Finstere Ölgeschäfte

 

 

Mafia

Finstere Ölgeschäfte

von

Monika Grasl

 

Wenn man kein Geld hat, denkt man immer an Geld.

Wenn man Geld hat, denkt man nur noch an Geld.

Jean Paul Getty

US-amerikanischer Öl-Tycoon, Industrieller und Kunstmäzen

 

Mondschein Corona – Verlag

Bei uns fühlen sich alle Genres zu Hause.

 

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

1. Auflage

Erstauflage September 2017

© 2017 für die Ausgabe Mondschein Corona

Verlag, Plochingen

Alle Rechte vorbehalten

Autorin: Monika Grasl

Lektorat/Korrektorat: Edwin Sametz

Grafikdesigner: Finisia Moschiano

Buchgestaltung: Finisia Moschiano

Umschlaggestaltung: Finisia Moschiano

 

© Die Rechte des Textes liegen beim

Autor und Verlag

 

Mondschein Corona Verlag

Finisia Moschiano und Michael Kruschina GbR

Teckstraße 26

73207 Plochingen

www.mondschein-corona.de

 

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Dramatis Personae

 

 

Kapitel 1

 

13. Februar 1995, 09:00 Uhr

 

Für einen stürmischen 13. Februartag des Jahres 1995 erschien es Aleksay Smirnow erstaunlich angenehm. Womöglich lag es daran, dass er in seinem Wagen saß und die Umgebung des Bezirkes Kronstadt im Auge behielt. Dabei fuhr er sich durch das kurze schwarze Haar, das sich zu den Enden hin kräuselte. Er hielt die Gegend sauber. Auch wenn er nicht zur Drogeneinheit gehörte, konnte man nie ein Auge zu viel auf die Insel inmitten von Sankt Petersburg werfen. Dieses Mantra hatte er sich in den letzten Jahrzehnten zum Gesetz gemacht. Dem Drogenhandel einen Riegel vorzuschieben und diesen Bezirk genauso zu sichern, wie es in den letzten fünf Jahren in Moskau der Fall war. Die Nachrichten über einen Mafiakrieg damals hatten auch hier Schlagzeilen gemacht. Aleksay erinnerte sich an die Zeugin, die die Beseitigung einer Leiche damals verfolgt hatte. Die gute alte Polina Smirnow. Sie hatte Arbat nie verlassen, dabei war Aleksay der Vorschlag seiner Großtante gegenüber mehr als einmal gekommen. Sie hätte sogar bei ihm einziehen können. Die Wohnung war groß genug. Von seinem Polizeigehalt konnte er sich das leisten. Doch Polina hatte abgelehnt. Sie war in Moskau geboren und würde dort sterben, das sagte sie häufig, wenn sie telefonierten.

Unterm Strich betrachtet war sie die Einzige, zu der er noch Kontakt hielt. Aleksay hatte seine Entscheidung, in die Familiengeschäfte der Smirnows nicht einzusteigen, niemals bereut. Anders sah das der übrige Anhang. Zuerst war jeder davon ausgegangen, Aleksay würde auf diese Art einen Teil zum Familienerhalt beitragen. Brüder, Cousins und Laufburschen vor Strafverfolgung schützen und sie notfalls frühzeitig aus einer Zelle bugsieren. Doch Aleksay hatte sich für nichts dergleichen hergegeben. Einige dieser Laufburschen hatte er sogar eigenhändig verhaftet. Dies traf besonders auf die Arbeiter seines Onkels Michail zu. Eigentlich ein ruhiger Zeitgenosse, dem man Geldwäsche im großen Stil nicht zutraute. Der Mann war um die fünfzig und besaß eine Tischlerei im Bezirk Krasnoselski. Ein gut gehender Betrieb, hinter dessen Fassaden sich jedoch wahre Abgründe auftaten. Die Importe, die sein Onkel tätigte, sollten lediglich die illegalen Einfuhren von Prostituierten verschleiern. Ganz abgesehen davon, dass die Einnahmen daraus über die Tischlerei gewaschen wurden und an oberste Richter und Staatsmänner gingen.

Jeder verschloss demnach die Augen vor den Schwierigkeiten, in denen sich die Rechtsprechung von Sankt Petersburg befand. Einzig Aleksay und die übrigen Polizisten waren noch nicht auf die Bestechungen der Mafia eingestiegen. Man wollte diesen Leuten keine Plattform bieten. Sie sollten sich nie zu sicher fühlen und keinen festen Platz im Stadtbild einnehmen. Das war der Grund, warum sogar die Bezahlung des einfachen Streifenpolizisten sich in einem Bereich von mehreren Tausend Rubel im Monat bewegte.

Genau diese Haltung war es auch, die Aleksay davon abhielt mit seiner Familie einen engeren Kontakt zu pflegen. Sicher, er wurde informiert, wenn einer seiner Brüder wieder Vater geworden war. Gnädigerweise hatte man ihn über den Tod seiner Mutter ebenfalls informiert. Lediglich den seines Vaters hatte er über Umwege von einem Pfarrer erfahren. Ab und an erreichte ihn sogar ein Anruf auf der Mailbox, doch dabei handelte es sich lediglich um die Erkundigung, ob er noch am Leben war. Aleksay konnte es keinem aus seiner Familie verdenken. In den letzten fünfzehn Jahren war auf ihn mehr als ein Mordanschlag verübt worden. Gelegentlich folgte auf solche Situationen eine Reaktion seiner Familie. Die endete in Form einer Leiche, die man aus der Newa fischte. Aleksay scheute dennoch nicht davor zurück die Verantwortlichen – Kleinkriminelle, die sich versuchten einen Namen zu machen – aus dem Verkehr zu ziehen. Er brauchte derartige Hilfe von der Familie nicht. Mit der Mafia wollte er nichts zu schaffen haben und irgendwann würden die es hoffentlich begreifen.

Bis dahin war Aleksay gezwungen sich von Familienfeiern fernzuhalten. Selbst die Beisetzung seines Vaters im letzten Herbst hatte er ausfallen lassen. Nicht, dass er diesem Umstand großartig nachtrauerte. Der Mann hatte ihm nach seinem Gang zur Polizeischule erklärt, dass er nicht länger sein Sohn wäre. Aus dem Auge, aus dem Sinn, wie man so schön sagt. Dennoch überkam Aleksay selbst heute noch ein Anflug von Schuldgefühlen. Er hätte dort sein müssen. Ganz gleich, wie die Beziehung zu seinem Vater war, es stellte seine verdammte Pflicht dar. Selbst der Pfarrer hatte ihm davon abgeraten. Also hatte er den Tag bei der Arbeit verbracht und sich nichts von den nagenden Gefühlen anmerken lassen.

„Bist heute so still, Aleksay“, riss ihn die Bemerkung seines Kollegen Daniil Romanow aus den Gedanken.

Er unterdrückte den Drang zusammenzufahren. „Hab nur nachgedacht“, murmelte er.

„Ich frage mich wirklich, was sich Baranow davon erhofft, wenn wir uns hier den Arsch platt sitzen.“

Er erwiderte darauf nichts. Im Gegensatz zu seinem älteren Kollegen wusste Aleksay, dass die Anordnung von ganz oben gekommen war. Aus der Inneren Abteilung. Man wollte den Drogenhandel in Sankt Petersburg gänzlich unterbinden und griff dafür sogar auf jene Leute zurück, die nicht der Drogenabteilung angehörten. Zudem hatte sich Aleksay freiwillig dafür gemeldet, was gerne gesehen wurde. Gingen die Mordermittler an solche Fälle heran, steigerte das die Moral bei den untersten Rängen der Polizei – so die Überzeugung des Polizeichefs und der Politik.

„Hast du übrigens schon die Zeitung heute gelesen?“

Aleksay schüttelte den Kopf. Er las nie vor dem Abend die Zeitung. Eine Eigenheit, die von vielen belächelt wurde, die ihn besser kannten. Daniil zählte da eigentlich dazu, aber vermutlich wollte er nur die Stille irgendwie überbrücken. Zudem hatte Aleksay genügend mit Mord und Raub zu schaffen, da brauchte er nicht noch die Bilder aus den Medien. Somit blieb er still und hielt den Blick weiterhin auf die Straße gerichtet. Hinter dem Jeep würde keiner einen Wagen der Polizei vermuten. Das Einzige, womit man nicht auffiel und alles hautnah miterleben konnte, ohne von irgendwem angesprochen zu werden. Zudem wusste Aleksay, wie ungerne sein Kollege sein Privatauto für solche Einsätze hergab und es noch weniger gerne sah, wenn Aleksay hinter dem Steuer saß. Daniil war heikel auf den Wagen und hatte sich den Betrag dafür vom Mund abgespart. Kein Wunder, wenn man bedachte, dass er Alimente für drei Kinder und Unterhalt für zwei Frauen zahlen durfte. Etwas, dass Aleksay erspart bleiben würde.

„War die Rede davon, dass ein Ölfass gefunden wurde“, meinte Daniil schließlich.

„Und?“, fragte er gleichgültig.

Sein Gegenüber lachte verhalten. „Und? Na was glaubst du? Warum fischt man Ölfässer aus der Newa?“

Ja, warum? Aleksay ahnte die Antwort. Sie gefiel ihm nur nicht. Über Funk war dazu noch nichts eingegangen. Als Ermittler bei der Mordkommission würde er sich damit erst befassen, wenn man sie dazu rief. Bis dahin war alles eine wilde Spekulation, die jedoch genügte, um die Frage erneut aufzuwerfen, ob die Stadt von der Mafia genauso unterwandert war wie Moskau. Für ihn war es eindeutig der Fall. Die Politik hüllte sich in Schweigen und das machte die Menschen nervös. Es wäre bedeutend leichter, wenn die Regierung diesen Umstand zugab, allerdings müssten sie vor der Welt dann eingestehen, dass sie nicht zu sagen vermochten, wer dahintersteckte. Und erst recht müssten sie dann eingestehen, dass nicht alles so reibungslos in Sankt Petersburg ablief, wie man es nach außen hin gerne darstellte.

„Du redest von der Mafia?“, fragte er nach, um irgendwas zu sagen.

Daniil nickte. Aleksay nahm es als flüchtige Bewegung am Rande seines Blickfeldes wahr. Es brachte ihn dazu sein Gegenüber nun richtig anzusehen. Sein Kollege war fünfzig Jahre und davon bereits dreißig im Dienst der Stadt tätig. Davor hatte sich Daniil für wenige Monate beim Militär verpflichtet, dort jedoch für sich keine Zukunft gesehen. Daniils braunes Haar war von grauen Ansätzen durchzogen und die grünen Augen musterten ihn eindringlich. Ob er etwas ahnte? Keiner wusste, was es mit Aleksays Familie auf sich hatte. Zumindest hatte er das angenommen, bis Daniil nun meinte: „Junge, wenn du jemals darüber reden willst, kannst du das. Verkauf mich nur bloß nicht für dumm. Wir wissen beide, dass die Zeitung wohl kaum wegen eines Ölskandals so ein, entschuldige, wenn ich das sage, Fass aufmacht. Du bist zudem bleich wie die Wand.“

„Ich würde auf das Geschreibe nicht viel geben. Hätte doch längst die Runde innerhalb der Abteilungen gemacht“, hielt er dagegen.

„Junge, du bist zu naiv“, erwiderte sein Kollege und zündete sich eine Zigarette an. „Die würden uns das doch nie erzählen, solange nichts eindeutig ist.“

„Dann können wir ja auch hier sitzen und weiter die Gegend beobachten, wenn es nicht zu viel verlangt ist“, hielt Aleksay dagegen.

„Meinetwegen. Aber taucht der Nächste zerlegt im Ölfass auf, bist du mir eine Erklärung schuldig.“

Die Aussage ließ ihn aufhorchen. Zerteilte Leichen gab es an sich selten. Er kannte nur einen, der auf solche Arbeiten spezialisiert war. Allerdings ließ Michail seine Toten in Mülleimern oder einzementiert auf Baustellen verschwinden. Abgesehen davon, woher sollte sein Onkel Ölfässer haben? Für die Tischlerei waren die unnötig und extra welche besorgen machte genauso wenig Sinn. Außer natürlich es war ein gesonderter Auftrag, der ein derartiges Aufsehen nach sich ziehen sollte.

Wenn das so weiterging, müsste er sich vor Daniil tatsächlich erklären. Etwas worauf er getrost verzichten konnte. Über seine Herkunft wollte er nicht sprechen. Er hatte in dem Punkt sogar bei der Einschreibung in den Dienst einige falsche Angaben gemacht. Beispielsweise hatte er angegeben aus Moskau zu stammen und dass er bei seiner Großtante Polina aufgewachsen war. Derartiges war nicht unbedingt gelogen. Rechnete Aleksay seine Sommerferien zusammen, kam er auf knappe fünf Jahre, die er bei Polina zugebracht hatte. Außerdem war das nie überprüft worden. Aleksay hatte zu einer Zeit an der Polizeischule angefangen, als man händeringend jeden Mann aufgenommen hatte, um der Kriminalitätsrate Herr zu werden. Von den Alteingesessenen waren die Jungen „Kanonenfutter“ genannt worden. Ein abfälliger Begriff, der sich aus dem Militär übergeschlichen hatte.

„Da scheint sich was abzuspielen“, meinte sein Gegenüber im nächsten Atemzug.

Aleksay überkam ein Gefühl der Dankbarkeit. Beschäftigung wartete auf ihn und ließ die Überlegungen an die Vergangenheit und seine Familie in den Hintergrund rücken. Dafür richteten sich seine braunen Augen auf die drei Gestalten, die auf eine Seitengasse zuhielten, die Hände in den Taschen versteckt und die Schultern unnatürlich in die Höhe gezogen. Derartiges erweckte sofort Aufmerksamkeit, besonders bei einem geübten Auge.

„Dann sollten wir da mal eingreifen“, erklärte er und öffnete die Fahrertür.

Aleksay wartete nicht, bis sein Kollege folgte. Er zog die Glock 17 aus dem Holster und hielt auf die Gasse zu. Wie oft war er hier während seiner Ausbildung auf Streife gewesen? Er kannte jeden Winkel und jeden Mülleimer. Die Unebenheiten der Straßen waren ihm genauso vertraut wie so manche Gesichter und einige verschwanden hastig in Hauseinfahrten, als er auf die Gestalten zuging.

„Na, was wird das?“, fragte er ungehalten. „Wir dealen doch nicht etwa?“

„Äh …“

Es war keine geistreiche Erwiderung, zumal Aleksay bereits vor einem der Kerle stand und dessen Taschen herausstülpte. Kleine Päckchen fielen zu Boden, die mit einem weißen Pulver gefüllt waren. Wahrscheinlich Kokain.

„Das gehört mir nicht!“, rief der Besitzer sofort. „Das hast du Arschloch mir untergeschoben!“

„Sicher doch“, murrte er und holte aus. Seine Faust traf auf die ohnehin schon schiefe Nase des kleineren Kerls. Mit einem Ächzen stolperte der gegen die Hauswand und hielt sich die Hände vor das Gesicht.

In der gleichen Sekunde nahm er die Handbewegung wahr, als der Zweite an dessen Gürtel griff. Aleksay hatte gehofft dies vermeiden zu können. Andererseits wäre Baranow über einen toten Dealer mehr sicher nicht unglücklich. Somit zögerte er keinen Herzschlag und schoss. In der engen Gasse hallte der Laut unnatürlich nach. Der Getroffene taumelte nach hinten und presste die Hand gegen die Schulter. Schade, er hätte ein wenig tiefer zielen sollen, dann wäre der Bastard jetzt tot.

„Alles klar?“, ertönte es in dem Moment hinter ihm.

„Ja! Ruf aber einen Krankenwagen, sonst verblutet uns das Arschloch noch!“

Er hörte, wie Daniil seufzte. „Sicher doch,“ erwiderte er in der nächsten Sekunde.

„Und“, wandte Aleksay sich indes an den dritten Mann, „auch scharf auf eine Kugel? Wenn nicht, dann bleibst du jetzt ganz ruhig und lässt dir die Taschen ausräumen.“

Es erfolgte nicht mehr als ein knappes Nicken. Selbst das konnte Aleksay nur undeutlich ausmachen, doch es genügte ihm. Vor Baranow würde er sich wegen des Schusses ohnehin verantworten müssen. In dessen Augen war er einfach zu schnell mit der Waffe, doch der Instinkt ließ sich nicht ausschalten. An manchen Tagen wollte er es auch nicht, an anderen verfluchte er sich dafür. Keineswegs heute. Nicht, wenn er die Straßen sauber halten konnte.

 

13. Februar 1995, 10:00 Uhr

 

Kiril Morosow legte die Zeitung beiseite. Es war ärgerlich, dass die Leiche bereits am heutigen Tag aufgetaucht war. Am besten rief er bei seinem Kontaktmann an, um dem einzubläuen, wie seine Arbeit auszusehen hatte. Derartige Fehler durfte sich der Mann keineswegs noch einmal erlauben. Nicht, wenn er am Leben bleiben wollte.

Aus dem Grund holte Kiril sein Siemens S3 hervor und wählte eine der wenigen Nummer, die sich im Speicher befanden. Auf das Freizeichen wartend dachte er daran, dass er noch den nötigen Brief an den obersten Richter aufsetzen musste.

Sicher, seine Sekretärin hätte dies genauso erledigen können, gewisse Dinge ging er dagegen lieber selbst an. Das war eines davon. Der Inhalt war nicht für jedes Auge bestimmt und wenn der Richter klug war, würde er es genauso halten.

„Ja“, ertönte es in dem Moment verunsichert aus der Leitung.

„Morosow hier. Was glaubst du, warum ich dich anrufe?“, fragte er gereizt.

Wahrlich, seine Laune war gerade nicht die beste. Konnte ihm das einer verübeln? Er war davon ausgegangen, dass der Geschäftsmann für immer verschwinden würde. Nun lag dessen Leiche wahrscheinlich in der Gerichtsmedizin, ganz abgesehen von dem Ölfass, das wohl ebenfalls auf Spuren untersucht wurde. Blieb nur zu hoffen, dass sich keine Fingerabdrücke darauf fanden.

„Ich habe meinen Leuten gesagt, sie sollen das Fass ausreichend beschweren, Morosow“, kam es prompt zurück.

„Ach ja? Wenn dem so wäre, hätte es die Newa wohl kaum angespült. Hast du vergessen, was für eine Abmachung wir hatten?“, erinnerte er den Mann am anderen Ende.

„Nein. Es wird nicht mehr vorkommen.“

„Ist auch besser so. Denk daran, ein einziger Anruf und du kannst mit deiner ganzen Familie einpacken. Ihr fahrt allesamt ein.“

Er ließ erst gar keine Antwort zu, sondern legte auf. Derartiges hatte bei dem Kerl weit mehr Einfluss als jede unnötige Unterhaltung.

„Eines erledigt, auf zum nächsten“, murmelte Kiril und griff nach der Kaffeetasse. Seine braunen Augen ruhten dabei auf dem Bildschirm. Er nahm einen Schluck und legte die Finger schließlich auf die Tastatur, wobei er sofort anfing zu tippen.

 

Ehrenwerter Richter Titow,

wir hatten bisher bedauerlicherweise noch nie das Vergnügen uns persönlich über den Weg zu laufen. Einige meiner Dokumente betreffend dem Akt A20-3BX-0 bezüglich der Förderung einer Ölpipeline wurden von Ihnen jedoch mit einem negativen Bescheid abgetan. Die Begründung dahinter erscheint mir mehr als vage und um es direkt auszusprechen – unter Geschäftsmännern sollte dies möglich sein – finde ich es beleidigend mir unterstellen zu wollen, die Macht Russlands damit aufzuspalten. Im Gegenteil, ich möchte nicht mehr als die Ölförderung in den Westen sicherstellen und bin sogar bereit, mein vorangegangenes Angebot einer Beteiligung der Familien von fünfzehn Prozent auf fünfundzwanzig zu erhöhen.

In den kommenden Tagen werden Ihnen erneut die Unterlagen vorgelegt. Ich hoffe sehr, dass Ihre Meinung nicht in Stein gemeißelt ist. Selbiges würde Ihnen nicht gut zu Gesicht stehen und mir liegen zudem Berichte vor, dass Ihre Stelle als oberster Richter nicht alleine aufgrund Ihrer Fähigkeiten, sondern vielmehr durch Verbindungen zustande kam. Sie sollen als Strafverteidiger ja die eine oder andere Anklage gegen hochrangige Politiker abgewiesen haben. Von dem verweigerten Haftbefehl gegen einen Finanzminister aus dem Jahr 1990, der letztlich seine gesamte Familie umgebracht hat, wollen wir erst gar nicht anfangen. Niemandem wäre daran gelegen, dass Sie zu diesen Fällen eine Erklärung abliefern müssten und womöglich gezwungen sind Ihr Amt zurückzulegen.

Entscheiden Sie demnach weise, Gavril Titow. Russland, vor allem Sankt Petersburg, profitiert von einer Ölleitung in den Westen. Es wird unsere Taschen mit Geld füllen.

Ich hoffe, meine Worte waren für Sie verständlich genug und bedürfen keiner weiteren Schritte, die negativ für sämtliche Familien ausfallen würden.

Ich verbleibe in diesem Sinne freundschaftlich zu Ihnen.

Kiril Morosow

 

Er war zufrieden mit dem Text. Deutlich hatte er dabei den Umstand hervorgehoben, dass er durch sein Alter Geld und Einfluss besaß, den die Familien dringend benötigten, aber auch, dass er gegen einen wichtigen Richter etwas in der Hand hatte. Keiner würde sich nach diesen Zeilen mit ihm anlegen wollen.

Die Position der Mafia war nicht so gefestigt wie in Moskau. Besonders die Bestechlichkeit bei der Polizei hatte sich aufgrund der hohen Gehälter als unmöglich herausgestellt. Und einzig von Prostitution, Glücksspiel und Drogenhandeln konnte keine der Familien überleben. Es war an der Zeit in größeren Sphären zu denken. Da bot sich das Ölgeschäft an, das gegenwärtig jedoch von einer einzigen Gruppe geleitet wurde: den Andrejews.

Wie verrückt konnten die Kleineren demnach sein und einer Gewinnbeteiligung von fünfundzwanzig Prozent ablehnend gegenüberstehen? Ganz abgesehen von dem Toten, der sein Übriges dazu beitrüge. Manchmal muss man die Konkurrenz eben aus dem Geschäft drängen. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, dass der Tote aufgetaucht war. Das würde den Familien zeigen, dass er nicht nur leere Drohungen ausstieß, sondern auch handelte.

Zudem schuf eine zweite Leitung in den Westen weitere Arbeitsplätze. Das alleine musste als Argument genügen. Sicher, von den Ölförderern müssten später Schutzgelder eingetrieben werden. Jedenfalls von all denen, die nicht bereits unter Kiril arbeiteten. Eine Handvoll zählte noch dazu. Kleine Firmen, die Ölfelder im äußersten Osten Russlands besaßen. Mit einer entsprechenden Entschädigung würden die sich ihm sicher beugen, davon war er überzeugt.

Durch das Schreiben wäre außerdem sichergestellt, dass der oberste Richter klug handelte. Wer wollte schon wegen falscher Anschuldigungen – dafür jedoch aufgrund der Wahrheit – sein Amt räumen müssen? Damit brachte man Schande über den eigenen Namen und die Glaubwürdigkeit litt gewaltig. Hinzu kam, dass Titow als Berater für alle Familien der Mafia sprach. Die könnten sich seinem Willen nicht widersetzen, wenn sie nicht fürchten müssten, dass mit einer Verhaftung Titows sämtliche Machenschaften aufgerollt wurden.

Wie leicht das Leben mit Geld doch war! Es ermöglichte so viel und konnte genauso viel zerstören. Für den Moment genügte Kiril dieser kleine Sieg in Bezug auf eine Leiche gegen die anderen Familien. Später war noch ausreichend Zeit sich womöglich für ein Amt in der Regierung zu bewerben. Warum auch nicht? Bereits ganz andere Gestalten saßen in der Politik. Erst musste er allerdings Sankt Petersburg Geld und Ansehen einbringen, wovon Kiril mehr als überzeugt war.

Kapitel 2

 

13. Februar 1995, 10:30 Uhr

 

„Das war eine unverantwortliche Handlung!“

Daniil hob den Blick von seinem Bericht. Hinter der Scheibe des abgeschotteten Büros konnte er erkennen, wie Polizeichef Baranow sich über den Tisch lehnte. Würde der alte Kerl jetzt darüber hechten? Die Vorstellung hatte was Erheiterndes. Allerdings war es nicht anzunehmen. Foma Baranow stand nur mehr fünf Jahre vor seiner Pensionierung. Mit seinem langen Vollbart wurde er hinter seinem Rücken gerne mit Väterchen Frost gleichgesetzt. Gegenwärtig sah er mehr aus wie der leibhaftige Teufel. Das konnte auch daran liegen, dass Aleksay gelangweilt vor ihm saß. Fehlte nur mehr, dass der Kerl sich eine Zigarette anzündete und ihrem Vorgesetzten erklärte, es wäre alles halb so schlimm. Derart konnte man es nicht mal im Ansatz bezeichnen, immerhin war eine Querstraße von den Dealern entfernt eine Schule gewesen. Nicht auszudenken, wenn einer von den Typen durchgedreht wäre, eine Waffe gezogen und auf ein Kind geschossen hätte.

Irgendwann würde sein Kollege noch gefeuert, wenn er weiterhin auf irgendwelche Drogendealer schoss. Nicht, dass Daniil was dagegen hatte. Im Gegenteil, jeder Händler auf den Straßen rettete unzählige Leben. Allerdings war es ein aussichtsloser Kampf. Sobald die einen aus dem Verkehr gezogen waren, tauchten von irgendwoher neue auf und verkauften ihren Stoff an Huren, Studenten und Geschäftsmänner. Ganz abgesehen davon, dass Aleksay diesen persönlichen Kleinkrieg gerne außerhalb seiner Arbeitszeit betrieb und Daniil ihn dabei nicht alleine lassen wollte. Heute war es allerdings nicht knapper als sonst gewesen. Sie hatten schon auf einer belebten Straße vor einer Schule auf Dealer geschossen. Da war Baranow allerdings nicht derart aus der Haut gefahren, dabei wäre es in dem Fall sogar berechtigt gewesen. Wahrscheinlich hing die Laune des Polizeichefs mit dem Ölfass zusammen, von dem die Zeitung geschrieben hatte.

Daniil war bei der Erwähnung dessen der Wandel in Aleksays Haltung nicht verborgen geblieben. Hielt ihn der Mann für so dumm? Daniil hatte sich über ihn erkundigt. In Moskau kannte ihn kaum einer. Die Schule, die er angegeben hatte besucht zu haben, war bedauerlicherweise drei Jahre nach seinem Verlassen abgebrannt. Unterlagen existierten dahingehend nicht. Einzig eine Polina Smirnow hatte er ausfindig machen können. Allerdings hatte Daniil davon abgesehen diese zu kontaktieren. Die Frau war um die fünfundsiebzig und soweit er den Unterlagen des KGB entnommen hatte, litt sie an einem Herzleiden und Bluthochdruck. Wenn die Alte demnach tatsächlich Aleksays Großtante war, wollte er sie keineswegs aufregen und ins Grab befördern. Die lebte auch so schon nicht in einem ungefährlichen Bezirk. So nahe zu der Mafia ließ es zudem unweigerlich den Schluss aufkommen, dass Aleksay doch etwas am Kerbholz hatte. Den Gedanken konnte Daniil jedoch nicht weiterspinnen, da in dem Moment die Tür zu Baranows Büro aufging. Aleksay kam mit großen Schritten heraus und steuerte den Schreibtisch an. Seine Marke und Waffe hatte er noch. Ein gutes Zeichen. Sein Gesicht sprach hingegen davon, dass er wohl wieder mal einen Besuch beim Therapeuten abhalten sollte. Eine Handlung, die seinem jungen Kollegen nicht zum ersten Mal zufiel und darüber hinwegsetzen könnte der sich ohnehin nicht. Also war es besser das Thema für den Augenblick nicht anzusprechen. Aleksay würde schon noch darüber reden.

„Baranow will, dass wir uns die Leiche aus der Newa vornehmen“, schallte es Daniil ungehalten entgegen.

„Habe ich es nicht gesagt?“, hielt er dagegen.

„Ja, ja. Du weißt wie immer alles besser.“ Damit griff Aleksay nach seinem Mantel und machte sich daran den Raum zu verlassen. Daniil folgte ihm, nachdem er das knappe Nicken des Polizeichefs aufgefangen hatte.

Sollte er Aleksay jetzt auf seine Vergangenheit ansprechen? Oder war es klüger zu warten? Blieb nur die Frage, wann überhaupt der beste Zeitpunkt dazu wäre.

„Der Kerl kann froh sein, dass ich ihn nicht erschossen habe. Wirft mir übertriebene Polizeigewalt vor! Kannst du dir das vorstellen?“, kam es plötzlich wütend von Aleksay.

Gut, so viel zu der Frage, ob Daniil jetzt mit ihm über sein vermeintliches Leben in Moskau reden sollte. Das war gerade nicht passend. Zumal Aleksay eindeutig auf einen abfälligen Kommentar in Bezug auf Baranow wartete. Bedauerlicherweise konnte er sich dazu nur schwer durchringen, weshalb er es bei einem undefinierbaren Schnauben beließ.

„Meine Rede“, gab Aleksay zurück, als werte er den Laut tatsächlich als Zustimmung. „Alles würde den Bach runtergehen, wenn wir nicht außerhalb der Dienstzeit unterwegs wären. Sankt Petersburg wäre genauso beschissen dran wie Moskau.“

Hier bot sich die erhoffte Gelegenheit. Daniil brauchte nur den Faden aufgreifen. „Jetzt mal ehrlich“, fragte er beiläufig, „war es da wirklich so beschissen?“

„Warst du schon mal da?“, fragte ihn der Jüngere über die Schulter hinweg.

„Nein. Ich kann mir ja einiges leisten, eine Reise nach Moskau gehört da nicht dazu.“

„Dann lass es besser. Ist es nicht wert.“

„In welchem Bezirk bist du noch mal aufgewachsen?“

„Arbat“, kam es hastig über Aleksays Lippen.

„Ist das Stadtzentrum, oder?“, hakte Daniil nach und stieg die wenigen Stufen des Polizeigebäudes, gelegen im Stadtbezirk Wassileostrowski, zum Gehsteig hinunter.

„Ja.“

Aleksay hielt auf die Beifahrertür des Wagens zu. Wenigstens bildete sich der Mann nicht ein in seiner gegenwärtigen Verfassung fahren zu wollen. Allerdings hätte Daniil das ohnehin nicht zugelassen.

„Was sagtest du mal, wer dort wohnt?“

Sein Gegenüber war bereits eingestiegen, als Daniil seinem Beispiel folgte und die in Falten gelegte Stirn sowie den misstrauischen Blick auffing.

„Meine Großtante“, antwortete Aleksay. „Was soll die Frage, Daniil? Wir haben einen Fall, also fahr.“

„Ich frag nur, weil du nie viel über deine Familie erzählst.“

„Da gibt es auch nichts zu erzählen.“

Daniil startete den Wagen und parkte aus. „Komm schon, Aleksay“, erwiderte er, „wir arbeiten seit fünf Jahren zusammen. Bei jeder Familie gibt es irgendeine Scheiße, die man für sich behalten will. Was ist es bei dir? Hat einer ein Drogenproblem und du bist deswegen auf der Jagd nach den Dealern?“

„Nein“, kam es kurz angebunden zurück.

„Na irgendwas muss da aber sein“, bohrte Daniil nach. „Du führst dich nur bei denen so verrückt auf.“

„Ich versuch lediglich die Straßen sauber zu halten“, erwiderte Aleksay scharf. „Ist das ein Verbrechen?“

Daniil unterdrückte den Drang zu seufzen. Er galt als die Sorte Ermittler, der immer eine eindeutige Antwort erhielt, gegen einen wie Aleksay schien jedoch sogar er machtlos.

„Ja, und ich bin der verdammte Papst“, murmelte er somit verdrossen. „Wenn du ein Problem hast, dann kannst du mit mir darüber reden.“

Er bekam keine Antwort. Aleksay starrte aus dem Seitenfenster. Nicht mal ein Nicken war es ihm wert. Schon sonderbar, wie schnell die miese Laune gegen den Polizeichef sich gegen ihn gerichtet hatte. Erwartet hätte Daniil das nicht. Zumal einige Kollegen gerne zu ihm kamen, wenn sie familiäre Schwierigkeiten hatten. Nicht, dass er für alles eine Lösung wusste, hier und da war er allerdings fähig zu helfen. Manchmal genügte es einfach zuzuhören, dadurch erhielt der Hilfesuchende selbst meist schon einen anderen Blickwinkel auf die missliche Lage. Aleksay jedoch ließ nichts über sein Privatleben durchsickern. Keiner wusste, ob er eine Freundin hatte oder was er in seiner Freizeit trieb. Wobei davon ohnehin wenig vorhanden sein konnte, da er ja ständig irgendwelchen Dealern nachstellte. So viel also zu der Frage, ob er eine Freundin hatte. Die Überlegung konnte Daniil definitiv streichen. Keine Frau würde bei so einem Leben mitmachen und er wusste, wovon er sprach. Zwei Scheidungen waren da Beweis genug.

„Hat Baranow eigentlich gesagt, was uns genau erwartet?“, versuchte er den eigentlichen Grund für diese Fahrt aufzugreifen und die Stimmung zu lösen.

„Wir sollen uns das ganz objektiv ansehen“, erwiderte Aleksay. „Die Staatsanwaltschaft ist jedoch bereits beunruhigt. Es soll sich um einen Mann aus dem Ölgeschäft handeln.“

Daniil konnte sich ein Grinsen nur schwer verkneifen., „Und der wurde in einem Ölfass gefunden? Was für eine Ironie! War es wenigstens eines von seiner Firma?“

Flüchtig nahm er wahr, wie sich Aleksays Mundwinkel hoben. Er fand das demnach genauso unterhaltsam. Gut, er konnte die Stimmung also immer noch retten. Darauf durfte sich Daniil etwas einbilden. Nichtsdestotrotz hörte er Aleksay aufmerksam zu.

„Sind die Techniker angeblich noch dran. Der Polizeichef wusste jedenfalls nichts Genaues. Mal abwarten, was die Gerichtsmedizin bereits herausgefunden hat.“

„Wollen wir hoffen, dass sie diesmal nicht so schlampig arbeiten wie sonst. Beim letzten Mal war das ein verdammter Witz.“