Fjodor M. Dostojewski:
Aus der Lebensgeschichte des in Gottverschiedenen Hieromonachen, des Starez Sossima

Inhaltsverzeichnis


A. Vom Jüngling, dem Bruder des Starez Sossima
B. Von der Heiligen Schrift im Leben des Starez Sossima
C. Erinnerungen an das Knabenalter und die Jugendjahre des Starez Sossima in seinem weltlichen Leben. Der Zweikampf
D. Der geheimnisvolle Gast

A. Vom Jüngling, dem Bruder des Starez Sossima

Inhaltsverzeichnis


Geliebte Väter und Lehrer, ich wurde in einem fernen nördlichen Gouvernement, in der Stadt W. als Sohn eines adligen, aber weder sehr vornehmen, noch im Range hochstehenden Vaters geboren. Er hatte meiner Mutter ein kleines hölzernes Haus und einiges Vermögen hinterlassen, das zwar nicht groß, aber hinreichend war, um sie mit den Kindern zu ernähren. Mütterchen hatte zwei Kinder: mich, Sinowij und meinen älteren Bruder, Markell. Er war etwa acht Jahre älter als ich, heftig und reizbar, aber gut, gar nicht spöttisch und merkwürdig schweigsam, besonders zu Hause, im Umgange mit mir, mit der Mutter und mit den Dienstboten. Im Gymnasium lernte er gut, schloß sich aber keinem seiner Mitschüler an, obwohl er sich mit ihnen auch nicht zankte; so berichtete wenigstens unsere Mutter von ihm. Sin halbes Jahr vor seinem Tode, als er schon das siebzehnte Lebensjahr erreicht hatte, pflegte er oft einen einsam in unserer Stadt lebenden Menschen zu besuchen, der als politischer Verbrecher angesehen wurde und wegen seiner Freigeistigkeit aus Moskau in unsere Stadt verbannt worden war. Dieser Verbannte war kein geringer Gelehrter und ein bedeutender Philosoph an der Universität gewesen. Aus irgendeinem Grunde gewann er meinen Bruder Markell lieb und empfing ihn bei sich. Der Jüngling verbrachte bei ihm ganze Abende, den ganzen Winter lang, bis man den Verbannten auf seine eigene Bitte nach Petersburg in den Staatsdienst zurückrief, denn er hatte Protektion. Es begannen die großen Fasten, Markell wollte aber nicht fasten, lästerte und spottete: »Das ist alles Unsinn, denn es gibt keinen Gott.« Damit erschreckte er die Mutter und die Dienstboten, und auch mich trotz meines kindlichen Alters; ich war zwar erst neun Jahre alt, erschrak aber sehr, als ich diese seine Worte hörte. Unsere Dienstboten waren lauter Leibeigene, vier Seelen, die mir auf den Namen eines uns bekannten Gutsbesitzers gekauft hatten. Ich erinnere mich noch, wie Mütterchen eine von diesen vier, die Köchin Afimja, eine hinkende ältere Frau, für sechzig Rubel in Assignaten verkaufte und an ihre Stelle eine freie Dienstmagd nahm. In der sechsten Woche der Fasten wurde mein Bruder plötzlich krank; er war aber immer kränklich, brustleidend, von einer schwächlichen Konstitution und zur Schwindsucht geneigt gewesen; von Wuchs war er nicht klein, aber schmächtig und schwächlich, dabei recht hübsch. Vielleicht hatte er sich erkältet, aber der Doktor, der gerufen wurde, flüsterte Mütterchen sofort zu, daß es die galoppierende Schwindsucht sei, und daß er den Frühling wohl nicht mehr erleben würde. Die Mutter fing zu weinen an und bat den Bruder mit Vorsicht (um ihn nicht zu erschrecken), er möchte sich auf die Beichte vorbereiten und das heilige Abendmahl empfangen, denn er lag damals noch nicht. Als er das hörte, wurde er böse, beschimpfte die Kirche Gottes, wurde jedoch nachdenklich: er erriet sofort, daß er gefährlich krank sei und daß die Mutter ihn nur darum in die Kirche schicke, solange er noch die Kraft habe, sich auf die Beichte und auf das Abendmahl vorzubereiten. Er wußte übrigens auch selbst, daß er seit langem krank war, und hatte schon einmal ein Jahr vorher der Mutter und mir bei Tisch kaltblütig gesagt: »Ich bleibe nicht mehr lange bei euch auf dieser Erde, vielleicht sterbe ich noch in diesem Jahre;« diese Worte waren prophetisch. Es vergingen drei Tage, und es begann die Karwoche. Da fing mein Bruder am Dienstag an, zu fasten und in die Kirche zu gehen. »Ich tue es eigentlich nur Ihretwegen, Mütterchen, um Ihnen Freude zu machen und Sie zu beruhigen«, sagte er ihr. Die Mutter weinte vor Freude, aber auch vor Kummer: »Sein Ende ist wohl nahe,« sagte sie, »wenn mit ihm eine solche Wandlung geschehen ist.« Er ging aber nicht mehr lange in die Kirche, so daß die Beichte und das Abendmahl im Hause vollzogen wurden. Es waren heitere, klare, duftende Tage angebrochen, es war ein spätes Osterfest, jede Nacht hustete er, wie ich mich erinnere, und schlief schlecht, kleidete sich aber jeden Morgen an und versuchte sich in einen weichen Sessel zu setzen. So blieb er mir in Erinnerung: er sitzt still und mild da, lächelt, ist ganz krank, das Gesicht ist aber freudig und lustig. Seelisch hatte er sich ganz verändert – eine so wunderbare Wandlung hatte sich in ihm vollzogen! Die alte Kinderfrau kommt zu ihm ins Zimmer und bittet: »Erlaube, Liebster, daß ich bei dir vor dem Heiligenbild das Lämpchen anzünde.« Früher hatte er das niemals geduldet, hatte das Lämpchen sogar ausgeblasen. – »Zünde es nur an, Liebste, zünde es an. Ich war ein Ungeheuer, daß ich es euch früher wehrte. Wenn du das Lämpchen vor Gott anzündest, betest du, und ich bete, wenn ich mich über dich freue, so beten wir zum gleichen Gott.« Sonderbar erschienen uns diese Worte. Die Mutter ging oft auf ihr Zimmer und weinte immerfort; nur bevor sie zu ihm eintrat, wischte sie sich die Augen ab und machte ein frohes Gesicht. »Mütterchen, Liebste, weine nicht,« pflegte er ihr zu sagen, »ich werde noch lange mit euch leben, werde mich viel mit euch freuen, das Leben, das Leben ist so voller Lust und Freude!« – »Ach, Liebster, was ist denn das für eine Freude, wenn du die ganze Nacht im Fieber liegst und so hustest, daß dir beinahe die Brust zerspringt.« – »Mama,« antwortete er ihr, »weine nicht, das Leben ist ein Paradies, und wir alle sind im Paradies, wir wollen es nur nicht wissen; aber wenn wir es begreifen wollten, so würde morgen auf der ganzen Welt das Paradies sein.« Und alle staunten über seine Worte: so sonderbar und so überzeugt sagte er das alles; alle weinten vor Rührung. Wenn Bekannte zu uns kamen, so sagte er: »Ihr Lieben, Teuren, wodurch habe ich es verdient, daß ihr mich liebt? Wofür liebt ihr mich, der ich solch ein Mensch bin, und warum habe ich es nicht früher gewußt und geschätzt!« Den eintretenden Dienstboten sagte er jeden Augenblick: »Meine Lieben, Teuren, warum dient ihr mir, bin ich es denn wert, daß ihr mir dient? Wenn Gott sich meiner erbarmt und mich am Leben läßt, so werde ich selbst euch dienen, denn alle Menschen müssen einander dienen.« Wenn Mütterchen das hörte, schüttelte sie den Kopf und sagte: »Mein Lieber, das kommt von deiner Krankheit, daß du so sprichst!« – »Mama, du meine Freude, es geht wohl nicht, daß es keine Diener und keine Herren gäbe, aber dann will ich der Diener meiner Diener sein, so wie sie meine Diener sind. Ich will dir auch noch dieses sagen, Mütterchen: ein jeder von uns ist in allen Dingen vor allen schuldig, und ich bin es noch mehr als die andern.« Mütterchen lächelte sogar über diese Worte; sie weinte und lächelte. »Warum«, sagte sie, »bist du schuldiger als die andern? Da gibt es Mörder und Missetäter; wann hast du aber Zeit gehabt, so viel zu sündigen, daß du dich mehr als alle anklagst?« – »Mütterchen, mein Bluttröpfchen (er fing damals an, so ganz ungewohnte Koseworte zu gebrauchen), du mein liebes Bluttröpfchen, meine Freude, wisse, daß ein jeder in allem und vor allen in Wahrheit schuldig ist. Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll, aber ich fühle mit Schmerzen, daß es so ist. Wie haben wir nur so leben und immer zürnen können und haben es nicht gewußt?« So erhob er sich jeden Morgen von seinem Lager, jeden Morgen von größerer Rührung und Freude erfüllt und ganz vor Liebe zitternd. Wenn der alte Doktor, der Deutsche Eisenschmied, zu uns kam, scherzte er mit ihm: »Nun, Doktor, werde ich noch einen Tag auf dieser Welt leben?« – »Nicht nur einen Tag, sondern viele Tage werden Sie noch leben,« pflegte ihm der Doktor zu antworten, »Monate und Jahre werden Sie noch leben.« – »Ach, was, Jahre und Monate!« rief er dann aus: »Was soll man die Tage zählen; ein einziger Tag genügt dem Menschen, um das ganze Glück zu erfahren. Meine Lieben, was streiten wir uns, was prahlen wir voreinander und denken an jede Kränkung: wollen mir doch einfach in den Garten gehen, wollen wir lustwandeln und spielen, einander lieben und preisen, uns küssen und unser Leben segnen.« – »Ihr Sohn bleibt nicht mehr lange am Leben,« sagte der Doktor zur Mutter, wenn sie ihn auf die Treppe begleitete; »er wird vor Krankheit wahnsinnig.« Die Fenster seines Zimmers gingen nach dem Garten, wir hatten einen schattigen Garten mit alten Bäumen, die Bäume waren voller Knospen, die ersten Frühlingsvögel kamen geflogen und zwitscherten und sangen vor seinen Fenstern. Indem er sie mit Freude ansah, fing er plötzlich an, sie um Verzeihung zu bitten: »Ihr Vöglein Gottes, ihr frohen Vöglein, verzeiht mir, denn ich habe auch vor euch gesündigt.« Das konnte aber niemand von uns verstehen, doch er weinte vor Freude: »Ja,« sagte er, »es war Gottes Pracht um mich herum: Vöglein, Bäume, Wiesen, der Himmel, und ich allein habe in Schande gelebt, ich allein habe alles geschändet und die Schönheit und Pracht gar nicht bemerkt.« – »Du nimmst viel zu viel Sünden auf dich,« sagte ihm die Mutter weinend darauf. – »Mütterchen, meine Freude, ich weine doch vor Lust und nicht vor Kummer; ich möchte ja selbst vor ihnen allen schuldig sein, ich kann es dir nur nicht erklären, denn ich weiß gar nicht, wie ich sie lieben soll. Mag ich vor allen schuldig sein, dafür werden mir aber auch alle verzeihen, und das ist das Paradies. Bin ich denn jetzt nicht im Paradies?«

Vieles sagte er noch, aber an alles kann ich mich nicht mehr erinnern und kann auch alles nicht aufzeichnen. Ich entsinne mich noch: einmal trat ich allein zu ihm ins Zimmer, als niemand bei ihm war. Es war eine heitere Abendstunde, die Sonne ging unter und beleuchtete das ganze Zimmer mit einem schrägen Strahl. Als er mich sah, winkte er mich zu sich heran, und ich kam näher; er faßte mich mit beiden Händen an den Schultern, sah mir gerührt und liebevoll ins Gesicht, sagte aber nichts, sah mich nur eine Weile so an. Dann sagte er: »Jetzt geh, spiele, lebe an meiner Statt!« Ich ging hinaus und spielte. In meinem späteren Leben gedachte ich oft unter Tränen, wie er mir befohlen hatte, an seiner Statt zu leben. Er sprach noch viele solche wunderbare und herrliche, wenn auch uns damals unverständliche Worte. Er verschied in der dritten Woche nach Ostern, bei vollem Bewußtsein. In den letzten Tagen sprach er zwar nicht mehr, veränderte sich aber bis zu seiner letzten Stunde nicht: er blickte freudig, aus seinen Augen strahlte die Freude, er suchte uns mit den Blicken, lächelte uns zu und rief uns. Über seinen Tod sprach man sogar in der Stadt. Dies alles hatte mich damals erschüttert, aber nicht allzusehr, obwohl ich bei seiner Beerdigung viel weinte. Ich war damals nach jung und ein Kind, aber alles blieb unauslöschlich in meinem Herzen, das Gefühl barg sich tief in meiner Brust. Dies alles mußte einmal auferstehen und seine Stimme erheben. Und so geschah es auch.

B. Von der Heiligen Schrift im Leben des Starez Sossima

Inhaltsverzeichnis


So war ich mit meinem Mütterchen allein geblieben. Die guten Bekannten kamen bald mit ihrem Rat: »Ihnen ist ja noch ein Söhnchen geblieben, und sie sind nicht arm, haben ein Kapital – warum sollen Sie nicht, wie es die anderen tun, Ihren Sohn nach Petersburg schicken? Wenn Sie hier bleiben, so berauben Sie ihn vielleicht seines Glückes.« So gerben sie Mütterchen den Gedanken ein, mich nach Petersburg in das Kadettenkorps zu bringen, damit ich später in die kaiserliche Garde eintrete. Mütterchen schwankte einige Zeit: wie trennt man sich von seinem einzigen Sohne? Zuletzt entschloß sie sich aber dazu, wenn auch nicht ohne Tränen, denn sie glaubte, auf diese Weise mein Glück zu fördern. Sie brachte mich nach Petersburg und gab mich ins Kadettenkorps; seitdem sah ich sie nicht mehr, denn nach drei Jahren starb sie selbst; die ganzen drei Jahre hatte sie aber uns beide beweint und für mich gezittert. Aus dem Elternhause habe ich die kostbarsten Erinnerungen mitgenommen, denn der Mensch hat keine kostbareren Erinnerungen, als die der ersten Kindheit im Elternhause, und das ist fast immer so, wenn es in der Familie auch nur ein wenig Liebe und Einigkeit gibt. Man kann sogar selbst aus der schlechtesten Familie kostbare Erinnerungen bewahren, wenn nur die Seele fähig ist, das Kostbare zu suchen. Zu den häuslichen Erinnerungen zähle ich auch die Erinnerungen an die Biblische Geschichte, für die ich mich im Elternhause schon als kleines Kind interessierte. Ich hatte damals ein Buch, eine Biblische Geschichte mit schönen Bildern, mit dem Titel: »Einhundertundvier biblische Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament,« und aus diesem Buche lernte ich lesen. Ich habe es auch heute noch auf meinem Bücherbrett liegen und verwahre es als kostbares Andenken. Aber noch bevor ich das Lesen erlernt hatte, überkam mich einmal, als ich erst acht Jahre alt war, eine geistige Erleuchtung. Mütterchen führte mich einmal allein (ich weiß nicht mehr, wo mein Bruder damals war) am Montag in der Karwoche zur Messe in die Kirche Gottes. Es war ein heiterer Tag, und ich erinnere mich heute noch, wie aus dem Räucherfaß der Weihrauch aufstieg und leise in die Höhe schwebte, von oben aber, aus dem schmalen Fensterchen in der Kuppel die Strahlen Gottes sich über uns ergossen und der Weihrauch, in Wolken aufsteigend, in ihnen gleichsam schmolz. Ich blickte gerührt und nahm zum erstenmal in meinem Leben das erste Samenkorn des Wortes Gottes in meine Seele auf. In die Mitte der Kirche trat ein Knabe mit einem großen Buche, einem so großen, daß er, wie mir schien, es mit Mühe trug; er legte es aufs Pult, schlug es auf und begann zu lesen, und plötzlich begriff ich etwas, begriff zum erstenmal in meinem Leben, was in der Kirche Gottes gelesen wird. Es war ein Mann im Lande Uz, schlecht und recht und gottesfürchtig, und er besaß großen Reichtum, so und so viele Kameele, so und so viele Schafe und Esel, und seine Söhne lebten in Freuden, und er liebte sie sehr und betete zu Gott für sie; vielleicht sündigten sie in ihrem Wohlleben. Und es kam der Satan zugleich mit den Kindern Gottes vor den Thron Gottes und sprach zum Herrn und sagte, er hätte das Land umher gezogen. »Hast du nicht acht gehabt auf meinen Knecht Hiob?« fragte ihn der Herr. Und der Herr rühmte sich vor dem Satan, indem er auf seinen großen, heiligen Knecht wies. Und der Satan lachte über die Worte des Herrn: »Überliefere ihn mir, und du wirst sehen, daß dein Knecht murren und deinen Namen verfluchen wird.« Und der Herr überlieferte dem Satan seinen Gerechten, den er so liebte, und der Teufel ging hin und schlug seine Kinder und sein Vieh, und vernichtete seinen ganzen Reichtum wie durch einen Sturmwind Gottes. Und Hiob zerriß sein Kleid und fiel auf die Erde, und betete an und sprach: »Ich bin nackend von meiner Mutter Leibe gekommen, nackend werde ich wieder dahin fahren. Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen, der Name des Herrn sei gelobet!« Meine Väter und Lehrer, verzeiht meine jetzigen Tränen, denn meine ganze Kindheit ersteht jetzt wieder vor mir, und ich atme, wie ich damals mit meiner achtjährigen Brust geatmet habe, und ich fühle wie damals Erstaunen, Bestürzung und Freude. Auch die Kameele beschäftigten damals meine Gedanken, und der Satan, wie er mit dem Herrn sprach, und der Herr, der seinen Knecht dem Verderben überlieferte, und sein Knecht, welcher rief: »Dein Name sei gelobet, obwohl du mich schlägst!« – und dann der leise und süße Gesang in der Kirche: »Mein Gebet werde erhöret«, und wieder der Weihrauch aus dem Räucherfasse des Priesters und das Gebet auf den Knieen. Seit damals – sogar gestern nahm ich sie wieder zur Hand – kann ich diese heilige Erzählung nicht ohne Tränen lesen. Wieviel Großes, Geheimes, Unfaßbares liegt darin! Später hörte ich die Worte der Spötter und Lästerer, hochmütige Worte: »Wie konnte bloß der Herr den liebsten seiner Heiligen dem Satan zum Spiel überliefern, ihm seine Kinder nehmen, ihn selbst mit einer Krankheit und mit bösen Schwären so schlagen, daß er einen Scherben nahm, um sich zu schaben; und das nur, um vor dem Satan prahlen zu können: »Sieh, was mein Heiliger um meinetwillen leiden kann!« Das ist eben so groß, daß hier ein Geheimnis ruht, daß das vergängliche irdische Gesicht und die ewige Wahrheit sich hier berühren. Vor dem Antlitze der irdischen Wahrheit vollzieht sich hier die ewige Wahrheit. Wie in den ersten Tagen der Schöpfung, als Er jeden Tag mit dem Lobe schloß: »Siehe, es ist gut!«, sieht der Schöpfer Hiob an und rühmt sich wieder seiner Schöpfung. Und Hiob dient, indem er Gott lobt, nicht nur Ihm, sondern seiner ganzen Schöpfung von Geschlecht zu Geschlecht, in alle Ewigkeit, denn dazu war er ausersehen. Mein Gott, was ist das für ein Buch, und was für Lehren schöpft man daraus! Was für ein Buch ist doch diese Heilige Schrift, was für ein Wunder und was für eine Kraft sind dem Menschen mit ihr gegeben! Es ist wie eine aus Stein gemeißelte Darstellung der Welt und des Menschen und der menschlichen Charaktere, und alles ist benannt und in alle Ewigkeit gezeigt. Und wie viele ungelöste und gelöste Geheimnisse: der Herr richtet Hiob wieder auf, gibt ihm seinen Reichtum wieder, es vergehen viele Jahre, und Hiob hat schon neue Kinder, die er liebt. Mein Gott: Wie kann er bloß diese Neuen liebgewinnen, wenn jene, die er verloren hat, nicht mehr sind? Wenn er sich jener erinnert, kann er denn mit diesen Neuen vollkommen glücklich sein, und wenn sie ihm auch noch so teuer sind? Aber das ist möglich, möglich: der alte Schmerz geht durch das große Geheimnis des menschlichen Lebens allmählich in eine stille fromme Freude über; an Stelle des jugendlichen heißen Blutes kommt das milde, heitere Alter; ich segne den täglichen Aufgang der Sonne, und mein Herz lobpreist ihn wie früher; aber noch mehr liebe ich jetzt ihren Untergang, ihre langen schrägen Strahlen und mit ihnen die stillen, sanften, frommen Erinnerungen, die lieben Bilder des ganzen langen und gesegneten Lebens, und über allem leuchtet die rührende, versöhnende, allverzeihende Wahrheit Gottes! Mein Leben geht zu Ende, ich weiß und höre es, aber ich fühle es mit jedem mir noch bleibenden Tage, wie mein irdisches Leben sich mit einem neuen, unendlichen, unbekannten aber nahen kommenden Leben berührt, in dessen Vorahnung meine Seele vor Entzücken zittert, der Geist leuchtet und das Herz freudig weint ... Meine Freunde und Lehrer, ich habe mehr als einmal gehört und höre in der letzten Zeit immer öfter, daß bei uns die Priester Gottes, besonders die auf dem Lande, sich bitter über ihren geringen Unterhalt und ihre Erniedrigung beklagen und offen erklären, sogar in den Zeitungen – ich habe es selbst gelesen – daß sie dem Volke die Schrift nicht mehr auslegen können, weil ihr Gehalt zu gering sei; wenn die Lutherischen und die Ketzer kommen und ihnen ihre Herde abspenstig machen, so möchten sie es nur tun, denn ihr Gehalt sei zu gering. Mein Gott! Ich denke mir: Möge Gott doch ihr Gehalt, das ihnen so kostbar ist, vermehren (denn ihre Klage ist berechtigt), aber ich sage in Wahrheit: wenn jemand schuld ist, so sind wir es zur Hälfte selbst! Denn mag der Priester keine Zeit haben, mag sein Einwand gerecht sein, daß er von seiner Arbeit und den Amtspflichten erdrückt werde; aber doch nicht die ganze Zeit: er muß doch wenigstens eine Stunde in der Woche haben, um an Gott zu denken. Seine Arbeit dauert auch nicht das ganze Jahr. Soll er doch wenigstens einmal in der Woche zuerst nur die Kinder bei sich versammeln; wenn es die Väter hören, so werden auch die Väter zu ihm kommen. Man braucht auch keinen Palast dazu zu errichten, er kann sie einfach in seiner Stube empfangen; er braucht auch nicht zu fürchten, daß sie ihm seine Stube verunreinigen; sie kommen doch bloß für eine Stunde. Er schlage das Buch auf und beginne, ohne allzu kluge Worte und ohne Hochmut, ohne Überhebung, sondern fromm und mild zu lesen, von der Freude erfüllt, daß er ihnen vorliest und sie ihm zuhören und ihn verstehen; er liebe selbst diese Worte, mache nur hier und da eine Unterbrechung und erkläre manches dem einfachen Manne unverständliche Wort; er kann unbesorgt sein: sie werden alles begreifen, alles wird ins rechtgläubige Herz eindringen! Er lese ihnen von Abraham und Sarah, von Isaak und Rebekka, und wie Jakob zu Laban ging und im Schlafe mit dem Herrn rang und wie er sagte: »Wie heilig ist diese Stätte!« – und er wird damit den einfachen frommen Geist des einfachen Mannes erschüttern. Er lese ihnen, besonders den Kindern, wie die Brüder ihren leiblichen Bruder, den lieben Jüngling Joseph, den Traumdeuter und Propheten in die Knechtschaft verkauften, dem Vater aber sagten, ein wildes Tier habe seinen Sohn zerrissen, und ihm den blutbefleckten Rock Josephs zeigten. Er lese, wie die Brüder später nach Ägypten kamen, um Getreide zu kaufen, und Joseph, der schon ein mächtiger Statthalter war, den sie nicht erkannten, sie quälte, verleumdete und den Bruder Benjamin zurückhielt, und das alles aus Liebe: »Ich liebe euch und quäle euch, weil ich euch liebe.« Denn er hatte sein ganzes Leben lang ununterbrochen daran gedacht, wie sie ihn in der glühenden Wüste beim Brunnen den Händlern verkauft hatten und wie er händeringend geweint und seine Brüder angefleht hatte, ihn nicht in die Knechtschaft in ein fremdes Land zu verkaufen; als er sie aber nach so vielen Jahren wiedersah, fühlte er wieder eine große Liebe zu ihnen, aber er quälte sie und peinigte sie, und das alles aus Liebe. Endlich kann er seine Herzensqual nicht mehr ertragen, er geht von ihnen, wirft sich auf sein Lager und weint; dann wäscht er sich sein Gesicht, tritt heiter und leuchtend vor sie und verkündet ihnen: »Brüder, ich bin Joseph, euer Bruder!« Er lese dann weiter, wie der alte Jakob sich freute, als er erfuhr, daß sein lieber Junge noch lebe, wie er sein Vaterland verließ und nach Ägypten zog und wie er in der Fremde starb, nachdem er in seinem Vermächtnis das größte Wort für alle Ewigkeit ausgesprochen, das Wort, das während seines ganzen Lebens geheimnisvoll in seinem kurzsichtigen und furchtsamen Herzen gewohnt hatte; daß aus seinem Geschlechte, von Judas die große Hoffnung der Welt, der Friedensbringer und Heiland kommen würde! Meine Väter und Lehrer, verzeiht und zürnt mir nicht, daß ich wie ein kleines Kind von diesen Dingen spreche, die ihr schon längst kennt und die ihr mich hundertmal kunstvoller und schöner lehren könntet. Ich sage das nur aus Begeisterung, und verzeiht mir meine Tränen, denn ich liebe dieses Buch! Soll auch er, der Priester Gottes weinen, und er wird sehen, wie die Herzen der Zuhörer erzittern werden. Es genügt ein kleines, winziges Samenkorn: wenn man es in die Seele des einfachen Mannes wirft, so wird es nicht verderben, sondern in der Seele sein ganzes Leben lang bleiben und in ihm in der Finsternis, im Gestank seiner Sünden als ein leuchtender Punkt, als eine große Ermahnung fortleben. Und es ist gar nicht nötig, gar nicht nötig, viel zu erklären und zu lehren – er wird alles einfach begreifen. Glaubt ihr, der einfache Mann werde es nicht verstehen? Versucht doch und lest ihm ferner die rührende und ergreifende Geschichte von der schönen Esther und der hochmütigen Vasthi; oder die wunderbare Sage vom Propheten Jonas im Bauche des Walfisches. Vergeßt auch nicht die Gleichnisse des Herrn, vorzugsweise nach dem Evangelium Lukas (so habe ich es gemacht), und dann aus der Apostelgeschichte die Bekehrung Sauls (dieses unbedingt, unbedingt!), und schließlich aus der Heiligenlegende wenigstens die Lebensgeschichte Alexejs des Mannes Gottes und der allergrößten, freudevollen Dulderin, der Gottseherin und Heilandträgerin, der Ägyptischen Maria – und ihr werdet mit diesen einfachen Erzählungen sein Herz durchdringen – und das alles in einer Stunde in der Woche, trotz des geringen Gehaltes, in einer einzigen Stunde. Und der Priester wird selbst sehen, daß unser Volk barmherzig und dankbar ist, und daß es ihm hundertfältig danken wird; eingedenk des Eifers des Priesters und seiner frommen Worte wird es ihm freiwillig auf seinem Acker helfen, wird ihm auch in seinem Hause helfen, es wird ihm viel mehr Achtung zollen als früher, und so wird sein Gehalt vergrößert werden. Diese Sache ist so einfach, daß wir zuweilen fürchten, es auszusprechen, denn man wird uns auslachen, und doch ist sie so wahr und sicher! Wer an Gott nicht glaubt, der wird auch an das Volk Gottes nicht glauben. Wer aber an das Volk Gottes glaubt, der wird auch die Helligkeit Gottes schauen, auch wenn er an sie bisher nicht geglaubt hat. Nur das Volk und seine künftige Kraft wird unsere von der heimatlichen Erde losgerissenen Atheisten bekehren. Was bedeutet auch das Wort Christi ohne ein Beispiel? Das Volk muß ohne das Wort Gottes zugrunde gehen, denn seine Seele lechzt nach dem Worte und nach jedem schönen Eindruck. In meiner Jugend, es ist schon lange her, beinahe vierzig Jahre, durchwanderte ich mit P. Ansim ganz Rußland, um Spenden für das Kloster zu sammeln; einmal übernachteten wir mit Fischern am Ufer eines großen schiffbaren Flusses, und zu uns setzte sich ein wohlgestalteter Jüngling aus dem Bauernstande, dem Aussehen nach achtzehnjährig; er eilte an einen gewissen Ort, um am nächsten Morgen eine Kaufmannsbarke an der Leine zu schleppen. Ich sehe, er blickt andächtig und heiter vor sich hin. Die Julinacht ist hell, still und warm, der Strom ist breit, ein Nebel steigt von ihm auf und erfrischt uns, ab und zu plätschert darin leise ein Fischchen, die Vöglein sind verstummt, alles ist still und herrlich, alles betet zu Gott. Nur wir beide schlafen nicht, ich und der Jüngling; wir sprechen von der Schönheit dieser Gotteswelt und von ihrem großen Geheimnis. Jeder Grashalm, jedes Käferchen, jede Ameise und jede goldene Biene, alle kennen, ohne Vernunft zu besitzen, erstaunlich gut ihren Weg, alle zeugen von dem Geheimnisse Gottes und erfüllen es ununterbrochen selbst; ich sehe, daß das Herz des lieben Jünglings entbrannt ist. Er erzählt mir, daß er den Wald liebe und die Vöglein des Waldes; er sei Vogelfänger gewesen, hätte jedes Gezwitscher gekannt und jedes Vöglein anzulocken verstanden. »Ich kenne nichts Schöneres,« sagte er mir, »als im Walde zu sein, aber auch alles andere ist schön.« – »Wahrlich,« antwortete ich ihm, »alles ist schön und herrlich, denn alles ist die Wahrheit, schau nur das Pferd an,« sagte ich ihm, »das große Tier, das dem Menschen nahesteht, oder den Ochsen, der den Menschen ernährt und für ihn arbeitet, den nachdenklichen Ochsen mit dem gesenkten Kopf, schau ihre Gesichter an: welche Sanftmut, welche Anhänglichkeit an den Menschen, der das Tier oft erbarmungslos schlägt, welch eine Gutmütigkeit, Zutraulichkeit und Schönheit in diesen Gesichtern. Es ist sogar rührend zu wissen, daß gar keine Sünde in ihnen ist, denn alles ist vollkommen, alles außer dem Menschen ist sündlos, und Christus ist mit ihnen eher als mit uns.« – »Ist denn auch mit ihnen Christus?« fragte der Jüngling. – »Wie könnte es denn anders sein,« antwortete ich ihm, »denn für alle ist das Wort; die ganze Schöpfung und jede Kreatur, jedes Blatt strebt zum Wort, singt die Ehre Gottes, weint zu Christo und tut es, sich selbst unbewußt, durch das Geheimnis seines sündenlosen Daseins. Da haust im Walde der schreckliche Bär,« sage ich ihm, »er ist wild und grausam und doch unschuldig daran.« Und ich erzähle ihm, wie ein Bär einmal zu einem großen Heiligen kam, der im Walde, in einer kleinen Zelle sein Seelenheil rettete, wie der große Heilige voll Rührung furchtlos zu ihm hinausging, ihm ein Stück Brot reichte und sagte: »Geh, Christus sei mit dir!« und wie das wilde Tier gehorsam und sanft fortging und ihm nichts zuleide tat. Der Jüngling war ganz gerührt darüber, daß der Bär dem Heiligen nichts zuleide tat und fortging und daß auch mit ihm Christus war. »Ach,« sagte er, »wie schön ist das, und wie schön und wunderbar ist alles Göttliche!« Er saß da, in ein stilles, süßes Sinnen versunken. Ich sah, daß er mich verstanden hatte. Und er schlief leicht und sündlos an meiner Seite ein. Gott segne die Jugend! Und ich betete für ihn, bevor ich einschlief. Herr, sende Frieden und Licht deinen Menschen!

C. Erinnerungen an das Knabenalter und die Jugendjahre des Starez Sossima in seinem weltlichen Leben. Der Zweikampf

Inhaltsverzeichnis