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Transit wird herausgegeben am Institut für die Wissenschaften vom Menschen

(IWM) in Wien und erscheint im Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main

Herausgeber: Krzysztof Michalski (Wien/Boston)

Mitherausgeber dieses Heftes: Charles Taylor (Montréal/Wien)

Kuratorin des Bildteils: Maren Lübbke (Camera Austria, Graz)

Redaktion: Klaus Nellen (Wien)

Redaktionsassistenz: Anna Müller und Miriam Schmitthenner

Redaktionskomitee: Peter Demetz (New Haven), Timothy Garton Ash (Oxford),

Jacqueline Hénard (Paris), Tony Judt (New York), Cornelia Klinger (Wien), Janos Matyas Kovacs (Budapest/Wien), Claus Leggewie (Gießen), Jacques Rupnik (Paris), Aleksander Smolar (Warschau/Paris)

Beirat: Elemer Hankiss (Budapest), Petr Pithart (Prag), Fritz Stern (New York)

Redaktionsanschrift: Transit, Institut für die Wissenschaften vom Menschen,

Spittelauer Lände 3, A-1090 Wien, Telefon (+431) 31358-0, Fax (+431) 31358-30, E-mail: transit@iwm.at

Website Transit und Tr@nsit online: www.iwm.at/transit

Verlagsanschrift: Verlag Neue Kritik, Kettenhofweg 53, D-60325 Frankfurt/

Main, Telefon (069) 72 75 76, Fax (069) 72 65 85, E-mail: verlag@neuekritik.de

 

ISSN 0938-2062 / 978-3-8015-0553-0 (epub) / 978-3-8015-0554-7 (mobi) (2017)

 

© 2010 für sämtliche Texte und deren Übersetzungen Transit / IWM

 

 

 

 

Transit 39 (Sommer 2010)

 

Den Säkularismus neu denken

Religion und Politik in Zeiten der Globalisierung

 

Editorial

 

Charles Taylor

Für einen neuen Säkularismus

Zur Einführung

 

José Casanova

Säkularismus – Ideologie oder Staatskunst?

 

Jean Baubérot

Säkularismus und Laizität

 

David Martin

Religiöse Antworten auf Formen des Säkularismus

 

Craig Calhoun

Säkularismus: eine kritische Bestandsaufnahme

 

Tariq Modood

Säkularismus, Religion als Identität und die Achtung der Religion

 

Rajeev Bhargava

Säkularer Staat und multireligiöse Gesellschaft

Vom indischen Modell lernen

 

Souleymane Bachir Diagne

Das säkulare Zeitalter und die Welt des Islam

Senegals Sonderweg

 

Faisal Devji

Liebe deinen Feind

Militante Visionen des Westens

 

Dipesh Chakrabarty

Moderne und Säkularismus im Westen

Ein Blick von außen

(über Ein säkulares Zeitalter von Charles Taylor)

Zu den Autorinnen und Autoren

 

Marika Asatiani

Georgien: Bilder vom Alltag

Photoessay

Editorial

Säkularisierung galt lange als unvermeidliche Begleiterscheinung der Modernisierung. Sie wurde als Fortschritt wahrgenommen, der die Religion nach und nach durch Vernunft ersetzt, und Europa verstand sich als Avantgarde dieses Prozesses. Inzwischen scheint es, als hätte der Alte Kontinent einen Sonderweg eingeschlagen, während ringsherum die Religion keineswegs abstirbt, sondern gedeiht, in hochindustrialisierten Gesellschaften ebenso wie in der Dritten Welt. Und daheim sehen sich die Europäer heute einer wachsenden Zahl von Menschen gegenüber, die aus Gesellschaften zugewandert sind, in denen der Religion eine hohe Bedeutung zukommt.

Diese Entwicklung hat sich unter den Bedingungen der Globalisierung beschleunigt und geht einher mit einem Wandel in der Wahrnehmung der Säkularisierung: Bilden, so fragen kritische Stimmen, ihre Prinzipien nicht ihrerseits eine Ideologie? Ist der Säkularismus nicht selbst zu einem quasi- religiösen Dogma geworden? Und hat das Christentum nicht unsere säkulare Moderne zutiefst geprägt? Tragen die eingesessenen Religionen nicht längst schon zum Zusammenhalt unserer Gesellschaften bei? Und könnten die zugewanderten Religionen nicht helfen, die neue Vielfalt zu bewältigen? Würden wir also unser Gemeinwesen nicht irreparabel beschädigen, wenn wir ihm die Religion vollends austrieben? Es scheint an der Zeit, den Säkularismus neu zu denken – sowohl, um der wachsenden Komplexität unserer Gesellschaften gerecht zu werden, als auch, um unser Selbstverständnis als Europäer zu überprüfen. Die hier vorgestellten Autoren wollen dazu einen Beitrag leisten.

Zweifellos ist Säkularisierung als politisches Prinzip eine Errungenschaft, das Produkt bitterer Erfahrungen. Geschichte und Gegenwart zeigen, dass Religion die Gesellschaft spalten kann, oft mit verheerenden Folgen. Die Argumentationen in diesem Heft können gelesen werden als ein Plädoyer für einen relektierten, offenen Säkularismus, der aus den Erfahrungen sowohl der eigenen Geschichte als auch der anderer Gesellschaften lernt, einen Säkularismus, der auf der Trennung von Staat und Religion beharrt, nicht aber die Ausgrenzung der Religion betreibt. Begleitet werden diese Überlegungen von Versuchen zu einer kritischen Rekonstruktion des Begriffsfelds »Säkularisierung / Säkularismus« und zur Freilegung seiner historischen Wurzeln. Untersucht werden auch Säkularismusmodelle anderer politischer Kulturen, die ein neues Licht auf die westlichen Traditionen der Trennung von Religion und Staat werfen.

Der Wandel in der Entwicklung und im Verständnis der Säkularisierung hat sich in den letzten Jahren in kontroverse Debatten um eine Neubestimmung des Orts der Religion in der modernen Gesellschaft niedergeschlagen. Ausschnitte davon finden sich in einer Reihe von Aufsätzen, die in dieser Zeitschrift seit 1994 erschienen sind und auch in Buchform veröffentlicht wurden.1 Die Beiträge in der vorliegenden Ausgabe von Transit sind aus dem 2008 am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) eingerichteten transdisziplinären Forschungsschwerpunkt Religion und Säkularismus hervorgegangen, der von dem kanadischen Philosophen Charles Taylor geleitet wird.2 Er hat seine Thesen jüngst in dem vielbeachteten Werk Ein säkulares Zeitalter zur Diskussion gestellt.3 In seinem das Heft einleitenden Essay nimmt Taylor diese Thesen auf und entwickelt sie weiter.

Der photographische Essay zu dieser Ausgabe kommt von einer jungen Photographin aus Georgien, deren Beobachtungen des Alltags zwischen Tradition und brachialer Modernisierung eine irritierende Poesie zutage treten lassen.

Wien, im Mai 2010

 

 

 


1 Die in den letzten Jahren in Transit erschienen Aufsätze zu Religion und Politik erschienen in: Krzysztof Michalski (Hg.), Conditions of European Solidarity, Bd. 2: Religion in the New Europe, Budapest/New York (Central European University Press) 2006, und ders. (Hg.), Wie christlich ist Europa?, Wien (Passagen Verlag) 2007. Die Beiträge zu Transit 8, Das Europa der Religionen (1994), wurden unter demselben Titel und ergänzt um weitere Texte von Otto Kallscheuer bei S. Fischer, Frankfurt a.M. 1996, herausgegeben. Weitere Beiträge zum Thema finden sich fortlaufend in der elektronischen Schwesterzeitschrift Tr@nsit_online (www.iwm.at/transit_online) sowie in Eurozine, Themenschwerpunkt Post-secular Europe (www.eurozine.com/comp/focalpoints/postseceurope.html).

2 Mehr zu diesem Forschungsschwerpunkt unter www.iwm.at/secularism.

3 Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 2009; A Secular Age, Harvard University Press 2007.

Charles Taylor

FÜR EINEN NEUEN SÄKULARISMUS*

Zur Einführung

 

I.

Darüber, dass moderne Demokratien »säkular« zu sein haben, herrscht allgemeine Einigkeit. Zugleich ist der Begriff problematisch und ethnozentrisch geprägt. Nicht einmal im westlichen Kontext scheint er klar, ja, er kann irreführend sein. Was bedeutet »säkular« eigentlich? Meiner Meinung nach gibt es zumindest zwei Modelle für das, was sich als säkulare Ordnung bezeichnen lässt.

Beide Modelle schließen eine Form der Trennung von Kirche und Staat ein. Der Staat darf nicht offiziell mit einer bestimmten religiösen Glaubensrichtung verknüpft sein, höchstens in einer rudimentären und weitgehend symbolischen Form, wie das in England oder in Skandinavien der Fall ist. Aber Säkularismus erfordert mehr als dies. Der gesellschaftliche Pluralismus verlangt ein Modell »prinzipiengeleiteter Distanz«, um einen Ausdruck von Rajeev Bhargava zu verwenden.1

Schauen wir uns den Begriff Säkularismus genauer an, so beinhaltet er eine komplexe Reihe von Anforderungen. Hier geht es um mehr als nur einen Wert. Wir können drei ausmachen, die sich der Parole der Französischen Revolution zuordnen lassen – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Freiheit: Niemand darf im Bereich der Religion oder des Glaubens einem Zwang unterworfen werden. Dies wird gemeinhin als Religionsfreiheit definiert, die natürlich auch die Freiheit zum Unglauben einschließt. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von »freier Religionsausübung«, eine Formulierung, die sich beispielsweise im ersten Zusatzartikel der Verfassung der Vereinigten Staaten findet. Gleichheit: Zwischen Menschen unterschiedlichen Glaubens oder unterschiedlicher Weltanschauung muss Gleichberechtigung herrschen; keine religiöse Sichtweise oder (religiöse oder nichtreligiöse) Weltanschauung hat Anspruch auf eine Vorzugsstellung, geschweige denn darauf, zur Staatsdoktrin erhoben zu werden. Brüderlichkeit (im weiteren Sinne): Alle spirituellen Richtungen müssen Gehör finden und in den Prozess eingebunden werden, in dem darüber entschieden wird, worum es der betreffenden Gesellschaft geht (worin ihre politische Identität besteht) und wie sie ihre Vorgaben in die Tat umsetzt (wie genau ihr System aus Rechten und Vorrechten beschaffen ist).

Diese Ziele können natürlich in Konlikt miteinander stehen; manchmal müssen die Werte, um die es geht, ins Gleichgewicht gebracht werden. Außerdem ließe sich meines Erachtens eine vierte Zielsetzung hinzufügen: das Bemühen, für möglichst harmonische und einvernehmliche Beziehungen zwischen den Anhängern unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen zu sorgen (vielleicht wäre es dieses Vierte, das eigentlich unter die Rubrik »Brüderlichkeit« fiele; aber ich hänge an der obigen klaren Einteilung mit ihren drei herkömmlichen Wertvorstellungen).

Für die eine oder andere Definition von Säkularismus scheint in Anspruch genommen zu werden, sie biete die Gewähr für eine Verwirklichung jener Zielsetzungen nach zeitlos gültigen Prinzipien und dafür, dass es keiner weiteren Vermittlungs- oder Anpassungsleistung bedürfe, um sie für unsere heutige Gesellschaft tauglich zu machen. Die Grundlage für diese Prinzipien sei in der bloßen Vernunft beziehungsweise in einer von aller Religion freien, uneingeschränkt »laizistischen« Einstellung zu finden. Die Jakobiner dachten so oder auch Rawls in seiner frühen Zeit. Das Problem dabei ist, dass es a) keine solchen zeitlosen Prinzipien gibt, die sich durch bloße Vernunft bestimmen ließen, jedenfalls nicht in der für ein empirisches politisches System nötigen Komplexität, und dass b) Situationen sehr stark voneinander abweichen und verschiedener Formen der Konkretisierung anerkannter allgemeiner Prinzipien bedürfen. Eine gewisse Anstrengung zur Anpassung ist also stets vonnöten. Daraus folgt, dass es c) gegen die Brüderlichkeit verstößt, wenn eine vorgeblich höhere Autorität Prinzipien verfügt, weil dadurch bestimmte spirituelle Richtungen daran gehindert werden, sich an dieser Anstrengung zu beteiligen. Und deshalb finden wir uns d) häufig mit schwierigen Konlikten und Dilemmata zwischen unseren grundlegenden Zielsetzungen konfrontiert.

Ein gutes Beispiel für b) liefern uns Probleme mit dem Säkularismus, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten in verschiedenen westlichen Ländern aufgrund von Veränderungen in der konfessionellen Zusammensetzung ihrer Gesellschaften ergeben haben. Wenn sich die Palette der Religionen oder der philosophischen Grundeinstellungen erweitert, wie etwa heute in Europa oder Amerika durch den Zuzug starker muslimischer Gemeinschaften, dann entsteht zwangsläufig Anpassungsbedarf.

Den Punkt c) illustriert das jüngst in Frankreich gesetzlich verfügte Verbot, in Schulen das muslimische Kopftuch zu tragen. Normalerweise müsste so etwas auf dem Verhandlungsweg entschieden werden. Das Gastland sieht sich oft gezwungen, eine doppelte Botschaft zu senden, das heißt eine religiöse Gruppe einerseits wissen zu lassen, dass sie dieses oder jenes (Schriftsteller wegen Gotteslästerung umbringen, Zwangsverheiratung praktizieren) hier nicht tun darf, und sie andererseits einzuladen, sich am Konsensbildungsprozess zu beteiligen. Im Zweifelsfall laufen diese beiden Botschaften einander zuwider: Die erste behindert die zweite und mindert deren Glaubwürdigkeit. Umso wichtiger ist es, die einseitige Anwendung der ersten Botschaft soweit wie möglich zu vermeiden. Das ist natürlich manchmal schwierig, denn bestimmte grundlegende Gesetze stehen nicht zur Disposition. Aber Prinzip sollte sein, dass religiöse Gruppen so weit wie möglich als Gesprächspartner und so wenig wie möglich als Bedrohung angesehen werden.

Diese Gruppen durchlaufen auch eine Entwicklung, wenn sie in einem demokratischen, liberalen Zusammenhang einem derartigen Neubestimmungsprozess ausgesetzt sind. José Casanova hat darauf aufmerksam gemacht, wie sehr der Katholizismus in Amerika noch im 19. Jahrhundert als mit demokratischen Geplogenheiten unvereinbar galt, ganz ähnlich dem Misstrauen, mit dem heutigentags die Menschen dem Islam begegnen. Die Geschichte hat gezeigt, wie sich der amerikanische Katholizismus in der Folge entwickelte und dabei in wichtigen Punkten den Katholizismus weltweit veränderte. Es gibt keinen Grund, weshalb sich nicht auch in den muslimischen Gemeinschaften eine ähnliche Entwicklung vollziehen könnte.2 Wenn es nicht zu ihr kommt, dann aller Wahrscheinlichkeit nach nur deshalb, weil die Voreingenommenheit triumphiert und es an einer guten Politik fehlt.

Meiner Ansicht nach besteht eine wesentliche Schwierigkeit bei unserem Umgang mit diesen Fragen darin, dass wir ein falsches Modell zugrunde legen, das nach wie vor unser Denken beherrscht. Wir meinen, dass sich Säkularismus (oder laïcité) um das Verhältnis zwischen Staat und Religion drehe, während es dabei doch tatsächlich um die (richtige) Antwort des demokratischen Staats auf Vielfalt geht. Wenn wir uns die oben genannten drei Zielsetzungen anschauen, so sind sie übereinstimmend darauf gerichtet, 1) die Menschen in ihrer Einstellung zur Welt zu schützen, für die sie sich entschieden haben bzw. mit der sie aufgewachsen sind, gleich, wie diese Einstellung beschaffen sein mag, 2) den Menschen eine von ihrer Einstellung unabhängige Gleichbehandlung angedeihen zu lassen und 3) ihnen allen Gehör zu verschaffen. Es gibt keinen Grund, der Religion eine von nichtreligiösen, »säkularen« oder atheistischen Standpunkten abgehobene Sonderstellung zuzuweisen.

Tatsächlich liegt der Sinn staatlicher Neutralität genau darin, jegliche Bevorzugung oder Benachteiligung nicht nur religiöser Bekenntnisse, sondern überhaupt jeder Weltanschauung, sei sie religiöser oder nichtreligiöser Natur, zu vermeiden. Wir dürfen die christliche Religion nicht gegenüber dem Islam begünstigen, ebenso wenig wie den religiösen Glauben gegenüber dem Unglauben oder umgekehrt.

Die Überlegenheit des die genannten drei Prinzipien umfassenden Modells gegenüber einem auf die Religion fixierten erhellt unter anderem daraus, dass es das von Atatürk begründete Regime niemals als authentisch säkular missverstehen würde, da es sich über diese Prinzipien und sogar über die Trennung staatlicher und religiöser Einrichtungen hinwegsetzt.

Hier wird auch der Wert der vom späten Rawls formulierten Bedingungen für einen säkularen Staat deutlich. Rawls legt dabei großes Gewicht auf bestimmte politische Prinzipien: Menschenrechte, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie. Diese Prinzipien bilden das tragende Fundament des Staats, der sie zu seiner Sache machen muss. Diese politische Ethik aber kann von Menschen mit ganz unterschiedlichen Einstellungen zur Welt (Rawls spricht von »umfassenden Vorstellungen des Guten«) vertreten werden. Ein Kantianer wird das Recht auf Leben und Freiheit mit dem Verweis auf die Würde vernünftigen Handelns begründen. Ein Utilitarist wird von der Notwendigkeit sprechen, Lebewesen, die Freude und Leid erfahren können, so zu behandeln, dass ihnen möglichst viel von ersterer und möglichst wenig von letzterem zuteil werde. Ein Christ wird geltend machen, dass die Menschen nach dem Bilde Gottes geschaffen seien. Alle stimmen sie in den genannten ethischen Prinzipien überein, so verschieden die tieferen Beweggründe auch sein mögen, aus denen sie sich zu ihnen bekennen. Der Staat muss diese Ethik verteidigen, darf aber keinem der Beweggründe, aus denen sie sich speist, den Vorzug vor den anderen geben.

 

II.

Die Idee, dass der Säkularismus auf die Religion gemünzt sei, geht auf seine Entstehungsgeschichte in den westlichen Gesellschaften zurück (was übrigens auch für den Namen selbst gilt). Kurz gesagt, gibt es zwei wichtige Gründungskontexte – den amerikanischen und den französischen. Im Falle der USA handelte es sich bei der gesamten Palette umfassender Vorstellungen bzw. tieferer Beweggründe um Spielarten des (protestantischen) christlichen Glaubens, mit einigen zusätzlichen deistischen Einsprengseln. In der historischen Folge erweiterte sich dann die Palette der Weltsichten über die christliche Religion hinaus und schließlich auch über Religion als solche. Ursprünglich aber waren alle Positionen, zwischen denen der Staat Neutralität wahren musste, religiöser Natur. Daher der erste Zusatzartikel der Verfassung, durch den der Kongress sich verplichtet, kein Gesetz zu erlassen, das eine Staatsreligion einführt oder die freie Religionsausübung verbietet.

Das Wort »Säkularismus« wurde in den ersten Jahrzehnten des öffentlichen Lebens in Amerika nicht verwendet. Das aber hieß nur, dass man sich mit dem Problem noch nicht konfrontiert sah. Weil der erste Zusatzartikel auf die Trennung von Kirche und Staat abhob, eröffnete er die Möglichkeit, der Religion eine Stellung einzuräumen, die ihr heute niemand mehr zugestehen würde. So konnte in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts ein Richter am Obersten Bundesgericht die Ansicht vertreten, der erste Zusatzartikel verbiete zwar der Bundesregierung, sich mit irgendeiner bestimmten Glaubensrichtung zu identifizieren, aber da alle Glaubensrichtungen christliche seien (genauer gesagt, protestantische), dürfe man die Grundsätze der christlichen Religion bei der Auslegung von Gesetzen heranziehen.

Für den Bundesrichter Joseph Story bestand die Intention des ersten Zusatzartikels darin, »alle Rivalität zwischen den christlichen Religionsgemeinschaften auszuschließen«. Dessen ungeachtet habe »das Christentum Anspruch auf Förderung von staatlicher Seite«.3 Es sei lebenswichtig für den Staat, weil der Glaube an »künftige Belohnungen und Strafen (…) für die Rechtsausübung unentbehrlich« sei. Darüber hinaus könnten »diejenigen, die an die Wahrheit des Christentums als göttlicher Offenbarung glauben, unmöglich daran zweifeln, dass es die erklärte Plicht der Regierung ist, ihr unter den Bürgern des Staates Geltung zu verschaffen und Förderung angedeihen zu lassen«.

Dieser Vorrang der christlichen Religion blieb bis ins späte 19. Jahrhundert erhalten. Noch 1890 erkannten 37 der damals 42 Bundesstaaten in den Präambeln ihrer Verfassungen Gott als Autorität an. Ein einstimmiges Urteil des Obersten Bundesgerichts von 1892 stellte fest, dass »wir im amerikanischen Leben, wie es sich in seinen Gesetzen, seiner Wirtschaft, seinen Sitten und seiner Gesellschaft bekundet, ein und dieselbe Wahrheit anerkannt finden (…) dass dies eine christliche Nation ist«.4 Im zweiten Teil des Jahrhunderts begann sich Widerstand gegen diese Ansicht zu formieren. Dennoch wurde im Jahr 1863 eine National Reform Association gegründet, die sich Folgendes auf die Fahnen schrieb:

Ziel dieser Gesellschaft ist die Bewahrung vorhandener christlicher Prägungen des amerikanischen Staatswesens (…), um eine Ausgestaltung der Verfassung der Vereinigten Staaten zu erreichen, die sicherstellt, dass die Nation in der Nachfolge Jesu Christi steht und sich die moralischen Gebote der christlichen Religion zu eigen macht, und um auf solche Weise zu bekunden, dass dies eine christliche Nation ist, und alle christlichen Gebote, Einrichtungen und Gebräuche unseres Staats im Grundgesetz unseres Landes unanfechtbar zu verankern.5

Nach 1870 sahen sich die Anhänger dieser engen Sichtweise mit Verfechtern einer echten Öffnung gegenüber allen anderen Religionen wie auch gegenüber den Nichtreligiösen konfrontiert. Dazu zählten nicht nur Juden, sondern auch Katholiken, die (zu Recht) meinten, das »Christentum« der National Reform Association schließe sie aus. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung tauchte erstmals das Wort »säkular« als ein Schlüsselbegriff in der amerikanischen Öffentlichkeit auf, wobei es häu- fig in der polemischen Bedeutung von »nichtreligiös« oder »antireligiös« gebraucht wurde.6

Im Fall Frankreichs entwickelte sich die laïcité aus dem Kampf gegen eine machtvolle Kirche. Für den Staat selbst lag darin die große Versuchung, sich auf eine von der Religion unabhängige moralische Basis zu stellen. Marcel Gauchet zeigt, wie Renouvier den Radikalen der Dritten Republik die Grundlage für ihren Kampf gegen die Kirche lieferte. Der Staat müsse »moralisch und belehrend« sein. Er habe »geradeso wie die gesamte Kirche oder Gemeinschaft eine seelsorgerische Aufgabe, nur mit universellerem Recht«. Moralität ist das entscheidende Kriterium. Um nicht der Kirche unterworfen zu sein, müsse der Staat über eine »von jeglicher Religion unabhängige Moral« verfügen und eine »moralische Überlegenheit« gegenüber sämtlichen Religionen geltend machen können. Grundlage dieser Moral sei die Freiheit. Um sich gegenüber der Religion behaupten zu können, müsse sich die dem Staat zugrunde liegende Moral auf mehr als nur Nützlichkeit oder Gefühle stützen; sie brauche eine wirkliche »Vernunfttheologie« wie die Immanuel Kants.7 Die Klugheit eines Jules Ferry und später eines Aristide Briand und eines Jean Jaurès bewahrte Frankreich in der Zeit der Trennung von Kirche und Staat (1905) vor einem derart einseitigen Regime, aber die Vorstellung, dass es bei der laïcité einzig und allein darum gehe, die Religion in Schranken zu halten und unter Kuratel zu stellen, setzte sich in den Köpfen fest.

Wenn wir indes diese Gründungszusammenhänge hinter uns lassen und uns Gesellschaften von der Art anschauen, wie sie heute im Westen unser Lebensmilieu bilden, dann ist das Erste, was uns in die Augen sticht, die breite Vielfalt nicht nur der religiösen Anschauungen, sondern auch jener Weltsichten, bei denen die Religion keine Rolle spielt, ganz zu schweigen von denjenigen, die sich weder der einen noch der anderen Rubrik zuordnen lassen. Die oben genannten drei Zielsetzungen verlangen von uns eine Gleichbehandlung all dieser Sichtweisen.

 

III.

Die Fixierung auf die Religion ist ein komplexes Phänomen, welches verknüpft ist mit zwei anderen Eigentümlichkeiten, die wir in den Säkularismusdebatten häufig antreffen: Da ist zum einen die Tendenz, den Säkularismus oder die laïcité als institutionelles Arrangement zu bestimmen, statt von den oben vorgeschlagenen Zielsetzungen auszugehen. Und so kommt es, dass häufig gebetsmühlenartig die »Trennung von Kirche und Staat« beschworen wird oder die Notwendigkeit, die Religion aus dem öffentlichen Raum zu verbannen (in der jüngsten Debatte in Frankreich ist von »les espaces de la République« die Rede). Die zweite Eigentümlichkeit folgt aus der ersten. Wenn die ganze Problematik sich auf eine einzige institutionelle Formel bringen lässt, dann muss man nur noch bestimmen, welche Vorkehrungen dieser Formel am besten gerecht werden. Man gerät nicht in Dilemmata, wie dies leicht geschehen kann, wenn man mehr als ein Ziel verfolgt, weil man ja eine Zauberformel besitzt. Mit ihr lässt sich treflich jedes Argument abschneiden. In den USA beruft man sich auf die »Trennwand« als allentscheidendes Kriterium, und in Frankreich ist für die Hyperrepublikaner die laïcité das letzte Wort.

Diese Praxis läuft auf eine Fetischisierung der bestehenden Arrangements hinaus. Dagegen sollte man doch von den Zielsetzungen ausgehen und aus ihnen die konkreten institutionellen Lösungen ableiten. Damit will ich nicht abstreiten, dass ein gewisses Maß an Trennung von Kirche und Staat, eine gewisse wechselseitige Unabhängigkeit der staatlichen und religiösen Einrichtungen ein unabdingbares Merkmal jeder säkularistischen Ordnung ist. Das Gleiche gilt für die Neutralität der staatlichen Einrichtungen. Doch die praktische Umsetzung dieser Erfordernisse ist davon abhängig zu machen, wie sich unsere drei grundlegenden Ziele am besten verwirklichen lassen.

Nehmen wir zum Beispiel die Frage, ob muslimische Mädchen in öffentlichen Schulen ein Kopftuch tragen dürfen – ein heftig umstrittener Punkt in einer Reihe von westlichen Demokratien. Dass in Frankreich den Schülerinnen an staatlichen Schulen das Tragen des Kopftuchs als »demonstrative religiöse Geste« durch die loi Stasi von 2004 verboten wurde, erregte allgemein große Aufmerksamkeit. In einigen deutschen Bundesländern dürfen Schülerinnen das Kopftuch tragen, nicht aber Lehrerinnen. In Großbritannien und anderen Ländern gibt es kein generelles Verbot; die Entscheidung bleibt den einzelnen Schulen überlassen.

Was sind die Gründe für diese unterschiedlichen Regelungen? Unschwer erkennbar ging es in all diesen Fällen dem Gesetzgeber bzw. den Behörden darum, zwei Zielsetzungen miteinander in Einklang zu bringen. Das erste Ziel ist die Aufrechterhaltung der Neutralität staatlicher Einrichtungen, die (zu Recht) als wesentliche Implikation von Prinzip 2) gilt: der Gleichheit aller Glaubensrichtungen. Beim zweiten Ziel handelt es sich um Prinzip 1), die Gewährleistung eines Maximums an Religionsfreiheit bzw., allgemeiner gefasst, Gewissensfreiheit. Das erste Ziel scheint für eine uneingeschränkte Zulassung des Kopftuchs zu sprechen. Aber im Falle Frankreichs und Deutschlands wurden verschiedene Einwände dagegen geltend gemacht, die nach Ansicht der Beteiligten schwerer wogen. Die deutschen Behörden stießen sich daran, dass sich Personen mit staatlich sanktionierter Macht in einer öffentlichen Einrichtung als religiös zu erkennen geben. Im Falle Frankreichs wurde die Behauptung in Zweifel gezogen, dass es sich beim Tragen des Kopftuchs um eine freie persönliche Entscheidung handele. Es wurde suggeriert, die Mädchen würden von ihren Familien oder von ihren männlichen Altersgenossen zu diesem dress code gezwungen. Dieses Argument wurde immer wieder vorgebracht, so zweifelhaft es auch angesichts der unter den Schülerinnen selbst durchgeführten und von der Stasi-Kommission weitgehend unbeachtet gelassenen soziologischen Erhebungen anmuten mag. Einer anderen Überlegung zufolge handelt es sich beim Tragen des Kopftuchs in der Schule weniger um ein Bekenntnis zur Religion als um einen Ausdruck von Feindseligkeit gegenüber der Republik und ihrem Prinzip der laïcité. Das ist es, was hinter der Rede von einer »demonstrativen Geste« steckt, denn ein kleineres, unauffälligeres Zeichen wäre kein Problem gewesen, erklärte die Stasi-Kommission, aber diese Aufmerksamkeit erregende Kleidung sei als eine ausdrückliche Kampfansage gedacht. Vergebens beteuerten die muslimischen Frauen, das Seidentuch sei kein Fanal.

Einerseits können wir also sehen, dass diese unterschiedlichen Antworten der beiden Nationen auf das gleiche Problem Ausdruck der jeweiligen Art und Weise sind, in der versucht wird, die beiden Hauptziele einer säkularen Staatsordnung miteinander in Einklang zu bringen. Andererseits aber bleiben das Dilemma und seine Lösungen kaschiert hinter der Illusion, dass es hier nur ein einziges Prinzip gebe, nämlich die laïcité und die von ihr untrennbare Neutralität der staatlichen Einrichtungen bzw. des öffentlichen Raums. Es geht hier also nur darum, ein Grundprinzip der republikanischen Ordnung zur Geltung zu bringen; sich zwischen Optionen zu entscheiden oder Zielsetzungen gegeneinander abzuwägen, ist weder erforderlich noch am Platze.

Das Gefährlichste an dieser Fetischisierung ist vielleicht, dass sie uns den Blick auf die wirklichen Dilemmata verstellt, auf die wir in diesem Bereich treffen und die ins Auge springen, sobald wir die Vielfalt der Prinzipien anerkennen, die hier im Spiel sind.

 

 

IV.

Die Fetischisierung überkommener säkularer Ordnungen spiegelt einen Grundzug des Lebens unter den Bedingungen moderner Demokratien wider. Um dies besser zu verstehen, müssen wir auf das Prinzip der Selbstregierung zurückgehen, auf die Legitimation des Staats kraft Volkssouveränität. Damit nämlich das Volk souverän sein kann, muss es eine Entität bilden und über eine Persönlichkeit verfügen.

Die Revolutionen, die der Volkssouveränität Bahn brachen, übertrugen die Herrschaft von einem König auf eine »Nation« oder ein »Volk« und schufen damit ein neues kollektives Subjekt. Diese Begriffe existierten bereits, aber die Bedeutung, die sie jetzt annahmen, war bis dahin unbekannt, jedenfalls im Kontext des neuzeitlichen Europa. So ließ sich etwa der Begriff »Volk« zwar auf die Gesamtheit der Untertanen des Königreichs oder auf die nicht zur Elite gehörenden Bevölkerungsgruppen anwenden, doch eine Entität, die gemeinsam entscheiden und handeln, der man einen Willen zuschreiben konnte, hatte er in der vorrevolutionären Zeit nicht bezeichnet.

Damit freilich Menschen gemeinsam handeln, mit anderen Worten, sich beraten können, um einen gemeinsamen Willen zu bilden, der ihnen als Grundlage für ihr Handeln dient, braucht es ein hohes Maß an Engagement, an Gemeinschaftssinn. Eine Gesellschaft dieser Art setzt Vertrauen voraus, das grundlegende Vertrauen, das ihre Mitglieder und konstituierenden Gruppen haben müssen, die Gewissheit, dass sie tatsächlich Mitwirkende sind, dass sie Gehör finden und dass ihre Ansichten von den jeweils anderen ernst genommen werden. Ohne diese wechselseitige Verplichtung käme es zu einem fatalen Vertrauensschwund.

Und so verfügen wir also im modernen Zeitalter über eine neue Art von Kollektivsubjekt, mit dem sich die Mitglieder der Gesellschaft identifizieren, weil es der Verwirklichung und dem Schutz ihrer Freiheit und dem Ausdruck ihres jeweiligen nationalen bzw. kulturellen Selbst dient. Natürlich identifizierten sich auch in vormodernen Gesellschaften die Menschen oft mit ihrer Herrschaft, mit heiligen Königen oder hierarchischen Ordnungen. Sie waren oft willige Untertanen. Im demokratischen Zeitalter indes vollziehen wir diese Identifikation als freie Subjekte. Deshalb spielt die Idee vom Volkswillen eine entscheidende Rolle bei der Legitimationsfrage.8

Dies bedeutet, dass der moderne demokratische Staat gemeinsame Zielsetzungen oder Bezugspunkte gelten lässt, kraft deren er den Anspruch erheben kann, Bollwerk der Freiheit seiner Bürger und zugleich deren Ausdrucksorgan zu sein. Gleich, ob dieser Anspruch tatsächlich begründet ist, der Staat muss sich um seiner Legitimität willen seinen Bürgern auf diese Weise darbieten.

Für den modernen Staat kann sich demnach eine Fragestellung ergeben, für die sich in den meisten vormodernen Staatsformen nichts Vergleichbares findet: Wofür bzw. für wen ist dieser Staat da? Wessen Freiheit bewahrt er? Wem dient er als Ausdrucksmittel? Angewandt auf die Donaumonarchie oder das Osmanische Reich ergibt diese Frage offensichtlich keinen Sinn – es sei denn, man beantwortet das »Für wen?« mit dem Verweis auf die Herrscherhäuser der Habsburger oder der Osmanen, was freilich wenig mit den Legitimationsquellen jener Reiche zu tun hat.

In diesem Sinne verfügt der moderne Staat über eine, wie ich es nennen möchte, politische Identität, bestehend in der gesellschaftsweit akzeptierten Antwort auf die Frage nach dem Wofür bzw. Für wen. Diese Identität unterscheidet sich von der individuellen Identität der Mitglieder der Gesellschaft, sprich, von den ebenso vielfältigen wie zahlreichen Bezugspunkten, die für die Einzelnen bestimmen, worum sich ihr Leben dreht. Natürlich ist es wünschenswert, dass sich beide Bestimmungen überlappen, weil das die Voraussetzung dafür bildet, dass sich der Einzelne nachdrücklich mit seinem Staat identifiziert. Aber die besondere Identität der Einzelnen und der die Gesellschaft konstituierenden Gruppen ist reichhaltiger und vielschichtiger und weist oft auch große Unterschiede auf.9

Mit anderen Worten, ein moderner demokratischer Staat erfordert ein »Volk« mit starker kollektiver Identität. Die Demokratie verplichtet uns zu viel mehr Solidarität und zu einem viel stärkeren wechselseitigen Engagement für das gemeinsame politische Unternehmen, als von den auf hierarchische Ordnung und Unterwerfung gegründeten Gesellschaften früherer Zeiten verlangt wurde. In den guten alten Zeiten Österreich- Ungarns konnten dem polnischen Bauern in Galizien der ungarische Gutsbesitzer, der Prager Bürger und der Arbeiter in Wien völlig gleichgültig sein, ohne dass die Stabilität des Staates im Mindesten darunter litt. Das Gegenteil war der Fall. Dieser Zustand wird erst in dem Augenblick unhaltbar, in dem Vorstellungen von einer Herrschaft des Volkes um sich greifen. Sobald dies geschieht, beginnen Gruppen, die keine engen Verbindungen untereinander eingehen können oder wollen, einen eigenen Staat zu fordern. Das ist die Ära des Nationalismus und des Zusammenbruchs der Reiche.

Moderne demokratische Staaten sind also auf eine starke politische Identität angewiesen, die sich als Volk konstituiert. Für diese Identität gibt es offensichtlich eine Reihe weiterer Gründe. Denker, die in der republikanisch-humanistischen Tradition stehen, angefangen von Aristoteles bis hin zu Hannah Arendt, haben darauf hingewiesen, dass freie Gesellschaften ein höheres Maß an Engagement und Teilhabe erfordern als despotisch oder autoritär regierte. Hier müssen die Bürger für sich selbst leisten, was ihnen zuvor die Herrscher angedeihen ließen. Das aber geschieht nur, wenn die betreffenden Bürger sich mit ihrem politischen Gemeinwesen und also mit denen, die in diesem Punkte mit ihnen übereinstimmen, durch starke Bande verknüpft fühlen.

Freie Gesellschaften setzen auch deshalb ein hohes Maß an gegenseitigem Vertrauen voraus, weil eine Situation unerträglich wäre, in der die einen die Last des gemeinsamen Engagements und der Solidarität tragen, während den anderen nur die Früchte in den Schoß fallen. Solche Gesellschaften sind mit anderen Worten dadurch gefährdet, dass die einen den anderen misstrauen, weil sie sie im Verdacht haben, ihren Verplichtungen nicht nachzukommen – also etwa ihre Steuern nicht zu zahlen, das Sozialamt zu hintergehen oder als Arbeitgeber von günstigen Arbeitsmarktbedingungen zu profitieren, ohne zu den sozialen Kosten beizutragen. Diese Art von Misstrauen kann große Spannungen erzeugen und den sozialen Moralkodex aulösen, mit dessen Funktionieren demokratische Gesellschaften stehen und fallen.

Das Verhältnis zwischen Nation und Staat wird häufig als eine einseitige Beziehung betrachtet, nämlich so, als wäre es stets die Nation, die sich einen Staat schafft. Es gibt indes auch den gegenteiligen Prozess. Um lebensfähig zu bleiben, müssen sich Staaten manchmal um die Erzeugung eines Zusammengehörigkeitsgefühls bemühen. In der Geschichte Kanadas etwa spielt das eine wichtige Rolle.

Was ich als politische Identität bezeichne, ist also für moderne demokratische Staaten außerordentlich wichtig. Und gewöhnlich wird diese Identität einesteils durch gewisse Grundprinzipien (Demokratie, Menschenrechte, Gleichheit) definiert und andernteils an den historischen, sprachlichen oder auch religiösen Traditionen der betreffenden Gesellschaft festgemacht. Dass Bestandteile dieser Identität einen quasisakralen Charakter annehmen können, ist verständlich, weil ihre Veränderung oder Aushöhlung als gleichbedeutend mit einer Bedrohung jener Einheit betrachtet wird, ohne die ein demokratischer Staat seine Funktionsfähigkeit verliert.

Dies ist der Zusammenhang, in dem bestimmte institutionelle Arrangements als unantastbar erscheinen können. Sie können als wesentlicher Bestandteil der Grundprinzipien der gesellschaftlichen Ordnung gelten, aber gleichzeitig auch als Schlüsselelemente ihrer historischen Identität. Das kann man an der von vielen französischen »Republikanern« beschworenen laïcité beobachten. Die Ironie besteht darin, dass dieses Prinzip als Wesensmerkmal französischer Identität geltend gemacht wird in einer Zeit, da eine Politik multikultureller Identität gefordert ist. Dieses Beispiel illustriert, dass sich die heutigen Demokratien in dem Maße, wie sie an Vielfalt gewinnen, einer ebenso schmerzhaften wie weitreichenden Neubestimmung ihrer historischen Identität unterziehen müssen.

 

 

V.

An dieser Stelle möchte ich gern einen interessanten Punkt aufgreifen, den Habermas uns ins Gedächtnis gerufen hat, dass nämlich ursprünglich politische Macht ihre Rechtfertigung im Kosmisch-Religiösen fand. Sie definierte sich im Rahmen einer »politischen Theologie«: »In dieser symbolischen Dimension entsteht jene legitimationswirksame Legierung aus Politik und Religion, auf die sich der Begriff des Politischen bezieht.«10 Habermas scheint freilich der Ansicht, moderne säkulare Staaten könnten auf eine ähnlich geartete Vorstellung völlig verzichten. Diese Auffassung kann ich nicht ganz teilen.

Die entscheidende Entwicklung, die wir seit dem 17. Jahrhundert im neuzeitlichen Westen beobachten können und die uns den kosmischreligiösen Ordnungsvorstellungen entreißt, besteht in der Ausbildung einer neuen, von unten nach oben orientierten Sicht der Gesellschaft, der zufolge diese um des Schutzes und wechselseitigen Nutzens ihrer (gleichgestellten) Mitglieder existiert. Dieser Sicht haftet ein starkes normatives Moment an, weshalb ich von einer »modernen moralischen Ordnung« spreche.11Diese Ordnung beruht im Wesentlichen auf drei Prinzipien: 1) den Rechten und Freiheiten ihrer Mitglieder, 2) deren Gleichheit (die natürlich unterschiedlich interpretiert worden ist und sich im Laufe der Zeit in Richtung radikalerer Vorstellungen gewandelt hat) und 3) einer auf Konsens basierenden Machtausübung (welches Prinzip ebenfalls in mehr oder minder radikaler Form vertreten worden ist).

Diese grundlegenden Normen sind in einer Vielzahl verschiedener philosophischer Anthropologien herausgearbeitet worden, nach Maßgabe sehr unterschiedlicher Vorstellungen von der Vergesellschaftungsfähigkeit des Menschen. Der Atomismus, der die Perspektive ihrer ersten Verfechter wie etwa Locke und Hume noch einengte, wurde bald überschritten. Aber die Normen selbst sind geblieben und mit den modernen liberalen Demokratien mehr oder minder untrennbar verknüpft.

Der Verzicht auf eine kosmisch-religiöse Verankerung der Gesellschaft wurde also durch eine neue Konzeption des »Politischen« herbeigeführt, durch eine neue Grundnorm, die Lefort zufolge eine eigene Repräsentation politischer Macht vorsah, allerdings eine, bei der das Zentrum paradoxerweise leer bleibt. Wird die Idee der Souveränität beibehalten, so gibt es keine einzelne Person oder Gruppe, die sich mit ihr gleichsetzen lässt.

Demokratische Gesellschaften kreisen nicht unbedingt um eine »Zivilreligion«, wie Rousseau behauptet, aber mit Sicherheit um eine ausgeprägte »Philosophie der Zivilität«, in der die drei Normen aufgehoben sind, die in heutigen Gesellschaften unter den Begriffen Menschenrechte, Gleichheit und Freiheit von Diskriminierung sowie Demokratie erscheinen.

In bestimmten Fällen aber kann es eine Zivilreligion geben im Sinne einer religiösen Sicht, die der Verkörperung und Rechtfertigung der Philosophie der Zivilität dient. So hält die junge amerikanische Republik in ihrer Präambel zur Unabhängigkeitserklärung fest: »Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen wurden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt wurden, worunter Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit sind.« Die Zivilreligion kann auch umgekehrt Teil einer nichtreligiösen oder gar religionsfeindlichen Ideologie sein, wie im Falle der Ersten Französischen Republik. Man könnte behaupten, umfassende Sichtweisen dieser Art erschienen vielen unserer Zeitgenossen als das »Natürlichere«, denn offensichtlich verlangen die Prinzipien unserer Philosophie der Zivilität nach einer tieferen Begründung. Wenn es von so großer Wichtigkeit ist, dass wir in diesen Prinzipien übereinstimmen, dann befördert es ohne Frage die Stabilität des Ganzen, wenn wir auch darin übereinkommen, dass sie ein gemeinsames Fundament haben. Die jahrhundertealte Tradition des politischen Lebens scheint dies zu bezeugen.

Tatsächlich stellt ein überlappender Konsens zwischen unterschiedlichen Begründungen einer gemeinsamen Philosophie der Zivilität etwas Neues und vergleichsweise Unerprobtes in der Geschichte dar. Dementsprechend riskant ist er auch. Und außerdem hegen wir häufig den Verdacht, dass Menschen mit anderer weltanschaulicher Grundlage sich unsere Prinzipien nicht wirklich zu eigen machen können, wenigstens nicht so, wie wir das tun (weil, wie »man« weiß, »Atheisten prinzipienlos sind«, oder, wie »man« im anderen Lager weiß, »alle Religionen gegen Freiheit bzw. Gleichheit sind«).

Das Problem besteht darin, dass eine von Vielfalt geprägte Demokratie nicht mehr auf eine Zivilreligion oder auch Antireligion zurückgreifen kann, so beruhigend solch ein Rückgriff auch wäre, weil sie damit ihre eigenen Prinzipien verraten würde. Wir sind zu einem überlappenden Konsens verurteilt.

 

VI.

Wir haben gesehen, wie uns der starke Antrieb, unsere historisch tradierten Einrichtungen zu fetischisieren, daran hindern kann, unsere säkulare Ordnung konstruktiver wahrzunehmen, nämlich die Grundziele, die wir anstreben, in den Vordergrund zu rücken und die Dilemmata zu erkennen und zu relektieren, mit denen wir konfrontiert sind. Hier gibt es einen Zusammenhang mit der bereits erwähnten anderen Hauptursache unserer Desorientierung, nämlich unserer Fixierung auf die Religion als Problem. Tatsächlich sind wir in vielen westlichen Ländern aus der anfänglichen Phase, in der Säkularismus eine schwer erkämpfte Errungenschaft zur Abwehr bestimmter Formen religiöser Vorherrschaft war, in eine Phase übergewechselt, in der verschiedene Grundüberzeugungen in einer weitgespannten Vielfalt nebeneinander bestehen, seien sie religiöser oder areligiöser Natur. Dieser Situation können wir aber nur gerecht werden, wenn wir uns auf die Notwendigkeit konzentrieren, Gewissensfreiheit und wechselseitige Anerkennung miteinander ins Gleichgewicht zu bringen. Andernfalls riskieren wir, unter Berufung auf unsere historisch tradierten Arrangements, die religiöse Freiheit zugewanderter Minderheiten unnötig zu beschränken und ihnen zu signalisieren, dass von einer Gleichstellung mit der lang etablierten Mehrheit keine Rede sein könne. Denken wir an die Begründung, mit der deutsche Bundesländer Lehrerinnen untersagen, das Kopftuch zu tragen. Lehrer sind Autoritätspersonen, keine Frage. Aber wollen wir damit sagen, dass nur Menschen ohne solche Kennzeichen Autoritätspersonen sein können? Dass, wer sich durch die Ausübung der eigenen Religion von den anderen abhebt, in dieser Gesellschaft keine amtlichen Positionen bekleiden darf? Vielleicht übermittelt man damit Kindern in einer zunehmend vielfältigen Gesellschaft eine falsche Botschaft.