint – wie viel glückliche Augenblicke hat es dann schon demjenigen gewährt, der es nach seinem Herzen und als eine Handlung seines Gottesdienstes schrieb? Wie viel sanfte Tränen hat er nicht in der Einsamkeit über die Wunder des Lebens vergossen: über die Liebe, den Ruhm, die Religion? Und hat er nicht in seinen Träumereien die Luft genossen, wie der Vogel, die Wellen, wie ein lechzender Jäger, die Blüten, wie ein Liebender, der die Düfte einzusaugen glaubt, von denen seine Geliebte umgeben ist? In der Welt fühlt man sich oft niedergedrückt durch seine Fähigkeiten; man leidet durch den Gedanken, der einzige seiner Gattung unter so vielen zu sein, die so wohlfeil leben. Allein das schöpferische Talent reicht, wenigstens auf Augenblicke, für alle unsere Wünsche aus; es hat seine Reichtümer und seine Kronen; es bietet unseren Blicken die lichten und reinen Bilder der idealen Welt dar, und seine Macht reicht bisweilen so weit, daß es in unserem Herzen die Stimme eines geliebten Gegenstandes zum Erklingen bringt.

Glauben diejenigen, die nicht mit einer enthusiastischen Phantasie begabt sind, die Erde zu kennen? Glauben sie gereist zu sein? – Schlägt ihr Herz für das Echo der Berge? Hat die Luft des Südens sie mit ihrer holden Abspannung berauscht? Begreifen sie die Verschiedenheit der Länder, den Akzent und Charakter der fremden Sprachen? Enthüllen ihnen Volksgesänge und Nationaltänze die Sitten und den Genius der Gegend? Reicht eine einzige Sensation hin, um in ihnen eine Menge Erinnerungen zu wecken?

Kann die Natur von Menschen ohne Enthusiasmus gefühlt werden? – Haben sie jemals mit ihr von ihren frostigen Angelegenheiten, ihren elenden Wünschen reden können? Was würden Meer und Sterne den kleinlichen Eitelkeiten jenes Menschen für jeden Tag antworten? Aber wenn unsere Seele bewegt ist, wenn sie einen Gott im Universum sucht, wenn sie sogar noch Ruhm und Liebe will – dann sprechen die Wolken zu ihr, dann lassen reißende Wellen sich befragen, und das Gesäusel im Dornenstrauch teilt uns etwas von dem Objekt unserer Liebe mit.

Die Menschen ohne Enthusiasmus glauben die Freuden zu fühlen, welche die Künste gewähren. Sie lieben die Eleganz des Luxus; sie wollen Musik und Malerei verstehen, um darüber mit Anmut, mit Geschmack und selbst mit dem Ton der Überlegenheit zu sprechen, die dem Weltmann zukommt, wenn von der Phantasie oder der Natur die Rede ist. Allein was bedeuten alle diese dürftigen Freuden neben dem wahren Enthusiasmus? Betrachtet man den Blick der Niobe, dieses ruhigen und fürchterlichen Schmerzes, der die Götter der Eifersucht über das Glück einer Mutter anzuklagen scheint – welche Bewegung erhebt sich in unserer Brust! Welchen Trost läßt nicht der Anblick der Schönheit empfinden; denn auch Schönheit ist Gemüt, und die Bewunderung, die sie einflößt, ist edel und rein! Bedarf es, um den Apollo zu bewundern, nicht des Gefühls eines Stolzes, der alle Schlangen der Erde unter die Füße tritt? Muß man nicht Christ sein, um die Gesichtsbildung der Jungfrauen Raphaels und des H. Hieronymus von Dominichino zu durchdringen? Um denselben Ausdruck in der bezaubernden Anmut und in einem niedergeschlagenen Gesicht, in der strahlenden Jugend und in den entstellten Zügen wiederzufinden? Denselben Ausdruck, der von der Seele ausgeht und gleich einem himmlischen Strahl die Morgenröte des Lebens und die Finsternisse des vorgeschrittenen Alters durchläuft?

Gibt es Musik für die, die des Enthusiasmus unfähig sind? Eine gewisse Gewohnheit macht ihnen die harmonischen Töne notwendig, und sie genießen sie, wie den Saft der Früchte und die Ausschmückung der Farben. Aber erklang ihr ganzes Wesen, wie eine Leier, wenn in der Mitternacht das Schweigen plötzlich durch Gesänge, oder durch jene Instrumente unterbrochen wird, die der menschlichen Stimme gleichen? Haben sie das Geheimnis unseres Daseins empfunden in jener Rührung, die unsere beiden Naturen vereinigt, und die Sinne und das Gemüt in dieselbe Freude verschmilzt? Haben ihre Herzensschläge den Rhythmus der Musik begleitet? Hat eine zaubervolle Bewegung sie jene Tränen gelehrt, die nichts Persönliches haben, die kein Mitleid fordern, wohl aber uns befreien von dem unruhigen Schmerz, den das Bedürfnis, zu bewundern und zu lieben, in uns anregt?

Die Freude an Schauspielen ist allgemein; denn die meisten Menschen haben mehr Einbildungskraft, als sie glauben, und was sie als reizendes Vergnügen betrachten, – als eine Art von Schwachheit, die mit der Kindlichkeit in Verbindung steht – ist oft das Beste in ihnen; in Gegenwart der Dichtungen sind sie wahr, natürlich, gerührt, während sie in der Welt von Verstellung, Berechnung und Eitelkeit in Worten, Gefühlen und Handlungen geleitet werden. Aber glauben denn diese Menschen, für die die Darstellung der tiefsten Gefühle nichts weiter ist, als eine belustigende Zerstreuung – glauben denn diese alles, was eine wahrhaft schöne Tragödie einflößt, empfunden zu haben? Haben sie auch nur eine Ahnung von der köstlichen Unruhe, in die Leidenschaften führen, die durch die Poesie geläutert sind? Ach, wie viel Freuden gewähren uns Dichtungen! Sie ziehen uns an, ohne in uns weder Gewissensbisse noch Furcht anzuregen, und die Empfindsamkeit, die sie entwickeln, hat nicht jene schmerzhafte Herbheit, die von allen wahren Empfindungen beinahe unzertrennlich ist!

Welche Magie borgt nicht die Sprache der Liebe von der Poesie und den schönen Künsten? Wie schön ist es, mit dem Herzen und mit dem Gedanken zu lieben und so auf tausendfache Art ein Gefühl zu verändern, das sich durch ein Wort ausdrücken läßt, und gegen das alle Worte der Welt doch nur eine Erbärmlichkeit sind! Sie zu durchdringen mit den Meisterstücken der Einbildungskraft, die sämtlich die Liebe loben, und in den Wundern der Natur und des Genies einige Ausdrücke mehr zur Offenbarung des eigenen Herzens zu finden!

Was können die Männer empfunden haben, die die Frau, die sie liebten, nicht zugleich bewunderten, deren Gefühl nicht ein Hymnus des Herzens war, für die Anmut und Schönheit nicht das himmlische Bild der rührendsten Zuneigungen waren? Was das Weib, das in dem Gegenstand ihrer Wahl nicht einen überlegenen Beschützer, einen starken und sanften Führer, erkannte, dessen Blick zugleich gebietet und fleht, und der auf seinen Knien das Recht empfängt, über unser Schicksal zu verfügen? Welch unsägliche Entzückungen mischen nicht ernste Gedanken in die allerlebhaftesten Eindrücke! Die Zärtlichkeit des Freundes, dem unser Glück anvertraut ist, soll uns am Rande des Grabes wie in den schönen Tagen der Jugend beseligen; und alles, was das Dasein Feierliches hat, verwandelt sich in köstliche Rührung, wenn die Liebe, wie bei den Vorfahren, die Flamme des Lebens anzuzünden und auszulöschen berufen ist.

Wenn der Enthusiasmus die Seele mit Seligkeit berauscht, so stärkt er durch eigentümliche Wunderkraft auch im Unglück; er läßt, ich weiß nicht welche lichte und tiefe Spur zurück, die selbst der Trennung nicht gestattet, uns aus dem Herzen unserer Freunde zu reißen. Uns selbst dient er zum Zufluchtsort gegen die bittersten Leiden, und von allen Gefühlen ist er das einzige, das beruhigt, ohne zu erkälten.

Die einfachsten Neigungen, die, welche die Herzen empfinden zu können glauben, die mütterliche Liebe, die kindliche Liebe – kann man sich wohl einbilden, sie in ihrer ganzen Fülle erkannt zu haben, wenn sie ohne einen Zusatz von Enthusiasmus geblieben sind? Wie kann man den Sohn lieben, ohne zu denken, er werde edel und stolz sein, ohne ihm den Ruhm zu wünschen, der sein Leben vervielfältigen, der denselben Namen, den unser Herz wiederholt, von allen Seiten her ertönen lassen wird? Warum sollte man nicht die Talente eines Sohnes, den Zauber einer Tochter, mit Entzücken genießen? Welche auffallende Undankbarkeit gegen die Gottheit würde in der Gleichgültigkeit gegen ihre Gaben liegen! Stammen sie denn nicht vom Himmel, da sie es uns leichter machen, dem von uns geliebten Gegenstande zu gefallen?

Und wenn irgendein Unglück unserem Kinde solche Vorzüge raubte, so würde dasselbe Gefühl eine andere Gestalt annehmen; es würde in uns das Mitleid, die Sympathie, das Glück, notwendig zu sein, erhöhen. Unter allen Umständen beseelt und tröstet der Enthusiasmus; und selbst dann, wenn der grausamste Streich uns trifft, wenn wir den verlieren, den uns das Leben gegeben hat, den, den wir als unseren Schutzengel liebten und der uns zugleich Achtung ohne Furcht und ein grenzenloses Vertrauen einflößte – selbst dann kommt uns der Enthusiasmus zu Hilfe; er sammelt in unserer Brust einige Feuer der Seele, die zum Himmel entflohen ist; wir leben in ihrer Gegenwart und nehmen uns vor, einst die Geschichte seines Lebens zu schreiben. Niemals, glauben wir, niemals werde uns seine väterliche Hand ganz in dieser Welt verlassen.

Endlich, wenn der große Kampf sich einstellt, wenn nun auch wir mit dem Tode ringen müssen: dann schmerzt ohne Zweifel die Kraftlosigkeit unserer Fähigkeiten, der Verlust unserer Hoffnungen, dies sich verfinsternde, bisher so stark gefühlte Leben, diese Menge von Gefühlen und Ideen, die in unserem Herzen wohnten, und die nun das dunkle Grab umschließen soll, diese Angelegenheiten, die Zuneigungen, diese Existenz, die sich vor ihrem Verschwinden in ein Phantom verändert – alles das, sag' ich, schmerzt, und der gewöhnliche Sterbliche scheint beim letzten Atemzuge weniger zu sterben. Aber Gott sei gelobt für die Hilfe, die er uns auch in diesem Augenblick angedeihen läßt! Unsere Worte werden ungewiß sein, unsere Augen nicht mehr das Licht schauen, unsere Gedanken, sonst in Klarheit verbunden, vereinzelt auf verworrenen Spuren umherirren: aber der Enthusiasmus wird uns nicht verlassen; seine glänzenden Fittiche werden über unserem Sterbebette schweben, er selbst wird uns des Todes Schleier lüften, und uns die Augenblicke zurückrufen, wo wir, voll Lebenskraft, gefühlt haben, daß unser Herz unvergänglich sei, und unsere letzten Seufzer werden vielleicht wie ein edler Gedanke sein, der zum Himmel aufsteigt.

Eine freie Auswahl aus dem Buch »De L'Allemagne«

»Die Deutschen bilden gleichsam den Vortrab der Armee des menschlichen Geistes, sie schlagen neue Wege ein, versuchen unbekannte Mittel; wie sollte man nicht begierig sein zu erfahren, was sie bei ihrer Rückkehr von den Reisen in das Unendliche zu erzählen haben?«

Frau von Staël

Frau von Staël

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Anna Louise Germaine Necker, in Paris am 22. April 1766 geboren, kam, da ihr Vater, der Finanzminister des Königs von Frankreich, Ludwigs XVI., ihr die große Welt erschloß, schon früh mit den politischen, ästhetischen und moralischen Ideen und revolutionären Wandlungen ihres Zeitalters in Berührung; schon ihr erstes Werk, die »Briefe über die Schriften und über den Charakter J. J. Rousseaus«, das sie im Alter von 21 Jahren herausgab, zeigt sie als Anhängerin der liberalen Aufklärung. Sie hatte damals bereits den schwedischen Gesandten in Paris, Baron von Staël-Holstein, geheiratet. Als Frau von Staël ist sie die berühmte Schriftstellerin geworden, von der alle Welt sprach. Sie hat als politische Frau die französische Revolution aus nächster Nähe miterlebt, und ist als »Gemäßigte« beinahe ein Opfer des Robespierreschen Terrors geworden. Ihr dreibändiges Werk »Betrachtungen über die Hauptereignisse der französischen Revolution« ist erst nach ihrem Tode veröffentlicht worden. Frau von Staël galt ihren Zeitgenossen als eine der besten Prosaschriftstellerinnen. Ihre Romane, das in Briefform gestaltete Werk »Delphine« (1802) und »Corinne, ou L'Italie« (1807) sind glanzvolle Zeugnisse ihrer scharfen Beobachtungsgabe und ihres bedeutenden sprachlichen Stiltalentes. Napoleon machte aus seiner Abneigung gegen sie kein Hehl, und sie selbst wurde, von ihm aus Frankreich verbannt und selbst im Ausland durch seine Agenten überwacht, unter dem erniedrigenden Zwang seines Despotismus seine Todfeindin, wie sie überhaupt jede Knechtung der Freiheit der Person, der Gedanken und der Meinung als eine politische Todsünde bekämpfte. Der Flucht aus Frankreich verdankt die Nachwelt ihr prächtiges Reisebuch »Deutschland« (1814), das zum gegenseitigen Verstehen zwischen Franzosen und Deutschen wesentlich beigetragen hat. Frau von Staël mußte das Schicksal der Landflüchtigen tragen: ihr Landgut Coppet im Stich lassend, floh sie 1812 vor Napoleon nach Wien und von da nach Moskau, Petersburg und Schweden. Ihr Werk »Zehn Jahre Verbannung« (1821) enthält die Schilderungen der Ereignisse dieser Jahre. Erst nach dem Sturz Napoleons konnte sie noch ein paar Jahre der Furchtlosigkeit genießen. Unter ihren Schriften ist vor allem auch das Buch »Die Literatur unter Berücksichtigung der sozialen Einrichtungen« ein bedeutendes, von neuen Ideen durchpulstes Werk. Ein ungewöhnlich reiches, aber auch ruheloses Leben erlosch mit ihrem Tod am 14. Juli 1817.

Sitten und Charakter der Deutschen

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Deutschland war ein aristokratischer Bundesstaat. Dem Reiche fehlte es an einem gemeinschaftlichen Mittelpunkt der Aufklärung und des Gemeingeistes. Es bildete keine zusammenhängende Nation; dem Bündel fehlte das Band. So nachteilig diese Verschiedenheit Deutschlands seiner politischen Kraft war, so vorteilhaft war sie allen Versuchen des Genies und der Phantasie. Es herrschte eine Art sanfter friedlicher Anarchie auf den Gebieten literarischer und metaphysischer Meinungen, wobei es jedermann freistand, seine individuelle Ansicht der Dinge ganz nach Gefallen zu entwickeln.

Da es keine Hauptstadt gibt, die der Sammelplatz der guten Gesellschaft von ganz Deutschland ist, so kann der gesellige Geist seine Gewalt nur wenig geltend machen, so fehlt es dem herrschenden Geschmack an Einfluß und den Waffen des Spottes am Stachel. Ein großer Teil der Schriftsteller arbeitet in der Einsamkeit oder in dem engen Kreis kleiner Umgebungen, über die sie die Herrschaft führen. Sie geben sich, jeder besonders, allem hin, was eine ungezügelte Phantasie ihnen eingibt, und wenn sich in Deutschland eine Spur der Modegewalt blicken läßt, so besteht sie bloß darin, daß jeder versteht, sich von allen anderen zu unterscheiden. In Frankreich ist gerade das Gegenteil der Fall; da strebt alles nach dem Lob, das Montesquieu Voltaire erteilt, wenn er sagt: »Er hat mehr als irgend jemand den Verstand, den jedermann hat.«

In der Literatur wie in der Politik haben überhaupt die Deutschen nicht genug Nationalvorurteile. Bei einzelnen ist die Verleugnung ihrer selbst und die Achtung des andern eine Tugend; nicht so beim Patriotismus der Nationen: dieser muß egoistisch sein. Der Stolz der Engländer trägt zu ihrer politischen Existenz mächtig bei. Die gute Meinung der Franzosen von sich hat von jeher ihr Übergewicht in Europa verstärken helfen. Der edle Stolz der Spanier machte sie einst zu Herren eines Erdteils des Erdkreises. Die Deutschen sind Sachsen, Preußen, Bayern, Österreicher, aber der Grundcharakter, der die Stärke aller übrigen begründen sollte, ist zerstückelt wie das Land selbst.

Die Deutschen sind im allgemeinen aufrichtig und treu; fast immer ist ihr Wort ihnen heilig und der Betrug ihnen fremd. Sollte sich je die Falschheit in Deutschland einschleichen, so könnte es nur geschehen, um sich den Ausländern nachzubilden, um zu zeigen, daß sie ebenso gewandt sein können, wie jene; vor allem, um sich nicht von ihnen hinters Licht führen zu lassen. Bald aber würde der gesunde Verstand und das gute Herz die Deutschen zur Überzeugung bekehren, daß man nur durch seine eigene Natur stark sei, und daß die Gewohnheit des Rechtlichen uns ganz und gar unfähig zur Arglist mache, selbst dann, wenn wir sie gebrauchen möchten. Um aus der Immoralität Vorteil zu ziehen, muß man in jeder Hinsicht leicht gerüstet sein, nicht aber ein Gewissen im Herzen und Bedenklichkeiten im Kopfe führen, die uns auf halbem Wege aufhalten und es uns um so mehr bereuen lassen, vom alten Wege abgewichen zu sein, als es uns unmöglich wird, in der neuen Straße verwegen fortzuschreiten.

Es wäre, dünkt mich, leicht zu beweisen, daß ohne Moral alles in der Welt Finsternis ist. Trotzdem ist man oft bei den Völkern lateinischen Ursprungs einer Politik begegnet, die mit seltener Gewandtheit die Kunst besaß und ausübte, sich von allen Pflichten zu befreien. Der deutschen Nation hingegen darf man es zum Ruhme nachsagen, daß es ihr beinahe an jener Fähigkeit fehlt, die es geschmeidig-dreist versteht, jede Wahrheit jedem Vorteil zugunsten zu beugen und die heiligen Verbindlichkeiten der kalten Berechnung zu opfern. Ihre Mängel sowohl wie ihre Eigenschaften unterwerfen diese Nation der ehrenvollen Notwendigkeit, gerecht zu sein.

Der mächtige Trieb zur Arbeit und zum Nachdenken ist ebenfalls ein entscheidendes Charaktermerkmal der Deutschen. Sie sind von Natur literarisch und philosophisch; nur daß der Unterschied der Klassen, der in Deutschland hervorstechender als irgendwo ist, in mancher Hinsicht dem, was man unter Geist (Esprit) versteht, im Wege steht. Der Adel hat zu wenig Ideen, die Gelehrten zu wenig Kenntnis der Geschäfte.

Der Geist ist ein Gemisch von der Kenntnis der Dinge und der Menschen; und die Gesellschaft, in der man ohne Zweck und doch mit Teilnahme handelt, ist gerade das, was die am meisten entgegenstehenden Fähigkeiten am besten entwickelt. Was die Deutschen charakterisiert, ist mehr die Einbildungskraft als der Geist. Jean Paul Richter, einer ihrer ausgezeichnetsten Schriftsteller, sagt irgendwo: »Das Gebiet des Meeres gehört den Engländern; das Gebiet der Erde den Franzosen; das Gebiet der geistigen Atmosphäre den Deutschen«. Und in der Tat wäre es angebracht, Deutschland jener hervorstechenden Denkkraft zu überlassen, die sich in den leeren Raum versteigt und verliert, in die Tiefe eindringt und verschwindet, die in ihrer zu großen Unparteilichkeit zu nichts, in ihrer zu feinen Analyse zum Chaos wird.

Es kostet Mühe, wenn man soeben aus Frankreich kam, sich an die Langsamkeit, an die Ruhe des deutschen Volkes zu gewöhnen; es hat nie Eile, findet allenthalben Hindernisse. Das Wort unmöglich hört man hundertmal in Deutschland aussprechen gegen einmal in Frankreich. Muß gehandelt werden, so weiß der Deutsche nicht, was es heißt, den Hindernissen entgegenstreben; und seine Achtung vor der Gewalt rührt mehr davon, daß sie in seinen Augen dem Schicksale gleicht, als von irgendeinem eigennützigen Grund her.

Sobald man sich etwas über die unterste Volksklasse in Deutschland erhoben hat, bemerkt man bald das innere Leben, die Seelenpoesie, die den Deutschen bezeichnet. Die Bewohner der Städte und Dörfer, Soldaten und Landleute, verstehen fast alle Musik. Es ist mir sehr oft begegnet, in kleine, von Tabaksdampf durchräucherte Häuser zu treten und nicht allein die Hausfrau, sondern auch ihren Mann auf dem Klavier phantasieren zu hören, wie man in Italien improvisiert. Überall verbreitet ist die Einrichtung, daß an Markttagen auf dem Altan des Rathauses mitten auf dem Platz Spielleute mit Blasinstrumenten sich versammeln, so daß die Bauern der benachbarten Dörfer ihren freudigen Anteil an der ersten aller Künste nehmen können. Sonntags singen Chorschüler auf den Straßen geistliche Lieder. Wie man erzählt, war Luther in seiner Jugend ein solcher Chorknabe. Ich befand mich einst zu Eisenach, einem Städtchen im Herzogtum Sachsen-Weimar, an einem überaus kalten Wintertage; auf den Straßen lag tiefer Schnee. Ich sah einen langen Zug von jungen Leuten in schwarzen Mänteln durch die Stadt ziehen und hörte sie mit lauter Stimme Lieder zum Lobe Gottes anstimmen. Außer ihnen befand sich niemand auf der Straße, so streng war die Kälte; und diese Stimmen, beinahe so harmonisch wie die südlichen, rührten desto mehr, als sie mitten aus der erstarrten Natur hervortönten. Bei der bitteren Kälte durften die Einwohner ihre Fenster nicht öffnen; doch sah man hinter den Scheiben traurige und heitere Gesichter, alte und junge, die mit Freuden die Tröstungen der Religion empfingen, die ihnen der sanfte Gesang zuhauchte.

Die Instrumentalmusik ist in Deutschland ebenso allgemein eingeführt wie die Vokalmusik in Italien. Die Natur hat freilich in dieser Hinsicht wie in so mancher anderen mehr für Italien als für Deutschland getan. Es kostet Mühe und Anstrengung, um es in der Instrumentalmusik weit zu bringen, während der südliche Himmel allein hinreicht, schöne Stimmen zu bilden; gleichwohl würden nie Männer aus den arbeitenden Klassen auf die Erlernung der Musik die notwendige Zeit verwenden, wenn sie nicht natürliche Anlage dazu hätten. Die von Natur musikalischen Völker erhalten durch die Harmonie Gefühle und Ideen, zu denen sie infolge ihrer beschränkten Lage und ihrer alltäglichen Beschäftigungen auf andere Art nicht kommen könnten.

In Deutschland ist nichts so auffallend als der Gegensatz zwischen den Empfindungen und den Gewohnheiten, zwischen den Talenten und dem Geschmack. Zivilisation und Natur scheinen hier noch nicht gehörig zusammengeschmolzen zu sein. Wahrheitliebende Männer erscheinen nicht selten im Ausdruck und im Anstande manieriert, als hätten sie etwas zu verbergen; nicht minder oft zeigt sich die sanfte Seele unter einer rauhen Außenseite. Ja, man geht noch weiter; die Schwäche des Charakters blickt hinter harten Worten und harten Formen hervor. Mit dem Enthusiasmus für Dichtkunst und schöne Künste verbinden sich vielfältige gesellschaftliche Sitten und Gewohnheiten. Es gibt kein Land, wo die Gelehrten oder junge Studierende auf hohen Schulen es weiter in den alten Sprachen und in der Kenntnis des Altertums gebracht hätten; und von der anderen Seite kein Land, wo altväterische Sitten und Gebräuche einheimischer wären als in Deutschland.

Die Religion hat in Deutschland ihren Sitz im Innersten des Herzens; zugleich aber trägt sie gegenwärtig ein Gepräge der Träumerei und der Unabhängigkeit, das ausschließlichen Empfindungen nicht den gehörigen Nachdruck beilegt. Dieses Einzelnstehen von Meinungen, Individuen und Staaten, der Macht des deutschen Reichs so überaus nachteilig, findet sich auch in der Religion wieder; eine große Anzahl verschiedener Sekten teilt sich in Deutschland, und die katholische Religion selbst, die durch ihre innere Beschaffenheit einförmige, strenge Zucht hält, wird von den Deutschen nach eines jeden Weise und Gutdünken erklärt. Das politische und gesellschaftliche Gut der Völker, eine gleiche Regierung, ein gleicher Gottesdienst, gleiche Gesetze, gleiches Interesse, eine klassische Literatur, eine vorherrschende Meinung; nichts von allem diesem findet sich bei den Deutschen. Dadurch wird freilich jeder einzelne Staat unabhängiger, jede Wissenschaft besser kultiviert; aber die Nation im Ganzen zerfällt in solche Unterabteilungen, daß man nicht weiß, welchem Teile des Reichs man den Namen Nation beilegen soll.

Die deutsche Nation ist ausdauernd und gerecht; ihr Gefühl für Billigkeit und Rechtlichkeit verhindert, daß eine sogar fehlerhafte Einrichtung zum Bösen führen könne. Als Ludwig der Bayer in den Krieg zog, überließ er die Verwaltung seiner Staaten Friedrich dem Schönen, seinem Gefangenen; und dieses Vertrauen, das damals für niemand befremdend war, betrog ihn nicht. Mit solchen Tugenden hatte man von den Mängeln der Schwachheit oder von der Verwicklung der Gesetze nichts zu befürchten; die Rechtschaffenheit der Menschen ersetzte alles.

Die Unabhängigkeit selbst, die man beinahe in jeder Hinsicht in Deutschland genoß, machte die Deutschen gleichgültig gegen die Freiheit: die Unabhängigkeit ist ein Gut, die Freiheit eine Bürgschaft; und eben weil niemand in Deutschland weder in seinen Rechten, noch in seinen Genüssen gekränkt wurde, fühlte man nicht das Bedürfnis einer Ordnung der Dinge, durch die dieses Gut behauptet würde.

Die alten Urkunden, die alten Privilegien der Städte, jene große Familiengeschichte, die das Glück und den Ruhm der kleinen Staaten ausmacht, war den Deutschen über alles teuer; sie vernachlässigten darüber die große Nationalmacht, die sie vor allen Dingen mitten unter den europäischen Kolossen hätten begrüßen sollen.

Dem Deutschen fehlt es, mit wenigen Ausnahmen, an Fähigkeit zu allem, wozu Gewandtheit und Geschicklichkeit erfordert wird. Alles beunruhigt ihn, macht ihn verlegen; er bedarf eben so sehr der Methode im Handeln, als der Unabhängigkeit im Denken. Der Franzose hingegen betrachtet die Handlungen mit der Freiheit der Kunst und die Ideen mit der Knechtschaft der Gewohnheit. Die Deutschen, die sich dem Joch der Regeln in der Literatur nicht unterwerfen können, möchten, daß im Leben ihnen alles vorgezeichnet würde. Sie verstehen sich nicht darauf, mit den Menschen zu verhandeln, und je weniger man ihnen Gelegenheit gibt, sich bei sich selbst Rat zu holen, desto willkommener ist man ihnen.

Politische Institutionen können den Charakter einer Nation begründen. Nun stand die Natur der Regierung in Deutschland mit der philosophischen Aufklärung der Deutschen beinahe im Gegensatz; daher kommt es, daß sie die größte Kühnheit im Denken mit dem folgsamsten Charakter verbinden. Der Vorzug, den der Soldatenstand hat, und die Verschiedenheit der Stände überhaupt, haben sie in allen Verhältnissen des geselligen Lebens an die genaueste Unterwürfigkeit gewöhnt; der Gehorsam ist bei ihnen nicht Knechtschaft, er ist Regelmäßigkeit. Sie sind in Erfüllung der an sie ergehenden Befehle so pünktlich, als ob jeder Befehl eine Pflicht wäre.

Die aufgeklärten Köpfe in Deutschland streiten lebhaft miteinander um die Herrschaft im Gebiet der Spekulation; hier dulden sie keinen Widerspruch. Der Geist der Deutschen scheint mit ihrem Charakter in keiner Verbindung zu stehen. Jener leidet keine Schranken, dieser unterwirft sich jedem Joche; und das erklärt sich leicht. Die Vermehrung unserer Kenntnisse in neueren Zeiten dient nur dazu, den Charakter zu schwächen, wenn er nicht durch die Gewohnheit der Geschäfte und die Ausübung des Willens gestärkt wird.

Eleganz und Grazie

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Seit Ludwig XIV. setzte die sogenannte schöne Welt des Kontinents in Europa, Italien und Spanien ausgenommen, ihre Ehre daran, sich den Franzosen nachzubilden. In England gibt es einen beständigen Gegenstand der Unterhaltung, nämlich das politische Problem, worin alle und jeder ihr besonderes Interesse suchen und finden. Im Süden von Europa gibt es keine Gesellschaften; die schöne Sonne, die schönen Künste, die Liebe füllen dort das Leben aus. In Paris unterhält man sich gewöhnlich über die Literatur, und das sich immer mit neuen Stücken bereichernde Schauspiel gibt zu witzigen, scharfsinnigen Bemerkungen Anlaß und Stoff. In allen übrigen großen Städten besteht der Hauptinhalt aller Unterhaltungen in Anekdoten, in täglichen Urteilen und Anmerkungen über diejenigen, die zur großen Welt gehören. Es ist ein gewöhnliches Gewäsch, nur, daß die Namen vornehmer klingen; im Grunde sind es Klatschereien, wie in den niedrigsten Volksklassen; denn bei aller Eleganz der Formen, bei aller Wahl der Ausdrücke, läuft doch alles auf die Chronik von der Nachbarschaft hinaus.

Der wahrhaft liberale Stoff zur Unterhaltung besteht in Ideen und Tatsachen von allgemeinem Interesse. Die zur Gewohnheit gewordene Medisance, weil sie doch einmal die Gedankenleere und die Dürftigkeit des Verstandes in den Gesellschaften zum notwendigen Bedürfnisse gemacht hat, kann zwar mehr oder weniger durch Herzensgüte gemildert werden, doch nie so sehr, daß man mit jedem Schritt, mit jedem Wort kleine, ärgerliche Anekdoten hören sollte, deren Gesumme, wie das der Fliegen, selbst den Löwen auf die Dauer beunruhigen könnte. In Frankreich bedient man sich der Waffe des Lächerlichen, um sich gegenseitig zu bekämpfen und den Boden zu erobern, auf dem man den Sieg der Eigenliebe davonzutragen hofft. In anderen Ländern läßt man es bei einem harmlosen Geschwätz bewenden, das den Geist abnutzt und alle Spannkraft in jeder Gattung der Verstandesübungen hemmt.

Eine leichte Unterhaltung, in der eigentlich von nichts die Rede ist, und alles auf den Reiz der Worte und Wendungen ankommt, kann großes Vergnügen gewähren, und man darf es ohne Anmaßung behaupten, Frankreich allein stelle diese Gattung von Unterhaltung auf. Man kann sie als eine gefährliche, aber einladende Übung ansehen, in der jeder kleine Gegenstand sozusagen zum Federball wird, den man einander zuwirft, und der im genau berechneten Augenblick aus einer Hand in die andere fliegen muß.

Die Österreicher verbinden im allgemeinen zu viel Steifes mit zu viel Aufrichtigkeit, um sich fremdes Wesen anpassen zu wollen. Man hält es in Berlin für eine Sache des guten Geschmacks, französisch zu sprechen.

Die Franzosen haben sich in Europa, und vor allem in Deutschland, durch ihre Kunst, Extravaganzen auffallen zu lassen, hervorgetan. In den Worten Eleganz und Grazie lag eine geheime magische Kraft, die für die Eigenliebe ein unwiderstehlicher Ansporn war. Es ist nicht anders, als wären die Gefühle, die Handlungen, als wäre das ganze Leben dieser überfeinen Gesetzgebung des Weltgebrauchs unterworfen, als sei diese Gesetzgebung ein Vertrag zwischen der Eigenliebe des Einzelnen und der Eigenliebe der bürgerlichen Gesellschaft, ein Vertrag, kraft dessen die Eitelkeiten eine republikanische Konstitution unter sich errichtet haben, wo die Strafe des Ostrazismus gegen alles verhängt wird, was scharf gezeichnet und stark ausgesprochen ist. Diese, dem Schein nach leichten, im Grund aber despotischen Formen und Verabredungen entscheiden über das ganze Wesen des Menschen; sie haben allmählich und stufenweise alles untergraben, die Liebe, den Enthusiasmus, die Religion: alles, außer dem Egoismus, den der Stachel der Ironie nicht erreichen kann, weil er sich zwar dem Tadel, nie aber dem Spotte bloßstellt.

Der deutsche Geist verträgt sich weit weniger als jeder andere mit jener berechneten Kleingeistigkeit; er ist kaum auf der Oberfläche sichtbar, er muß tief eindringen, um zu begreifen. Er hascht nichts im Fluge. Vergebens würden die Deutschen es versuchen wollen, ihren natürlichen Eigenschaften und Gefühlen zu entsagen; an der Gründlichkeit würden sie verlieren, und in der leichten Form nicht gewinnen. Sie würden aufhören, Deutsche von Wert und Verdienst zu sein, ohne sich in liebenswürdige Franzosen umzuschaffen.

Ich bin weit entfernt, ihnen die Grazie absprechen zu wollen; sobald sie sich nur ihrer natürlichen Stimmung hingeben, geht sie aus ihrer Einbildungskraft, aus ihrer Empfindung hervor. Ihre muntere Laune (und es fehlt ihnen, besonders den Österreichern, keineswegs daran) hat aber mit der französischen Lustigkeit nichts gemein. Die Tiroler Possen, an denen in Wien die Großen wie das Volk soviel Freude empfinden, haben weit mehr Ähnlichkeit mit dem italienischen als mit dem französischen komischen Spott. Sie bestehen in stark aufgetragenen Karikaturen, in denen die menschliche Natur zwar mit Wahrheit, aber die Gesellschaft nicht mit Feinheit dargestellt wird. Gleichwohl ziehe ich diese Lustigkeit mit ihrem gröberen Anstrich der Nachahmung einer fremden Grazie vor.

Sobald man die Franzosen nachzuahmen sucht, tragen sie über alle und alles den Sieg davon.