Vorbemerkung des Herausgebers

Eines der einflussreichsten Bücher des 19. Jahrhunderts ist heute – völlig zu Unrecht – beinahe vergessen: Edward Bellamys ›Looking Backward, Or: Life in the Year 2000‹.

Dutzende spätere Autoren ließen sich von dem Werk inspirieren und schrieben Fortsetzungsgeschichten, Rezensionen oder Kommentare. Auch die heute bekanntesten Werke der Gattung utopischer Romane, Orwells ›1984‹ und Huxleys ›Brave New World‹ sind von ›Looking Backward‹ deutlich beeinflusst. Genau wie der nur sieben Jahre später erschienene Science-Fiction Roman ›Die Zeitmaschine‹ von H. G. Wells.

Hier wie dort begibt sich der Protagonist (Julian West) auf Zeitreise – bei Bellamy allerdings nicht durch eine Maschine, sondern durch einen über hundert Jahre währenden Schlaf, in den er versehentlich während einer Hypnose-Sitzung versetzt wird. Bei seinem Erwachen findet sich West in einer völlig veränderten Welt wieder. Zunächst bemerkt er die klare und reine Luft Bostons – ganz im Gegensatz zur verpesteten Atmosphäre des Jahres 1887, als die industrielle Revolution ihren Zenit erreicht hatte. – Doch auch das politische System hat sich erneuert und erinnert wiederum stark an Thomas Morus’ bereits im Jahr 1516 erschienenen Roman ›Utopia‹: Alle Menschen sind tatsächlich gleichberechtigt, ihre Bildung wird – ob arm oder reich – gleichermaßen gefördert, das Staatswesen ist auf Frieden und Stabilität ausgerichtet, Aggressionen sind verpönt. Auf der andern Seite muss jeder Staatsbürger durch einen begrenzte Zeit dauernden Arbeitsdienst zum Wohle der Gemeinschaft beitragen.

Erstaunlich sind die visionären technischen Vorgriffe, die Bellamy gelangen: So gibt es in seiner Welt bereits Kreditkarten (tatsächlich erst 1924 eingeführt), und eine Art Music-on-demand-Dienst, der über Telefonleitungen zu den Menschen übertragen wird, und aus dem sich jeder die Musikstücke nach Geschmack auswählen kann.

Insgesamt strebt Bellamy die Überwindung der sozialen Frage durch Technik an, was sowohl in der sozialistischen Bewegung der damaligen Zeit Diskussionen auslöste (Bellamys Utopie sei nichts weiter als eine fortgeschrittenere Form des Kapitalismus), wie auch auf Seiten der Privilegierten, für die die Chancengleichheit der Menschen überhaupt kein erstrebenswertes Ziel war.

© Redaktion eClassica, 2017

 

Über den Autor: Edward Bellamy (1850–1898) war ein amerikanischer Journalist und Schriftsteller. Auf Wunsch seiner strenggläubigen Eltern hätte er in den Kirchendienst eintreten sollen, entschied sich jedoch für ein Jurastudium. Später wechselte er in den Journalismus und schrieb für diverse namhafte amerikanische Zeitungen und Magazine. Sein erster größeres Werk ›Looking Backward‹ wurde zu einem internationalen Bestseller und erlebte alleine in den USA mehrere Hundert Auflagen. Bei den Lesern stieß das Buch auf enorme Resonanz, so dass sich nach Verbreitung des Werkes mehr als 150 Bellamy-Clubs gründeten, die das Ziel verfolgten, die vom Autor entworfene utopische Gesellschaft zu verwirklichen.

 

 


Achtes Kapitel

Als ich erwachte, suhlte ich mich sehr erfrischt und blieb noch eine beträchtliche Weile im Halbschlummer liegen, das Gefühl meines körperlichen Wohlbehagens genießend. Die Erfahrungen des vorangegangenen Tages, mein Erwachen im Jahre 2000, der Anblick des neuen Boston, mein Wirt und seine Familie und die wunderbaren Dinge, die ich gehört hatte, waren völlig aus meinem Gedächtnis entschwunden. Ich glaubte, ich wäre in meinem Schlafgemach daheim, und die Phantasiegebilde, die ich, halb träumend, halb wachend, an meinem Geiste vorüberziehen sah, hatten auf die Ereignisse und Erfahrungen meines früheren Lebens Bezug. Halb im Traum gedachte ich der Begebenheiten des Dekorationstages, meines Ausfluges mit Edith und ihrer Familie nach Mount Auburn und unsres gemeinschaftlichen Abendessens nach unsrer Rückkehr zur Stadt. Ich erinnerte mich, wie schön Edith ausgesehen hatte, und ich dachte dann an unsre Heirat; aber kaum hatte meine Einbildungskraft dieses erfreuliche Thema auszuspinnen begonnen, als mein wachender Traum durch die Erinnerung an den Brief abgeschnitten wurde, den ich am Abend zuvor vom Baumeister erhalten, und der mir angezeigt hatte, dass der Ausbruch des Streiks die Vollendung meines Hauses auf unbestimmte Zeit hinausschieben könnten. Der Ärger, den diese Erinnerung mit sich brachte, machte mich völlig wach. Es fiel mir ein, dass ich mit dem Baumeister eine Zusammenkunft um elf Uhr verabredet hatte, um mit ihm über den Streik Rücksprache zu nehmen, und blickte, meine Augen öffnend, nach der Uhr über dem Fußende meines Bettes, um zu sehen, wie spät es wäre. Aber keine Uhr war zu sehen, und was mehr war, ich gewahrte sofort, dass ich nicht in meinem Zimmer sei. Auf meinem Lager emporschnellend, starrte ich wild in dem fremden Räume umher.

Ich denke, viele Sekunden lang muss ich so im Bette aufgerichtet gesessen und um mich gestiert haben, ohne imstande gewesen zu sein, den Leitfaden zu meiner persönlichen Identität wiederzufinden. Ich war während dieser Augenblicke ebenso wenig fähig, mich vom reinen Sein zu unterscheiden, als der erste Entwurf einer Seele es sein würde, bevor er sein besonderes Merkzeichen, die individualisierende Berührung empfangen hat. Sonderbar, dass das Gefühl dieses Unvermögens eine solche Qual ist! Aber so sind wir beschaffen. Es gibt keine Worte für die geistige Marter, die ich durchlitt während dieses hilflosen, blinden Suchens nach mir selbst in einer grenzenlosen Leere. Keine andere Erfahrung des Bewusstseins gleicht wahrscheinlich irgendwie dem Gefühle absoluten geistigen Stillstandes, wie es beim Verluste unseres inneren Stützpunktes, des Ausgangspunktes für das Denken, während des Augenblicks einer solchen Verdunkelung der Empfindung persönlicher Identität eintritt. Ich hoffe, so etwas nimmer wieder zu erleben.

Ich weiß nicht, wie lange dieser Zustand angehalten hatte, – er schien eine Unendlichkeit, – als wie ein Blitz die Erinnerung an alles Geschehene mich durchzuckte. Ich erinnerte mich, wer und wo ich sei und wie ich hierher gekommen, und dass diese Szenen. die durch meinen Geist gezogen waren, als ob sie sich erst gestern ereignet hätten, eine Generation betrafen, die lange, lange schon in Staub zerfallen war. Aus dem Bette aufspringend, stand ich inmitten des Zimmers und umklammerte mit aller Kraft meine Schläfen mit den Händen, um sie am Zerspringen zu hindern. Dann fiel ich auf mein Lager zurück und lag, das Gesicht in die Kissen gegraben, ohne Bewegung. Die unvermeidliche Reaktion nach der geistigen Erhebung, dem intellektuellen Fieber, welches die erste Wirkung meines furchtbaren Erlebnisses gewesen, war gekommen. Die Gemütskrise, welche nur auf die völlige Vergegenwärtigung meiner wirklichen Lage und alles dessen, was sie einschloss, wartete, war eingetreten; und mit zusammengebissenen Zähnen und schwer atmender Brust, krampfhaft die Bettpfosten packend, lag ich da und kämpfte um meinen Verstand. In meinem Geiste hatte sich alles losgerissen, – Gefühlsgewohnheiten, Gedankenverbindungen, Vorstellungen von Personen und Dingen, alles hatte sich aufgelöst und den Zusammenhang verloren und wogte zusammen zu einem anscheinend unentwirrbaren Chaos. Da war kein Sammelpunkt mehr, nichts war fest geblieben. Nur der Wille allein war noch da, – und war irgend ein menschlicher Wille stark genug, solch einem tobenden Meere zuzurufen: »Friede, sei still«? Ich durfte nicht denken. Jeder Versuch, mir das, was mir zugestoßen sei und was es in sich schlösse, vorzustellen, verursachte meinem Hirn unerträglichen Schwindel. Die Idee, dass ich aus zwei Personen bestehe, dass meine Identität eine doppelte sei, begann, als die einfachste Erklärung meiner Erfahrung, mich zu bestricken.

Ich wusste, dass ich an der Grenze des Wahnsinns stand. Wenn ich so liegen blieb, war ich verloren. Zerstreuung irgend welcher Art musste ich haben, wenigstens die Zerstreuung körperlicher Anstrengung. Ich sprang auf, kleidete mich hastig an, öffnete die Tür und eilte die Treppe hinunter. Es war noch sehr früh, noch kaum hell, und ich fand niemanden in dem unteren Geschosse des Hauses. Im Flur hing ein Hut, und die Haustür öffnend, welche mit einer Nachlässigkeit geschlossen war, die anzeigte, dass der Einbruch nicht zu den Gefahren des modernen Boston gehörte, fand ich mich auf der Straße. Zwei Stunden lang ging oder rannte ich durch die Straßen der Stadt, indem ich die meisten Viertel ihres Halbinselteiles besuchte. Nur ein Altertumsforscher, der etwas von dem Gegensatz weiß, den das heutige Boston zu dem des neunzehnten Jahrhunderts bildet, kann annähernd schätzen, was für eine Reihe verwirrender Überraschungen ich während dieser Zeit erfuhr. Am Tage zuvor vom Dache des Hauses aus gesehen, war mir die Stadt in der Tat fremd erschienen; aber das betraf nur ihren allgemeinen Anblick. Wie vollständig die Veränderung war, gewahrte ich erst jetzt, als ich die Straßen durchwanderte. Die wenigen alten Merkzeichen, die noch geblieben waren, verstärkten nur diesen Eindruck; denn ohne dieselben hätte ich glauben können, mich in einer fremden Stadt zu befinden. Es kann jemand seine Geburtsstadt in seiner Kindheit verlassen und fünfzig Jahre später zurückkehren, sie vielleicht in vielen Stücken umgewandelt zu finden. Er ist erstaunt, aber nicht verwirrt. Er ist sich des großen Zeitraums bewusst, der verflossen ist, und der Veränderungen, die gleicherweise auch in ihm inzwischen sich ereignet haben. Er erinnert sich nur noch dunkel der Stadt, wie er sie als Kind kannte. Aber man bedenke, dass in mir kein Gefühl von dem Ablauf eines Zeitraums war. Soweit mein Bewusstsein in Betracht kam, war es erst gestern, erst vor wenigen Stunden gewesen, dass ich diese Straßen durchwandert hatte, in welchen kaum ein Stück einer vollständigen Verwandlung entgangen war. Das geistige Bild der alten Stadt war so frisch und stark, dass es dem Eindrucke der wirklichen Stadt nicht wich, sondern damit kämpfte, sodass es erst das Eine und dann das Andere war, das als das Unwirklichere erschien. Alles, was ich sah, war in ähnlicher Weise verwischt, wie übereinander photographierte Gesichter.

Zuletzt stand ich wieder an der Tür des Hauses, aus dem ich fortgegangen war. Meine Füße mussten mich instinktiv an die Stelle meines alten Heims zurückgetragen haben; denn ich hatte keine klare Vorstellung davon, dass ich dahin zurückgekehrt sei. Dies Haus war für mich nicht mehr ein Heim, als irgend ein anderer Fleck in dieser Stadt einer unbekannten Generation, und seine Bewohner waren nicht weniger gänzlich und unvermeidlich Fremde, als alle die andern Männer und Frauen, die jetzt auf der Erde lebten. Wäre die Tür des Hauses verschlossen gewesen, so hätte mich deren Widerstand daran erinnert, dass ich dort nichts zu suchen hatte, und ich würde mich entfernt haben; aber sie gab meiner Hand nach, ich ging mit unsicherem Schritt durch den Hausflur und trat in eines der anstoßenden Zimmer.

Ich warf mich in einen Stuhl und bedeckte meine brennenden Augen mit den Händen, um die Schrecken all des Fremden auszuschließen. Meine geistige Verwirrung hatte einen solchen Grad, dass sie physische Übelkeit erzeugte. Die Angst dieser Augenblicke, während deren mein Gehirn sich aufzulösen schien, oder dieses äußerste Gefühl der Hilflosigkeit, – wie kann ich es beschreiben? In meiner Verzweiflung stöhnte ich laut. Ich begann zu fühlen, dass, wenn jetzt nicht irgend welche Hilfe käme, ich wahnsinnig werden würde. Und gerade jetzt kam sie. Ich hörte das Rauschen eines Kleides und blickte auf. Edith Leete stand vor mir. Ihr schönes Antlitz war voll des schmerzlichsten Mitgefühls.

»O, was ist geschehen, Herr West?« fragte sie. »Ich war hier, als Sie eintraten. Ich gewahrte, wie furchtbar unglücklich Sie aussahen, und als ich Sie stöhnen hörte, konnte ich nicht länger still bleiben. Was ist Ihnen begegnet? Wo sind Sie gewesen? Kann ich irgend etwas für Sie tun?«

Vielleicht hatte sie unwillkürlich mit einer Bewegung des Mitleids die Hände mir entgegengestreckt, während sie sprach. Jedenfalls ergriff ich sie mit meinen eigenen und klammerte mich an sie an mit einem ebenso instinktiven Impulse, wie der ist, der den Ertrinkenden antreibt, das ihm im letzten Augenblicke zugeworfene Seil zu ergreifen und sich daran anzuklammern. Als ich in ihr mitleidvolles Antlitz und in ihre feuchten Augen blickte, ließ das schwindelnde Gefühl in meinem Kopfe nach. Das süße menschliche Mitgefühl, welches in dem sanften Drucke ihrer Finger bebte, hatte mir den Halt gebracht, dessen ich bedurfte. Sein beruhigender und besänftigender Einfluss war wie der eines wunderwirkenden Elixiers.

»Gott segne Sie,« sagte ich nach einigen Augenblicken. »Er muss Sie mir gesandt haben gerade jetzt. Ich glaube, ich war in Gefahr, wahnsinnig zu werden, wenn Sie nicht gekommen wären.«

Die Tränen traten ihr in die Augen. »O, Herr West!« rief sie aus. »Für wie herzlos müssen Sie uns gehalten haben! Wie konnten wir Sie so lange sich selbst überlassen! Aber jetzt ist es vorüber, nicht wahr? Gewiss fühlen Sie sich besser.«

»Ja,« sagte ich, »dank Ihnen. Wenn Sie noch ein Weilchen bleiben, so werde ich bald wieder ich selbst sein.«

»Wahrlich, ich will nicht fortgehen,« sagte sie, während über ihr Antlitz ein leises Zittern flog, welches ihr Mitgefühl mehr ausdrückte, als tausend Worte es getan hätten. »Sie müssen nicht glauben, dass wir so herzlos sind, wie wir zu sein scheinen, weil wir Sie so allein ließen. Ich habe in der letzten Nacht kaum geschlafen, da ich immer daran denken musste, wie seltsam Ihr Erwachen diesen Morgen sein würde; aber mein Vater sagte, Sie würden lange schlafen. Er sagte, es würde besser sein, Ihnen zuerst nicht zu viel Mitgefühl zu zeigen, sondern Sie zu zerstreuen zu suchen und Sie fühlen zu lassen, dass Sie unter Freunden sind.«

»Sie haben mich das in der Tat fühlen lassen,« antwortete ich. »Aber Sie sehen, es ist ein ziemlicher Stoß, hundert Jahre zu überspringen; und obwohl ich gestern Abend das nicht so sehr zu empfinden schien, habe ich doch heute Morgen recht üble Gefühle gehabt.« Während ich ihre Hand hielt und mein Auge auf ihrem Antlitz ruhen ließ, konnte ich über meinen Zustand sogar schon ein wenig scherzen.

»Niemand dachte an so etwas, wie dass Sie ausgehen würden in die Stadt, allein, so früh am Morgen,« fuhr sie fort. »Wo sind Sie gewesen, Herr West?«

Da erzählte ich ihr denn von meinen Morgenerlebnissen, von meinem ersten Erwachen an bis zu dem Momente, wo ich, aufblickend, sie vor mir sah, – wie ich es eben erzählt habe. Während des Berichtes wurde sie von schmerzlichem Mitleid bewegt, und obwohl ich eine ihrer Hände losgelassen hatte, versuchte sie doch nicht, mir die andere zu entziehen, ohne Zweifel, weil sie sah, wie wohl es mir tat, sie zu halten. »Ich kann es mir ein wenig vorstellen, wie dieses Gefühl gewesen sein muss,« sagte sie. »Es muss fürchterlich gewesen sein. Und daran zu denken, dass Sie allein gelassen waren, mit demselben zu kämpfen! Können Sie uns je vergeben?«

»Aber es ist jetzt vorüber. Sie haben es für diesmal gänzlich verscheucht,« sagte ich.

»Sie werden nicht leiden, dass es wiederkehrt?« fragte sie ängstlich.

»Das kann ich nicht ganz sagen,« erwiderte ich. »Es möchte zu früh sein, das zu sagen, wenn ich erwäge, wie fremdartig immer noch alles für mich sein wird.«

»Aber Sie werden wenigstens nicht mehr versuchen, allein dagegen anzukämpfen,« verlangte sie. »Versprechen Sie, dass Sie zu uns kommen, uns an Ihrem Ergehen teilnehmen und uns versuchen lassen wollen, Ihnen zu helfen. Vielleicht können wir nicht viel tun; aber es wird sicher besser sein, als wenn Sie solche Gefühle allein zu tragen versuchen.«

»Ich will zu Ihnen kommen, wenn Sie es mir erlauben,« sagte ich.

»O ja, ja, ich bitte Sie darum,« rief sie eifrig. »Ich würde alles tun, was ich kann, Ihnen zu helfen.«

»Alles, was Sie zu tun brauchen, ist, Teilnahme für mich zu haben, wie Sie sie jetzt zu haben scheinen.«

»Es ist also abgemacht,« sagte sie, unter Tränen lächelnd, »dass Sie das nächste Mal zu mir zu kommen und es mir zu berichten haben und nicht mehr durch ganz Boston unter Fremde laufen werden.«

Diese Annahme, dass wir nicht Fremde seien, schien mir kaum fremdartig, so nahe hatten uns mein Leid und ihre teilnehmenden Tränen in diesen wenigen Minuten einander gebracht.

»Ich will versprechen, wenn Sie zu mir kommen,« fügte sie mit einem Ausdruck reizender Schelmerei hinzu, der aber, als sie fortfuhr, in einen solchen der Begeisterung überging, »zu versuchen, mir den Anschein zu geben, als ob ich Sie so sehr bedauerte, wie Sie es nur wünschen mögen; aber Sie dürfen auch nicht einen Augenblick annehmen, dass ich Sie wirklich irgendwie bedauere, oder dass ich meine, Sie würden sich noch lange selbst bedauern. Das weiß ich, wie ich weiß, dass die Welt jetzt ein Himmel ist, verglichen mit der, wie sie zu Ihrer Zeit war, dass das einzige Gefühl, welches Sie binnen kurzem haben werden, eines der Dankbarkeit gegen Gott sein wird, dass Ihr Leben in jenem Zeitalter so seltsam abgeschnitten wurde, um Ihnen in diesem wiedergegeben zu werden.«

 

 


Neuntes Kapitel

Dr. Leete und seine Frau waren, als sie jetzt eintraten, augenscheinlich nicht wenig erstaunt, zu erfahren, dass ich diesen Morgen allein in der ganzen Stadt umhergelaufen sei, und waren offenbar angenehm überrascht, mich nach diesem Erlebnisse anscheinend so wenig aufgeregt zu finden.

»Ihre Wanderung muss ja wohl sehr interessant gewesen sein,« sagte Frau Leete, als wir bald darauf bei Tisch saßen. »Sie müssen recht viel Neues gesehen haben.«

»Ich sah sehr wenig, was nicht neu war,« erwiderte ich. »Aber ich denke, was mich mindestens ebenso sehr wie irgend etwas anderes überraschte, war, auf der Washingtonstraße keine Läden und in der Statestraße keine Bankgeschäfte zu finden. Was haben Sie mit den Kaufleuten und den Bankiers gemacht? Vielleicht sie alle aufgehängt, wie die Anarchisten zu meiner Zeit es wünschten?«

»So schlimm ist es nicht geworden,« erwiderte Dr. Leete. »Wir brauchen sie einfach nicht mehr. In der modernen Welt hat ihre Tätigkeit aufgehört.«

»Wer verkauft Ihnen die Sachen, wenn Sie sie kaufen wollen?« fragte ich.

»Es gibt heutzutage weder ein Verkaufen noch ein Kaufen; die Verteilung der Güter wird in anderer Weise bewirkt. Was die Bankiers anbetrifft, so haben wir, da wir kein Geld haben, kein Bedürfnis nach diesen Herren.«

»Fräulein Leete,« sagte ich, indem ich mich an Edith wandte, »ich fürchte, dass Ihr Herr Vater Scherz mit mir treibt. Ich tadle ihn nicht, denn die Versuchung, in welche meine Einfalt ihn führen muss, ist sicher außerordentlich groß. Aber mein Glaube an die möglichen Veränderungen der Gesellschaftsordnung hat wirklich seine Grenzen.«

»Mein Vater denkt gar nicht daran zu scherzen,« versicherte sie mit einem beschwichtigenden Lächeln.

Die Unterhaltung nahm nun eine andere Wendung, – wenn ich mich recht erinnere, lenkte Frau Leete sie auf die weiblichen Moden im neunzehnten Jahrhundert, – und erst nach dem Frühstück, als ich einer Einladung des Doktors auf das Dach des Hauses gefolgt war, welches einer seiner Lieblingsplätze zu sein schien, kam er auf den Gegenstand zurück.

»Sie waren überrascht,« bemerkte er, »als ich sagte, dass wir ohne Geld und Handel auskämen; aber eine kurze Überlegung wird Ihnen zeigen, dass nur darum zu Ihrer Zeit Handel existierte und Geld nötig war, weil die Produktion Privathänden überlassen war, und dass beides folglich jetzt überflüssig ist.«

»Ich sehe nicht sogleich ein, inwiefern das folgt,« erwiderte ich.

»Es ist sehr einfach,« sagte Dr. Leete. »Als unzählige, in keinem Zusammenhang stehende und voneinander unabhängige Personen die verschiedenen, für Leben und Wohlsein nötigen Dinge produzierten, da musste ein endloser Austausch zwischen den einzelnen Personen stattfinden, damit diese sich mit dem versorgen konnten, was sie wünschten. Dieser Austausch bildete den Handel, und Geld war das notwendige Medium. Aber sobald die Nation der einzige Produzent aller Waren wurde, da hatten die Individuen, um das zu erhalten, was sie brauchten, keinen Austausch mehr nötig. Alles konnte man aus einer Quelle und nichts anderswoher beziehen. Ein System direkter Verteilung aus den nationalen Warenlagern trat an die Stelle des Handels, und zu jenem war das Geld unnötig.«

»Wie geschieht diese Verteilung?« fragte ich.

»Auf die möglichst einfache Weise,« erwiderte Dr. Leete. »Ein Kredit, der seinem Anteil an der jährlichen Produktion des Landes entspricht, wird jedem Bürger am Anfange eines jeden Jahres in der Staatsbuchführung eingeräumt und eine Kreditkarte wird ihm ausgestellt, auf Grund welcher er sich aus den öffentlichen Warenlagern, die es in jeder Gemeinde gibt, das besorgt, was er nur wünscht und wann er es wünscht. Diese Einrichtung beseitigt, wie Sie sehen, vollständig die Notwendigkeit aller Handelsgeschäfte zwischen einzelnen Personen. Vielleicht möchten Sie sehen, wie eine solche Kreditkarte aussieht.«

»Sie bemerken,« fuhr er fort, als ich neugierig das Stück Kartonpapier betrachtete, welches er mir gegeben hatte, »dass diese Karte auf eine gewisse Anzahl Dollars ausgestellt ist. Wir haben das alte Wort behalten, aber nicht die Sache. Der Ausdruck, wie wir ihn brauchen, entspricht nicht einem wirklichen Dinge, sondern dient nur als ein algebraisches Zeichen, um die Werte der verschiedenen Produkte miteinander zu vergleichen. Zu diesem Zwecke ist für alle ein Preis in Dollars und Cents festgesetzt, ganz wie zu Ihrer Zeit. Der Wert der von mir auf Grund dieser Karte entnommenen Gegenstände wird von dem Beamten gebucht, welcher aus diesen Reihen von Vierecken den Preis des von mir Bestellten ausschneidet.«

»Wenn Sie von Ihrem Nachbar etwas zu kaufen wünschten, könnten Sie ihm dann einen Teil Ihres Kredits als Entschädigung übertragen?« fragte ich.

»Zunächst,« erwiderte Dr. Leete, »haben unsre Nachbarn uns nichts zu verkaufen; aber jedenfalls würde unser Kredit nicht übertragbar sein, da er streng persönlich ist. Bevor die Nation auch nur daran denken könnte, irgend eine solche Übertragung, von der Sie reden, anzuerkennen, würde sie verbunden sein, alle Einzelheiten der Verhandlung zu untersuchen, um im Stande zu sein, sich von deren völliger Rechtmäßigkeit zu überzeugen. Es würde Grund genug gewesen sein, selbst wenn es keinen anderen gegeben hätte, das Geld abzuschaffen, dass der Besitz desselben kein Beweis des rechtmäßigen Anspruchs auf dasselbe war. In den Händen des Menschen, der es gestohlen oder durch Mord erlangt hatte, war es eben soviel wert, wie in den Händen desjenigen, der es durch seinen Fleiß erworben. Die Menschen tauschen heutzutage Gaben der Freundschaft untereinander aus; aber Kaufen und Verkaufen gilt für etwas, das unverträglich ist mit dem gegenseitigen Wohlwollen und der Uneigennützigkeit, welche zwischen den Bürgern herrschen sollten, und mit dem Gefühle der Gemeinsamkeit der Interessen, auf welchem unsre Gesellschaftsordnung beruht. Nach unseren Ansichten ist Kaufen und Verkaufen in allen seinen Folgen gesellschaftsfeindlich. Es erzieht zur Selbstsucht auf Kosten anderer; und kein Gemeinwesen, dessen Bürger in einer solchen Schule gebildet worden sind, kann sich über einen sehr niedrigen Grad der Zivilisation erheben.«

»Wie nun aber, wenn Sie einmal mehr ausgeben müssen, als Ihre Karte Ihnen zugesteht?« fragte ich.

»Der Betrag ist so reichlich, dass es wahrscheinlicher ist, dass wir ihn bei weitem nicht ausgeben werden,« erwiderte Dr. Leete. »Aber wenn außerordentliche Ausgaben ihn erschöpfen sollten, so können wir einen beschränkten Vorschuss von dem Kredit des nächsten Jahres erhalten, obwohl man diesen Brauch nicht ermutigt und einen großen Abzug macht, um ihm Einhalt zu tun. Natürlich, wenn jemand sich als ein sorgloser Verschwender erweisen sollte, so würde er sein Gehalt monatlich oder wöchentlich erhalten, oder wenn es notwendig wäre, würde es ihm überhaupt nicht gestattet werden, dasselbe zu verwalten.«

»Wenn Sie Ihr Guthaben nicht verbrauchen, so wächst es wohl an?«

»Das ist bis zu einem gewissen Umfange auch gestattet, falls eine besondere Ausgabe zu erwarten ist. Aber wenn nicht das Gegenteil angezeigt wird, so wird angenommen, dass der Bürger, welcher seinen Kredit nicht völlig ausnutzt, keine Gelegenheit dazu gehabt hat, und der Rest wird zu dem allgemeinen Überschuss hinzugeschlagen.«

»Ein solches System ermutigt die Bürger nicht eben zur Sparsamkeit,« sagte ich.

»Das soll es auch nicht,« war die Antwort. »Die Nation ist reich, und sie wünscht nicht, dass man sich irgend welches Gute versage. Zu Ihrer Zeit waren die Menschen genötigt, Geld und Gut aufzuspeichern, um sich gegen künftige Verluste zu schützen und für ihre Kinder zu sorgen. Die Notwendigkeit machte die Sparsamkeit zur Tugend. Aber jetzt würde sie kein solch löbliches Ziel haben, und da sie ihre Nützlichkeit eingebüßt hat, wird sie nicht mehr als eine Tugend angesehen. Niemand sorgt mehr für den kommenden Tag, weder für sich noch für seine Kinder; denn die Nation verbürgt die Ernährung, die Erziehung und den behaglichen Unterhalt eines jeden Bürgers, von der Wiege bis zum Grabe.«

»Das ist eine gar große Bürgschaft!« sagte ich. »Welche Sicherheit besteht, dass der Wert der Arbeit eines Menschen die Nation für ihre Auslagen entschädigen wird? Im ganzen mag die Gesellschaft im Stande sein, den Unterhalt aller ihrer Glieder zu beschaffen; aber einige müssen weniger erwerben, als für ihren Unterhalt hinreicht, und andere mehr: und das bringt uns wieder zur Lohnfrage zurück, über welche Sie bisher noch gar nichts gesagt haben. Wenn Sie sich erinnern, war es gerade dieser Punkt, bei dem unsere Unterhaltung gestern abbrach; und ich sage abermals, dass nach meiner Meinung hier ein nationales Industriesystem, wie das Ihrige, seine Hauptschwierigkeit finden muss. Wie, so frage ich nochmals, können Sie in befriedigender Weise die verhältnismäßigen Löhne und Entgelte für die Menge der so verschiedenen und unvergleichbaren Berufsarten feststellen, welche der Dienst der Gesellschaft erfordert? Zu unserer Zeit bestimmte der Marktpreis den Preis aller Arten von Arbeit sowohl als von Gütern. Die Unternehmer bezahlten so wenig und die Arbeiter nahmen so viel, wie sie konnten. Moralisch, das gebe ich zu, war dies kein schönes System; aber es gewährte uns wenigstens eine brauchbare ungefähre Formel zur Entscheidung einer Frage, welche jeden Tag zehntausendmal entschieden werden musste, wenn die Welt überhaupt vorwärts kommen sollte. Es schien uns kein anderes anwendbares Mittel zu geben.«

»Ja,« erwiderte Dr. Leete, »es war auch das einzige anwendbare Mittel unter einem Systeme, welches das Interesse eines jeden Individuums zu dem jedes andern in Gegensatz brachte; aber es würde erbärmlich gewesen sein, wenn die Menschheit niemals einen bessern Plan hätte ersinnen können; denn der Ihrige war nur die Anwendung der Teufelsmaxime ›Deine Not ist mein Nutzen‹ auf die gegenseitigen Beziehungen der Menschen. Die Belohnung für irgend eine Dienstleistung hing nicht von ihrer Schwierigkeit, Unannehmlichkeit oder Gefahr ab, – denn es scheint, dass in der ganzen Welt die gefährlichste, härteste und widerwärtigste Arbeit von den am schlechtesten bezahlten Klassen geleistet wurde; – sondern lediglich davon, wie viel die, welche den Dienst brauchten, zu geben gezwungen waren.«

»Alles das ist zuzugeben,« sagte ich. »Aber bei allen seinen Mängeln war doch das Verfahren, die Preise nach Angebot und Nachfrage zu regeln, eine praktische Methode; und ich kann mir nicht denken, welchen befriedigenden Ersatz Sie dafür ersonnen haben können. Da der Staat der einzige Unternehmer ist, so gibt es natürlich keinen Arbeitsmarkt oder Marktpreis. Die Löhne aller Art müssen von der Regierung willkürlich festgesetzt werden. Ich kann mir keine verwickeltere und heiklere Aufgabe denken, als diese sein muss, – keine, die, wie immer sie gelöst werden möge, so sicher ist, allgemeine Unzufriedenheit hervorzurufen.«

»Ich bitte um Verzeihung,« erwiderte Dr. Leete, »ich denke, Sie übertreiben die Schwierigkeit. Nehmen Sie an, eine aus verständigen Männern bestehende Behörde wäre damit beauftragt, die Löhne für alle Arten von Gewerben unter einem Systeme festzusetzen, welches, wie das unsrige, bei freier Wahl des Berufes Allen Beschäftigung verbürgt. Sehen Sie nicht, dass, wie ungenügend auch die erste Abschätzung sein möge, die Fehler sich bald von selbst berichtigen würden? Die begünstigten Gewerbe würden zu viele Freiwillige, und die zurückgesetzten zu wenige haben, bis der Fehler verbessert wäre. Aber das bemerke ich nur nebenbei; denn obwohl dieser Plan, denke ich, praktisch genug sein würde, so ist er doch kein Teil unsres Systems.«

»Wie regeln Sie denn nun also die Löhne?« fragte ich noch einmal.

Dr. Leete antwortete erst nach mehreren Augenblicken schweigenden Nachsinnens. »Ich weiß natürlich,« sagte er endlich, »genug von der alten Ordnung der Dinge, um genau zu verstehen, was Sie mit jener Frage meinen; aber die gegenwärtige Ordnung ist in diesem Punkte so ganz anders, dass ich ein wenig verlegen bin, wie ich Ihre Frage am besten beantworte. Sie fragen mich, wie wir die Löhne regeln; ich kann nur erwidern, dass es in der modernen Nationalökonomie keinen Begriff gibt, welcher irgendwie dem entspricht, der zu Ihrer Zeit unter Lohn verstanden wurde.«

»Sie meinen wohl, dass Sie kein Geld haben, worin der Lohn gezahlt wird?« sagte ich. »Aber der dem Arbeiter gewährte Anspruch auf Bezug von Waren aus den öffentlichen Vorräten entspricht dem, was bei uns Lohn war. Wie wird nun die Höhe des Kredits, der den Arbeitern in den verschiedenen Berufszweigen eröffnet wird, bestimmt? Unter welchem Rechtstitel beansprucht der Einzelne seinen besonderen Anteil? Was ist die Grundlage der Verteilung?«

»Sein Rechtstitel,« erwiderte Dr. Leete, »ist sein Menschentum. Sein Anspruch ruht auf der Tatsache, dass er ein Mensch ist.«

»Auf der Tatsache, dass er ein Mensch ist!« wiederholte ich ungläubig. »Sie meinen damit doch nicht etwa, dass alle den gleichen Anteil haben?«

»Ganz sicher.«

Die Leser dieses Buches, welche nie eine andere Einrichtung praktisch kennen gelernt und nur durch geschichtliche Studien davon Kunde haben, dass in früheren Epochen ein ganz anderes System herrschte, können sich unmöglich das an Betäubung grenzende Erstaunen vorstellen, in welches Dr. Leetes einfache Erklärung mich versetzte.

»Sie sehen,« sagte er lächelnd, »es liegt nicht bloß daran, dass wir kein Geld haben, worin wir den Lohn bezahlen können, sondern dass wir, wie ich sagte, überhaupt nichts haben, was Ihrem Begriffe des Lohnes entspricht.«

Inzwischen hatte ich mich hinreichend erholt, um einigen der kritischen Einwände Ausdruck geben zu können, welche mir, dem Manne des neunzehnten Jahrhunderts, gegen diese mich verblüffende Einrichtung zuerst aufstießen. »Manche leisten noch einmal so viel als andere!« rief ich aus. »Sind die geschickten Arbeiter mit einem Systeme zufrieden, das sie mit den mittelmäßigen auf eine Linie stellt?«

»Wir lassen nicht den geringsten Grund übrig, irgendwie über Ungerechtigkeit zu klagen,« erwiderte Dr. Leete, »da wir von allen genau dasselbe Maß der Dienstleistung verlangen.«

»Wie können Sie das, möchte ich gern wissen, da es doch kaum zwei Menschen gibt, deren Kräfte die gleichen sind?«

»Nichts kann einfacher sein,« war Dr. Leetes Erwiderung. »Wir verlangen von jedem, dass er die gleiche Anstrengung macht; das heißt, wir fordern von ihm die beste Leistung, deren er fähig ist.«

»Und angenommen, alle leisten das Beste, was sie können,« antwortete ich, »so wird doch das Arbeitsprodukt des einen noch einmal so groß sein, wie das des andern.«

»Sehr wahr,« erwiderte Dr. Leete; »aber die Größe des Arbeitsproduktes hat gar nichts mit unserer Frage zu tun, die eine Frage des Verdienstes ist. Verdienst ist ein moralischer Begriff, und die Größe des Arbeitsproduktes ein materieller. Es würde eine sonderbare Art von Logik sein, welche eine moralische Frage durch einen materiellen Maßstab zu entscheiden versuchte. Der Grad der Anstrengung allein kommt beim Verdienst in Frage. Alle, welche ihr Bestes leisten, leisten das Gleiche. Die Begabung eines Menschen, so göttlich sie auch sein möge, bestimmt nur das Maß seiner Verpflichtung. Der hochbegabte Mensch, der nicht alles tut, was er kann, wird, ob er auch mehr leiste als der wenig begabte, welcher sein Bestes tut, für einen minder verdienstvollen Arbeiter gehalten als der letztere, und stirbt als Schuldner seiner Mitmenschen. Der Schöpfer stellt den Menschen ihre Aufgaben durch die Fähigkeiten, welche er ihnen verleiht; wir fordern nur deren Erfüllung.«

»Ohne Zweifel ist das eine sehr edle Philosophie,« sagte ich; »nichtsdestoweniger erscheint es hart, dass derjenige, welcher zweimal soviel schafft als ein anderer, gesetzt auch, dass beide ihr Bestes tun, nur denselben Gewinnanteil haben sollte.«

»Erscheint es Ihnen in der Tat so?« antwortete Dr. Leete. »Mir nun wieder erscheint dies seltsam. Die Art, wie heutzutage die Menschen die Sache auffassen, ist: dass jemand, der mit der gleichen Anstrengung zweimal so viel als ein anderer leisten kann, anstatt dafür belohnt zu werden, bestraft werden sollte, wenn er es nicht tut. Belohntet Ihr wohl im neunzehnten Jahrhundert ein Pferd, weil es eine schwerere Last zog, als eine Ziege? Wir würden es tüchtig peitschen, wenn es das nicht getan hätte, aus dem Grunde, weil es das hätte tun sollen, da es ja so viel stärker ist. Es ist sonderbar, wie sich die moralischen Maßstäbe ändern.« Der Doktor sagte dies mit einem solchen Zwinkern in seinem Auge, dass ich lachen musste.

»Ich vermute,« sagte ich, »dass der wahre Grund, weswegen wir die Menschen für ihre Anlagen belohnten, während wir die von Pferden und Ziegen nur als einen Umstand ansehen, welcher die streng von ihnen zu fordernde Leistung festsetzte, der war, dass die Tiere, als vernunftlose Geschöpfe, von Natur das Beste taten, was sie konnten, während die Menschen nur dadurch dazu bestimmt werden konnten, dass man sie nach der Größe ihrer Leistung belohnte. Das lässt mich fragen, ob Sie nicht, falls sich nicht die menschliche Natur in den hundert Jahren gewaltig verändert hat, derselben Notwendigkeit unterworfen sind.«

»Das sind wir,« erwiderte Dr. Leete. »Ich glaube nicht, dass sich in dieser Hinsicht die menschliche Natur seit Ihrer Zeit irgendwie verändert hat. Sie ist immer noch so beschaffen, dass besondere Reizmittel in der Gestalt von Preisen und zu erringenden Vorteilen erforderlich sind, um beim Durchschnittsmenschen in irgend einer Richtung die höchste Anspannung seiner Kräfte hervorzurufen.«

»Aber welche Antriebe,« fragte ich, »kann ein Mensch haben, die höchsten Anstrengungen zu machen, wenn, wie viel oder wie wenig er auch vollbringen möge, sein Einkommen dasselbe bleibt? Erhabene Charaktere können unter jeder Gesellschaftsordnung durch die Hingabe an das Gemeinwohl bewegt werden; aber hat nicht der Durchschnittsmensch die Neigung, mit seinem Streben nachzulassen, indem er denkt, dass es ja keinen Zweck hat, sich zu bemühen, da alle Anstrengung sein Einkommen doch nicht vermehren und die Unterlassung derselben es nicht vermindern wird?«

»Scheint es Ihnen also wirklich so,« antwortete mein Gefährte, »dass die menschliche Natur für alle anderen Motive außer der Furcht vor Mangel und der Liebe zum Wohlleben unempfindlich ist, so dass Sie erwarten müssen, mit der Sicherheit und Gleichheit des Unterhalts werde jeglicher Antrieb zu Anstrengungen aufhören? Ihre Zeitgenossen glaubten es tatsächlich nicht, ob sie sich gleich eingebildet haben mögen, es zu glauben. Wenn es sich um die höchsten Arten der Anstrengung handelte, um die völlige Selbstaufopferung, dann verließen sie sich auf ganz andere Antriebe. Nicht höherer Lohn, sondern Ehre und die Hoffnung auf die Dankbarkeit der Menschen, Vaterlandsliebe und Pflichtgefühl waren die Motive, welche sie ihren Soldaten zeigten, wenn es sich darum handelte, für sein Volk zu sterben; und nie gab es ein Zeitalter der Welt, wo diese Motive nicht das Beste und Edelste im Menschen hervorriefen. Und nicht nur dies; sondern wenn Sie die Liebe zum Gelde, welche der gewöhnliche Trieb zur Anstrengung in Ihren Tagen war, untersuchen, so werden Sie finden, dass die Furcht vor Mangel und der Wunsch nach Wohlleben nicht die einzigen Motive waren, welche dem Streben nach Gelderwerb zu Grunde lagen. Bei vielen Menschen waren andere Motive weit einflussreicher: das Streben nach Macht, nach gesellschaftlicher Stellung, nach der Ehre, als Mann von Talent und Erfolg zu gelten. So sehen Sie denn, dass, obwohl wir die Armut und die Furcht davor, übermäßigen Luxus und die Hoffnung darauf beseitigt haben, wir den größeren Teil der Motive, die in früheren Zeiten der Liebe zum Gelde zu Grunde lagen, und alle diejenigen, welche die erhabeneren Arten der Tätigkeit beseelten, unberührt gelassen haben. Die roheren Beweggründe, die uns nicht mehr antreiben, sind durch höhere ersetzt worden, welche dem bloßen Lohnarbeiter Ihrer Zeit völlig unbekannt waren. Jetzt, da der Gewerbsfleiß jeder Art nicht mehr Selbstdienst, sondern Dienst der Nation ist, wird der Arbeiter, wie zu Ihrer Zeit der Soldat, durch Patriotismus und Liebe zur Menschheit angetrieben. Das Heer der Arbeit ist ein Heer, nicht allein durch seine vollkommene Organisation, sondern auch durch den Opfermut, der seine Glieder beseelt.

»Aber wie Sie die Motive der Vaterlandsliebe durch die Liebe zum Ruhme zu ergänzen pflegten, um die Tapferkeit Ihrer Soldaten anzuspornen, so tun auch wir es. Da unser industrielles System auf dem Prinzip beruht, von einem jeden das gleiche Maß von Anstrengung zu verlangen, nämlich das Beste, was er leisten kann, so werden Sie sehen, dass die Mittel, durch welche wir die Arbeiter antreiben, ihr Bestes zu tun, ein sehr wesentlicher Teil unsres Systems sind. Bei uns ist Eifer im Dienste der Nation der einzige und der sichere Weg zu öffentlicher Anerkennung, sozialer Auszeichnung und amtlicher Macht. Der Wert der Dienste eines Menschen für die Gesellschaft bestimmt seinen Rang in derselben. Verglichen mit unseren Mitteln, die Menschen zu eifriger Tätigkeit anzuspornen, halten wir Ihre Methode, sich auf die Wirkung des Anblicks drückender Armut und üppiger Pracht zu verlassen, für ebenso schwach und unsicher, wie sie barbarisch war. Die Gier nach Ehre trieb selbst in Ihrer niedrig gesinnten Zeit anerkanntermaßen die Menschen zu verzweifelteren Anstrengungen an, als es die Liebe zum Gelde vermocht hätte.«

»Es würde mich außerordentlich interessieren,« sagte ich, etwas Näheres über diese sozialen Einrichtungen zu erfahren.

»Das System ist natürlich bis ins einzelne ausgearbeitet,« erwiderte der Doktor, »denn es ist die Grundlage der gesamten Organisation unsres Arbeiterheeres; aber einige Worte werden Ihnen eine allgemeine Vorstellung davon geben.«

In diesem Augenblicke wurde unser Gespräch durch das Erscheinen Ediths auf unsrer luftigen Plattform angenehm unterbrochen. Sie war zum Ausgehen angekleidet und war gekommen, um mit ihrem Vater über eine Besorgung zu sprechen, die er ihr aufgetragen hatte.

»Da fällt mir ein, Edith,« rief er, als sie im Begriffe war, uns zu verlassen, »ob es Herrn West nicht interessant sein würde, mit dir den Bazar zu besuchen? Ich habe ihm etwas von unserer Art der Verteilung der Produkte erzählt, und vielleicht würde er sie gern praktisch kennen lernen.«

»Meine Tochter,« fügte er, sich zu mir wendend, hinzu, »ist eine unermüdliche Basarbesucherin und kann Ihnen von denselben mehr mitteilen, als ich es vermag.«

Der Vorschlag war mir natürlich sehr erfreulich; und da Edith so freundlich war zu sagen, dass ihr meine Begleitung angenehm sein würde, so verließen wir zusammen das Haus.