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Harald Ullmann

Einführung in die
Katathym Imaginative
Psychotherapie (KIP)

2017

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlag: Heinrich Eiermann

Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach

Grafiken und Bildbearbeitung: Sonnelle Ullmann

Erste Auflage, 2017

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Carl-Auer Verlag GmbH

Inhalt

Vorwort

1 Erste Einblicke

1.1 Die Imagination – überall und jederzeit

1.2 Der erste Anfang muss nicht der einzige sein

1.3 Therapeutische Veränderungen ins Bild gesetzt

1.4 Bewährte Vorstellungsmotive als Orientierungshilfe

1.5 Zum Setting: Wie geht man beim »Bildern« konkret vor?

2 Verlaufsstruktur der Psychotherapie mit dem Tagtraum

2.1 Vom Gespräch zur bildhaften Vorstellung

2.2 Vorstellungsmotive und ihre Funktionen

2.3 Zwischen Tagtraum und Tagtraum

2.4 Zum technischen Repertoire der Grundstufe

2.5 Auf der Basisebene unterwegs – mit einer Fallgeschichte

3 Grundelemente der Katathym Imaginativen Psychotherapie

3.1 Imagination, Vorstellungskraft, Einbildung

3.2 Affekte, Emotionen, Gefühle und alle Sinne des Körpers

3.3 Beziehung, Dialog, Trance

3.4 Symbole, Metaphern und Geschichten

3.5 Die katathyme Imagination als integriertes Ganzes

4 Zur Behandlungstheorie und ihrem begrifflichen Rahmen

4.1 Theorien und ihre Grenzen

4.2 Ein Plädoyer für das Jonglieren mit mehreren Bällen

4.3 Kernkompetenzen in einer integrativen Therapie

4.4 Zum metatheoretischen Spektrum der Psychotherapie mit dem Tagtraum

4.5 Zentrale Begriffe im Kaleidoskop unterschiedlicher Sichtweisen

4.5.1 Das Unbewusste

4.5.2 Das Agieren

4.5.3 Die Regression

4.6 Altes Leid und neue Möglichkeiten in mutativen Momenten

5 Das therapeutische System der Katathym Imaginativen Psychotherapie

5.1 Zwei Achsen und diverse Behandlungsoptionen

5.2 Auf der Erweiterungsebene unterwegs – mit Fallgeschichten

5.3 Mit Zielvisionen von der »Anamnese« zur »Indikation«

6 Das didaktische System der Katathym Imaginativen Psychotherapie

6.1 Kompetenzen erwerben und einüben

6.2 Wissen erwerben – Lesetipps

Quellenhinweise

Literatur

Über den Autor

Vorwort

Die Katathym Imaginative Psychotherapie (KIP) ist eine junge, vielseitig anwendbare Methode der Psychotherapie, die zunächst auf Traditionen der Hypnosetherapie, der Psychoanalyse und der analytischen Psychotherapie aufbaute. Als ihr Begründer, der Psychiater, Hypnosetherapeut und Psychoanalytiker Hanscarl Leuner, auf experimentellem Weg die Eigendynamik suggestiv induzierter affektgetragener (»katathymer«) Imaginationen entdeckte, bediente er sich zur Erklärung der vorgefundenen Phänomene des metatheoretischen Rahmens der Psychoanalyse und der analytischen Psychologie. Das damals noch so genannte »katathyme Bilderleben« (KB) oder »Symboldrama« wurde auf dieser Basis konsequent zu einer eigenständigen, gut systematisierten Behandlungsform weiterentwickelt, die heute als eine spezielle Anwendungsform der Tiefenpsychologie gilt. In der klinischen Praxis bewährt sich die KIP als eine differenzierte psychodynamische Methode, die alternative Behandlungsansätze und -theorien auf kreative Weise zu integrieren vermag.

In diesem Einführungsband werden neben den schon erwähnten Bezeichnungen weitere Synonyme für die zentrale Imaginationsübung wie für die Therapie als Ganzes verwendet. Denn beim Spiel mit unterschiedlichen Begriffen zeigen sich auch unterschiedliche Aspekte des Behandlungsgeschehens. So wird man zwischen den zwei flexiblen Buchdeckeln für die Personen und ihre Darsteller eine Vielzahl von Bezeichnungen vorfinden. Wer eben noch ein (im Sinne des lateinischen Wortstamms) »leidender« Patient oder ein veränderungswilliger Klient war, wird während des Imaginierens zum beobachtenden und nachfühlenden Tagträumer oder zu einem engagiert handelnden Protagonisten auf der virtuellen Bühne des Symboldramas.

Wendet man das Prinzip der Metaphernvielfalt auf die KIP als solche an, dann »macht« es einen Unterschied, ob wir den therapeutischen Prozess als eine medizinische Reparaturmaßnahme, als ein Abtauchen in das Unbewusste (wenn wir denn je wüssten, was das »in Wahrheit« ist), als eine spannende Zeitreise oder als eine gemeinsame Suche nach passenden Lösungen konzipieren. Mit der Theorie der Praxis verhält es sich ähnlich. Es macht einen Unterschied, ob wir ein Lehrgebäude errichten oder uns im Umgang mit verschiedenen Sicht- und Handlungsweisen üben wollen – stets bereit, von vielen Meistern zu lernen.

Unter den Meistern, von und mit denen ich lernen durfte, gebührt Helm Stierlin ein besonderer Dank. Ihm sei im Jahre seines 90. Geburtstags dieses Buch gewidmet.

Harald Ullmann
Karlsruhe, im Oktober 2016

1 Erste Einblicke

1.1 Die Imagination – überall und jederzeit

Die Imagination gehört wie die Symbolisierung, die Sprache, der Werkzeuggebrauch und der aufrechte Gang zur Grundausstattung des Menschen. Diese Gaben sind jedem Individuum gleichsam als Rohmaterial in die Wiege gelegt, das sich dann in Abhängigkeit von nahen Bezugspersonen und Vorbildern im soziokulturellen Kontext zur vollen Reife oder Kompetenz entwickeln kann. Bei kognitiven und mentalen Fähigkeiten wird man im Zusammenhang mit dem Entwicklungsaspekt den Ausdruck »Reife« bevorzugen. Wenn es um den aufrechten Gang, die verschiedenen Gangarten (Gehen, Schreiten, Laufen …) und das psychosoziale Leistungsvermögen geht, spricht man besser von der zur Verfügung stehenden »Kompetenz«.

Die Imagination oder Vorstellungskraft bewegt den Menschen von klein auf. Sie durchwebt den Alltag des Kindes wie des Erwachsenen von früh bis spät. Das Tagträumen ist eine spezielle Möglichkeit zur Entfaltung der Fantasie. Die Vorstellungswelt des Nachttraums steht auf einem anderen Blatt, aber durchaus im selben Buch (hier: Abschn. 5.2). Seit Menschengedenken wurden Träume mit der ihnen eigenen bildhaften Logik für bedeutsam gehalten und in den Dienst der Einflussnahme auf die Zukunft gestellt, auch und gerade im Rahmen von Heilungserwartungen oder Psychotherapie im engeren Sinn.

Wenn die Imagination eigentlich allerorten anzutreffen ist und dem Menschen jederzeit zur Verfügung steht, dann müsste sie auch für diagnostische und therapeutische Zwecke zu nutzen sein. Das Ihnen vorliegende Buch zur Einführung in die Katathym Imaginative Psychotherapie soll deshalb gleich mit einer kleinen Übung beginnen.

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Abb. 1: Das unbeschriebene Blatt

Bitte nehmen Sie eine möglichst bequeme Position ein, wie Sie das sonst vielleicht vor einer Meditation tun, vor dem autogenen Training, vor der Selbsthypnose oder in Erwartung einer anderen Form von entspannender Auszeit. Der Alltag darf ruhig »draußen vor« bleiben. Nun richten Sie sich bitte allmählich – vielleicht mit dem Blick auf »das unbeschriebene Blatt« (Abb. 1) – darauf ein, dass Sie gleich für eine kleine Weile die Augen schließen können, um sich etwas bildhaft vorzustellen und sich innerlich damit zu befassen – mit allem, was sich dazu noch einstellen mag: sinnliche Eindrücke, körperliche Empfindungen, Gefühle und so weiter. Es wird zunächst einfach darum gehen, sich eine Blume vorzustellen, wenn Sie die Augen für eine Weile schließen, und zwar jetzt

Wie auch immer Sie mit dem Vorschlag zu dieser kleinen Übung umgegangen sind – es hat etwas mit jenen Phänomenen zu tun, die in einer Psychotherapie mit dem Tagtraum auftreten können. Sollten Sie »das unbeschriebene Blatt« gerade übergangen und lieber gleich weitergelesen haben, wären Sie in guter Gesellschaft mit einigen anderen Klienten, Patienten oder Selbsterfahrungswilligen.1 Manch einem erscheint das Tagträumen in der Therapie zu weit ab vom gewohnten zielführenden Denken. Oder Ihnen war jetzt einfach nicht danach, »in sich zu gehen«.

Sollten Sie dem Vorschlag gefolgt und »für eine kleine Weile« in eine Vorstellungsübung eingetaucht sein, dann wären Sie ebenfalls in guter Gesellschaft. Beim Versuch des »Bilderns« (d. h. des Entwickelns von bildhaften Vorstellungen) zum genannten Motiv kann sich alles Mögliche einstellen, meist tatsächlich irgendwann eine Blume. Manche bleiben spontan nicht auf das Anblicken beschränkt, sondern riechen an ihr, betasten sie, wollen sie aus einem Beet pflücken oder aus einer Vase nehmen. Manche hören Bienen summen oder wenden ihre Aufmerksamkeit der Umgebung zu – bis hin zu kleinen Szenen rund um das Blumenthema. Manchmal meldet sich eine körperliche Empfindung oder ein bestimmtes Gefühl.

Doch von der Gestalt einer imaginierten Pflanze kann auch eine bestimmte Anmutung ausgehen. Spricht sie etwas in Ihnen an? Ist sie voll erblüht? Ist sie ohne Wurzeln? Ist sie am Vertrocknen? Lässt sie den Kopf hängen? Möchte man etwas für sie tun? Wirkt sie autonom und dem Betrachter freundlich zugewandt? Es gibt mehr als 1001 Möglichkeiten. Der eine oder die andere2 wird aus dem hypnoiden Zustand seines oder ihres Tagtraums auftauchen, seine Dauer nicht minutengenau abschätzen können und sich fragen: »Hat das wohl etwas mit mir selbst zu tun?« Und schon beginnt sich die symbolische Dimension der Imagination mit ihren vielfachen Bedeutungsinhalten zu entfalten.

Diese kleine Übung von eben ist natürlich nicht identisch mit dem typischen Ablauf einer ersten Imaginationsübung, mag aber doch einen ersten Eindruck von den Phänomenen vermitteln, denen man dabei begegnet. Pate stand das »einfache« Experiment von Frank (1914). Dort wird in einem Rahmen, der mit Bedacht nicht suggestiv angelegt ist (wenn es denn je eine nichtsuggestive Kommunikation gäbe!), zu kaum mehr aufgefordert als zum Entspannen, zu einer bestimmten Vorstellung und zum Schließen der Augen. Schon bei einem äußerst sparsamen Experiment wie diesem treten nicht selten die erstaunlichsten sinnlichen, körperlichen, affektiv getönten Imaginationsszenarien auf.

Die »katathyme«3, d. h. affektgetragene Imagination führt in Form des dialogisch begleiteten Tagtraums weit über Franks einfaches Experiment und unsere erste kleine Übung hinaus. Denn hierbei betritt der Tagträumer die Bühne seiner bildhaften Fantasie nicht allein, sondern in Gegenwart des Therapeuten, der in doppelter Weise präsent ist. Seine physische Präsenz wird hörbar, indem er mit Worten dabei ist, von der Einleitung bis zum Ende des Geschehens. Seine mentale Präsenz drückt sich – wenn alles gut geht – in der passenden Art und Weise aus, in der er sich in den Dialog einbringt, und sei es da oder dort nichts weiter als eine verbale Geste des Bestätigens oder Ermunterns (»Mmh!«, »Und nun?«). Dieses dialogische Element der katathymen Imagination lässt sich mit einer Übung am Buch nicht simulieren, wohl aber später an Fallbeispielen verdeutlichen.

Das affektive Element geht mit dem dialogischen Element der katathymen Imagination einher. Das Eigenschaftswort »katathym« soll deutlich machen, dass diese Art von Imagination nah am affektiven Erleben bleibt, auch wenn der Tagträumer mitunter keinen Zugang dazu hat oder sich auf Distanz zu seiner Emotionalität hält. Dann ist der Therapeut gefordert, den passenden Ton oder ein treffendes Wort zu finden und seinem Patienten im rechten Moment zur Verfügung zu stellen. Jenseits der Wörter bzw. der Worte kommt es letztlich darauf an, innerlich beteiligt und präsent zu sein, auch in stillen, schweigsamen Momenten.

Damit rückt nun das Element der therapeutischen Beziehung ins Zentrum, das mit andernorts zu entlehnenden Begriffen wie »Übertragung« oder »Rapport« nicht hinreichend beschrieben wäre. Damit man sich auf ein solches Unternehmen wie den im Hypnoid begleiteten Tagtraum einlassen kann, bedarf es eines gewissen Quantums an Vertrauen, das nicht immer per se gegeben ist und oft erst »verdient« oder wiederhergestellt werden muss. In der einschlägigen Literatur wird die spezifische Art einer für die Imaginationsarbeit förderlichen Beziehung als anlehnungsbereit (»anaklitisch«) und kooperativ bezeichnet. Worin zeigt sich die Kooperation?

Schon während des Tagtraums gilt es, »gemeinsame Sache« zu machen, um ein Experiment oder eine Expedition ins Unbewusste (was auch immer die jeweils passende Metapher sei) zu einem guten Ergebnis zu bringen. Die Früchte des Engagements lassen sich an verschiedenen Stellen des therapeutischen Prozesses ernten, sei es im Tagtraum selbst oder in dem, was darauf folgt. In der Nachschwingphase mag es ein jähes Aufmerken sein (»Kommt mir das nicht irgendwie bekannt vor?«), und im Gespräch über ein zum Tagtraum gemaltes Bild mag es ein neuer Ansatz zur Lösung von Problemen sein. Zwischen dem einen und dem anderen Tagtraum fädeln sich verschiedene Komponenten der »Katathym Imaginativen Psychotherapie« (KIP) gleichsam wie die Perlen einer Kette auf. Weniger poetisch ausgedrückt: Die Psychotherapie mit dem Tagtraum hat System!

Was wir gerade en passant kennengelernt haben, ist die verlaufsbezogene »horizontale Achse«4 im System der KIP (Abschn. 5.1), zu dem auch das Malen eines Bildes zum Tagtraum gehört. Wer will, kann das leere Blatt von vorhin versuchsweise mit einer Skizze füllen und darüber nachsinnen, ob ihn das vielleicht auf Ideen bringt. Oder wir warten die ersten Fallbeispiele ab, in denen neben den imaginierten Bildern und Bildergeschichten auch gemalte Bilder eine Rolle spielen werden. Doch zunächst soll der Pionier, Erfinder und »Schulengründer« zu Wort kommen.

Hanscarl Leuner wurde bei seiner Emeritierung als Leiter der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Universität Göttingen von Journalisten gefragt, was denn eigentlich der Kern des »Katathymen Bilderlebens« sei (diese Bezeichnung war in den Anfängen der KIP zunächst für den begleiteten Tagtraum und später für die ganze Methode üblich). Der alte Meister soll geantwortet haben:

»Der Therapeut fordert seinen Patienten auf, er möge sich bequem hinsetzen, die Augen schließen, sich ein wenig entspannen, aber nicht zu sehr, sich dabei locker und neugierig fühlen, um dann vor seinem inneren Auge die Vorstellung einer Blume entstehen zu lassen.«

Es könne auch etwas anderes auftauchen, das sei dann nicht weniger gut. Wichtig sei, dass er alles, was er sehen, hören oder fühlen könne, ihm, dem Therapeuten, mitteile und dabei besonders auf die Gefühle achte. Dies sei der Kern der Methode (Wilke 2016, S. 13).

Seit den Anfängen der KIP – die erste Publikation über eine experimentelle Vorform erschien 1954 – sind viele Jahrzehnte ins Land gegangen. Die »Blume« war und ist nicht das einzig sinnvolle initiale Vorstellungsmotiv zur Einleitung eines Tagtraums, wenn auch in diagnostischer Hinsicht ein recht aussagekräftiges. Doch mit der Diagnose allein ist es nicht getan.

1.2 Der erste Anfang muss nicht der einzige sein

Wer systemisch geschult ist, kennt die zirkulären Wirkungen von Fragen und diagnostischen Bemühungen. In der Theorie der KIP wurde der damals so genannte »Blumentest« anfänglich für ein imaginatives Pendant zu den projektiven Tests der Testpsychologie gehalten. Man ging davon aus, dass der jeweilige Patient sein konflikthaftes Innenleben in der Imagination auf eine virtuelle Leinwand projiziere, die dann gemeinsam zu betrachten sei. Das mag den heutigen Kliniker an das historische Stadium der Einpersonenpsychologie erinnern.

In der Praxis der Tagtraummethode war seit jeher zu merken, dass hier zwei Personen am Werke sind, die sich zuarbeiten und miteinander etwas Drittes gestalten. Die Theorie der Praxis verortet das imaginäre Geschehen mittlerweile in einem virtuellen Raum, der mit unterschiedlichen Metaphern charakterisiert wird. Metaphorisch ausgedrückt, befinden wir uns hier beispielsweise in einer Art von Theater. Dort findet man statt einer Kinoleinwand eine Stegreifbühne vor, auf der sich etwas Einzigartiges ereignet: das Symboldrama (eines der Synonyme für den Tagtraum oder die ganze KIP). Tagträumer und Therapeut sind abwechselnd in verschiedenen Rollen anwesend: als Regisseure, Akteure und Betrachter.

Wie ließe sich da überhaupt noch die Fiktion eines schlichten projektiven Tests aufrechterhalten? Selbst die Testpsychologie darf ja nicht für sich beanspruchen, sie sei rein »objektiv« und rein »diagnostisch«. Die moderne Physik ist der Psychoanalyse und der akademischen Psychologie in der Erkenntnis vorausgegangen, dass sich das Objekt mit dem Vorgang der Untersuchung verändert. Was wir in der psychosomatischen Medizin zu entdecken gelernt haben, ist ein diagnostisch-therapeutischer Zirkel, in dem beide Mitspieler aufeinander einwirken (von Uexküll u. Wesiack 1979). In der Psychoanalyse ist ein intersubjektiver Paradigmenwechsel in Gang gekommen (Ermann 2014). Für die systemische Therapie stellte die wechselseitige Beeinflussung seit Langem ein zentrales Moment dar: Das Tun des einen ist das Tun des anderen (Stierlin 1971).

Gleichwohl kann es nützlich sein, hier und da eine psycho-diagnostische Brille aufzusetzen, um den Tagtraum punktuell zum Einblick in das »Innenleben« des jeweiligen Gegenübers zu nutzen. Vorausgesetzt, man verfällt dabei nicht dem überkommenen Konzept der Einpersonenpsychologie und behält im Hinterkopf, dass keine Begegnung ohne Rückwirkungen bleibt. Der folgende Fall aus einem Supervisionskontext veranschaulicht die therapeutische Potenz des Blumenmotivs.