Cover

Transit wird herausgegeben am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien und erscheint im Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main

Herausgeber: Krzysztof Michalski (Wien/Boston)

Mitherausgeber des ersten Schwerpunkts: Timothy D. Snyder (Yale/Wien)

Redaktion: Klaus Nellen (Wien)

Redaktionsassistenz: Miriam Schmitthenner

Redaktionskomitee: Peter Demetz (New Haven), Timothy Garton Ash (Oxford), Jacqueline Hénard (Paris), Tony Judt (New York), Cornelia Klinger (Wien), Janos Matyas Kovacs (Budapest/Wien), Claus Leggewie (Gießen), Jacques Rupnik (Paris), Aleksander Smolar (Warschau/Paris), Josef Wais (Wien, Photographie)

Beirat: Lord Dahrendorf †, Elemer Hankiss (Budapest), Petr Pithart (Prag), Fritz Stern (New York)

Redaktionsanschrift: Transit, Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Spittelauer Lände 3, A-1090 Wien,

Telefon (+431) 31358-0, Fax (+431) 31358-30, E-mail: transit@iwm.at

Website Transit und Tr@nsit online: www.iwm.at/transit

Verlagsanschrift: Verlag Neue Kritik, Kettenhofweg 53, D-60325 Frankfurt/ Main, Telefon (069) 72 75 76, Fax (069) 72 65 85, E-mail: verlag@neuekritik.de

 

Wir danken der Kunstsektion des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur für die Förderung des photographischen Beitrags in diesem Heft.

 

ISSN 0938-2062 / ISBN 978-3-8015-0556-1 (epub) / ISBN 978-3-8015-0557-8 (mobi)

 

Bildnachweis Seite 184: LIFE-Titel vom 29. März 1943 (Photographie: Margaret BourkeWhite.

© Time & Life Pictures / Getty Images)

 

© 2009 für sämtliche Texte und deren Übersetzungen Transit / IWM

 

 

Transit 38 (Winter 2009)

 

Editorial

 

Vereintes Europa – geteilte Geschichte

 

Timothy Snyder

Der Holocaust: die ausgeblendete Realität

Zur Einführung

 

Hiroaki Kuromiya und Andrzej Pepłoński

Stalin und die Spionage

 

Lynne Viola

Die Selbstkolonisierung der Sowjetunion und der Gulag der 1930er Jahre

 

Alex J. Kay

»Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern«

Die deutsche Wirtschaftsplanung für die besetzte Sowjetunion und ihre Umsetzung 1941-1944

 

Mark Kramer

Die Konsolidierung des kommunistischen Blocks in Osteuropa 1944-1953

 

Wolfgang Mueller

Stalinismus und gesamteuropäisches Gedächtnis

Überlegungen am Beispiel Österreichs

 

 

*

 

 

Steve Sem-Sandberg

Die Ausstellung

 

Ulrich Schlie

»Es gibt ein Nachher, und in diesem ›Nachher‹ wird Ihnen eine grosse Aufgabe zufallen.«

Marion Gräfin Dönhoff und Carl Jacob Burckhardt in ihren frühen Briefen 1937-1946

 

Claus Offe

Postkommunistische Wohlfahrtsstaaten in der EU

Bilanz und Perspektiven

 

Ralf Dahrendorf

Freiheit und soziale Bindungen

 

 

*

 

 

Robert Silvers

Dilemmas eines Herausgebers

 

Zu den Autorinnen und Autoren

 

Chris Niedenthal

1989. Photographien

Editorial

 

 

Im Jahr der EU-Osterweiterung schrieb der amerikanische Historiker Timothy Snyder in dieser Zeitschrift: »Die Europäer müssen ihre Geschichte neu schreiben. Wenn diese neue Version Gültigkeit für den Osten wie den Westen besitzen soll, muss sie zwei Dingen Rechnung tragen: der Tatsache, dass das Zentrum des Leidens im Zweiten Weltkrieg im Osten lag und dass die Osteuropäer vier Jahrzehnte kommunistischer Unterjochung ertragen mussten, während deren die Westeuropäer sich der Früchte der europäischen Integration erfreuen durften. Eigentlich sollte es selbstverständlich sein, das ganze Gewicht von Nazi- und Sowjetterror anzuerkennen.«1 Dass wir nach wie vor noch weit davon entfernt sind, zeigen Snyders Essay, der das vorliegende Heft eröffnet, sowie die anschließenden Beiträge. Bis heute identifizieren wir das Grauen jener Zeiten mit Auschwitz und dem Gulag und übersehen daher, dass es Osteuropa war, das in dem Zeitraum zwischen 1933 und 1944 den Schauplatz für die nationalsozialistische und sowjetische Politik des Terrors abgab, dem an die zwölf Millionen Menschen zum Opfer fielen. Osteuropa bildete, so Snyder, »das geographische, moralische und politische Zentrum des Massenmordens«.

Snyders Neukartographierung der von den Regimen Hitlers und Stalins begangenen Verbrechen resümiert den Ansatz seines Forschungsprojekts Vereintes Europa – geteilte Geschichte, das er in Wien am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) verfolgt, dessen Mitglied er seit 2008 ist. Aus diesem Projekt sind auch die übrigen Beiträge des gleichnamigen Schwerpunkts dieses Heftes hervorgegangen.2

Der Text von Steve Sem-Sandberg ist ein Auszug aus seinem neuen Roman Die Armen von Łódź, einer literarischen Verarbeitung der Geschichte des »Gettos Litzmannstadt« (1940-1944). Ulrich Schlie stellt in seinem Beitrag den Briefwechsel zwischen Marion Gräfin Dönhoff und Carl Jacob Burckhardt aus den Jahren 1937 bis 1946 vor. Diese frühen Briefe sind, schreibt Schlie, »das Zeugnis einer untergegangenen Epoche und doch zugleich ein unverzichtbarer Beitrag zum Verständnis des politischen Wirkens, das das Zusammenwachsen Europas ermöglicht hat«.

 

2009 markiert ein doppeltes Jubiläum: Vor zwanzig Jahren brach der Ostblock zusammen, und vor fünf Jahren erfolgte der erste große Schritt der Osterweiterung der Europäischen Union. Claus Offe konstatiert einen blinden Fleck in den bisherigen Analysen der postkommunistischen Transformation. Sie konzentrierten sich auf den Übergang zu Rechtsstaat, Demokratie und Marktwirtschaft, doch der Um-/Neubau des Wohlfahrtsstaats finde kaum Interesse. Dies korrespondiere mit der überraschenden Tatsache, dass die »soziale Frage« in Politik und Öffentlichkeit der neuen Demokratien eher unten auf der Agenda rangiert. Erstaunlich sei dies umso mehr, als die wirtschaftliche Transformation für weite Teile der Bevölkerung über Nacht neuartige und oft harte Belastungen mit sich gebracht hat. Offes vergleichende Bilanz kommt zu dem Schluss, dass die mittel- und osteuropäischen Wohlfahrtsstaaten noch einen weiten Weg zurücklegen müssen, bevor sie das Niveau ihrer Nachbarn in Westeuropa erreichen. Überdies sei dies eine Voraussetzung für die Konsolidierung der Demokratie in diesen Ländern und für deren Integration in das institutionelle Gefüge der EU.

Seit einigen Jahren veröffentlicht Transit ergänzende Beiträge in verschiedenen Sprachen sowie Themenschwerpunkte auch online. Im Juni 2009 fand am IWM eine Konferenz statt zum Thema Die schöne neue Welt nach dem Kommunismus. 1989: Erwartungen im Vergleich. Die Ergebnisse werden in Kürze in Tr@nsit_online auf www.iwm.at publiziert. »Die tiefgefrorenen Konfrontationen des Kalten Krieges liegen nun hinter uns. Die Geschichte ist wieder in Bewegung. Jetzt wird liberales Handeln und Nachdenken durch eine Frage beherrscht: Wie können wir zugleich die Verfassung der Freiheit und die sozialen Bindungen der Zugehörigkeit sichern?« Diese Frage stellte Ralf Dahrendorf rückblickend auf 1989 in einem Essay, den wir hier als Hommage an den im Juni diesen Jahres verstorbenen Ratgeber, Freund und Förderer des IWM wieder abdrucken. Seine Antworten haben nichts von ihrer Aktualität verloren.

Das erste Heft von Transit – Europäische Revue erschien kurz nach der Wende. Damals lebte der britisch-polnische Photograph Chris Niedenthal in Wien und gestaltete über die ersten Jahre die photographischen Essays der Zeitschrift. International bekannt ist er als Pressephotograph, insbesondere für seine Dokumentation des Lebens hinter dem Eisernen Vorhang und der Umbrüche von 1989. Anlässlich des zwanzigsten Jahrestages hat er für dieses Heft eine Auswahl von Bildern zusammengestellt, in denen sich die dramatischen Ereignisse von damals spiegeln.

 

Der abschließende Beitrag zur vorliegenden Nummer stellt eine kleine Sensation dar: Der Mitbegründer und Herausgeber des New York Review of Books, Robert Silvers, hat selbst zur Feder gegriffen. Sein Essay gibt einen Einblick in die Geschichte des Zentralorgans der amerikanischen liberalen Intelligenzija und setzt sich mit den Herausforderungen auseinander, denen sich ein Zeitschriftenmacher gegenübersieht, wenn er seine redaktionelle Unabhängigkeit unter dem Druck äußerer – politischer, ökonomischer und neuerdings auch technischer – Zwänge wahren will. Interessant, besonders im Rückblick auf die diesjährige Buchmesse in Frankfurt, ist auch Silvers’ Kritik der journalistischen Kleinmütigkeit gegenüber China.

Wien, im November 2009

 

 


1 In: Transit 28 (2004/2005), S. 168-71. Dieser Beitrag initiierte eine breite internationale Diskussion, die unter dem Titel European Histories bis heute auf der Website des Netzmagazins Eurozine läuft (http://www.eurozine.com/comp/focalpoints/ eurohistories.html).

2 Im Rahmen dieses Projekts fanden 2008 und 2009 vier Konferenzen statt, deren Ergebnisse hier und in der Zeitschrift EEPS – East European Politics and Societies sowie in dem von Timothy Snyder und Ray Brandon herausgegebene Band Stalinism and Europe: Terror, War, Domination, 1937-1947 erscheinen. Mehr Informationen zu dem Projekt auf der Website des IWM www.iwm.at. Wir danken der Allianz Kulturstiftung für die Förderung der ersten beiden Konferenzen.

 

Timothy Snyder

DER HOLOCAUST: DIE AUSGEBLENDETE REALITÄT *

 

 

Obwohl Europa lebt und gedeiht, beschäftigen sich seine Intellektuellen und Politiker obsessiv mit dem Tod. Die Massenmorde an der europäischen Zivilbevölkerung in den dreißiger und vierziger Jahren bilden den Bezugspunkt der gegenwärtigen verworrenen Diskussionen um die Erinnerung und sie gelten als der Prüfstein für ein gemeinsames europäisches Moralbewusstsein. Die Staatsbürokratien des nationalsozialistischen Deutschland und der Sowjetunion verwandelten individuelles Leben in massenhaften Tod, summierten einzelne Menschen zu Todeskontingenten. Die Sowjetunion führte ihre Massenerschießungen im Verborgenen dunkler Wälder durch und fälschte die Statistiken der Regionen, in denen sie die Menschen dem Hungertod preisgegeben hatte. Die Deutschen ließen Zwangsarbeiter die Leichen jüdischer Opfer ausgraben und auf riesigen Rosten verbrennen. Als Historiker müssen wir, so gut wir es können, dieses Dunkel erhellen und Rechenschaft darüber ablegen, was geschehen ist. Das haben wir noch nicht getan. Auschwitz, das gemeinhin als angemessenes oder sogar letztgültiges Symbol für die Massenmorde des 20. Jahrhunderts gilt, stellt in Wahrheit nur den Anfang unserer Erkenntnis dar, einen Vorgriff auf eine echte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die noch aussteht.

Eben dass wir etwas über Auschwitz wissen, verzerrt unser Verständnis des Holocaust: Wir wissen von Auschwitz, weil es Überlebende gab, und es gab Überlebende, weil Auschwitz nicht nur eine Todesfabrik, sondern auch ein Arbeitslager war. Diese Überlebenden waren in der überwiegenden Mehrzahl westeuropäische Juden, denn diese wurden in der Regel nach Auschwitz geschickt. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand es den jüdischen Überlebenden aus Westeuropa frei zu schreiben und zu publizieren, wohingegen die jüdischen Überlebenden aus Osteuropa hinter dem Eisernen Vorhang nicht die Möglichkeit dazu hatten. Im Westen fanden die Erinnerungen an den Holocaust (wenn auch sehr langsam) Eingang in die Geschichtsschreibung und ins Bewusstsein der Öffentlichkeit.

Diese Form der Überlebenden-Geschichte, für die als berühmtestes Beispiel Primo Levis Schriften stehen, gibt die Realität des Massenmords nur unzulänglich wieder. Das Tagebuch der Anne Frank handelt von assimilierten europäischen jüdischen Gemeinschaften, holländischen und deutschen, deren Tragödie zwar schrecklich war, aber doch nur einen sehr kleinen Teil des Holocaust ausmachte. Als der größte Teil der Morde an den westeuropäischen Juden stattfand, 1943 und 1944, war der Holocaust bereits zu einem beträchtlichen Maße vollzogen. Zwei Drittel der Juden, die während des Krieges umgebracht wurden, waren Ende 1942 bereits tot. Die Hauptopfer, polnische und sowjetische Juden, starben durch Kugeln am Rande von Todesgruben oder in Treblinka, Belzec und Sobibor durch Kohlenmonoxid aus Dieselmotoren, das in Gaskammern geleitet wurde. Auschwitz als Symbol des Holocaust schließt diejenigen aus, die im Zentrum des historischen Geschehens standen. Die größte Gruppe der Holocaust-Opfer – orthodoxe und Jiddisch sprechende Juden Polens, Ostjuden im leicht abschätzigen deutschen Sprachgebrauch – standen den Westeuropäern, auch den westeuropäischen Juden, kulturell fern. Bis zu einem gewissen Grad spielen sie bis heute im Gedächtnis an den Holocaust eine marginale Rolle. Die Vernichtungsanlage Auschwitz-Birkenau wurde in einem Gebiet errichtet, das heute polnisch ist, damals aber noch Teil des Deutschen Reiches war. Jeder Besucher von Auschwitz verbindet das Lager deshalb mit Polen, obwohl dort nur relativ wenige polnische und fast keine sowjetischen Juden umkamen. Die zwei größten Opfergruppen des Holocaust werden daher von Auschwitz als Symbol so gut wie nicht repräsentiert.

Eine angemessene Sicht auf den Holocaust müsste die Operation Reinhard, den Mord an den polnischen Juden im Jahre 1942, in den Mittelpunkt der Geschichte rücken. Die polnischen Juden bildeten die weltweit größte jüdische Gemeinschaft, und Warschau war die wichtigste jüdische Stadt. Diese Gemeinschaft wurde in Treblinka, Belzec und Sobibor vernichtet. Rund anderthalb Millionen Menschen wurden in diesen drei Lagern ermordet, allein in Treblinka nach dem Stand der heutigen Kenntnisse 780 863 Personen. Nur ein paar Dutzend überlebten eines dieser drei Todeslager. Obwohl nach Auschwitz und Treblinka der drittwichtigste Ort des Holocaust, ist Belzec kaum bekannt. Nicht weniger als 434 508 Menschen kamen in dieser Todesfabrik um, und nur zwei oder drei überlebten. Ungefähr eine weitere Million polnischer Juden wurde auf andere Weise ermordet, manche in Chełmno, Majdanek oder Auschwitz, viele andere bei Erschießungsaktionen in der östlichen Hälfte des Landes. Insgesamt kamen nicht weniger Juden durch Kugeln um als durch Gas, aber erschossen wurden sie an Orten im Osten, an die das Leid und der Schmerz nurmehr eine verschwommene Erinnerung bewahrt haben. Die Massenerschießungen in Ostpolen und der Sowjetunion machen den zweitgrößten Anteil des Holocaust aus. Einsatzgruppen der SS begannen dort im Juni 1941, jüdische Männer zu erschießen, dehnten ihr Morden im Juli auf jüdische Frauen und Kinder aus und gingen im August und September dazu über, ganze jüdische Gemeinden auszulöschen. Bis Ende 1941 hatten die Deutschen (zusammen mit lokalen Helfern und rumänischen Truppen) in der Sowjetunion und im Baltikum bereits eine Million Juden umgebracht. Das entspricht der Gesamtzahl der Juden, die während des Krieges in Auschwitz ermordet wurden. Weitere 700 000 Juden hatten die Deutschen (auch hier wieder mit beträchtlicher lokaler Unterstützung) bis Ende 1942 erschossen. Die jüdische Bevölkerung in den Gebieten der Sowjetunion, die von deutschen Truppen kontrolliert wurden, hatte aufgehört zu existieren.

Es gab wortmächtige sowjetisch-jüdische Zeitzeugen und Chronisten wie zum Beispiel Wassili Grossman. Den Holocaust als einen die Juden betreffenden Vorgang darzustellen, war freilich ihm und anderen untersagt. Grossman stieß im September 1944 als Kriegsreporter mit der Roten Armee auf Treblinka. Vielleicht weil er wusste, was die Deutschen in seiner Heimat Ukraine den Juden angetan hatten, konnte er sich vorstellen, was in Treblinka geschehen war, und schrieb ein kurzes Buch darüber. Er bezeichnete das Lager als »Hölle« und rückte es ins Zentrum des Krieges und des Jahrhunderts. Stalin indes verlangte, dass der Massenmord an den Juden als Leidensgeschichte sowjetischer »Bürger« betrachtet wurde. Grossman half mit, ein Schwarzbuch der deutschen Verbrechen gegen die sowjetischen Juden zusammenzustellen, dessen Publikation die sowjetischen Behörden dann unterbanden. Wenn irgendjemand ganz besonders unter den Deutschen gelitten habe, dann waren das, so Stalins irreführende Behauptung, die Russen. Der Stalinismus hat uns somit daran gehindert, Hitlers Massenmorde in ihren wirklichen Dimensionen wahrzunehmen.

Kurz gefasst sieht also die Abfolge beim Holocaust folgendermaßen aus: Operation Reinhard, Schoah in Form von Erschießungen, Auschwitz; Polen, Sowjetunion, der Rest. Von den etwa 5,7 Millionen Juden, die umgebracht wurden, waren rund drei Millionen vor dem Krieg polnische und eine weitere Million sowjetische Staatsbürger; zusammengenommen sind das 70 Prozent der Gesamtzahl. (Bei den zahlenmäßig auf die polnischen und sowjetischen Juden folgenden Opfergruppen handelte es sich um rumänische, ungarische und tschechoslowakische Juden. Nimmt man diese hinzu, wird der Holocaust als osteuropäisches Ereignis noch deutlicher.)

Aber selbst dieses zurechtgerückte Bild vermittelt uns nur eine unvollständige Vorstellung vom Ausmaß der deutschen Politik des Massenmords in Europa. Die »Endlösung«, wie die Nationalsozialisten es nannten, war ursprünglich nur eines in einer Reihe von Ausrottungsprojekten, die nach einem siegreichen Krieg gegen die Sowjetunion zur Anwendung kommen sollten. Hätten sich die Dinge so entwickelt, wie Hitler, Himmler und Göring erwartet hatten, dann hätten die deutschen Streitkräfte im Winter 1941/42 in der Sowjetunion einen Hungerplan in die Tat umgesetzt. Landwirtschaftliche Erzeugnisse aus der Ukraine und aus Südrussland sollten dann nach Deutschland geschafft und damit rund 30 Millionen Menschen in Weißrussland, in Nordrussland und in sowjetischen Großstädten dem Hungertod preisgegeben werden. Der »Hungerplan« wiederum war nur als Vorspiel zum »Generalplan Ost« gedacht, einem Plan zur Kolonisierung der westlichen Sowjetunion, der rund 50 Millionen Menschen zu seiner Dispositionsmasse machte.

Die Deutschen führten tatsächlich Maßnahmen durch, die mit diesen Plänen korrespondierten. Sie vertrieben eine halbe Million nichtjüdische Polen aus Gebieten, die man dem Reich einverleibt hatte. Ungeduldig befahl Himmler, eine erste Stufe des Generalplans Ost in Ostpolen in die Tat umzusetzen: Viele polnische Kinder wurden ermordet, und Tausende, die für »rassisch akzeptabel« erachtet wurden, wurden deutschen Familien zur Adoption übergeben; hunderttausend Erwachsene wurden vertrieben. Bei der Belagerung von Leningrad ließ die Wehrmacht gezielt eine Million Menschen verhungern und ungefähr weitere hunderttausend bei geplanten Hungersnöten in ukrainischen Städten. Fast drei Millionen sowjetische Soldaten starben in deutschen Kriegsgefangenenlagern an Hunger oder Krankheiten. Diese Menschen wurden gezielt umgebracht, oder es lag die bewusste Absicht vor, sie den Hungertod sterben zu lassen. Hätte es den Holocaust nicht gegeben, man würde dies als das schlimmste Kriegsverbrechen der Neuzeit erinnern.

Unter dem Deckmantel von Aktionen zur Partisanenbekämpfung dürften die Deutschen eine Dreiviertelmillion Menschen getötet haben, allein in Weißrussland etwa 350 000, und in Polen und Jugoslawien nicht viel weniger. Bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstands von 1944 brachten sie hunderttausend Polen um. Hätte der Holocaust nicht stattgefunden, würden auch diese »Vergeltungsmaßnahmen« als Kriegsverbrechen wahrgenommen, die in der Menschheitsgeschichte ihresgleichen suchen. Tatsächlich aber leben sie, wie etwa der Hungertod der sowjetischen Kriegsgefangenen, fast nur noch im Gedächtnis der direkt betroffenen Länder fort. Die deutsche Besatzungspolitik löschte auch noch auf andere Weise nichtjüdische Gruppen der Zivilbevölkerung aus, zum Beispiel durch Schwerstarbeit in den Gefangenenlagern. Auch hier handelte es sich hauptsächlich um Menschen aus Polen oder der Sowjetunion.

Im Zuge der großen Massenmordaktionen brachten die Deutschen mehr als zehn Millionen Zivilisten um, etwa die Hälfte davon Juden. Juden und Nichtjuden stammten zumeist aus demselben Teil Europas. Der Plan zur Ausrottung der Juden wurde weitgehend erfüllt, während der Plan, die slawische Bevölkerung zu vernichten, nur in sehr begrenztem Maße in die Tat umgesetzt wurde.

Auschwitz ist nur eine Einführung in den Holocaust, der Holocaust nur eine Andeutung der endgültigen Ziele Hitlers. Grossmans Romane Alles fließt und Leben und Schicksal sind mutige Berichte über den nationalsozialistischen wie den sowjetischen Terror und erinnern uns daran, dass selbst eine umfassende Darstellung der deutschen Massenvernichtungspolitik nur eine unvollständige Geschichte der Gräueltaten bietet, die Europa um die Mitte des letzten Jahrhunderts erlebte. In ihr fehlt der Staat, um dessen Vernichtung es Hitler hauptsächlich ging, der andere Staat, der Mitte des Jahrhunderts massenhaft Menschen umbrachte – die Sowjetunion. In der gesamten stalinistischen Ära, zwischen 1928 und 1953, wurden einer vorsichtigen Schätzung zufolge gut über fünf Millionen Europäer ermordet. Wenn wir uns also die Gesamtzahl der Menschen aus der europäischen Zivilbevölkerung anschauen, die Mitte des 20. Jahrhunderts durch totalitäre Regime ums Leben kamen, dann sehen wir drei Gruppen von ungefähr gleicher Größe vor uns: von den Deutschen ermordete Juden, von den Deutschen ermordete Nichtjuden und vom sowjetischen Staat ermordete sowjetische Bürger. Grob gesprochen, lässt sich sagen, dass die nationalsozialistische Herrschaft Zivilisten umbrachte, die keine deutschen Staatsbürger waren, wohingegen das sowjetische Regime hauptsächlich Zivilisten umbrachte, die sowjetische Staatsbürger waren.

Ganz ähnlich wie die nationalsozialistischen Verfolgungen mit Auschwitz identifiziert werden, setzt man die sowjetischen Verfolgungen mit dem Gulag gleich. Aller mit Sklavenarbeit verknüpften Schrecken ungeachtet, war der Gulag kein System des Massenmords. Nimmt man den Massenmord an Zivilisten als Mittelpunkt unserer politischen, moralischen und rechtlichen Überlegungen, gilt für den Gulag das Gleiche wie für Auschwitz. Über den Gulag wissen wir Bescheid, weil er ein System von Arbeitslagern, nicht aber von Vernichtungslagern war. Der Gulag hielt ungefähr 30 Millionen Menschen gefangen und verkürzte das Leben von etwa drei Millionen. Aber die meisten von denen, die in die Lager geschickt wurden, kehrten lebend zurück. Nur deshalb, weil wir Schriftzeugnisse über den Gulag besitzen, von denen das berühmteste Alexander Solschenizyns Archipel Gulag sein dürfte, können wir versuchen, uns das Grauen der Arbeitslager vorzustellen – geradeso, wie wir versuchen können, uns das Grauen von Auschwitz vorzustellen.

Wie indes Auschwitz die Aufmerksamkeit von den noch größeren Gräueln Treblinkas abzieht, so lenkt uns der Gulag von den Maßnahmen ab, durch die der sowjetische Staat Menschen direkt und gezielt, durch Hunger und Erschießungen, ums Leben brachte. Darunter stechen zwei besonders hervor: die Hungersnöte im Zuge der Kollektivierung von 1930- 1933 und der Große Terror der Jahre 1937/38. Bis heute ist unklar, ob die Hungersnot in Kasachstan 1930-1932 absichtlich herbeigeführt wurde, wobei feststeht, dass damals über eine Million Kasachen Hungers starben. Dass Stalin im Winter 1932/33 die Bevölkerung der sowjetischen Ukraine absichtlich dem Hungertod preisgab, ist heute praktisch zweifelsfrei belegt. In den sowjetischen Akten findet sich eine Reihe von Anweisungen aus den letzten drei Monaten des Jahres 1932, die klar die entsprechende böswillige Absicht bezeugen. Am Ende hatten mehr als drei Millionen Bewohner der sowjetischen Ukraine ihr Leben verloren.

Was wir über den Großen Terror lesen können, lenkt uns zugleich von dessen eigentlicher Beschaffenheit ab. Die beiden großen Werke über die Zeit des Terrors, Arthur Koestlers Sonnenfinsternis und Alexander Weissbergs Erinnerungen Im Verhör, konzentrieren unser Augenmerk auf eine kleine Gruppe von Opfern Stalins, führende Kommunisten aus den Städten, gebildete Leute, manche von ihnen auch im Westen bekannt. Diese Vorstellung beherrscht unsere Sicht vom stalinistischen Terror, aber sie ist irreführend. Insgesamt forderten die »Säuberungen« in den Führungsriegen der Partei, der Sicherheitspolizei und des Militärs nicht mehr als 47 737 Opfer.

Die größte Terroraktion, die Operation 00447, richtete sich in der Hauptsache gegen die »Kulaken«, das heißt, gegen Bauern, die bereits während der Kollektivierung verfolgt worden waren. Dieser Aktion fielen 386 798 Menschenleben zum Opfer. Mehr als ein Drittel der Terroropfer gehörten nationalen Minderheiten an, die weniger als zwei Prozent der sowjetischen Gesamtbevölkerung ausmachten. Bei einer Operation zum Beispiel, die sich gegen sowjetische Bürger polnischer Volkszugehörigkeit richtete, wurden 111 091 Personen erschossen. Von den 681 692 Hinrichtungen wegen angeblicher politischer Verbrechen, zu denen es in den Jahren 1937 und 1938 kam, betrafen 633 955, über 90 Prozent also, die Kulaken und nationale Minderheiten. All diese Menschen wurden heimlich erschossen, in Gruben verscharrt und vergessen.

Die Auschwitz und dem Gulag zugewiesene Sonderstellung führt dazu, dass die Anzahl der ermordeten Europäer zu niedrig veranschlagt und die geographischen Schwerpunkte der Morde ins Deutsche Reich und den Osten Russlands verschoben werden. Wie Auschwitz, das unseren Blick auf die westeuropäischen Opfer des NS-Regimes konzentriert, lenkt uns auch der Gulag mit seinen berüchtigten sibirischen Lagern vom geographischen Zentrum der sowjetischen Mordpolitik ab. Auf Auschwitz und den Gulag fixiert, übersehen wir, dass in einem Zeitraum von zwölf Jahren, zwischen 1933 und 1944, rund zwölf Millionen Menschen der nationalsozialistischen und der sowjetischen Politik des Massenmords zum Opfer fielen, und zwar in einer Region Europas, die mehr oder weniger deckungsgleich mit den heutigen Territorien Weißrusslands, der Ukraine, Polens, Litauens und Lettlands ist. Allgemeiner gesprochen, stellen wir uns, wenn wir an Auschwitz und den Gulag denken, die Staaten, die beides schufen, gern als Systeme, als moderne Despotien oder totalitäre Staaten vor. Doch mit einer solchen Zentrierung auf Berlin und Moskau laufen wir Gefahr, die Tatsache zu übersehen, dass sich die Massenmorde vorwiegend in den zwischen Deutschland und Russland gelegenen Gebieten, nicht in Deutschland und Russland selbst ereigneten.

Osteuropa, vor allem Weißrussland, die Ukraine, Polen und das Baltikum, bildete das geographische, moralische und politische Zentrum des Massenmordens; diese Gebiete waren den anhaltenden Gräueltaten beider Regime ausgesetzt. Die Bevölkerungen der Ukraine und Weißrusslands, vor allem – aber nicht nur – die Juden, litten am meisten, da diese Gebiete in den dreißiger Jahren, also in der Zeit des Großen Terrors, zur Sowjetunion gehörten und in den vierziger Jahren den schlimmsten deutschen Repressionen ausgesetzt waren. Wenn das damalige Europa, mit Mark Mazower zu sprechen, ein dunkler Kontinent war, dann stellten die Ukraine und Weißrussland das Herz der Finsternis dar.

Historische Schätzungen, die Anspruch darauf erheben können, einen objektiven Maßstab zu bieten, wie etwa die Opferzahlen der Massenvernichtungsaktionen, können uns dabei helfen, verloren gegangene historische Proportionen zurückzugewinnen. Das Leid und die Verluste der deutschen Zivilbevölkerung unter Hitler und während des Krieges haben zwar furchtbare Ausmaße, stellen aber in der Gesamtbilanz der Massenmorde eher eine Marginalie dar. Selbst wenn man die auf der Flucht vor der Roten Armee umgekommenen Volksdeutschen, die von 1945 bis 1947 aus Polen und der Tschechoslowakei Vertriebenen und die durch die Luftangriffe in Deutschland Getöteten zusammennimmt, bleibt die Gesamtzahl deutscher Zivilopfer vergleichsweise gering.1

Die Hauptgruppen deutscher Bürger, die einer direkten Mordpolitik zum Opfer fielen, waren die 70 000 »Euthanasie«-Patienten und die 165 000 deutschen Juden. Die Hauptgruppen deutscher Opfer der Stalinherrschaft waren die von Soldaten der Roten Armee vergewaltigten Frauen und die in die Sowjetunion deportierten Kriegsgefangenen. Etwa 363 000 deutsche Kriegsgefangene starben in sowjetischer Gefangenschaft an Hunger und Krankheit, was auch für rund 200 000 Ungarn gelten dürfte. Heute, da der deutsche Widerstand gegen Hitler fester Bestandteil der bundesdeutschen Erinnerungskultur ist, sollte man vielleicht daran erinnern, dass einige Männer des 20. Juli 1944 in zentraler Position an den Massenmorden beteiligt waren: Arthur Nebe zum Beispiel, der während der ersten Phase des Holocaust im Jahr 1941 die Einsatzgruppe B in den Kampfgebieten Weißrusslands befehligte, oder Eduard Wagner, Generalquartiermeister der Wehrmacht, der seiner Frau schrieb, man müsse »Petersburg schmoren lassen«, damit es sich nicht »auf unser Verpflegungsportemonnaie legt«.

Anna Achmatowas Satz »Blut liebt sie und immer Blut / Unsere russische Erde« geht einem nur schwer aus dem Kopf. Und doch müssen das Martyrium und der heldenhafte Kampf der Russen, wie sie heute in Putins Russland so laut beschworen werden, vor einem breiteren historischen Hintergrund gesehen werden. Wie andere Bürger der Sowjetunion waren ohne Frage auch viele Russen Opfer der stalinistischen Politik, aber sie waren weit weniger gefährdet als sowjetische Ukrainer oder Polen oder Angehörige anderer nationaler Minoritäten. Während des Zweiten Weltkriegs wurden mehrere Terroraktionen auf das östliche Polen und ins Baltikum ausgedehnt, auf Gebiete also, die sich die Sowjetunion einverleibt hatte. Im bekanntesten Fall wurden 1940 bei Katyn und an vier anderen Orten 22 000 Polen erschossen; Zehntausende weiterer Polen und Balten starben während ihrer Deportation nach Kasachstan und Sibirien oder kurz danach. Im Krieg töteten die Deutschen auch viele russische Sowjetbürger, aber im Verhältnis weit weniger als Weißrussen und Ukrainer, von Juden ganz zu schweigen. Die Zahl der Opfer in der sowjetischen Zivilbevölkerung schätzt man auf etwa 15 Millionen. Im Zweiten Weltkrieg kam in Russland ungefähr jeder Fünfundzwanzigste durch deutsche Hand um, wohingegen es in der Ukraine (oder in Polen) etwa jeder Zehnte und in Weißrussland jeder Fünfte war.

Den Großteil des Krieges hindurch standen Weißrussland und die Ukraine unter Besetzung, wobei die deutsche und die sowjetische Armee das gesamte Gebiet je zweimal, beim Vormarsch und beim Rückzug, durchquerten. Mehr als einen kleinen Teil Russlands hielten die deutschen Truppen nie besetzt, und das auch nur jeweils für kürzere Zeit. Selbst wenn man die Belagerung von Leningrad und die Zerstörung von Stalingrad hinzunimmt, musste die russische Zivilbevölkerung einen viel geringeren Blutzoll zahlen als die Weißrussen, Ukrainer und Juden. Aufgeblähte russische Angaben über russische Todesopfer kommen dadurch zustande, dass Weißrussland und die Ukraine als Teil Russlands behandelt und Juden, Weißrussen und Ukrainer als Russen gezählt werden: Das läuft auf einen Imperialismus mittels Märtyrertum hinaus, bei dem durch die Vereinnahmung von Opfern stillschweigend auch deren Gebiete vereinnahmt werden. Vermutlich wird dies die Strategie der neuen Historischen Kommission sein, die Präsident Dmitri Medwedjew berufen hat, um »Verfälschungen« der russischen Vergangenheit vorzubeugen. Nach der gegenwärtig in Russland diskutierten Gesetzgebung würden Feststellungen, wie sie der vorliegende Abschnitt enthält, strafrechtlich verfolgt werden können.

Ukrainische Politiker verwahren sich gegen die russische Monopolisierung der gemeinsamen Leidensgeschichte und setzen dem westeuropäischen Stereotyp von den Ukrainern als Holocaust-Kollaborateuren eine eigene Version ihrer Leidensgeschichte entgegen, in deren Mittelpunkt die Millionen von Ukrainern stehen, die Stalin absichtlich habe verhungern lassen. Zwar leistet Präsident Viktor Juschtschenko seinem Land einen Bärendienst, wenn er von zehn Millionen Opfern spricht und damit die tatsächliche Zahl verdreifacht, aber Tatsache bleibt, dass die Hungersnot der Jahre 1932/33 Ergebnis gezielter politischer Entscheidungen war und etwa drei Millionen Menschen das Leben kostete. Nehmen wir den Holocaust aus, stellen die mit der Kollektivierung einhergehenden Hungersnöte die größte politische Katastrophe dar, die Europa im 20. Jahrhundert erlebt hat. Ungeachtet dessen blieb die Kollektivierung das zentrale Element des sowjetischen Modells wirtschaftlicher Entwicklung und wurde später, mit vorhersehbaren Folgen, vom kommunistischen Regime Chinas übernommen: Maos »Großer Sprung nach vorn« ließ mehrere zehn Millionen Menschen den Hungertod sterben.

Hitler und Stalin teilten die Vorstellung von der Ukraine als einer Kornkammer für ihre Länder. Beide wollten den ukrainischen Brotkorb kontrollieren und ausbeuten. Und beide lösten damit Hungersnöte aus: Stalin im gesamten Land, Hitler in den Großstädten und in den Kriegsgefangenenlagern. Unter den ukrainischen Gefangenen, die 1941 in den Lagern hungerten, befanden sich Überlebende der Hungersnot von 1933. Die Strategie der Deutschen, die Bevölkerung auszuhungern, ist übrigens mitverantwortlich dafür, dass die Ukrainer als bereitwillige Kollaborateure beim Holocaust erscheinen konnten. Die berüchtigtsten ukrainischen Kollaborateure stellten das Wachpersonal in den Todeslagern von Treblinka, Belzec und Sobibor. Dass die Deutschen die ersten dieser Mannschaftskader, bei denen es sich um sowjetische Soldaten handelte, aus den eigenen Kriegsgefangenenlagern rekrutierten, wird nur selten berücksichtigt. Vor ihrer Politik des massenhaften Hungertods, dem einen großen Verbrechen im Osten, bewahrten sie diese Männer nur, um sie zu Kollaborateuren bei dem anderen großen Verbrechen zu machen, dem Holocaust.

Die polnische Geschichte ist eine unerschöpfliche Quelle von Konfusion. Zwischen 1931 und 1933 wurde Polen nicht nur von einem totalitären Staat, sondern von zweien angegriffen und besetzt, da Deutschland und die Sowjetunion, die damals Verbündete waren, die Gebiete des Landes ausbeuteten und seine Eliten zu einem großen Teil vernichteten. Die polnische Hauptstadt war Schauplatz zweier großer Aufstände gegen die deutsche Besatzungsmacht, zu denen es im Zweiten Weltkrieg kam: dem Getto-Aufstand der Warschauer Juden im Jahr 1943, nach welchem das Getto dem Erdboden gleichgemacht wurde, und dem Warschauer Aufstand im Jahr 1944, nach dem der Rest der Stadt zerstört wurde. In den deutschen Massenmedien geschieht es immer wieder, dass anlässlich des Jahrestages des Warschauer Aufstands diese beiden zentralen Beispiele für Widerstand und Massenmord in einen Topf geworfen werden.

Wenn irgendein europäisches Land im heutigen Europa fehl am Platze wirkt, wie gestrandet in einer anderen historischen Zeit, dann ist das Weißrussland unter der diktatorischen Herrschaft von Alexander Lukaschenko. Aber während Lukaschenko es vorzieht, die Schauplätze des sowjetischen Mordens in seinem Land nicht zur Kenntnis zu nehmen und eine Autobahntrasse über die Todesgruben bei Kuropaty bauen lassen will, erinnert er sich in anderer Hinsicht besser an die europäische Geschichte als seine Kritiker. Indem sie sowjetische Kriegsgefangene verhungern ließen, Juden erschossen und vergasten und bei Aktionen gegen Partisanen Zivilisten hinrichteten, machten deutsche Streitkräfte Weißrussland zwischen 1941 und 1944 zum weltweit tödlichsten Ort. Die Hälfte der Bevölkerung des sowjetischen Weißrussland wurde im Zweiten Weltkrieg entweder umgebracht oder gewaltsam verschleppt. Von keinem anderen europäischen Land lässt sich Vergleichbares sagen.

Dass die Erinnerung an diese Erfahrung vom derzeitigen Regime gepflegt wird, kann vielleicht helfen zu verstehen, warum das Land Initiativen aus dem Westen so misstrauisch begegnet. Doch sind die Westeuropäer bis heute durchweg überrascht, wenn sie hören, dass Weißrussland gleichermaßen das Epizentrum des Massenmordens in Europa und die Basis für den Partisanenkampf gegen die Nationalsozialisten bildete, der einen wesentlichen Beitrag zum Sieg der Alliierten leistete. Dass ein solches Land so völlig aus dem europäischen Gedächtnis verbannt werden konnte, ist bemerkenswert. Nichts kann die Differenz zwischen Gedächtnis und Geschichte so deutlich machen wie diese Nichtexistenz Weißrusslands in den Diskussionen über die Vergangenheit.

Genauso beunruhigend ist das Fehlen ökonomischer Gesichtspunkte. Obwohl die Geschichte des Massenmords viel mit wirtschaftlichem Kalkül zu tun hat, scheut die Erinnerung alles, was das Morden rational erscheinen lassen könnte. Sowohl das nationalsozialistische Deutschland als auch die Sowjetunion verfolgten einen auf ökonomische Autarkie zielenden Kurs, wobei Deutschland mit einem agrarischen Utopia im Osten ein Komplement zu seiner Industrie schaffen wollte, während die UdSSR ihre agrarwirtschaftliche Rückständigkeit durch eine rasche Industrialisierung und Urbanisierung zu überwinden hoffte. Beide Regime strebten ökonomische Autarkie in einem Großreich an, für das die Kontrolle über Osteuropa zentral war. Beide sahen im polnischen Staat einen historischen Irrweg, beiden galt die Ukraine mit ihren fruchtbaren Böden als unverzichtbar. Verschiedene Gruppen wurden von ihnen im Blick auf ihre Pläne zu Feinden erklärt, wenngleich der deutsche Plan, die Juden auszurotten, in der Radikalität seiner Zielsetzung alles übertrifft, was die sowjetische Politik in diesem Punkt zu bieten hatte. Entscheidend ist, dass die Ideologie, die den Massenmord rechtfertigte, auch einer Vision wirtschaftlicher Entwicklung entsprang. In einer Welt des Mangels, vor allem der Knappheit an Lebensmitteln, verschmolzen beide Regime den Massenmord mit ihrer ökonomischen Planung.

Die daraus resultierende Politik erscheint uns heute entsetzlich und obszön, besaß damals jedoch genügend Plausibilität, um große Scharen von Anhängern zu begeistern. Lebensmittel sind nicht mehr knapp, jedenfalls nicht im Westen; andere Ressourcen aber sind es oder werden es bald sein. Im 21. Jahrhundert werden Trinkwasser, saubere Luft und erschwingliche Energie knapp werden. Der Klimawandel bringt vielleicht die Gefahr neuerlicher Hungersnöte mit sich.

Wenn sich eine allgemeine politische Lehre aus der Geschichte des Massenmords ziehen lässt, dann die, dass wir uns vor dem hüten müssen, was man als privilegierte Entwicklung bezeichnen könnte – vor staatlichen Versuchen, eine Methode wirtschaftlicher Expansion zu betreiben, die andere zum Status von Opfern verurteilt und Wohlstand durch Tod erkauft. Die Möglichkeit, dass die Ermordung einer Gruppe einer anderen zum Vorteil ausschlagen oder ihr zumindest als vorteilhaft erscheinen kann, lässt sich nicht ausschließen. Dies ist eine Form von Politik, die Europa erlebt hat und wieder erleben kann. Die einzige Antwort darauf ist das moralische Engagement für den einzelnen Menschen, damit dessen Leben und nicht sein Tod zählt und Kalküle wie die hier beschriebenen undenkbar werden.

Es ist bemerkenswert, wie das heutige Europa Wohlstand mit sozialer Gerechtigkeit und Menschenrechten verbindet. Wahrscheinlich mehr als jeder andere Teil der Welt ist es, zumindest derzeit, immun gegen eine solch herzlos zweckrationale Verfolgung wirtschaftlichen Wachstums. Was ihre Geschichte betrifft, so leistet sich die Erinnerung der Europäer freilich einige merkwürdige blinde Flecken, und das in einer Zeit, in der Geschichte mehr denn je gebraucht wird. In der Zukunft könnte der Rest der Welt einer noch nicht so lange zurückliegenden europäischen Vergangenheit ähneln. Das ist ein Grund mehr, sich über diese Vergangenheit Rechenschaft abzulegen.

Aus dem Englischen von Ulrich Enderwitz

 

* Diesem Artikel liegt ein Vortrag zugrunde, gehalten auf der Eurozine-Konferenz »European histories«, die vom 8. bis 11. Mai 2009 in Vilnius stattfand (www.eurozine.com). Er erschien erstmals am 16. Juli 2009 im New York Review of Books.

 


1 Von den rund zwölf Millionen Deutschen, die zum Ende des Krieges aus Osteuropa flohen oder vertrieben wurden, kam die weit überwiegende Mehrzahl aus der Tschechoslowakei (3,5 Millionen) und Polen (7,8 Millionen). Bei der zweiten Gruppe stammten die meisten aus Gebieten, die dem Deutschen Reich nach der Niederlage von den Alliierten weggenommen und Polen zugewiesen wurden. Etwa die Hälfte der zwölf Millionen floh aus eigenem Antrieb, während die andere Hälfte deportiert wurde – wobei eine klare Unterscheidung unmöglich ist, weil etliche von denen, die flohen, später zurückkehrten und dann deportiert wurden. Ende 1944 / Anfang 1945 ergriffen an die sechs Millionen Deutsche vor der Roten Armee die Flucht; die meisten der rund 600 000 Todesopfer unter den deutschen Flüchtlingen kamen in dieser Zeit ums Leben. Bei vielen von ihnen handelte es sich einfach um Menschen, die zwischen die militärischen Fronten geraten waren; einige wurden von sowjetischen Soldaten gezielt umgebracht oder starben in sowjetischen Lagern. Auch Tschechen und Polen verübten Morde an den Flüchtlingen. An diesen Todesopfern trägt Hitler eine Mitschuld, weil es die deutschen Behörden versäumten, für rechtzeitige Evakuierungen zu sorgen. Die Deportationen von Deutschen nach der Kapitulation des Deutschen Reichs, ein unmittelbares Resultat von Hitlers Krieg, waren ein gemeinsames Projekt von Tschechen, Polen, Sowjets, Briten und Amerikanern. Während des Krieges äußerten die polnischen und tschechoslowakischen Exilpolitiker den Wunsch, die deutschen Bevölkerungsgruppen auf ihren künftigen Territorien zu minimieren, und die Alliierten willigten ein, die deutschen Volksgruppen nach dem Sieg zu deportieren. Winston Churchill empfahl, »reinen Tisch zu machen«, und der Alliierte Kontrollrat verkündete den offiziellen Plan für die Umsiedlung von sechs Millionen Deutschen. Die (nichtkommunistische) Regierung der Tschechoslowakei hatte für die Ausweisung der Deutschen das Plazet Stalins, Churchills und Roosevelts. Polen unterstand sowjetischer Kontrolle, wobei auch jede andere polnische Regierung die Deutschen vertrieben hätte. Die polnischen Kommunisten akzeptierten Stalins Vorschlag, Polen weit nach Westen vorzuschieben, was darauf hinauslief, dass mehr Deutsche vertrieben wurden, als dem Wunsch demokratischer polnischer Politiker entsprochen hätte. (Außerdem beinhaltete der Vorschlag die Deportation von Polen aus der östlichen Hälfte des polnischen Vorkriegsterritoriums, das die Sowjets annektierten. Ungefähr eine Million dieser Ausgesiedelten ließen sich in den Gebieten nieder, aus denen Deutsche vertrieben worden waren.) Von Mai bis Dezember 1945 schafften die polnischen und tschechoslowakischen Behörden ungefähr zwei Millionen Deutsche über ihre Grenzen. Auch 1946 fuhren sie damit fort, die Deutschen zum Verlassen des Landes zu zwingen, während die britischen, sowjetischen und amerikanischen Streitkräfte für ihre Aufnahme in den deutschen Besatzungszonen sorgten. In den Jahren 1946 und 1947 nahmen die Sowjets etwa zwei Millionen, die Briten rund 1,2 Millionen und die Amerikaner rund 1,4 Millionen Deutsche in ihren Zonen auf. Danach verlangsamte sich das Tempo der Deportationen. Obwohl die Vertreibungen einen Fall kollektiver Verantwortung darstellen und zu grausamen Übergriffen führten, blieb die Todesrate in der betroffenen deutschen Zivilbevölkerung doch relativ gering – 600 000 von zwölf Millionen –, wenn man zum Vergleich die anderen hier erörterten Ereignisse heranzieht. Von einem schrecklichen Krieg eingeholt, der in ihrem Namen geführt worden war, und dann aufgrund alliierter Übereinkunft zum Grenzwechsel und zum Verlassen ihrer Heimat genötigt, stellten diese Deutschen keine Opfer eines kalkulierten Mordplans von der Art des Großen Terrors oder der Hungerpolitik dar.

Hiroaki Kuromiya und Andrzej Pepłoński

STALIN UND DIE SPIONAGE

 

 

Josef Stalin war ein mächtiger Diktator. Seine Macht verbreitete vor allem deshalb so viel Furcht und Schrecken, weil sie sich in hohem Maße auf Geheimdienste und die Anwendung von Gewalt stützte. Für Stalin war, wie für andere Politiker auch, die strategische Nutzung von geheimdienstlichen Informationen und Spionage ein unverzichtbarer Teil des politischen Lebens – nur dass sie bei ihm schier unerhörte Ausmaße annahm. Ohne Zweifel trug die nachrichtendienstliche Informationsbeschaffung maßgeblich zu Stalins Machtsicherung im Inneren und zur Abwehr äußerer Bedrohungen bei: Ohne Geheimpolizei und die zahlreichen Auslandsagenten wäre seine Herrschaft undenkbar gewesen. Tatsächlich stellte sein Regime unter Beweis, welche machtvollen Instrumente Bespitzelung und Spionage sein können – und führte zugleich ihre enorme Zerstörungskraft vor Augen.

Stalins Geheimdienstoperationen waren, nach allen Maßstäben, außerordentlich erfolgreich. In den 1930er Jahren zum Beispiel infiltrierten die Sowjets mit den »Cambridge Five« in England und dem Spionagering des deutschen Kommunisten Richard Sorge in Japan die Spitzen der Regierung. Vermutlich unterlagen weitere Länder wie Polen und die Vereinigten Staaten einem ähnlichen Ausmaß sowjetischer Infiltration. Der russische Geheimdienstforscher S. V. Leonov dürfte kaum fehlgehen in seiner Annahme, dass Ende der dreißiger Jahre »kein anderes Land auf der Welt über einen so mächtigen und ausgedehnten Geheimdienst verfügte wie die Sowjetunion«.1