Mörderische Teatime

 

Ein Irland-Krimi

von Ivy Paul

 

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Impressum

1. Auflage 2018, © Dryas Verlag

 

Herausgeber: Dryas Verlag, Frankfurt am Main

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Herstellung: Dryas Verlag, Frankfurt am Main

Lektorat: Kristina Frenzel, Berlin

Korrektorat: Birgit Rentz, Itzehoe

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München (www.guter-punkt.de) unter Verwendung von Motiven von Shutterstock

Illustrationen: © Dipl. Des. (FH) Tatjana Rabe, Hameln

Satz: Dryas Verlag, Frankfurt am Main

 

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar


ISBN Print: 9978-3-940258-83-0, ISBN E-Book: 978-3-940258-84-7

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Lesetipp

Ein Krimi aus Irland: "Der Tote im Whiskey-Fass"


Als junger Mann verließ John Fallon Irland und kehrte nie wieder dorthin zurück. Nach seinem Tod reist seine Tochter Loreena auf die grüne Insel, um nach ihren Verwandten zu suchen. Kurz nachdem sie in dem Örtchen Badger´s Burrow angekommen ist, wird bei einer Veranstaltung eine Leiche in einem Whiskey-Fass entdeckt. Wie sich herausstellt, trug der Tote eine Visitenkarte ihres Vaters bei sich. Loreena ist alarmiert. Wie sollte ihr verstorbener Vater etwas mit dem Tod dieses Mannes zu tun haben können? Sie forscht nach und stößt dabei auf ein Netz aus Intrigen und Geheimnissen.

 

Alte Familiengeheimnisse, teurer Whiskey – und ein zu allem entschlossener Mörder …

 

Dryas Verlag, ISBN Print: 978-3-940258-55-7, ISBN E-Book: 978-3-940258-70-0


Mehr unter: http://www.dryas.de/britcrime/talisker-blues

Tee ist die Lösung für jedes Problem.
Irische Redensart

 

Rabe

Glossar

Assam Mangalam:ein Schwarztee

Caydanlik:Teekocher aus zwei übereinanderstehenden Kannen aus dem arabischen Raum

Chung Hao: über Jasminblüten-Wasserbad gedämpfte Teeblätter

Dia dhuit: Begrüßung, gälisch für »Gott mit dir«

Dia’s muire dhuit!: Erwiderung auf Gruß, gälisch für »Gott und Maria mit dir«

Digitalis purpurae: Fingerhut (Pflanze)

Formosa Oolong: ein teilfermentierter Tee

Garda/An Garda Síochána: die irische Polizei

Gelber Tee, Yinzhen/Yunnan: sehr schwach fermentierter Tee (bis zu zwanzig Prozent), verwandt mit weißen und grünen Tees

Genmaicha: japanischer Tee, Sencha mit gepoppten Reiskörnern

Grüner Tee/Grüntee: nicht fermentierter Tee, ist dadurch koffeinärmer und gerbstoffreicher

Irish Stew: irischer Eintopf aus Lammfleisch, Kartoffeln, Zwiebeln

Keemun: Schwarzteesorte aus der chinesischen Region Qimen, wird ausschließlich für den Export angebaut

Lapsang Souchong: ein Rauchtee aus der chinesischen Provinz Fujian

Leinster Hot Pot: irischer Eintopf

Limey: irische Bezeichnung für Briten; stammt aus der Zeit, als die Briten auf ihren Schiffen Limettensaft gegen Skorbut an die Seemänner verteilten

Matcha: zu Pulver zerstoßener Grüntee

Samowar: russischer Teekocher (wortwörtlich: Selbstkocher)

Schwarzer Tee/Schwarztee: fermentierter Tee

Seogwang: ein Grüntee aus Südkorea

Silver Needle Yin Zhen: die sogenannte kaiserliche Pflückung, einer der berühmtesten weißen Tees der Welt, selten und teuer

Tae agus Ceapaire: irisch-gälisch für »Tee und Sandwich«

Tarry Lapsang Souchong: ein besonders großblättriger Tee, ideal für den Samowar

Teeblume: sorgfältig handverlesene Blätter des weißen Tees Yin Zhen Silver Needle, in der chinesischen Provinz Hunan hergestellt

Traveller: fahrendes Volk

uisce beatha: irisch-gälisch für »Wasser des Lebens« (ganz profan: Whiskey)

Weißer Tee: ein lediglich zu zwei Prozent anfermentierter Tee

Yin Zhen: weißer Tee aus der chinesischen Provinz Fujian, Region Zhenghe

 

Whiskey-Fass

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Glossar

Impressum

Lesetipp


Tasse

Kapitel 15

»Der Tee weckt den guten Geist und die weisen Gedanken. Er erfrischt deinen Körper und beruhigt dein Gemüt. Bist du niedergeschlagen, so wird Tee dich ermutigen.«
Shen Nung, chinesischer Kaiser(2737–2697 v. Chr.)

 

Als Mae und Orla das Tae agus Ceapaire betraten, war alles für die Verkostung vorbereitet. Clarissa hatte sich wirklich Mühe gegeben. So hatte sie einen langen Tisch aufgebaut, auf dem verschiedene Teeservice aus unterschiedlichen Ländern ebenso aufgereiht waren wie typische Utensilien, etwa die Besen für die japanische Teezeremonie, ein Samowar für die russische Art der Teezubereitung und ein Caydanlik, der oft in den arabischen Ländern verwendet wurde. Auf dem Tresen standen etliche Teekannen auf Stövchen für die probierfreudigen Besucher bereit.

Clarissa eilte ihnen entgegen. »Mae, Orla, schön, euch zu sehen!«

»Als Dorfchronistin kann ich mir diesen Event doch nicht entgehen lassen«, sagte Orla augenzwinkernd. Sie führte schon seit Jahrzehnten sorgfältig Buch über alles und jeden in Badger’s Burrow und der näheren Umgebung. »Ich such mir mal einen Platz. Du wirst ja vermutlich für das Ratespiel, das Clarissa angekündigt hat, vorne sitzen müssen, Mae.«

»Müssen muss ich gar nichts«, erklärte Mae.

Clarissa schmunzelte. »Such dir ein nettes Plätzchen, Orla! Mae wird uns die Ehre erweisen, hier zu sitzen.« Sie zeigte auf einen Tisch, der offenbar für die Teilnehmer des Quiz bereitstand.

»Aber ich kann mich doch sicher noch ein wenig umsehen, bevor es losgeht, oder?«, fragte Mae.

»Natürlich«, antwortete Clarissa.

»Wunderbar!« Mae stopfte die Hände in die Hosentaschen ihrer Jeans. »Ich warte noch auf Inspector O’Malley und Hugh Lawrence.«

»Wer ist Hugh Lawrence?«, wollte Clarissa wissen.

»Lass dich überraschen! Dein Teequiz wird mit ihm richtig professionell ablaufen. Er ist unglaublich versiert, was Tees betrifft«, erklärte Mae.

Sie hatte sich daran erinnert, dass auch Annes Ex-Mann Tee liebte, und ihn spontan zu der Verkostung eingeladen. Er hatte mit Freuden zugesagt, vor allem als er gehört hatte, dass er damit der Frau helfen konnte, in deren Haus Anne gestorben war. Ein bisschen makaber war das schon, aber da Anne so eine Giftschlange gewesen war, konnte sie verstehen, dass Hugh Lawrence auf diese Weise mit ihr abschließen wollte.

Durch die Scheiben sah sie ihn in einem alten Geländewagen vorfahren. »Da kommt er gerade.«

Hugh Lawrence betrat den Tearoom und sah sich kurz um. Als er Mae entdeckte, kam er auf sie zu und begrüßte sie herzlich.

»Mr Lawrence, ich möchte Ihnen die Besitzerin des Tae agus Ceapaire vorstellen, Clarissa Nelson«, machte Mae die beiden miteinander bekannt.

»Freut mich, Sie kennenzulernen!« Hugh Lawrence reichte Clarissa die Hand.

»Mich ebenso«, erwiderte Clarissa höflich. »Mae hat Sie also begeistern können für unser kleines Teequiz? Schön, dass Sie Zeit gefunden haben, herzukommen!«

»Bei so einem Event konnte ich doch nicht wegbleiben! Und ich werde gern Ihre verschiedenen Tees probieren, Mrs Nelson«, sagte Hugh Lawrence und sah sich um. »Ein wirklich wundervolles Ambiente haben Sie hier!«

 

Für die Verkostung hatte Clarissa diverse Tees ausgesucht: einen Genmaicha-Grüntee, der Mae ein wenig an Puffreis erinnerte, einen aromatisierten Grüntee mit Limonenschalen, der zwar frisch schmeckte, dem Mae aber nicht wirklich etwas abgewinnen konnte, und einen süßlichen Früchtetee. Auch den mochte sie nicht besonders, aber Geschmäcker waren nun mal verschieden. Sie kosteten noch einen Schwarztee, einen Assam Mangalam. Langsam wurde die Sache interessant und Mae zunehmend neugierig. Was hatte Clarissa wohl für die Raterunde zusammengestellt?

Dann war es endlich so weit. Unruhig rutschte Mae auf ihrem Platz herum, weil Inspector O’Malley sie ganz nervös machte. Ständig sah er auf seine Uhr, als hätte er noch irgendwelche unaufschiebbaren Termine.

»Die Tees befinden sich in neutralen Kannen und können anhand von Farbe, Geruch und Aroma erraten werden. Ich habe drei Sorten ausgewählt«, verkündete Clarissa in diesem Moment und nahm eine weiße Porzellankanne von der Theke. Sie goss erst Hugh Lawrence, dann Mae eine halbe Tasse ein, schließlich füllte sie die Tassen ganz auf.

Mae beugte sich über ihre und betrachtete die Farbe des Tees. Sie schnupperte und nippte daran, ehe sie einen größeren Schluck nahm und über die Zunge rollen ließ.

»Mild, ein bisschen blumig im Geschmack«, meinte sie und nahm einen weiteren Schluck.

»Halbfermentiert«, warf Hugh Lawrence ein und trank genüsslich. »Ein Oolong.«

Clarissa wandte sich an Mae: »Und was meinst du?«

Mae sah ins Publikum. Orla hatte mittlerweile ihr Strickzeug herausgeholt, doch Mae kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie dennoch zuhörte. Die anderen Anwesenden warteten gespannt auf Maes Antwort.

Erneut trank sie einen Schluck. »Ich kenne dieses Aroma, den mag ich ganz gern: ein Formosa Oolong, vermutlich aus dem nördlichen Hochland Taiwans.« Siegessicher lehnte sie sich zurück, während Clarissa ein kleines Kuvert von der Kanne abriss.

Sie holte einen Zettel heraus und las vor: »Formosa Oolong.«

Das Publikum nickte beeindruckt und klatschte. Clarissa stellte frische Tassen vor Mae und Hugh Lawrence ab und schenkte aus einer weiteren Kanne ein. Der grünstichige Tee konnte schon der Farbe und dem heuähnlichen Geruch nach nur ein Grüntee sein.

Vorsichtig kostete Mae. »Fruchtig, aber mild. Hat ein grasiges Aroma. Ich würde sagen, das ist ein südkoreanischer Seogwang.«

»Da stimme ich zu, ein Seogwang«, schloss sich Hugh Lawrence an und nickte Mae zu.

»Ich löse das Ganze auf«, erklärte Clarissa: »Ein Grüntee, und ja, es ist ein Seogwang aus Südkorea.«

Nun reichte Clarissa ihnen chinesische Teeschalen. Mae sah sie an und konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass das ein Hinweis auf das Herkunftsland sein sollte. Mit geschlossenen Augen beugte sie sich über den Tee und schnupperte. Eine seltene Sorte, die Clarissa da ausgewählt hatte. Mae blickte zu Hugh Lawrence – er trank bereits.

Sie kostete ebenfalls und strahlte ihre Freundin begeistert an. »Meine Güte, Clarissa, was für eine Überraschung!« Sie hob die Teeschale hoch, als wolle sie ihr zuprosten. »Das ist ein Tee aus China. Riecht rauchig, schmeckt rauchig, es muss ein Lapsang Souchong sein.«

»Auch in diesem Fall muss ich meiner Mitstreiterin zustimmen«, sagte Hugh Lawrence. »Ich schmecke außerdem eine harzige Note heraus, was mir verrät, dass es ein hochwertiger Rauchtee sein muss, der traditionell in Bambuskörben über Fichten- oder Kiefernholz geräuchert wird. Also eindeutig ein Lapsang Souchong!«

»Mit euch beiden macht so ein Quiz keinen Spaß«, beschwerte sich Clarissa augenzwinkernd und erntete dafür Lacher und Beifall der Zuschauer. »Es ist tatsächlich ein Lapsang Souchong, ein Rauchtee aus der chinesischen Provinz Fujian.«

 

Gegen Ende des Nachmittags kamen einige der Besucher zu Clarissa und beglückwünschten sie zu dem wundervollen Event und den herausragenden Tees. Clarissa strahlte, und Mae freute sich mit ihr. Sie war sich sicher, dass die Gäste nun wieder in Scharen in das Tae agus Ceapaire strömen würden. Dann ging sie zu Inspector O’Malley, der schon wieder auf seine Armbanduhr starrte.

»Um Himmels willen, was ist denn heute mit Ihnen los?«, wollte sie wissen.

»Das Wohnmobil wird abgeholt«, brummte er. »Hätte nicht gedacht, dass ich den alten Kasten vermissen würde. Aber wenn das mit unserem Zusammenleben nicht klappt, bin ich obdachlos.«

»Keine Angst, Inspector, für alle Fälle hab ich noch ein kleines Zelt. Das können Sie sich dann auf unbestimmte Zeit ausleihen.«

Der Blick, mit dem er sie ansah, war wirklich preisverdächtig.

Vier Monate später

 

… Der Mann hing da wie der Gekreuzigte.

Fehlt nur noch die Dornenkrone, dachte Mae und schluckte die Übelkeit, die sich ihrer bemächtigen wollte, hinunter. Sie hatte schon lange keinen nackten Mann mehr gesehen, und auch wenn dieser hier tot und nicht mehr taufrisch war, so bot er doch einen interessanten Anblick. Außerdem war sie als ehemalige Wissenschaftlerin neugierig.

Zwei Polizisten liefen auf und ab, als suchten sie etwas, und blickten dann erleichtert zur Straße, auf der sich ein Auto näherte. Mae seufzte und wartete, bis der Wagen nicht weit von ihr zum Stehen kam. Drei Männer stiegen aus. Einen von ihnen kannte sie ziemlich gut.

Als Inspector Browne sie sah, versteinerte sich seine Miene. »Sie schon wieder. Von Ihnen sollte man sich fernhalten. Sie ziehen den Tod magisch an.« Er drehte sich um und wandte sich an die beiden Streifenbeamten: »Haben wir schon etwas? Einen Namen vielleicht?«

Mae rollte die Augen. Der Mann war nackt, und sofern er die Ausweispapiere nicht in seinem Hinterteil versteckt hatte, war da nichts.

»Ich kenne ihn«, hörte sie sich sagen und hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen …

Kapitel 1

»Ob ich morgen leben werde, weiß ich freilich nicht. Aber dass ich, wenn ich morgen lebe, Tee trinken werde, weiß ich gewiss.«
Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781)

 

»Sie wollen, dass ich mit Anne Cleary spreche! Ausgerechnet mit dieser verlogenen Natter, diesem Furunkel am Arsch einer dreibrüstigen Missgeburt, dieser bösartigen Hexe!«, zeterte Mae in den Hörer.

Rabia, ihre jüngste Tochter, seufzte am anderen Ende der Leitung. »Mammy, ist es möglich, dich gewählter auszudrücken?«

»Wieso? Wegen Anne? Ich würde ihr am liebsten die Nase blutig schlagen, und ich bin weiß Gott kein aggressiver Mensch!«

»Gott bewahre, du doch nicht«, entgegnete Rabia trocken. »Bevor du jetzt weiter deinen Tobsuchtsanfall pflegst: Was hast du mit Anne Cleary zu schaffen, und wer will, dass du dich mit ihr unterhältst?«

»Wenn es nur das Unterhalten wäre!«, schnaubte Mae entrüstet. Ihr Herz begann zu stechen und sie rieb darüber, während sie ihrem Spiegelbild einen finsteren Blick zuwarf. Wenn sie wegen dieser Ziege Anne einen Herzschlag bekäme, wäre sie wirklich zornig. »Du weißt doch, dass der Verlag will, dass ich für Interviews zur Verfügung stehe.«

»Moment mal! Geht es hier um das, was ich denke?«, wollte Rabia wissen. »Meine Mutter, Mae Pennywether, Bestsellerautorin eines Teekompendiums, in einer Vorabendshow? Du veralberst mich!«

»Hab ich nicht nötig«, brummte Mae. »Mein Verlag hat beschlossen, es wäre angebracht, wenn die Leser mich besser kennenlernen würden – im Rahmen eines Interviews bei Teatime with Annie …«

Rabia begann aufgeregt zu kreischen.

»Meine Güte, Rabia, reiß dich zusammen! Du bist siebenunddreißig Jahre alt, kein Grund, auszuflippen wie ein Teenager«, sagte Mae augenrollend, sobald sie die Gelegenheit dazu hatte.

Ihre Tochter führte sich ja auf, als sei Anne Cleary ein Superstar. Dabei war sie nur eine drittklassige Fernsehtante, die das Glück hatte, die beliebteste Vorabendshow Irlands zu moderieren. Rabia dagegen hatte viel mehr vorzuweisen: Sie war mit achtzehn ausgebüxt, um eine Weltreise zu unternehmen, dann als Friseurin in Hollywood gelandet, später mit einem Hippie nach Goa ausgewandert und in den folgenden Jahren nicht weniger abenteuerlustig gewesen als Mae früher selbst. Irgendwann hatte es sie dann wieder in die Heimat zurückgezogen …

»Aber Annie interviewt dich, Mammy!«, unterbrach Rabia Maes Gedanken. »Du bist berühmt.«

»Übertreib mal nicht, Liebes!«, sagte Mae verlegen. Dennoch fühlte sie sich geschmeichelt. Sie lächelte ihr Spiegelbild an.

»Auf jeden Fall ist es eine große Ehre, dass sie dich für ein Interview wollen. Überleg mal, Ireland Channel ist der größte Fernsehsender Irlands! Und wahrscheinlich hast du mit Anne Cleary gar nichts zu tun, außer vor der Kamera mit ihr zu sprechen.«

Rabia war eine fabelhafte Tochter! Bestimmt hatte sie recht. Anne Cleary hatte sich schon immer für etwas Besseres gehalten und würde sich gewiss nicht dazu herablassen, mehr Kontakt als nötig mit Mae oder den Leuten hier aus der Gegend zu haben. Für sie waren das doch sowieso nur unzivilisierte Bauern.

Kapitel 2

»Tee als ständiger Begleiter stimmt auch an miesen Tagen heiter.«
Deutsches Sprichwort

 

Mae kniete auf einem Kissen vor den Blumenrabatten in ihrem Vorgarten und zupfte Unkraut. Eigentlich war sie der Ansicht, dass es sinnvoller wäre, eine Sense oder gar einen Flammenwerfer zu benutzen. Da ihr aber weder das eine noch das andere zur Verfügung stand und sie zudem eine Beschäftigung für ihre Finger benötigte, hatte sie sich an die Arbeit gemacht. Sie hatte schon ein ganzes Stück geschafft, als Brandon seinen altersschwachen Geländewagen vor dem Zaun parkte und ausstieg.

»Granny, was treibst du da?«

Verbissen zerrte Mae an einem Büschel rebellischen Gestrüpps, ehe es nachgab und sich samt Wurzeln dem Boden entreißen ließ. Die Erdbrocken rieselten herab, während Mae sich mühsam erhob.

Brandon musterte sie nachdenklich. »Geht es dir gut?«, fragte er.

Ärgerlich schüttelte Mae ihre Hand, dann warf sie das Grünzeug in den bereitstehenden Eimer. »Ich muss mich feinmotorisch betätigen, sagt der Arzt. Ist gut gegen die Polyarthrose in den Fingern«, behauptete sie. »Wolltest du nicht abreisen?«

»Ich wollte dir persönlich tschüss sagen, ehe ich fahre.«

Mae spürte einen Kloß im Hals, ließ sich aber nichts anmerken. Dass es ihrem Enkel hier auf dem Land als Detective Inspector zu langweilig geworden war, konnte sie nachvollziehen. Schließlich hatte sie früher als Ethnologin auch die halbe Welt bereist. Und er hatte sich nur nach Galway versetzen lassen. Nun ja, immerhin war es deutlich größer als Badger’s Burrow, das beschauliche Dörfchen, in dem sie lebte. Aber inzwischen wollte sie auch gar nicht mehr irgendwo anders sein …

Brandon riss sie aus ihren Gedanken. »Möchtest du mich nächstes Wochenende besuchen kommen? Vielleicht mit Tante Rabia?«, fragte er und umarmte sie.

Mae befreite sich. Zu viel Gefühlsduselei machte sie immer nervös und gab ihr das Gefühl, alt zu sein. Alt und tattrig. Sie sah auf ihre erdverschmierten, faltigen Hände. Gut, taufrisch war sie nicht mehr, aber sie würde den Teufel tun und zugeben, dass sie alt war.

»Brady, nichts lieber als das!«, antwortete sie. »Aber das Fernsehteam für mein Interview trudelt irgendwann am Freitag ein, und gedreht wird die Chose am Samstag oder Sonntag. Normalerweise hätten sie mich einfach für die Aufzeichnung ins Studio geholt, aber es ist die Abschiedssendung von Anne Cleary, und die soll was Besonderes werden.« Das Ganze passte ihr immer noch nicht, doch was sollte sie tun? Sie hatte ihre Zusage erteilt, und eine Mae Pennywether stand zu ihrem Wort. »Lass uns reingehen, ich koch uns Tee!«, schlug sie vor. »Oder ist dir eher nach einem Whiskey?« Hoffnungsfroh sah sie Brandon an.

Der schüttelte lachend den Kopf. »Grandma, du weißt doch: kein Alkohol vor dem Fahren!«

»Dann trinken wir eben Tee«, bestimmte Mae, während sie auf das Haus zugingen. »Und du nimmst eine Flasche O’Mulligan’s Green mit – damit du uns nicht vergisst.«

»Euch vergessen? Bestimmt nicht! Außerdem ziehe ich nur nach Galway, nicht nach Nowosibirsk«, erwiderte Brandon und öffnete Mae die Haustür. »Und mein Angebot steht: Lass das Interview sausen und komm mich am Wochenende besuchen!«

»Geht nicht, meine Verlegerin zieht mir die Hammelbeine lang, wenn ich das tue«, brummelte Mae. Sie trat ein und ging direkt in das kleine Badezimmer neben der Haustür, um sich die Hände zu waschen.

Unterdessen sprach Brandon weiter: »Ich werde ständig an euch denken.« Er seufzte. »Versprich mir nur, nichts zu tun, was ich nicht auch täte.«

»Du verlangst viel von mir, aber wenn du so anfängst: Ich hatte nicht vor, zur Superverbrecherin Irlands zu mutieren. Ich hatte überhaupt nicht vor, irgendetwas zu tun, was die Verbrechensstatistik in unserem County versaut, immerhin ist sie die niedrigste in ganz Irland. Wäre es nicht so, hättest du dich nicht in die große Stadt versetzen lassen«, entgegnete Mae.

Brandon schnalzte mit der Zunge. »Du weißt genau, was ich meine, Grandma. Letztes Jahr diese Sache mit Loreena – das hätte wirklich schiefgehen können. Und auch sonst deine verrückten Einfälle.«

Mae funkelte ihn an. »Vorsicht, mein Junge!«

»Ich will einfach nicht, dass dir was passiert. Bitte versprich mir, dass du keinen Unsinn anstellst, jetzt, wo ich weg bin!«, beschwor Brandon sie.

Mae lenkte ein: »Also gut, Brady – ich verspreche dir, gut auf mich aufzupassen. Und jetzt lass uns Tee trinken! Ich hab da einen neuen Lieferanten für Teeblumen aufgetan. Jasmin und Schwarztee, du wirst begeistert sein.«

Brandon verzog das Gesicht. »Vielleicht muss ich gehen, um nicht Gefahr zu laufen, um meine Geschmacksnerven gebracht zu werden. Ständig tischst du mir deine Spezialitäten auf. Das ist jetzt aber nicht wieder etwas, was mir den Magen verdirbt, oder?«

Kapitel 3

»Tee ist Ruhe und nicht Eile.«
Tibetisches Sprichwort

 

Dass die Fernsehleute angekommen waren, erfuhr Mae, noch bevor sie das Tae agus Ceapaire in Ballymahon betreten hatten. In dem Tearoom ihrer Freundin Clarissa Nelson sollten das Vorgespräch und später auch das Interview stattfinden, zudem würden Anne Cleary und ihre Kollegen in den vier Pensionszimmern über dem Gastraum übernachten. Orla Kanturk, eine weitere gute Freundin Maes, hatte auf ihrem Heimweg einen Geländewagen mit Dubliner Nummernschild auf der kurzen Landstraße von Badger’s Burrow nach Ballymahon gesehen. Sie hatte sofort im Tearoom angerufen, um Mae und Clarissa Bescheid zu sagen.

Mae trank gerade eine Tasse Grüntee und knabberte dazu asiatische Cracker. Sie konnte es nicht erwarten, dass dieses Wochenende, vor allem aber das unsägliche Interview, endlich hinter ihr lagen. Auch Clarissa wirkte an diesem Tag in sich gekehrt, und Mae ahnte, dass ihre Freundin ähnlich begeistert von Annes Abstecher in die alte Heimat war wie sie selbst.

Sie seufzte und sah sich im Tearoom um. Auf einem Regal neben dem Tresen stand Clarissas Sammlung verschiedener Zuckerdosen, jede etwas anders gestaltet und mit unterschiedlichen Zuckerarten befüllt. Wenn Mae sich nicht irrte, gab es ein paar neue. Clarissa liebte die originellen Behälter – und ihre Gäste offenbar auch. Gelegentlich kam es vor, dass eine der Zuckerdosen nach dem Besuch fremder Gäste verschwunden war, daran änderten auch die im Gastraum ausliegenden Flyer mit der Kontaktadresse der Töpferin nichts. Clarissa nahm es mit stoischer Ruhe, was Mae schon so manches Mal gewundert hatte, war ihre Freundin doch sonst immer bereit, ihren Tearoom zu verteidigen. Das kleine Lokal war ihr Lebensinhalt, nicht erst seit dem tragischen Unfall ihres Mannes.

Maes Aufmerksamkeit wurde von einem Geländewagen abgelenkt, der gerade vorfuhr und parkte. Das musste das Auto des Fernsehteams sein, von dem Orla gesprochen hatte. Maes Magen verkrampfte sich. Schnell drehte sie ihren Stuhl so, dass sie einen besseren Blick aus dem Fenster hatte, ohne aufstehen zu müssen. Als sie sah, dass zwar zwei Frauen aus dem Auto ausstiegen, doch keine von ihnen Anne Cleary sein konnte, weder vom Alter noch vom Aussehen her, entspannte sie sich wieder.

Die Frau, die am Steuer gesessen hatte, war eine lässig gekleidete Blondine mit Pferdeschwanz. Sie schlug die Fahrertür zu und sagte etwas zu ihrer Begleiterin. Die betrachtete den Tearoom und strahlte. Dann holten beide ihr Gepäck aus dem Wagen und gingen zur Eingangstür. Sie traten ein und schauten sich um. Clarissa lief zu ihnen und begrüßte sie. Obwohl die Teestube nicht sonderlich groß und der Geräuschpegel niedrig war, konnte Mae nur ein paar Wortfetzen ihres Gesprächs aufschnappen. Nun ja, sie würde schon noch früh genug alles Wichtige erfahren. Gelassen trank sie den letzten Schluck ihres grünen Tees. Als sie die Tasse abstellte, wusste sie, dass sie nun bereit für eine Begegnung mit ihrer Erzfeindin war.

Clarissa kam an Maes Tisch, die beiden jungen Frauen folgten ihr. »Mae, ich möchte euch miteinander bekannt machen«, sagte Clarissa und deutete auf die Blondine. »Das ist Siobhan Mowbray von Ireland Channel.«

Die Frau streckte Mae die Hand entgegen. »Bitte nennen Sie mich Siobhan, Mrs Pennywether!«

Mae erhob sich. »Aber nur, wenn Sie Mae zu mir sagen«, erklärte sie und schüttelte ihr die Hand. »Keiner hier in der Gegend nennt mich Mrs Pennywether.« Dann lächelte sie der anderen, brünetten Frau mit der sportlich-eleganten Kurzhaarfrisur zu. Irgendwie kam sie ihr bekannt vor, und plötzlich fiel es ihr ein: »Sie müssen Ruby Keegan sein, die Co-Moderatorin von Teatime.« Mae reichte ihr ebenfalls die Hand.

Die Frau nickte. »Für Sie Ruby«, sagte sie und lachte. Sie hatte etwas ungeheuer Sympathisches an sich. »Wir beide werden uns nachher auch ein wenig unterhalten, und Siobhan wird …«

»Probeaufnahmen machen«, beendete die Blondine ihren Satz. »Dann kann ich heute Abend einen Drehplan ausarbeiten.«

Etwas verwirrt schaute Mae sie an.

»Oh, bitte entschuldigen Sie, das hatte ich noch gar nicht erwähnt«, sagte Siobhan schnell. »Ich bin Mrs Clearys Assistentin und verantwortlich für die Kameraaufnahmen. Wenn Sie irgendwelche Fragen oder Probleme haben, können Sie jederzeit gern zu mir kommen.«

Mae nickte stumm.

»Auch Sie würde ich gerne interviewen, Mrs Nelson«, wandte Ruby sich an Clarissa. »Vielleicht können wir das als Einleitung für die Sendung verwenden.«

»Natürlich, gerne«, antwortete Clarissa und wollte noch etwas ergänzen.

Doch in diesem Moment ertönte lautes Reifenquietschen von draußen, und sofort richteten sich alle Augen auf ein rotes Sportcoupé, das gerade vor dem Tearoom einparkte. Ein Mann sprang aus dem Wagen, holte eine Reisetasche von der Rückbank und betrat dann den Tearoom. An der Tür blieb er zunächst stehen, schaute sich um und kam schließlich auf die Frauen zu.

»Einen schönen guten Tag«, sagte er, trat zwischen Clarissa und Ruby und stellte seine Tasche auf dem Boden ab. Er war etwa Mitte vierzig und Mae zutiefst unsympathisch mit seiner Solariumbräune und seinem breiten, strahlend weißen Zahnpastalächeln. »Ich bin Fergal Thurnpike, Moderator von Teatime«, stellte er sich vor und musterte Mae. »Und Sie müssen unser Interviewgast für die Jubiläumssendung sein, Mae Pennywether, nicht wahr?«

»Stimmt auffallend, junger Mann.«

Fergal Thurnpike legte den Arm um Rubys Schultern. »Du hättest mit mir fahren sollen! Eine hübsche Frau wie du gehört in einen Sportflitzer und nicht in diesen klobigen Landstraßenpanzer.«

»Eine Frau wie ich gehört als Allererstes auf ihr Zimmer, um sich frisch zu machen«, entgegnete Ruby, nahm Fergal Thurnpikes Hand von ihrer Schulter und rückte ein Stück von ihm ab. »Mrs Nelson, wir haben zwar nur Bed & Breakfast gebucht, aber gibt es später vielleicht auch die Möglichkeit, bei Ihnen etwas zum Abendessen zu bestellen?«

»Der Schuppen hier ist doch viel zu altjüngferlich, Ruby«, mischte Fergal Thurnpike sich ein und musterte die Einrichtung des Tearooms mit deutlichem Missfallen. »Lass uns drüben in Longford zu Abend essen oder noch besser in Athlone, nur wir zwei!«

Mae musste Clarissa gar nicht ansehen, um zu wissen, dass sie vor Wut kochte. Fergal Thurnpike dagegen schien davon nichts mitzubekommen – oder es war ihm egal. Auffordernd blickte er Ruby an.

»Nein danke, Fergal«, sagte die. »Wir haben hier noch einiges zu tun.« Dann wandte sie sich wieder Clarissa zu: »Bitte entschuldigen Sie! Also, wie sieht es mit einem kleinen Abendessen aus? Anne – Mrs Cleary – wird sicher Hunger haben, wenn sie eintrifft.«

»Es tut mir leid, aber mehr als Sandwiches kann ich Ihnen und Ihrem Team nicht anbieten. Wenn Sie hier in der Nähe essen gehen wollen, empfehle ich Ihnen den Pub in Badger’s Burrow. Mit dem Auto sind es nur zehn Minuten, und Aileen kocht wirklich hervorragend«, erklärte Clarissa.

Fergal Thurnpike rümpfte die Nase. Interessiert stellte Mae fest, dass Siobhan ihn ebenfalls nicht zu mögen schien. Sie wirkte auf einmal genervt, ihr Lächeln gekünstelt, besonders wenn sie Fergal ansah. In Momenten wie diesen dachte Mae sich, dass sie ihre Feldforschungen über soziale Interaktionen jetzt im Alter mit nicht weniger Faszination in der Heimat fortsetzen konnte. Als Ethnologin hatte sie viele Jahre lang die gesellschaftlichen Strukturen verschiedener Stämme studiert, jedes ihrer vier Kinder war in einem anderen Land geboren worden. Mae lächelte und konzentrierte sich wieder auf die Unterhaltung.

»Ich will lieber vor Ort bleiben, schließlich sind wir nur zwei Nächte hier«, sagte Ruby gerade.

Fergal Thurnpike trat wieder näher an sie heran. »Okay, wir riskieren den Pub drüben in Badger’s Burrow. Lass uns gemeinsam essen gehen, nur wir zwei!«

Ruby legte ihre Hand auf seinen Unterarm. »Es tut mir leid, Fergal, aber soweit ich weiß, will Anne mit uns den Abend verbringen und noch letzte Details besprechen.« Sie sah zu Mae. »Werden Sie uns beim Abendessen Gesellschaft leisten?«

Mae zuckte zusammen. Mit Anne auch noch dinieren? Bloß nicht! Also schüttelte sie den Kopf.

Da ihr die Frauen jedoch sympathisch waren und sie nicht wusste, wie sie zu Anne standen, nahm sie Zuflucht in einer Höflichkeitslüge: »Meine Liebe, in meinem Alter isst man abends kaum noch etwas und geht früh schlafen. Wenn es nicht zwingend notwendig ist, ziehe ich es vor, daheimzubleiben.«

Ruby nickte verständnisvoll. »Machen Sie sich keine Sorgen! Wenn Sie sich vorher noch mit Anne und uns zusammensetzen und alles besprechen, können wir morgen die Aufzeichnung machen und gegebenenfalls am Sonntag nachdrehen.«

»Das klingt wunderbar«, sagte Mae erleichtert und ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken.

Clarissa räusperte sich. »Also gut, dann werde ich Ihnen mal Ihre Zimmer zeigen. Bitte kommen Sie mit!« Sie ging hinüber zur Theke, nahm drei Schlüssel, die dort bereitlagen, und händigte sie den Fernsehleuten, die ihr gefolgt waren, aus.

Bevor sie alle in dem Gang verschwanden, von dem aus eine Treppe nach oben zu den Pensionszimmern führte, sah Siobhan noch einmal zu Mae herüber und nickte ihr zu. Mae lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und wartete geduldig darauf, dass Clarissa wieder herunterkam und ihr eine weitere Tasse Tee machen konnte, bevor Anne im Tae agus Ceapaire erschien. Ihr Anblick würde Mae den Appetit ganz sicher verderben. Eigentlich hatte sie nicht erwartet, Anne jemals wiederzusehen, nachdem die ihren Heimatort Ballymahon verlassen hatte, um beim Fernsehen Karriere zu machen.

Mae seufzte. Hieß es nicht, man sah sich immer zweimal im Leben? Vielleicht hatte Anne sich ja geändert und bereute, was sie Mae, aber vor allem Clarissa angetan hatte. Nein, so naiv war Mae nicht. Genauso wenig, wie Kühe Tunnel gruben, würde Anne sich in irgendeiner Weise schuldig fühlen.

Clarissa kehrte zurück in den Gastraum, doch bevor sie sich Mae zuwenden konnte, musste sie ein Pärchen abkassieren und deren Tisch abräumen. Erst danach kam sie zu Mae und setzte sich ihr gegenüber. Sie nestelte an ihrer Kameebrosche herum.

»Die beiden jungen Frauen sind sehr nett, nicht wahr?«, begann sie.

»In der Tat«, bestätigte Mae, beugte sich vor und legte ihrer Freundin die Hand auf den Unterarm. »Was beunruhigt dich, meine Liebe? Ist es wegen der Sendung?«

»Wegen Anne!«, platzte Clarissa heraus, sah sich erschrocken um und vergewisserte sich, dass niemand in Hörweite war. Dann flüsterte sie: »Warum kommt sie nach all den Jahren plötzlich wieder zurück? Ich will sie nicht hierhaben!« Sie strich sich fahrig über den akkuraten Dutt.

»Ich glaube nicht, dass es ihre Entscheidung war, und noch weniger, dass sie gern hierher zurückkommt«, versuchte Mae sie zu beruhigen. »Sie ist nicht dumm – sie weiß, dass sie nicht willkommen ist.« In diesem Moment bemerkte sie, wie die Eingangstür geöffnet wurde und eine mondän gekleidete Dame mit einem riesigen Trolley eintrat. Mae runzelte die Stirn. Clarissa und sie mussten so vertieft in ihre Unterhaltung gewesen sein, dass sie gar nicht mitbekommen hatten, wie ein weiteres Auto vorgefahren war.

Die Dame nahm ihre Sonnenbrille ab und schaute sich um. Geringschätzung spiegelte sich auf ihrem Gesicht, das noch immer Ähnlichkeit mit dem des jungen Mädchens von damals hatte. Mae erkannte sie sofort: Anne Cleary. Die zog sich das Tuch, das sie um den Kopf gebunden hatte, herunter und stopfte es in ihre teure Handtasche. Mit dem rechten Zeigefinger wischte sie über die Theke neben sich, als wolle sie die Sauberkeit testen, und hob dann den Blick. Als sie zu Mae und Clarissa herübersah, weiteten sich ihre Augen und sie rümpfte kaum merklich die Nase.

»Meine Güte, seid ihr beide alt geworden! Ich hätte euch auf der Straße nicht mehr erkannt«, rief sie aus und kam auf sie zu. Den Trolley ließ sie neben der Theke stehen.

»Nicht jede kann sich den Luxus leisten und ihren Lebenslauf frisieren, damit sie offiziell noch mal mitten in den Wechseljahren steckt«, erwiderte Mae grimmig. Sie kannte die Version des Fernsehsenders, aber auch Annes wahres Alter.

Anne betrachtete sie von oben bis unten. »Sehr witzig, Mae.« Sie rollte mit den Augen und wandte sich dann Clarissa zu.

Die stand auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich hätte wirklich nicht erwartet, dass du die Nerven hast, dich noch mal nach Ballymahon zu wagen!«

»Der Sender hielt es für eine gute Idee, im Tae agus Ceapaire zu drehen«, entgegnete Anne ungerührt und betastete ihre Frisur. »Sie fanden, ein klassischer Tearoom, in dem eine Autorin aus der Nachbarschaft verkehrt, die einen Schinken über verschiedene Teesorten und die Teezeremonien der Welt verfasst hat, wäre der richtige Aufhänger für die Jubiläumssendung.« Sie sah sich erneut um. »Ganz passabel für ein Lokal in der Provinz.«

Mae konnte Clarissas Gesicht nicht sehen, doch sie wusste, dass jemand wie Anne das Tae agus Ceapaire gewiss nicht kritisieren durfte. Sie straffte sich, um gegebenenfalls dazwischengehen zu können, denn es stand zu befürchten, dass die beiden gleich wie die Bullterrier aufeinander losgingen.

Tatsächlich hatte Clarissas Stimme deutlich an Schärfe gewonnen, als sie sagte: »Meinetwegen kannst du sofort umdrehen und wieder fahren, wenn es dir nicht gefällt.«

Anne zog die Augenbrauen hoch. »Mach dich nicht lächerlich, Clarissa Nelson! Du kannst mir nachher mein Zimmer zeigen. Aber erst muss ich noch ein paar Worte mit der guten alten Mae sprechen.« Sie setzte sich.

Clarissa holte tief Luft. »Kann ich dich mit ihr alleine lassen?«, fragte sie Mae. Die nickte stumm, und so ging Clarissa hinüber zu einem anderen Tisch, um dort die Bestellungen aufzunehmen.

»Die Zeit hat es wirklich nicht gut mit dir gemeint, Mae«, sagte Anne spöttisch.

»Immer noch dasselbe Biest wie früher!« Mae versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Es war erstaunlich, doch all die Jahrzehnte, die seit Annes Verrat vergangen waren, reichten tatsächlich nicht aus, ihn vergessen zu machen. Der Schmerz stach noch immer in ihrem Herzen. Gern hätte sie Anne die Faust ins Gesicht gerammt, aber sie war nun mal kein gewalttätiger Mensch.