Solange die Sonne nicht den Nachtflor bricht

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Solange die Sonne nicht den Nachtflor bricht,
Sind Tagesvögel ohne Zuversicht.

Der Blick der Sonne ruft die Tulpen auf;
Jetzt ist, o Herz, dir zu erwachen Pflicht.

Das Sonnenschwert gießt aus im Morgenrot
Das Blut der Nacht, von der es Sieg erficht.

Voll Schlafs das Auge, sprach ich: Es ist Nacht.
Er sprach: Vor meinem Angesichte nicht.

Solang' es graut, ist zweifelhaft der Tag;
Am hellen Tag, wer zweifelt noch am Licht?

Im Osten steht das Licht, ich steh' im West,
Ein Berg, an dessen Haupt der Schein sich bricht.

Ich bin der Schönheitssonne blasser Mond;
Schau weg von mir, der Sonn' ins Angesicht!

Dschelaleddin nennt sich das Licht im Ost,
Deß Wiederschein euch zeiget mein Gedicht.

Zum Himmel thu' ich jede Nacht den Liebesruf

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Zum Himmel thu' ich jede Nacht den Liebesruf,
Der Schönheit Gottes voll, mit Macht den Liebesruf.

Mir jeden Morgen Sonn' und Mond im Herzen tanzt,
Zu Sonn' und Mond thu' ich erwacht den Liebesruf.

Auf jeder Au erglänzt ein Strahl von Gottes Licht;
Ich thu' an Gottes Schöpferpracht den Liebesruf.

Die Turteltaub' im Laub, erweckt von meinem Gruß,
Thut mir entgegen girrend sacht den Liebesruf.

Dem Felsen, der zu deinem Preis mit Licht sich krönt,
Zuruf' ich, und er nimmt in Acht den Liebesruf.

Dir thu' ich für die Blum' im Feld, die schüchtern schweigt,
Fürs Würmlein, das du stumm gemacht, den Liebesruf.

Das Weltmeer preist mit Rauschen dich, doch ohne Wort;
Ich hab' in Worte ihm gebracht den Liebesruf.

Dir thu' ich als das Laub am Baum, als Tropf' im Meer,
Dir als der Edelstein im Schacht, den Liebesruf.

Ich ward in allem alles, sah in allem Gott,
Und that, von Einheitglut entfacht, den Liebesruf.

Ich sah empor, und sah in allen Räumen Eines

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Ich sah empor, und sah in allen Räumen Eines;
Hinab ins Meer, und sah in allen Wellenschäumen Eines.

Ich sah in's Herz, es war ein Meer, ein Raum der Welten,
Voll tausend Träum'; ich sah in allen Träumen Eines.

Du bist das Erste, Letzte, Äußre, Innre, Ganze;
Es strahlt dein Licht in allen Farbensäumen Eines.

Du schaust von Ostens Grenze bis zur Grenz' im Westen,
Dir blüht das Laub an allen grünen Bäumen Eines.

Vier widerspenst'ge Thiere ziehn den Weltenwagen;
Du zügelst sie, sie sind an deinen Zäumen Eines.

Luft, Feuer, Erd' und Wasser sind in Eins geschmolzen
In deiner Furcht, daß dir nicht wagt zu bäumen Eines.

Der Herzen alles Lebens zwischen Erd' und Himmel,
Anbetung dir zu schlagen soll nicht säumen Eines!

Als ich scharfen Dorn mich sahe, Rosenschwelle sucht' ich auf

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Als ich scharfen Dorn mich sahe, Rosenschwelle sucht' ich auf.
Als ich mich sah gallenbitter, Honigs Zelle sucht' ich auf.

Als ich mich ein Giftgefäß sah, sucht' ich auf das Gegengift.
Als ich trüb mich Hefen sahe, Weineswelle sucht' ich auf.

Als ich unreif Obst mich sahe, sucht' ich reifes Sonnenlicht.
Als ich mich sah rohen Mörtel, Mauerers Kelle sucht' ich auf.

Als ich blind mich sah am Auge, an des Augenarztes Saum
Legt' ich Hand, bei seinem Finger Augenhelle sucht' ich auf.

Liebestaub ward Augensalbe, und der Seele Blindheit wich;
Und es starb der Durst des Herzens, denn die Quelle sucht' ich auf

Ich bin Feuer, das nicht brennet; du bist Wind, der's brennen macht;
Dich, o Wind, o Feuers trauter Spielgeselle, sucht' ich auf.

Obgleich die Sonn' ein Scheinchen ist deines Scheines nur

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Obgleich die Sonn' ein Scheinchen ist deines Scheines nur,
Doch ist mein Licht und deines ursprünglich Eines nur.

Ob Staub zu deinen Füßen der Himmel ist, der kreist;
Doch Eines ist und Eines mein Sein und deines nur.

Der Himmel wird zu Staube, zum Himmel wird der Staub;
Und Eines bleibt und Eines dein Wesen, meines nur.

Wie kommen Lebensworte, die durch den Himmel gehn,
Zu ruhn im engen Raume des Herzenschreines nur?

Wie bergen Sonnenstrahlen, um heller aufzublühn,
Sich in die spröden Hüllen des Edelsteines nur?

Wie darf, Erdmoder speisend, und trinkend Wasserschlamm,
Sich bilden die Verklärung des Rosenhaines nur?

Herz, ob du schwimmst in Fluten, ob du in Gluten glimmst,
Flut ist und Glut Ein Wasser; o sei du reines nur!

O Mewlana! Am Morgen wacht' ich mit dir, und sah:
Mein Auge statt voll Tränen, voll Himmelsweines nur.

Wer gesehn hat deine Wangen wird nach Rosenschein nicht gehn

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Wer gesehn hat deine Wangen wird nach Rosenschein nicht gehn;
Und wer krankt an deiner Liebe wird nach Arzenei'n nicht gehn.

Wer am stillen Busen dir geruht hat einen Augenblick,
Wird zum Tulpenbeet der Welt, wo laute Farben schrein, nicht gehn.

Welchem Gast den Taumelbecher reichte deine Schenkenhand,
Der zu Wasserbächen wird von deinem Seelenwein nicht gehn.

Wenn nicht drüben dich zu finden an der Quell' im Paradies
Hoffen darf ein Liebender, wird er zu Edens Hain nicht gehn.

Daß mich Liebe töten solle, hoff' ich jeden Augenblick;
Immer, ach, ins schwache Herz will noch so süße Pein nicht gehn.

Mutlos nicht die Arme senken darf, wer ringen will mit dir.
Wer im Kampf nicht aus will halten, soll in Kampf hinein nicht gehn.

Sieh, mir hat von Ewigkeit dein Mal die Liebe eingebrannt,
Und das Mal in Ewigkeit wird mir aus Mark und Bein nicht gehn.

Mewlana Dschelaleddin! dein Mund hat mich dies Wort gelehrt:
Irre geht das Herz hier, wann es will zum Freund allein nicht gehn.

Ich bin der Falk' der Geisterwelt

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Ich bin der Falk' der Geisterwelt,
Entflohn dem offnen Himmelszelt;

Der aus Begierde nach der Jagd
Gefallen in die Formenwelt.

Ich bin Simurg vom Berge Kaf,
Den Netz des Seins gefangen hält.

Ich bin vom Paradies der Pfau,
Dem man sein Nest dort vorenthält.

Aufblick' ich, ob es noch dem Schach
Mich heimzurufen nicht gefällt.

Aufschau' ich, ob mein Thron mir bald
Auf dem Gebirg' wird hergestellt.

Auffrag' ich, wann ich auf dem Ast
Soll werden meinem Nest gesellt.

Komm, o Frühling meiner Seele, Welten wieder mache neu!

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Komm, o Frühling meiner Seele, Welten wieder mache neu!
Licht am Himmel, Glanz auf Erden, hoch und nieder mache neu!

Setze mit dem Sonnenknaufe blau der Lüfte Turban auf,
Und der Fluren grünen Kaftan, holder Chider, mache neu!

Mache Wiesen frisch von Kräutern, und von Sprossen Haine jung,
Rosen-Schnürbrust und der Lilie schlankes Mieder mache neu!

Schmelze mit dem Hauch des Winters Helm und Panzer, mit dem Blick
Brich den Frostspeer; unsern Frieden, Weltbefrieder, mache neu!

Ohne Ostwind ist die Luft tot, und der Rosen Odem stockt.
Aus dem Schlummer weck den Ostwind, sein Gefieder mache neu!

Roll' in Donnern, geuß aus Wolken auf die Erde Moschusflut,