Inhaltsverzeichnis
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Gustaf af Geijerstam

Gefährliche Mächte

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musaicumbooks@okpublishing.info
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-2427-2

Erstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Der Oberlehrer Ake Hjälm war an einer der höheren Lehranstalten von Stockholm angestellt. Er war bei Beginn dieser Erzählung bereits ein Mann in den mittleren Jahren. Seiner Gesinnung nach streng freisinnig, gehörte er ohne Frage zu den Männern, auf die ihre Partei sich verlassen kann. Der Überzeugung, zu der er sich einmal bekannt hatte, war er treu und blieb er auch sicherlich treu bis in den Tod. Treu seinen Freunden, treu seiner Pflicht, treu seiner Frau und treu seiner Überzeugung – das konnte ihm kein Mensch abstreiten. Und das will ja schon ganz viel heißen. Daß er ein Ehrenmann war, darüber gab es nur eine Stimme, zudem wohlgelitten bei Männern und Frauen, was auch nicht gerade wenig sagen will.

Ake Hjälms Gedankenwelt war eine wohlgeordnete; sie bot keinerlei Überraschungen. Möglich, daß er ein bißchen langsam dachte, daß sein Gesichtskreis nicht besonders weit umgrenzt war – dafür dachte er logisch und klar, und sein wirklich ehrenhafter Charakter hatte ihm, im Verein mit seinem liebenswürdigen Wesen, trotz eines ihm von Jugend auf anhaftenden gewissen Rufs von Radikalismus, zu einer Stellung in der Gesellschaft verholfen.

Ake Hjälm selbst fühlte sich als Freiheitsmann im ganz modernen Sinn. Ein Witzbold hatte einmal von ihm gesagt, er sei »linksfreundlicher Konservativer«. Ein Körnchen Wahrheit lag ja in diesem ironischen Spitznamen. Jedenfalls ließ sich der gute Oberlehrer nicht leicht aus dem Konzept bringen. Mit unerschütterlicher Konsequenz verfolgte er den Weg, den er für den rechten hielt, und da das Leben ihm nicht viele verwickelte Fragen zu lösen gegeben hatte, hatte er sich auch verhältnismäßig rasch darin zurechtgefunden. Obgleich er zu den theoretisch stets Unzufriedenen gehörte, schwamm er in Wirklichkeit ganz vergnüglich mit in dem Strom des modernen Lebens, das er von dem ruhig optimistischen Standpunkt aus betrachtete, wie er dem Fortschrittler und Zukunftsmenschen ansteht.

Als er heute aus dem großen Eckhaus in der Drottningstraße trat, wo er wohnte, wurde seine Aufmerksamkeit durch Scharen hastender Menschen gefesselt, auf deren Brust das Arbeiterabzeichen glänzte und die in Massen und von allen Seiten her in der Richtung des Zirkus am Karlaweg dahinströmten, wo sich der große Arbeiterzug versammeln sollte. Im Genuß seines schulfreien Tages beschleunigte der Oberlehrer seine Schritte und folgte dem Strom. Wohin er kam, wanderten die Menschen in Scharen, die sich am Karlaweg und weiterhin noch verdichteten, während die Banner des Arbeiterheeres in der Frühlingsluft flatterten.

Es sah aus, als wären die Straßen selber in Bewegung, so dicht wimmelten die Menschenhaufen daher. Wie von einem gemeinsamen Willen geleitet strömten sie einem gemeinsamen Punkt zu – dem offenen Platz um den Zirkus, der sich mehr und mehr anfüllte, auf dem die Menge sich von Minute zu Minute verdichtete, so daß lange, dunkle Reihen in die Seitenstraßen beordert werden mußten, die gleich Strahlen von diesem abseits gelegenen Zentrum ausgehen. Der Oberlehrer fühlte sich von all dieser Bewegung erfrischt und von der Begeisterung, die in der Luft lag, mitangesteckt. Er wanderte durch die ganze Stadt, sah, woher die Scharen alle kamen: Von den Hügeln der Südvorstadt wimmelten sie herab, von Kungsholmen stampften sie herauf, aus der Vasastadt, aus den schlimmsten Vierteln Sibiriens strömten sie herbei, aus jenem ganzen Teil der Stadt, Norrmalm und Östermalm, wo sie noch nicht durch Läden, Geschäftslokale oder Luxuswohnungen verdrängt sind, sammelten sich die Männer und Frauen an. Die Straßenbahnen waren voll von ihnen; wer keinen Platz mehr fand, ging zu Fuß, in verstreuten Gruppen oder in geordnetem Glied, vor dem die rote Fahne wehte.

An der Spitze der kleinen Vereine marschierte Musik. Wo sie aufrückten, konnte man aus der Anzahl und Beschaffenheit der Musikanten auf die mehr oder weniger guten ökonomischen Verhältnisse der verschiedenen Gewerbe schließen. Typographen und Maschinenarbeiter kamen mit Musikkorps, die aussahen, als bliesen sie Parademarsch vor einem Garderegiment und würden durch eine Steuer – auf Staatskosten – unterhalten. Andre, minder gut situierte Vereine, begnügten sich mit Geringerem. Aber überall hörte man Musik, überall wehten Fahnen, überall strömten die Menschen zusammen, und auf den Fahnen, um die sie sich sammelten, las man die goldenen Worte von Menschenrecht, Freiheit und Zukunftshoffnung, die sich die Arbeiterscharen von den Klassen, die am Ruder sitzen, erobert, die sie sich zu eigen gemacht haben, als sie den ewigen Kampf der Menschheit gegen die Gewalt des Gesetzes aufnahmen.

Es war der erste Mai heute, dieser neue erste Mai, den die Arbeiter zu ihrem Tag gemacht, den sie mit Beschlag belegt, den sie aus einem Festtag der Völlerei zu einem Festtag des Bewußtseins gemacht haben, des Bewußtseins, daß rings auf der ganzen Erde Brüder auf ein und dasselbe Ziel hinarbeiten. Auf der ganzen Erde sammeln sich an diesem Tag alle, die nicht lächeln über den Gedanken, daß die Welt ein großes Vaterland ist für Männer und Frauen aller Nationen. Den großen Bruderring, den die Freimaurer dereinst für wenige Auserwählte zu bilden träumten, – die Arbeiter haben ihn gebildet für die vielen. Er ist kein Märchen mehr. Er ist Wirklichkeit. Und Verkehrsmittel heißt die Zaubermacht, die den Verbrüderungsgedanken zur Wirklichkeit gemacht hat. Der Dampf heißt die äußere Kraft, die im Begriff steht, die Erde umzugestalten, der Dampf und seine Schwester, die Elektrizität. Mit der Schnelligkeit der Elektrizität und der Kraft des Dampfes schreitet der Verbrüderungsgedanke fort. Er ist nicht mehr nur an eine bestimmte Nation gebunden. Tausendfach kühner, umfassender, anspruchsvoller ist er. Die Wahrheit, die heute hier erklingt, fliegt schon auf Schwingen um die ganze Erde und entzündet Feuer, die gleich weißen Funken aus dem Telegraphennetz knistern. Wo man geht und steht, hört man's wie ein zitterndes Flüstern in der Luft; denn überall, wo Menschenhand geschafft, spannen sich durch die Luft die weltumfassenden Drähte; wo die großen Dampfer dahinziehen, liegen sie begraben in der Tiefe des Meeres. Ihr Ziel ist, zu vereinen. Wie lebende Wesen sind sie, die zusammenfügen, was böse Menschen scheiden wollen.

Etwas von diesem Einheitsgedanken liegt in der Luft, greifbar, allen zugänglich und verständlich. Die Arbeiter, die da stehen, haben den Gedanken vernommen und ihn weitergetragen. Vielleicht hat er darum so mächtig zu ihnen geredet, weil sie so wenig besitzen von den Gütern dieser Welt, die am Hören hindern. Vielleicht werden sie dereinst, wenn die Güter dieser Welt ihnen zugefallen sind, ein minder feines Gehör haben, werden vergessen, was ihre Väter einmal so mächtig vernahmen. Wer will sie darum richten? Wie fern und leer tönen nicht in unsern eigenen Ohren die Worte, die einst den Staat, die Zukunft, den Glauben bildeten, die jetzt auf dem besten Wege sind, zu Boden getreten zu werden, sich zu verdunkeln, zu verflüchtigen? Was wir erreicht haben, erstarrt. Was der Mensch ergreift, wird durch Abnützung besudelt. Nur was in der Ferne lockt, ist des Strebens wert.

Darum wehen an diesem ersten Mai die Fahnen, darum ist die Luft kalt und blau, voll Sonnenschein und frischen Windes, darum mischt sich das Dröhnen der Schritte von Zehntausenden mit dem Klang der Orchester, die einfallen, der Stimmen, die den Arbeitersang singen. Gewaltig ist dieser Aufmarsch; keiner fehlt. Väter tragen Kinder auf den Armen, Kinder, die man nicht daheim lassen kann an einem Tag, an dem auch die Mütter sich ins Glied stellen wollen, um die Luft einzuatmen, die heute mehr als sonst erfüllt scheint von der Hoffnung auf bessere Zeiten. Weiber führen ihre Kinder an der Hand, führen sie mit unter den Erwachsenen, um ihren Sinn beizeiten an den Gedanken der heiligen Zusammengehörigkeit zu gewöhnen, auf der sie dereinst die Zukunft aufbauen sollen, diese heilige Zukunft, diese geträumte Zukunft, die die Alten nicht mehr schauen werden. Hell klingen ihre zarten Stimmen durch den allgemeinen Gesang. Glied um Glied rücken sie vor. Jetzt ist die Hauptmacht auf den großen Exerzierplatz vorgedrungen, wo Gruppen von Schaulustigen, die schon früher gekommen waren, um sich die besten Plätze zu sichern, die niedern Anhöhen am Weg füllen und sich um die Rednertribünen drängen. Wie eine dunkle, rauschende Wand begrenzt der Wald diesen unermeßlichen Versammlungssaal, mit treibenden Wolken bestreut wölbt der Himmel seine Riesenkuppel darüber. Im Takt marschiert der Zug unter der Wölbung einher; fast hat man den Eindruck, als blicke keiner nach rechts oder links, so gar nichts scheinen sie alle von der Anwesenheit der Polizeihelme zu bemerken, die rundum blitzen, oder von den berittenen Vertretern der öffentlichen Ordnung, die den Zug eröffnen und beschließen, um durch ihre Gegenwart die Aufrührerischen an die Gewalt des Staats zu gemahnen. Unbekümmert schreiten die Arbeiter mit Weibern und Kindern daher, wie eine geschlossene, disziplinierte Armee. Kein Überhasten wird gestattet, Trupp um Trupp stellt sich vor den Rednertribünen auf, Glied um Glied ordnet sich, die Fahnen bilden Gruppen, noch einmal spielt die Musik, und von den verschiedenen Tribünen fliegen die Worte über die lauschenden Menge hinaus, die Worte, um die sie sich geschart hat, um ihnen durch ihre Zahl, ihren Ernst Gewicht zu verleihen.

Es ist ein großer Tag heute. Ein dem Frieden geheiligter Tag, dem Weltfrieden, der Versöhnung des Gestern, der Siegesbotschaft des Morgen, der Ausrottung des Kriegs, der Verbrüderung des Menschengeschlechts.

Der Oberlehrer Ake Hjälm war eigentlich heute von daheim fortgegangen, weil eine Meinungsverschiedenheit mit seiner Frau ihn fortgetrieben hatte, einer jener ruhigen, bitteren Wortwechsel, die ihm schon so viele schwere Stunden in dem schönen Traum einer sonst glücklichen Ehe gebracht hatten. Der Meinungsaustausch drehte sich wie gewöhnlich um Folke, seinen Sohn und seine empfindlichste Gewissensangelegenheit – um so empfindlicher, als dies Kind der Sproß eines Jugendverhältnisses war, den die beiden Gatten gleich nach ihrer Verheiratung ins Haus genommen hatten, der Oberlehrer, weil es ihm Herzenssache war, die Frau, weil sie es für recht und gut hielt, und weil sie in ihrer ersten Liebeszeit jeden Gedanken ihres Mannes wie ihren eigenen zu lieben glaubte.

Wie dem auch war – dies Kind fing an, zwischen ihnen zu stehen und ihr Glück zu stören. Während der Oberlehrer umherschlendert und auf das belebte Bild um sich blickt, denkt er, wie so oft schon, daran, daß auch dies Kind, das er zu dem seinen gemacht hat, mütterlicherseits dem Arbeiterstand angehört. Es liegt etwas Schönes hierin, findet der Oberlehrer. Es ist, als bringe es ihn selber der Klasse gewissermaßen näher, für die er, wie so viele seinesgleichen, von Jugend auf eine Art von Schwärmerei empfunden hat. Und während er sich umsieht, packt ihn der Wille, die Festigkeit, die Kraft dieser Gesichter verschiedenen Alters und Charakters. Ein Heer von Gesichtern ist's, Gesichter, die sich voll Spannung emporrichten, um auch nicht ein Wort von dem, was da gesprochen wird, zu verlieren. Wer da sucht nach denen, die – wie die Schrift sagt – hungert und dürstet nach Gerechtigkeit – hier findet er sie, denkt der Oberlehrer. Alte Gesichter erblickt er, Gesichter mit scharfen Linien, dunkler Hautfarbe und tiefliegenden Augen, junge Gesichter mit spöttischen, kraftvollen Lippen, beweglichen, lebhaften Augen und raschem Muskelspiel, vergrämte, müde Gesichter, die sich in einem Lächeln der Begeisterung beleben, erhellen, schwere, gedrückte Gesichter, die verbissenen Schmerz und geheimes Feuer bergen, düstere, müde Gesichter auch, die sich überhaupt nicht mehr aufhellen können. Je länger er über das Menschenmeer hinblickt, desto bestimmter fühlt er, daß hinter all diesen Gesichtern von Männern und Frauen, Greisen und Jünglingen nur ein großer Wille lebt. Und dieser Wille ist so stark, daß er, wenn es gilt, alle Triebe, Instinkte und Begierden dämpft, die sonst Menschen bewegen. Tausende von Willen brechen sich in diesem Menschenmeer, das Tausende von Individuen umschließt. Und doch ist da in diesem Augenblick nur ein Wille, der Wille, der Familien Hunger und Entbehrung tragen, sich des täglichen Brotes berauben, Kälte, Not und Tod erleiden heißt, um den Kameraden und sich selber zu helfen. Weiter denkt der Oberlehrer, und seine eigenen Sorgen werden klein vor den großen, neuen Eindrücken, die ihn hier erfüllen. In aufrührerischen Gedanken ist er von daheim fortgegangen, und vielleicht ist gerade darum seine Empfänglichkeit für die wahren Eindrücke heute so stark und lebendig. Er glaubt diesen Einheitswillen, der alle durchströmt, förmlich zu fühlen. Dieser Wille, der größer ist als der des einzelnen, hat alle die Männer und Frauen hier versammelt, hält sie zusammen und wird sie zusammenhalten. Kraftvoll, groß, unbeugsam ist er, dieser Wille, der alle die kleinen Willen sich unterjocht hat, sie gelehrt, daß der, dessen Wille zerbrochen ist, alles zu erdulden, alles zu gewinnen vermag, was ihm jetzt unmöglich scheint. Vor seinen Augen steigt das Bild des Volkswillens auf, dieses mystischen, oft mißbrauchten Wortes, über das er so oft mit ironischem Lächeln die Achseln gezuckt hat, und das ihm doch heute als eine Macht erscheint, die von Gott ist und die Welt umgestalten wird.

Von der Rednertribüne tönen Worte über sein Haupt weg, die alten, ehrlichen Worte, die er so wohl kennt. Vom Frieden sprechen sie, der da kommen, vom Krieg, der unmöglich gemacht werden soll. Was ist Politik? Ein offenes Spiel mit falschen Karten. Ein brutales, betrügerisches Spiel mit Menschenschicksalen. Falsche Interessen, die die Menschen ins Verbrechen und die Völker ins Unglück stürzen. Im Grunde nichts als ein Spiel um Gewinn und Genuß, fabelhafte Gespenster aus dunkleren Zeitaltern, die, vampirgleich, das Blut des Volkes saugen. Sind wir nicht alle Brüder? Wer von euch, die ihr hier steht, möchte seinen Bruder morden?

Der Oberlehrer Hjälm stand und horchte auf diese Gedanken, die er so wohl kannte. Solange er zurückdenken konnte, hatte er sie gehört. In den Werken der Denker, in den Träumen der Dichter war er ihnen begegnet. Das erstemal, als er sie hörte, kamen sie von den Lippen seiner Mutter; er stand an ihren Knien, und sie las ihm aus der Bibel vor. Als er sie jetzt hörte, waren sie ihm plötzlich wie neu. Er saß nicht mehr in seiner Studierstube und dachte wägend, grübelnd, zweifelnd über Möglichkeiten und Nichtmöglichkeiten nach. Er stand mitten unter denen, die da glauben, er fühlte sich als Teil eines Ganzen, als einer von den vielen. Und in alles, was er hörte, sah, dachte und empfand, mischte sich auf seltsame Art der Gedanke an sein Kind, den Sohn der Arbeiterfrau. Ein sonderbares und neues Gefühl der Demut bemächtigte sich seiner. Alles, was die hier sagten, war ja so einfach; warum sollte es denn nicht möglich sein? Und alle verwickelten Gedankengänge überspringend, hörte er nur noch auf die Stimme, die in ihm sprach. Deutlich und klar klang sie: es ist möglich. Sieh dich doch um unter diesen Tausenden von Menschen! Die glauben an ihren eigenen Willen. Darum wagen sie auch zu glauben. Darum ist ihnen alles möglich.

Wieder blickte er über das Menschenmeer vor sich. Wenn ein Sturm kommt, denkt er, ein Sturm, der stark genug ist, so erhebt sich das ganze Meer in einem einzigen mächtigen Brausen, und keiner denkt mehr an die kleinen Wellen! Alle miteinander erheben sie sich zu den Wolken; nichts hält ihnen stand. Wracke werden ans Land geschleudert, Molen weggefegt, Maste krachen, die Menschen kriechen am Boden, um nicht fortgewirbelt zu werden. Ist nicht der vereinte Wille der Menschen solch ein Meer, dem niemand widersteht, wenn es einmal sich empört? –

Unbeweglich steht die Menge vor ihm, nur hie und da geht eine leichte Bewegung über die dicht zusammengedrängten Gesichter, deren Augen dem Redner auf dem Podium entgegenglühen. Er sieht nicht mehr den Redner, nur noch diese Augen sieht er, die da brennen in einer einzigen Flamme, einem Willen, der sich zu einem einzigen Ziel vereint.

Und ein Schauder durchfährt ihn. In einem Augenblick sieht er vor sich die Schmach der Zersplitterung, die die Menschen der Klasse, zu der er selbst gehört, voneinander scheidet. Klar und scharf urteilt er über sich selbst und denkt:

Was gäb' ich nicht drum, wenn ich einmal im Leben diesen einen Willen mich durchbeben fühlen, wissen dürfte, daß auch ich ein Ziel zu gewinnen habe mit den andern? Aber das wird nie mehr sein. Warum, weiß ich selbst nicht. Ich fühle nur, daß es so ist.

Die Rede ist zu Ende, der große Zug rüstet sich zum Marsch nach der Stadt, aus der heute, am ersten Mai, die Equipagen nach dem Tiergarten zu rollen. Der Oberlehrer hat für den Abend eine Verabredung mit ein paar Freunden. Einsam wandert er über den weiten Plan, ganz erfüllt von dem, was er erlebt hat. Er hat das Gefühl, als wäre alles versunken außer den Zukunftsgefühlen, die ihn soeben mit der Menge verkettet hielten, als wären sie in diesem Augenblick das einzig Lebendige. Alles andre scheint ihm so traumhaft und phantastisch, als existierte es gar nicht.

Eigentümlich belebt und erhoben durch diese und ähnliche Gedanken geht der Oberlehrer Hjälm langsam den Karlaweg entlang. Ein bißchen schwer geht er, wie ein Mann, der kein Ziel hat und bewegt ist von widerstreitenden Gefühlen. Er ist kein junger Mann mehr, und sein Gesicht mit dem blonden Vollbart um den festgeschlossenen Mund und den tiefliegenden Augen hinter der goldenen Brille weist das auch deutlich genug. Der Ausdruck, der jetzt des Oberlehrers Gesicht belebt, ist nicht der gewöhnliche. Mit den Jahren ist über diese Züge eine gewisse Ruhe gekommen, eine bürgerliche Zufriedenheit, und das Bedürfnis, harmonisch zu leben, hat den Mann gelehrt, seine Gedanken im Zügel zu halten. Heute sieht er aus wie ein Aufrührer. Während er geht, stößt er bei jedem Schritt den Stock hart aufs Straßenpflaster, als möchte er die Gedanken, die ihn quälen, unter den Boden stoßen. Und der Oberlehrer, der sonst aufs schärfste zwischen einem wahrhaft freisinnigen Mann und einem Sozialisten zu unterscheiden weiß, ist von Gefühlen erfüllt, die in scharfem Gegensatz stehen zu der Überzeugung, die dem Mann den Respekt vor Staat und Gesellschaft einprägt.

Es ist eine ungewohnte Stimmung für den Oberlehrer.

Ehe er an der Sturestraße abbiegt, bleibt er stehen und blickt nachdenklich über den Humlegarten weg. Nicht eine Knospe ist noch zu sehen an den Bäumen, kahl recken sich die Äste, ein tausendfädiges Netz, durch das der blaue Himmel mit seinen weißen, treibenden Wolken glänzt. Ringsum strömen die Menschenhaufen der Stadt zu, um sich über das ganze, weitgestreckte Stockholm, in dem ganze Viertel heute stumm, wie tot daliegen, zu verteilen. Die Straßenbahn saust an ihm vorüber, mühsam zwängt sich der Schaffner durch das Gedränge im Wagen, seine Stimme übertönt die Stimmen auf der Plattform, wo ein Streit losgebrochen ist, weil sich zu viele heraufgedrängt haben. Wie von der Menschenmenge hinausgezwängt, taumelt ein schlecht gekleideter Mann auf die Straße hinunter. Fluchend bleibt er stehen und schüttelt hinter dem davonrollenden Wagen her die Faust.

Der Oberlehrer sieht es; mit einer Gebärde, als müsse er etwas Häßliches von sich abschütteln, tritt er in den Park, unter die hohen Bäume, hinter denen die Riesenfassade der Bibliothek sich erhebt. Irgendwie fällt ihm auf einmal das Gedicht Viktor Hugos über die Bibliothek ein, die während der Kommune ein Arbeiter in Brand gesteckt hat, und murmelnd wiederholt er vor sich hin die Schlußworte, des Arbeiters kurze Selbstverteidigung: »Ich kann nicht lesen!« Und den Titel: »Wer hat die Schuld?« Er lächelt in seinen Bart, und, sich in seinen Gedanken unterbrechend, sagt er halblaut: »Das paßt nicht auf uns. Bei uns kann jeder lesen. Über so was kann man sich hier nicht beklagen.«

Er denkt an die Arbeit, die daheim auf ihn wartet, eine gründliche, langjährige Untersuchung, die dereinst ihr Licht auf eine der Lebensfragen der Menschheit werfen soll. Aber die Gedanken des Oberlehrers finden keine Ruhe heute. Wie so viele andre seiner Generation hält er in einer seiner Schreibtischladen ein Geheimnis versteckt. Es besteht in einer kurz angelegten Arbeit unter dem Titel: »Gedanken über die moderne Unzufriedenheit« und ist als eine soziale Welterklärung gedacht. Die Arbeit ist schon ein paarmal frisch angefangen und umgeschrieben, aber noch immer nicht fertig. Heute kommt sie dem Oberlehrer – ganz natürlich – in den Sinn. Er glaubt plötzlich einen ganz neuen Gedanken zur Beleuchtung der großen Versöhnungsidee gefunden zu haben, die, seiner Meinung nach, heller als je über dem Klassenhaß emporsteigt. Er denkt an alles, was aufgeklärte Männer seiner eigenen Zeit geschrieben, gewirkt haben. Und das beruhigt ihn. Und dann denkt er an sein Heim, an seine Frau, an Folke, an seine Stellung als Freisinniger unter Freisinnigen, die alle einander achten und stützen, die alle ein Bollwerk bilden gegen die Reaktion, die überall den Kopf hebt. Ihm ist, als sei diese Welt, der er selber mit Leib und Seele angehört, ihm plötzlich fremd geworden. Der Gedanke an sie paßt so gar nicht zu seinen augenblicklichen Gefühlen. Sie kommt ihm heute auf einmal ebenso eng, so vorurteilsvoll und arm an Idealen vor wie die ganze Gesellschaft, die er und seine Gesinnungsgenossen sonst so überlegen kritisieren. Geschahen nicht täglich Wunder? Geschah nicht eben jetzt, während Menschen sich zu Vereinen zusammenscharten, über Reformvorschläge nachgrübelten, in ihren Büchern die Welt verbesserten – geschah nicht eben jetzt das, was keiner sieht, keiner sehen will? Lebten sie nicht alle in einer Zeit, in der alles, was geschah, ihnen über den Kopf wuchs? Stiegen nicht die Geister ihrer eignen Gedanken empor, wurden zu Fleisch und Blut, wirkten, untergruben, stürzten um, weissagten neue Zeiten, ehe noch die Denker, Gelehrten, Dichter und Weltverbesserer mit ihren Werken fertig waren? Eines schönen Tages war vielleicht das, was sie erträumt, wofür sie gearbeitet hatten, geschehen, war schon Wirklichkeit geworden, anders, als je ein Mensch, und wär's der scharfsinnigste, es hatte voraussehen können!

Dem Oberlehrer war zumute, als müsse er sich aus einem Wirbel emporkämpfen, der ihn zu verschlingen drohte. »Wie ruhig alles ringsum ist«, dachte er plötzlich. »Wie still es geworden ist!« Einsam schritt er durch die breiten Alleen unter den Linden des Humleparks, das Geräusch des bewegten Menschenmeeres schlug gedämpft an sein Ohr. Einsam wanderte er durch den breiten Mittelgang, drehte um, ging wieder zurück. Die Kinder, die sonst hier spielten, waren längst fort, daheim, die Spielzeit war vorüber. Auf den Straßen ringsum sah man Haufen von Menschen, die heimwärts zogen, einzelne Splitter des vor kurzem noch versammelten großen Volkszuges.

Plötzlich schien es dem Oberlehrer, als stocke der Menschenstrom, der durch die Sturestraße flutete, als löse er sich auf, zerteile sich; die Menschen blieben stehen und lauschten – und im selben Augenblick hörte er einen scharfen, kurzen Knall, der von den dichten Häuserreihen widerhallte und über den stillen Park hinrollte. Zugleich sah er, wie die Leute zu rennen anfingen. Sie stürmten über den Rasen, sprangen über die Drahtzäune, dem Polizeiverbot zum Trotz. Auch der Oberlehrer beschleunigte seine Schritte und sah, wie die Menge sich um eine Bank in einem Rondell von niederem Gesträuch drängte, das im Halbkreis um eine Traueresche stand.

Als der Oberlehrer zu der Stelle kam, war er so erregt, als erlebe er eine längst geahnte Katastrophe. Er zwängte sich durch all die Menschenrücken, die sich um den Platz zusammengedrängt hatten. Im Anfang konnte er überhaupt nichts unterscheiden, und die Aufmerksamkeit der Menge richtete sich so gespannt auf etwas, das in ihrer Mitte vor sich ging, daß niemand sich umwandte, um auf seine Fragen zu antworten. Mit hochgereckten Köpfen schob und drängte sich der Menschenhaufe immer um einen Fleck, lautlos und still, als hätten sie etwas Entsetzliches geschaut, das sie auf dem Platz festhielt, das ihre Zungen lähmte und sie stumm machte. Flüsternd gab ihm endlich ein Mann Bescheid, der sich mit verstörtem Gesicht aus dem Gedränge herauswand, um zu gehen: »Ein Arbeiter hat sich erschossen. Durch eine Dynamitpatrone im Mund.«

Der Oberlehrer fuhr zurück.

»Heute?« rief er. »Und hier?«

»Ja! Warum nicht heute! Und warum nicht hier?«

Der Sprecher war selbst ein Arbeiter. Im Knopfloch trug er das Abzeichen des ersten Mai.

»Er hat eben auch mittun wollen bei der Demonstration – auf seine Art. So gut er's konnte.« Der Sprecher lachte kurz auf. Aber das Lachen ward zur Grimasse. Sein scharf markiertes Gesicht mit dem dicken Schnurrbart bebte. In die grauen Augen kam ein hartes, gehässiges Funkeln, und er entfernte sich hastig, als habe er zuviel gesagt oder möchte vielleicht noch mehr sagen, fände es aber besser, zu schweigen.

Im selben Augenblick hörte man eine Stimme rufen:

»Platz da!«

Ein Polizeihelm tauchte über der Menge auf, die langsam und widerwillig zur Seite wich.

Der Oberlehrer stand vor Entsetzen wie festgenagelt; er vermochte die Augen nicht loszureißen von der Szene vor ihm. Auf der Bank lag eine zusammengesunkene Gestalt. Von weitem sah man bloß etwas Graues, das sich von dem grüngestrichenen Holz abhob. So zusammengesunken lag die Gestalt da, daß sie kaum menschliche Form zu haben schien. Die Mütze war nicht herabgefallen, sondern bloß über das Gesicht heruntergeglitten. Nichts weiter war zu sehen. Eine bärtige Wange, ein paar magere, behaarte Hände. – – »Merkwürdig, daß der Kopf nicht mehr zerschmettert ist«, dachte der Oberlehrer. Da sah er, daß unter der Bank von dem Teil des Kopfes, der nicht zu sehen war, das rote Blut auf die Erde tropfte, wo es schon eine Lache bildete.

Der Oberlehrer mußte sich abwenden. Der Schutzmann hatte den Körper des Toten angefaßt, um ihn umzuwenden und zu untersuchen.

»Der Herr kommt zu spät – wie immer!« ertönte eine rohe Stimme.

Niemand nahm sich die Mühe, zu antworten oder nachzusehen, wer da gesprochen hatte, so häßlich unterbrach die Stimme die Gedanken der Anwesenden. Einer nach dem andern wandte sich ab und ging still davon. Es war, wie wenn man eine Lästerung hört und sie so schnell wie möglich vergessen möchte.

Als sich der Haufe um die Unglücksstelle lichtete, wurde des Oberlehrers Aufmerksamkeit durch eine Frau gefesselt, die augenscheinlich ebenfalls der Arbeiterklasse angehörte. Sie stand bei dem Toten und schien gar nicht zu bemerken, daß es leer um sie wurde. Auch sie trug auf ihrem abgetragenen Mantel das Arbeiterabzeichen. Mit gesenkten Augen stand sie da, als warte sie auf etwas.

»Kennen Sie ihn?« fragte der Schutzmann.

Die Frau zuckte wie im Schreck zusammen.

»Nein«, sagte sie hastig und sah sich mit wirren Blicken um.

»Dann gehen Sie doch! Was stehen Sie denn da?« Der Schutzmann wurde ungeduldig. Er setzte das Pfeifchen an den Mund, um Hilfe herbeizurufen und die Leiche wegzuschaffen.

Die Frau gehorchte und entfernte sich, doch nur so weit, daß sie noch alles sehen und hören konnte, was vorging. Wieder stand sie unbeweglich auf einem Fleck, als höre und sehe sie nichts von den Menschen, die immerwährend noch ab- und zugingen.

Der Oberlehrer vermochte die Augen gar nicht abzuwenden von der Frau. Sie trug einen grauen Mantel, das Band auf dem Hut war einst rot gewesen. Schief, mit breitem, geradem Rand saß er über dem Gesicht mit den seltsam irren Augen, die nichts zu sehen schienen. Wie festgenagelt stand der Oberlehrer auf seinem Platz. »Welch ein Tag heute!« dachte er. Er hatte das Gefühl, als müsse in seinem Hirn etwas stehen bleiben, erstarren. »Was geschieht nur alles heute? Was wird noch geschehen?« Und mit einem Male kam ihm der Gedanke: »Wie soll ich nach all dem heimgehen? Was soll ich sagen daheim? Wer wird mich verstehen? Sie von allen zuletzt!« Der Oberlehrer dachte an seine Frau, und in der Spannung, in der er sich befand, kam es ihm vor, als habe er sie noch nie mit so rücksichtsloser Schärfe betrachtet. Was er heute gesehen und erlebt hatte, hatte gleichsam einen Schleier von seinem Leben gerissen. Er sah sich selber, wie er früher gewesen war, als er noch in einem kleinen möblierten Zimmer gewohnt hatte. Und in diesem kleinen Zimmer, das eng und nichts weniger als hübsch war, sah er ein fröhliches Fabrikmädel, das glückselig war, weil er gut gegen sie und ihr Kind war. Zu ihr, dachte er, hätte er heute gehen mögen; und während er an sie und ihr Schicksal dachte, fröstelte ihn; er war selbst ganz verwirrt ob seiner eigenen Gedanken.

Im selben Augenblick errötete er darüber, daß er jetzt an sich denken konnte. Als er aufblickte, bemerkte er, daß zwei Damen, von denen er die eine kannte, zu dem Toten getreten waren. Voller Grauen standen sie da, und wandten sich dann, ohne zu reden, wieder zum Gehen. Der Oberlehrer war ihnen fast dankbar, daß sie nicht gesprochen hatten. Eben als sie gehen wollten, sagte die eine, die der Oberlehrer kannte:

»Entsetzlich! Hätte er nicht wenigstens einen Revolver nehmen können?«

Die Arbeiterfrau, die er so lange beobachtet hatte, zuckte bei diesen Worten zusammen, als fühle sie sich getroffen. Die Augen in dem graubleichen Gesicht brannten, die Wangen belebten sich leise in einem blassen Erröten. Als die Damen an ihr vorübergingen, blickte sie der, die gesprochen hatte, in die Augen und sagte leise:

»Wenn er das Geld zu einem Revolver gehabt hätte, so hätt' er sich nicht erschossen!«

Rasch, als würden sie verfolgt, eilten die beiden Damen davon. In den Straßen um den Park sah man noch immer Scharen von Männern und Frauen, die heimwärts wanderten. Hinter der nächsten Ecke verschwand die letzte der roten Fahnen.

Zweites Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Im selben Augenblick fühlte der Oberlehrer eine Hand auf seiner Schulter, eine leichte, rasche Berührung. Als er sich umwandte, zuckte er zusammen. Der vor ihm Stehende nickte kurz, fast ohne seine Augen von der Szene vor ihnen abzuwenden.

»Weiß man, warum?« fragte er.

»Nein«, erwiderte Hjälm.

»Komm! Wir wollen gehen.«

Der Sprecher war ein kleiner Mann von nervösem Aussehen, mit einem auffallend großen Gesicht, das keinen Augenblick ruhig war. Ob es die Augen waren oder die große Stirn, der Mund mit seinen tiefen Linien oder der kräftige Schnurrbart über dem runden Kinn, was diesem Gesicht seinen Charakter gab, war schwer zu sagen. Denn der Ausdruck wechselte so rasch und so oft, daß man gar nicht dazu kam, die Einzelheiten der Züge zu beobachten.

Während sie Seite an Seite dahinschritten, betrachtete Hjälm seinen Begleiter. Eine Menge Erinnerungen erwachten in ihm, Erinnerungen aus Jugendtagen, aus der Zeit der Hoffnungen und Versprechungen, der Zeit, in der sein eignes Blut noch höher wallte. Einst hatte er diesen Mann, der jetzt neben ihm ging, bewundert, hatte ihm – so glaubte er wenigstens – nahegestanden. Und gerade jetzt mußte er kommen, tauchte er auf aus dem Menschengewimmel, das in einer Großstadt die Menschen voneinander trennt. »Er sieht furchtbar nervös aus«, dachte der Oberlehrer. Und im Gehen versuchte er nachzurechnen, wie viele Jahre verflossen waren, seit sie sich zuletzt gesehen hatten. Und er fragte sich: »Was ist aus ihm geworden?« So völlig in Unwissenheit war er über das Schicksal des Mannes, der einst sein Freund gewesen war.

Er suchte nach einem Wort, fand aber nichts als die gewöhnliche Bankrotterklärung, die meist das Gespräch zwischen ehemaligen Freunden einleitet:

»Es ist lang her, seit wir uns gesehen haben.«

»Und jetzt treffen wir uns hier! Ja – so geht's manchmal!«

Der andre lächelte still, als beschäftigten ihn ganz andre Gedanken, als die, die er aussprach.

»Stockholm hat sich vergrößert«, fuhr er fort.

»Ja, man sieht sich selten.«

Als halte er es für selbstverständlich, daß sie zusammenbleiben würden, bog der Neuhinzugekommene am Stureplan ab und ging auf das Hotel Anglais zu. Als Hjälm sagte, er müsse noch heim telephonieren, um sein Ausbleiben vom Mittagessen zu erklären, nickte er stumm und verschwand. Als der Oberlehrer gleich nachher den Gesuchten im Speisesaal nicht fand, meldete der dienernde Oberkellner mit einem Flüstern, als habe er eine äußerst vertrauliche Mitteilung zu machen:

»Der Herr Rechtsanwalt sind im Café.«

Eben erschien der Genannte. Als wäre nichts geschehen, ging er durch den Speisesaal und ließ sich an einem freien Tisch am Fenster nieder.

Ake Hjälm saß stumm da und dachte darüber nach, wie schnell auch die stärksten Eindrücke vergehen. Noch vor einer Stunde war er mit einem Gefühl der Stadt zugewandert, als schwanke der Boden unter seinen Füßen und als könne er nie wieder vergessen, daß er und die ganze Welt, der er angehörte, bei jedem Schritt auf einem Vulkan wandelten. Gleich darauf war er Zeuge eines so entsetzlichen Auftritts gewesen, daß er sich für immer in das Herz eines Mannes einprägen mußte, der für seine Mitmenschen fühlt und auch nur eine Ahnung von Gerechtigkeit hat. Und kaum war er wieder in der Umgebung, die er gewöhnt war als die seine zu betrachten, so begann schon der Aufruhr, in dem er sich befunden hatte, zu schwinden. So wenig paßte das, was er erlebt hatte, zu dem wohlgeordneten, heiteren Saal, in dem elegant gekleidete Herren und Damen die Plätze füllten, in dem er selber saß, vor sich einen schimmernd weiß gedeckten Tisch, eine Flasche guten Bordeaux und einen befrackten Kellner, der mit respektvoller Beflissenheit das Diner servierte. So ganz gewöhnt war er an die schroffen Übergänge von den Häßlichkeiten des Lebens zu materiellen und geistigen Genüssen, daß er, wie überhaupt wir alle, diesem Widerspruch im eigenen Leben nichts weiter zu widmen vermochte als eine flüchtige Aufmerksamkeit. »Zum Glück hindert uns unsere eigene Lebensintensität daran, daß wir unter allem so stark leiden«, dachte er. Und als er mit seinem Tischgenossen anstieß, war sein Lächeln wehmütig und mild. Seine Seele war erfüllt von Erinnerungen an die alten Zeiten, in denen sie beide, die das Leben später getrennt hatte, einander noch nahestanden. Und der Oberlehrer war ein freundliebender Mensch; ihm war die Freundschaft die beste Würze des Lebens.

»Und du bist, wie immer, glücklich in deiner Familie?« sagte Oskar Steinert.

Des Oberlehrers Herz ward warm, wie immer, wenn von seiner Familie die Rede war. Die Gedanken, die seine Seele zerrissen hatten, solange sein Innerstes in Aufruhr war, waren verstummt, als der Aufruhr sich nach und nach legte und verging. Sie erschienen ihm so unwürdig jetzt, daß er sie am liebsten ganz vergessen hätte, und das Gefühl, seiner Frau ganz ohne Grund in Gedanken unrecht getan zu haben, erfüllte ihn mit einer Bewegung, als beuge er in einem Heiligtum die Knie.

»Noch schöner hab' ich's als damals, als du mich besuchtest«, lautete seine Antwort.

In den letzten Worten lag etwas wie eine Herausforderung; und wie um diesen Eindruck zu verwischen, fragte der Oberlehrer:

»Und du?«

Steinert lächelte; seine Augen glitten an dem andern vorüber ins Leere.

»Sprich nicht von mir«, sagte er. »Ich bin ausgegangen, um zu vergessen.«

Der Oberlehrer blickte fragend auf.

»Ja«, fuhr der andre fort. »Ist das was so Besonderes? Brauchen wir denn nicht alle Vergessenheit? Merk wohl, ich sage nicht, daß es etwas Unangenehmes sein muß. Man kann auch andre Dinge als unangenehme vergessen müssen. Ich kann mir sehr wohl den Fall denken, daß man in einem solchen Rausch von Glück gelebt hat, daß man auch das vergessen muß. Weißt du, was ich dachte, als wir uns vorhin trafen? Ich dachte: Das war auch einer, der Vergessenheit suchte. Und Gott weiß, ob er sie fand. Das dachte ich. Ich weiß, was du sagen willst. Du besitzest einen geordneten Gedankengang. Du denkst sozusagen systematisch. Fix und klar hast du ein für allemal deine Rechnung mit dir selbst gemacht, und das Resultat ist: was nachkommt, wenn ein Schuß knallt, ein Gift wirkt oder die Natur auf ganz gewöhnliche, gemeine Weise das Ihre getan hat, ist plus minus Null. Ich sah mir den Mann an, der dort lag, und er konnte nicht widersprechen. Aber dann fiel mein Blick auf die Frau, die danebenstand. Ich sah, daß auch du sie beobachtetest. Man konnte ja auch gar nicht anders. Wie ein groteskes Schreckbild stand sie da. Grotesk – denn sie war einfältig – häßlich – ihre ganze Stellung war plump. Und doch mußte man sie ansehen, und man wird sie wohl schwerlich so leicht wieder vergessen. Die dachte auch darüber nach, ob der Tote Vergessenheit gefunden hat oder nicht. Davon bin ich überzeugt.«

Der Oberlehrer lächelte.

»Davon bin ich nicht so überzeugt«, antwortete er. »Vielleicht deshalb, weil ich heute draußen auf dem Exerzierplatz war.«

»Und an den Kundgebungen der Unterdrückten teilgenommen hast? Die ›schwielige Faust‹ gedrückt?«

Ake Hjälm zuckte auf. Ein Ausdruck ehrlicher Empörung, der den andern zu amüsieren schien, kam in sein Gesicht.

»Von an Kundgebungen teilnehmen ist keine Rede«, sagte er ruhig. »Ob ein armer Schulmeister wie ich sich an einer Kundgebung beteiligt oder nicht, das hat wenig genug zu sagen. Sondern ich ging hin, weil ich einen freien Tag hatte und weil etwas mich gegen meinen Willen hinzog. Und ich ging weg mit dem Gefühl, es wäre gut, wenn's noch mehr so machten wie ich. Vielleicht wären wir alle dann einander weniger fremd.«

»Glaubst du?« unterbrach ihn Steinert.

»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, war die Antwort. »Jedenfalls wär es der Mühe wert, den Versuch zu machen. Aber, was ich sagen wollte: unmittelbar, nachdem ich von dort kam, wurde ich Zeuge jenes Auftrittes. Der Eindruck dessen, was ich draußen gehört und empfunden hatte, hielt mich noch gefangen. Und darum habe ich sie mit andern Augen angesehen als du. In dem Ausdruck versteinerten Entsetzens, der über ihrem Gesicht, ihrer ganzen Erscheinung lag, sah ich klar und scharf bloß den einen Gedanken: muß alles, was wir Armen hoffen, so enden? Ist für uns gar keine Hoffnung? Oder vielleicht auch: wie viele müssen noch so enden, ehe unser Tag kommt?« Oskar Steinert sah vor sich hin. Als er wieder zu sprechen begann, lag ein andrer Klang in seiner Stimme. Seltsam leise und ruhig tönte sie, ganz anders als die, die noch eben so hart und scharf gewesen war.

»Man kann auch so denken«, sagte er.

Als bereue er, nachgegeben, ein Gefühl, das er hatte für sich behalten wollen, preisgegeben zu haben, fragte er wieder scharf:

»Meinst du das, was du da sagst, im Ernst?«

»Zweifelst du daran?« entgegnete der Oberlehrer.

Seine kleinen, tiefliegenden Augen glühten auf hinter der Brille.

»Ja, ja,« sagte der andre, »natürlich meinst du das, was du sagst. Aber was will das heißen? Ich meine auch, was ich sage, wenn man den Sinn des Wortes ein bißchen dehnt. Und doch sitz ich hier und diniere und trinke Bordeaux. Ich nehme vielleicht auch ein Glas Madeira zum Nachtisch, eine Havanna zum Kaffee und ein paar Glas Whisky. Und du ebenfalls. Nichts auf der ganzen Welt kann uns daran hindern. Weder unser Schmerz über all das Unrecht im Leben, noch unser Entsetzen über den Selbstmord. Die Genußsucht beherrscht uns, siehst du. Ob wir nun Dichter oder Denker, Realpolitiker oder Träumer, Pharisäer oder Zöllner sind. Keiner von uns, weder du noch ich, trat vor und bot der Frau den Arm und führte sie fort. Vielleicht war es die Braut, die Frau, die Schwester. Wohl möglich.«

»Das ist schon wahr«, gab der Oberlehrer zurück. »Aber das kommt daher, daß wir uns immer durch Scheu und Unentschlossenheit, vielleicht auch durch Standesvorurteile zurückhalten lassen. Darum kann das, was wir fühlen, doch echt sein und gut.«

»Ja, aber schwach«, sagte Steinert. »Schwach und darum wertlos.«

Der Oberlehrer schwieg eine Weile. Dann sah er auf und sagte, ohne jeden ironischen Beiton, als spreche er etwas ganz Selbstverständliches aus:

»Warum schreibst du nicht?«

Der andre lachte auf; seine weiche Hand glitt langsam über sein Gesicht, als müsse er dort etwas verbergen oder wegwischen.

»Ich kann nicht«, sagte er. »Das weißt du doch. Ich schreibe meine Akten – als Rechtsanwalt.«

Der Oberlehrer fühlte wohl, daß er in diesem Augenblick vielleicht zuviel wagte. Aber ehe er sich Einhalt gebieten konnte, war ihm das »Warum?« schon entschlüpft.

»So hast du mich schon einmal gefragt«, erwiderte Steinert heiser. »Hast du's vergessen?«

Sein Gesicht wurde mit einem Schlage hart, die Augen stachen förmlich. Eine halbvergessene Erinnerung stieg in Ake Hjälm auf, eine Erinnerung an ein Gespräch, das ihm selber gleichgültig und fremd erschienen war, an ein Wort, das er gesprochen hatte, ohne sich etwas dabei zu denken, eine hitzige Szene, die den Worten gefolgt war, und an sein eigenes grenzenloses Erstaunen über die Wirkung, die seine Worte hervorgerufen hatten. Ihm war, als durchlebe er die ganze Szene noch einmal, als sei er plötzlich um Jahre zurückversetzt; er sah sich selber in einer Gesellschaft von Kameraden und hörte dieselbe erzürnte Stimme wie jetzt, sah dieselben stechenden Augen auf sich gerichtet, und dieselbe Bangigkeit wie damals überkam ihn, die Angst, wider Willen einem Menschen weh getan zu haben.

Es hatte überhaupt viele derartige Szenen gegeben zwischen Steinert und Hjälm, Szenen, die keiner von ihnen weiter tragisch nahm, die aber die beiden Männer doch schließlich auseinander brachten, weil sie sich im Grunde stets fremd gewesen, nur durch gemeinsame Freunde zusammengeführt und durch gleichartige Interessen damals zu allerhand ziellosen Jugendgesprächen getrieben worden waren. Hjälm dachte jetzt plötzlich daran, daß auch er sich derartiger Szenen erinnern konnte, wenn er nur erst ans Hervorsuchen ging, und während er daran dachte, kam ein unbestimmtes Gefühl von Groll über ihn, das noch von damals her in ihm lebte, trotzdem ihn so viele Jahre von dem Mann schieden, den er heute ganz zufälligerweise getroffen hatte.