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Inhalt

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Nachwort

Ein riesiges Schloss aus Stein und Eisen schwebt am unendlichen Firmament.

Das ist die Gänze dieser Welt.

Nach einem Monat Vermessungsarbeiten fand eine Gruppe exzentrischer Handwerker heraus, dass der Durchmesser des untersten Stockwerks ungefähr zehn Kilometer beträgt, sodass Tokyos Bezirk Setagaya* komplett hineinpassen würde. Weil darüber nicht weniger als einhundert weitere Ebenen liegen, ist die Größe der Welt in ihrer Gänze unvorstellbar. Es war unmöglich, die dafür benötigte Datenmenge auch nur zu erahnen.

Im Inneren des Schlosses existieren mehrere Großstädte, kleinere Städte und Dörfer, Wälder und Wiesen, Seen und so weiter. Auf jeder Ebene gibt es nur eine einzige Treppe, die das Stockwerk mit dem darüber verbindet, und da all diese Treppen in gefährlichen Dungeons liegen, in denen Monster herumlungern, ist das Auffinden und Benutzen schwierig. Aber wenn einmal jemand durchgekommen ist und eine Großstadt auf der nächsthöheren Ebene erreicht hat, dann wird diese über ein »Teleportgate« mit allen Großstädten auf den Ebenen darunter verbunden und jeder kann sich danach frei zwischen ihnen bewegen.

Auf diese Weise wurde das riesige Schloss über den langen Zeitraum von zwei Jahren langsam erobert. Die derzeitige Front ist die 74. Ebene.

Der Name des Schlosses ist »Aincrad«. Eine Welt der Schwerter und Kämpfe, in der sich ungefähr 6.000 Menschen aufhalten. Sie heißt auch …

»Sword Art Online«.

*Bezirk in Tokyo, 58 km² groß

1

Die dunkelgrau glänzende Schwertspitze bohrte sich in meine Schulter.

Eine kalte Hand griff nach meinem Herzen, als die dünne Linie, die in meinem oberen Gesichtsfeld angezeigt wurde, ein kleines bisschen schrumpfte.

Diese waagerechte grüne Linie war mein Hit Point Bar, mein Trefferpunktebalken – die sichtbar gemachte verbleibende Menge meiner Lebenskraft.

Es waren noch über 80 Prozent des Maximalwertes übrig, aber so durfte ich nicht denken. Ich war jetzt 20 Prozent näher am Tod.

Bevor mein Gegner zum nächsten Angriff ausholen konnte, wich ich zurück und brachte Abstand zwischen ihn und mich.

Ich keuchte und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Mein »Körper« in dieser Welt brauchte keinen Sauerstoff, aber der, der auf der anderen Seite, in der realen Welt auf meinem Bett lag, keuchte jetzt sicher heftig. Kalter Schweiß würde auf meinen ausgestreckten Händen glitzern und mein Herz würde rasen.

Kein Wunder.

Auch wenn alles, was ich sah, virtuelle 3-D-Objekte und meine schwindende Lebenskraft nur digitalisierte Trefferpunkte waren, riskierte ich bei diesem Kampf doch mein Leben.

In diesem Sinn war dieser Kampf äußerst unfair. Denn mein »Feind« – das Monster, halb Mensch, halb Tier, mit der glitschigen, grün glänzenden schuppigen Haut und den langen Armen, dem Kopf und dem Schwanz einer Echse – das war nicht nur offensichtlich kein Mensch, sondern es hatte auch kein echtes Leben. Egal wie oft es getötet wurde, es war nur ein Haufen digitaler Daten, der vom System unendlich oft wiederbelebt werden konnte.

Nun, ganz so einfach dann doch nicht.

Das AI-Programm, das diesen Echsenmenschen steuerte, hatte meine Art zu kämpfen beobachtet, die Algorithmen des Monsters angepasst und mit jeder Minute weiter verbessert. Doch unmittelbar nach seiner Vernichtung würden diese Algorithmen zurückgesetzt werden, anstatt die Lerndaten als Feedback an den nächsten Körper derselben Art zu senden, der in dieser Gegend auftauchen würde.

In diesem Sinn lebte also auch dieser Echsenmann. Als einzigartiges Wesen auf dieser Welt.

»Oder so …«

Es war unmöglich, dass er mein Gemurmel verstanden hatte, aber der Echsenmann – ein Monster des Levels 82 namens »Lizardman Lord« – bleckte seine zahlreichen langen, dünnen, scharfen Fangzähne und lachte.

Das war real. Diese ganze Welt war real.

Ich hob meine rechte Hand, in der ich das Einhand-Langschwert hielt, und brachte mich in Angriffsposition.

Auch der Lizardman hielt den Faustschild in seiner linken Hand hoch und zog den Scimitar mit seiner rechten.

Durch die dämmrigen Passagen des Labyrinths blies von irgendwoher ein kühler Wind und ließ die Fackeln an der Mauer auflodern. Das Licht der Flammen spiegelte sich unruhig auf dem feuchten Steinpflaster.

»Uaaah!«

Mit scheußlichem Gebrüll rannte der Lizardman Lord in meine Richtung los. Der Scimitar schwang in hohem Bogen durch die Luft auf meine Brust zu und zog eine Lichtspur in kräftigem Orange: ein hochrangiger Sword Skill aus der Kategorie der gebogenen Klingen und eine tödliche Fertigkeit, »Fell Crescent«. Eine herausragende Technik des Schwertangriffs mit einer Reichweite von vier Metern in 0,4 Sekunden.

Aber ich hatte diesen Angriff vorausgesehen.

Wenige Zentimeter vor meiner Nase sauste die Spitze des Scimitars herunter und zog einen verbrannten Geruch hinter sich her, während ich in geduckter Haltung die Brust des Echsenmanns anvisierte.

»Haaa!«

Mit einem Schrei schwang ich das Schwert in meiner rechten Hand waagerecht durch die Luft. Die in einen hellblauen Lichteffekt gehüllte Klinge brach den geschuppten Bauch meines Gegners auf. Doch anstelle von Blut kam ein strahlend rotes Licht heraus. Der Echsenmann stieß einen spitzen Schrei aus.

Aber meine Bewegung hörte damit nicht auf. Das System folgte dem Schwung meiner Waffe automatisch und erlaubte mir, den folgenden Hieb in einer normalerweise unmöglichen Geschwindigkeit zu führen.

Das war das wichtigste Element, das Kämpfe in dieser Welt entschied: »Schwertfertigkeiten« – »Sword Skills«. Mein von links nach rechts zurückgeschwungenes Schwert schnitt nun durch die Brust des Echsenmanns. Ohne langsamer zu werden, vollführte ich eine Drehung, und der dritte Hieb drang noch tiefer in den Körper des Feindes ein.

»UARGH!«

Trotz seiner Verletzung hob der Lizardman mit einem Schrei des Zorns oder der Furcht den Scimitar in seiner rechten Hand weit nach oben, um auszuholen.

Aber mein Bewegungsablauf war noch nicht beendet. Wie durch eine Feder zurückschnellend schoss mein Schwert nach links oben und traf direkt in das Herz des Feindes – den »Critical Point«.

Durch die insgesamt vier Folgeangriffe hatten sich um mich herum rechtwinklige Linien aus hellblauem Licht ausgebreitet: eine horizontale vierfache Combo, der Sword Skill »Horizontal Square«.

Der kräftige Lichteffekt beleuchtete hell die Wände des Labyrinths und wurde dann schwächer. Gleichzeitig erlosch der über dem Kopf des Lizardman angezeigte Hit Point Bar.

Während er einen langen Todesschrei ausstieß, krümmte sich der riesige grüne Körper nach hinten und erstarrte dann in einem unnatürlichen Winkel.

Mit einem Laut, als würde ein Klumpen Glas zerbrechen, zerbarst er in winzige Polygonsplitter.

Das war der »Tod« in dieser Welt. Unmittelbar und einfach. Komplette Vernichtung, ohne eine Spur zu hinterlassen.

In der Mitte meines Gesichtsfeldes erschienen in violetter Schrift die Anzahl der gewonnenen Erfahrungspunkte und eine Liste der vom Gegner fallen gelassenen Gegenstände. Ich warf einen flüchtigen Blick darauf, schwang mein Schwert nach links und rechts und schob es dann in die Scheide auf meinem Rücken. Dann ging ich ein paar Schritte rückwärts, bis ich mit dem Rücken an die Mauer des Labyrinths stieß, lehnte mich dagegen und rutschte langsam daran hinunter.

Laut stieß ich meinen angehaltenen Atem aus, und als ich ganz fest die Augen schloss, spürte ich einen stechenden Schmerz hinter meiner Schläfe, vielleicht aufgrund der Erschöpfung durch den langen Einzelkampf.

Die Zeitanzeige, die klein unten rechts in meinem Gesichtsfeld leuchtete, bewegte sich schon auf 15 Uhr zu. Wenn ich nicht bald aus diesem Labyrinth hinauskäme, würde ich es nicht vor Anbruch der Dunkelheit in die Stadt zurückschaffen.

»Dann machen wir uns mal auf den Rückweg …«, murmelte ich und stand langsam auf.

Das Ende eines Tagewerks an »Eroberungen«. Auch heute war ich irgendwie dem Sensenmann entkommen und hatte überlebt. Aber auch wenn ich ins Nest zurückkehrte und kurz pausierte, würde der nächste Tag eine weitere endlose Reihe an Kämpfen bringen. Egal wie vorsichtig ich war: Wenn ich mich ständig in Kämpfe mit einer Gewinnchance von unter 100 Prozent stürzte, würde irgendwann der Zeitpunkt kommen, an dem mein Glück mich im Stich ließe.

Die Frage war, ob ich dieses Game durchspielen konnte, bevor ich die Arschkarte zog.

Wenn es einem nur ums Überleben ging, dann war es klüger, die Sicherheitszone der Stadt keinen Schritt weit zu verlassen und auf den Tag zu warten, da irgendjemand Verbissenes das Game für einen durchspielte. Aber ich gehörte nicht zu diesen Leuten. Ich kämpfte weiter jeden Tag allein an vorderster Front und sammelte unter größter Gefahr immer mehr Erfahrungspunkte. Entweder war ich mit Haut und Haaren dem VRMMORPG* verfallen oder … ein riesiger Vollidiot, der sich einbildete, mit seinem Schwertarm die Welt befreien zu können.

Ein selbstironisches Lächeln spielte um meine Mundwinkel, und während ich in Richtung des Ausgangs des Dungeons loslief, erinnerte ich mich plötzlich an den einen Tag damals zurück, zwei Jahre zuvor, der alles verändert hatte.

Den Moment, als alles endete und alles begann.

*Virtual Reality Massively Multiplayer Online Role-Playing Game

2

»Uaah … Huah … Haaa!«

Zusammen mit einem seltsamen Schrei schnitt die Schwertspitze mit verzweifelten Hieben lediglich durch Luft.

Direkt darauf überfiel der blaue Eber, der mit einer für den riesigen Körper schnellen und wendigen Bewegung dem Schwert ausgewichen war, seinen Gegner mit einem rasenden Gegenangriff. Ich musste unwillkürlich lachen, als ich sah, wie er von der platten Schnauze von den Beinen geholt wurde und über die Wiese rollte.

»Ha ha ha … doch nicht so! Deine Anfangsbewegung ist das Wichtigste, Klein.«

»Au au au … Verdammt.«

Der Angreifer – mein Gruppenmitglied Klein – stand unter Flüchen auf, sah mich flüchtig an und begann, zu jammern.

»Was laberst du denn da, Kirito … Der da bewegt sich doch auch, verdammt noch mal.«

Diesen jungen Mann, dessen rötliches Haar dank eines Bandana um den Kopf bürstenartig abstand und dessen langer, magerer Körper in einen einfachen Lederharnisch gehüllt war, hatte ich gerade erst vor ein paar Stunden kennengelernt. Hätten wir uns unter unseren richtigen Namen getroffen, dann wäre es schwer vorstellbar gewesen, dass wir keine Höflichkeitsformen verwendet hätten. Aber weil sein Name Klein und mein Name Kirito die Charakternamen waren, die wir uns zu Beginn dieses Games gegeben hatten, wäre es eher komisch gewesen, ein »-san«* anzuhängen.

Ich sah, dass seine Beine zitterten, und dachte, ihm sei ein bisschen schwindlig. Mit der linken Hand nahm ich aus dem Dickicht zu meinen Füßen einen kleinen Stein und brachte ihn über meiner Schulter in Position. Das System identifizierte die Ausgangsposition eines Sword Skills und der Stein leuchtete in schwachem Grün auf.

Meine linke Hand bewegte sich fast automatisch und der Stein, der mit einem klaren Lichtbogen durch die Luft flog, traf zwischen die Brauen des blauen Ebers, der sich zu einem weiteren Angriff bereit gemacht hatte. Er ließ einen Wutschrei los und raste nun auf mich zu.

»Klar, dass er sich bewegt, das ist keine Strohpuppe wie im Training. Aber wenn du den Angriff richtig beginnst und den Sword Skill in Gang setzt, dann lässt das System den Skill für dich treffen.«

»Bewegung … Bewegung …«

Während er das wie eine Beschwörung immer wieder vor sich hin murmelte, schwang Klein das Entermesser in seiner rechten Hand.

Der blaue Eber, auch bekannt als »Frenzy Boar«, war ein unbedeutendes Level-1-Monster, aber da Kleins Hiebe trotzdem oft danebengegangen und mit zahlreichen Gegenangriffen beantwortet worden waren, war sein Hit Point Bar fast um die Hälfte gesunken. Wenn er starb, würde er zwar lediglich in der nahen »Stadt der Anfänge« wiederauferstehen, aber noch einmal bis zu den jetzigen Jagdgründen zu laufen, wäre zeitraubend gewesen. Er hatte nur noch diese eine Chance.

Während ich mit dem Schwert in meiner Rechten den Angriff des Ebers abwehrte, legte ich meinen Kopf mit einem »Hmmm« schief.

»Wie erklär ich dir das am besten … Es ist nicht so, dass du dich eins, zwei, drei positionierst, ausholst und zuschlägst, sondern am Beginn der Bewegung konzentrierst du dich nur ein kleines bisschen und lädst deine Attacke auf, und wenn du spürst, dass der Skill einsetzt, schlägst du zu, in etwa so, zack!«

»Zack, hm?«

Klein positionierte seine gebogene Klinge auf mittlerer Höhe, während sich sein gut aussehendes Gesicht unter dem Bandana zu einer erbärmlichen Grimasse verzog. Er atmete tief ein und aus und ging dann breitbeinig in die Knie. Sein Schwert hob er, als wolle er es auf der rechten Schulter tragen. Dieses Mal wurde die regelkonforme Haltung identifiziert, und als seine Klinge einen weichen Kreisbogen zeichnete, leuchtete sie in einem sanften Orange.

»Haaaarh!«

Mit einem tiefen Schrei machte er in einer im Vergleich zu vorher völlig veränderten glatten Bewegung mit dem linken Fuß einen Ausfallschritt nach vorne.

Ein metallischer Klangeffekt ertönte und die Klinge zeichnete eine flammenfarbene Spur in die Luft. Der Basis-Skill für einhändig geführte gebogene Klingen, »Reaver«, traf wunderschön den Kopf des Ebers, der kurz davor gewesen war, anzugreifen, und blies dessen Hit Points weg, die ich zuvor halbiert hatte.

Nach diesem erbärmlichen Todesmoment zersprang der riesige Körper wie Glas und vor meinen Augen erschien in violetter Schrift die Zahl der addierten Erfahrungspunkte.

»Hahaaa!«

Klein nahm eine stolze Siegerpose ein, sah sich mit einem Grinsen, das bis über beide Ohren reichte, um und reckte die linke Hand nach oben. Nachdem wir eingeschlagen hatten, lachte ich ihn an.

»Glückwunsch zum ersten Sieg … Aber der Eber hätte in einem anderen Game einem absoluten Anfangsgegner entsprochen.«

»Ach so ist das! Und ich dachte, das wäre ein Zwischenboss.«

»Wohl kaum.«

Während sich mein Lachen zu einem gezwungenen Lächeln wandelte, schob ich mein Schwert in die Scheide auf meinem Rücken.

Ich machte mich zwar über ihn lustig, aber tatsächlich konnte ich Kleins Freude und Begeisterung gut verstehen. Da ich ihm in Erfahrung und Wissen zwei Monate voraus war, hatte in den bisherigen Kämpfen immer nur ich die Monster getötet. Jetzt hatte er endlich einmal selbst das erfrischende Gefühl erfahren, mit dem eigenen Schwert einen Feind zu vernichten.

Ich ließ Klein spielen, der, als wolle er üben, mit freudig schrillem Schrei immer wieder den gleichen Sword Skill in Gang setzte, und sah mich um.

Die Wiese, auf der wir standen, breitete sich in alle vier Richtungen aus und leuchtete wunderschön im Sonnenlicht, das sich allmählich leicht rot färbte. Weit im Norden lag die Silhouette eines Waldes, im Süden glitzerte ein See und im Osten konnte man schwach die Mauern der Stadt erkennen. Im Westen sah ich nur endlosen Himmel und eine Ansammlung golden leuchtender Wolken.

Wir standen auf dem Gebiet, das sich westlich der Stadt der Anfänge ausbreitete, dem Startpunkt am südlichen Rand der untersten Ebene des riesigen schwebenden Schlosses »Aincrad«. In der Umgebung hätten eigentlich wenigstens ein paar Spieler auf gleiche Weise mit Monstern kämpfen müssen, aber ich konnte niemanden entdecken, vielleicht wegen des enormen Ausmaßes der Wiese.

Als er endlich zufrieden war, kam Klein zu mir, während er sein Schwert in die Scheide an seiner Hüfte schob, und ließ wie ich seinen Blick umherwandern.

»Aber weißte … Egal wie oft ich mich umsehe, ich kann’s einfach nicht glauben. Dass wir uns hier mitten im Game befinden.«

»Wir sind zwar mittendrin, aber das heißt nicht, dass deine Seele in die Spielwelt hineingesaugt wurde. Anstelle unserer Augen und Ohren sehen und hören unsere Gehirne direkt das, was das ›NerveGear‹ mit elektromagnetischen Wellen schickt.« Ich zuckte mit den Schultern.

Klein machte ein Gesicht wie ein unzufriedenes Kind. »Da bist du also schon dran gewöhnt, was. Für mich ist das hier aber meine erste ›Full Dive‹-Erfahrung! Das ist wirklich abgefahren … Wie krass, in was für einer Wahnsinnszeit wir leben!«

»Du übertreibst ja wohl total.«

Ich lachte, aber im Inneren fühlte ich genau das Gleiche.

NerveGear.

Das war der Name der Game-Hardware, die dieses VRMMORPG – »Sword Art Online« – in Gang setzte. Aber ihre Struktur war grundlegend anders als die der Wohnzimmer-Spielekonsolen der Vorgängergeneration.

Im Gegensatz zur früheren Hardware, die als Schnittstellen einen flachen Monitor und einen in der Hand gehaltenen Controller benötigt hatte, gab es beim NerveGear nur eine Schnittstelle: einen stromlinienförmigen Helm, der den Kopf komplett bedeckte.

In sein Innenteil waren unzählige Signalkomponenten eingebettet und das Gear war über die vielen elektrischen Felder, die diese erzeugten, direkt mit dem Gehirn des Users verbunden. Der User sah und hörte nicht mit seinen Augen und Ohren, sondern sah und hörte die Informationen, die direkt an das Seh- und Hörzentrum in seinem Gehirn gegeben wurden. Aber nicht nur das. Das NerveGear hatte auch Zugang zu Tast-, Geschmacksund Geruchssinn, also insgesamt zu allen fünf Sinnen.

Nachdem die Kopfbedeckung angelegt und unter dem Kinn mit dem Fixierbügel verschlossen war, verschwand in dem Moment, da man das Kommando »Link Start« aussprach, jeglicher Umgebungslärm, und das Gesichtsfeld wurde in tiefes Schwarz gehüllt. Wenn man dann durch den regenbogenfarbenen Ring schritt, der sich aus dessen Mitte heraus ausbreitete, trat man in eine völlig andere Welt, die komplett aus digitalen Daten bestand.

Mit anderen Worten: Diese Maschine, die im Mai 2022 ihren Verkaufsstart gehabt hatte, ließ endlich eine komplette »virtuelle Realität« Wirklichkeit werden. Der große Elektronikkonzern, der sie entwickelt hatte, beschrieb die Verbindung mit der virtuellen Realität durch das NerveGear als »Full Dive«, und sie wurde ihrem Namen gerecht, denn sie entsprach der kompletten Isolierung von der Außenwelt.

Dem User wurden nicht nur virtuelle Sinnesinformationen gegeben, sondern sogar die Befehle, die das Gehirn an den eigenen Körper erteilte, wurden unterbunden.

Man konnte sagen, dass dies eine notwendige Voraussetzung war, um sich in der virtuellen Realität frei zu bewegen. Wenn die Befehle an den realen Körper ihre Wirkung gezeigt hätten, wäre zum Beispiel ein User, wenn er im Full Dive in der virtuellen Realität seinem Gehirn den Befehl »Rennen« gegeben hätte, auch mit seinem realen Körper losgerannt und gegen die Wand seines Zimmers gekracht.

Doch weil das NerveGear im verlängerten Rückenmark die Befehlssignale an den Körper unterband und in digitale Signale umwandelte, um den Avatar zu bewegen, sprangen Klein und ich auf dem virtuellen Kampfplatz frei herum und konnten unsere Schwerter schwingen.

Wir »lebten« sozusagen in dem Game.

Die Andersartigkeit und Tiefe dieser Erfahrung hatte viele Gamer außerordentlich fasziniert, mich eingeschlossen. So sehr, dass ich der Überzeugung gewesen war, nie wieder zu Schnittstellen auf dem Niveau von Eingabestift oder Bewegungssensor zurückkehren zu wollen.

Ich wandte mich an Klein, der seinen Blick über das sich im Wind wiegende Gras und die Stadtmauern in der Ferne schweifen ließ und der tatsächlich Tränen in den Augen hatte.

»Also ist das dein erstes Mal sowohl mit einem NerveGear-Game als auch mit ›SAO‹ hier?«

Klein drehte mir sein Gesicht zu, das kühn geschnitten war wie das eines Kriegers der Sengoku-Zeit*, und nickte. »Jo.«

Wenn er ein ernstes Gesicht gemacht hätte, hätte er ausgesehen, als könne er die Hauptrolle in einem Samurai-Drama übernehmen, aber dieses Aussehen entsprach natürlich nicht der Realität. Es war ein Avatar, das Resultat einer langen Liste verschiedenster aufeinander abgestimmter Parameter.

Natürlich war auch ich unverschämt gut aussehend und besaß Gesichtszüge wie der Held eines Fantasy-Anime.

Mit seiner starken und klaren Stimme, die sich vermutlich ebenfalls von seiner realen unterschied, fuhr Klein fort.

»Wobei, eigentlich war’s eher so, als SAO in den Verkauf kam, hab ich mir Hals über Kopf auch die passende Hardware zugelegt. Tja, da beim ersten Mal nur 10.000 Stück verkauft wurden, hatte ich wohl ziemliches Glück, wenn ich das so sagen darf … Na ja, eigentlich hattest du noch zehnmal mehr Glück, dass sie dich als SAO-Betatester ausgewählt haben. Das war doch auf grad mal 1.000 Leute beschränkt!«

»Hmm, wenn du meinst.«

Als er mich so durchdringend anstarrte, kratzte ich mich unvermittelt am Kopf.

Ich erinnerte mich noch, als wäre es gestern gewesen, an die Aufregung und Begeisterung, als in allen Medien groß der Game-Titel »Sword Art Online« verkündet worden war.

Aufgrund der Neuheit der Mechanik des NerveGear, das den Full Dive, die Game-Umgebung eines neuen Zeitalters, hatte Realität werden lassen, hatte es nur wenige attraktive Titel unter den wesentlichen Software-Veröffentlichungen gegeben. Weil das alles ausnahmslos anspruchslose Puzzles und Lernspiele sowie Titel aus dem Bereich Natur und Umwelt gewesen waren, hatte sich bei Game-Junkies wie mir Unzufriedenheit breitgemacht.

Das NerveGear schaffte eine tatsächliche virtuelle Realität. Aber diese virtuelle Welt war so beengt, dass man gegen eine Wand stieß, wenn man hundert Meter weit lief. Somit war es wohl eine natürliche Entwicklung, dass ich und andere Hardcore-Gamer, die vom Verkaufsstart der Hardware an von der Idee begeistert gewesen waren, selbst in ein Game einsteigen zu können, sofort sehnsüchtig auf Titel eines bestimmten Genres gewartet hatten.

Nämlich ein MMORPG, ein Network-Game, bei dem in einer riesigen anderen Welt Tausende, Zehntausende Spieler gleichzeitig verbunden waren, dort lebten, kämpften und Abenteuer bestanden.

Als die Erwartungen und Sehnsüchte bis zum Äußersten gestiegen waren, war endlich das Game angekündigt worden, das das weltweit neue Genre VRMMO krönen sollte: »Sword Art Online«.

Das Game spielte in einem riesigen schwebenden Schloss, das hundert Ebenen umfasste.

Die Spieler in dieser Welt liefen durch diese Ebenen, auf denen es Wiesen, Wälder, Städte und Dörfer gab, fanden den Weg zu den höheren Ebenen, besiegten starke Wächter-Monster und arbeiteten sich verbissen in Richtung der Spitze des Schlosses vor.

Das Element »Magie«, das zuvor für Fantasy-MMOs als notwendig erachtet worden war, war mutig abgeschafft und stattdessen eine fast unendliche Zahl an sogenannten »Sword Skills«, also Schwertfertigkeiten, eingeführt worden. Das diente dazu, dass man die Full-Dive-Umgebung, in der man den eigenen Körper und das eigene Schwert tatsächlich bewegte und kämpfte, optimal erfahren konnte.

An Skills gab es außer denen für den Kampf viele verschiedene, Handwerkskünste wie Schmieden, Lederarbeiten und Sticken und Alltägliches wie Angeln, Kochen, Musizieren und so weiter. Und so erlebten die Spieler nicht nur Abenteuer auf dem weiten Feld, sondern konnten auch ganz wörtlich »leben«. Wenn man wollte und sich anstrengte, war es sogar möglich, sein eigenes Haus zu kaufen, Felder anzulegen und Schafe zu züchten.

Als diese Informationen nach und nach bekannt gegeben worden waren, war die Begeisterung der Gamer gestiegen, ob sie es gewollt hatten oder nicht.

Für die Plätze der Betatest-Spieler, also die Gruppe von Teilnehmern, die das Game vor dem Start des offiziellen Service testen durften und von denen gerade mal 1.000 rekrutiert worden waren, hatte es einen Ansturm von 100.000 Bewerbungen gegeben, was fast der Hälfte aller damals verkauften NerveGears entsprochen hatte. Dass ich als einer der wenigen ausgewählt worden war, war nichts weiter als Glück gewesen. Noch dazu war den Betatestern das Vorkaufsrecht für das spätere offizielle Paket gewährt worden.

Die zweimonatige Testphase war vergangen wie im Traum. Ich hatte auch in der Schule eifrig über Skill-Kombinationen und Ausrüstungsgegenstände nachgedacht und war nach dem Unterricht sofort nach Hause zurückgeeilt und fast bis zum Morgengrauen im Dive geblieben. Im Nu war der Betatest vorbei gewesen, und an dem Tag, als mein inzwischen ausgebildeter Charakter zurückgesetzt worden war, hatte ich ein Gefühl des Verlustes empfunden, als sei mir wirklich mein eigener Körper zur Hälfte geraubt worden.

Es war Sonntag, der 6. November 2022.

Der offizielle Service des sehnlich erwarteten »Sword Art Online« war um 13 Uhr gestartet worden.

Natürlich hatte ich mich schon 30 Minuten vorher bereitgehalten und mich mit keiner Sekunde Verspätung eingeloggt, und dem Serverstatus nach zu schließen, wo die Anzahl der Verbindungen sofort 9.500 überschritt, hatten es die anderen glücklichen Käufer genauso gemacht. Bei allen großen Onlinehändlern war wohl innerhalb von wenigen Sekunden die erste Lieferung ausverkauft gewesen, und vor dem gestrigen Verkaufsstart in den Geschäften hatten sich schon drei Tage vorher Schlangen von Spielern gebildet, die Tag und Nacht gewartet und es bis in die Nachrichten geschafft hatten. Mit anderen Worten: Ungefähr 100 Prozent der Menschen, die das Paket hatten kaufen können, waren schwere Game-Junkies.

Das wurde auch durch das totale Gamer-Verhalten Kleins anschaulich.

Nachdem ich mich bei SAO eingeloggt und wieder den wohlvertrauten Pflasterboden der Stadt der Anfänge betreten hatte, hatte ich zu dem preisgünstigen Waffenhändler in den verworrenen Seitengässchen rennen wollen. An diesem Losrennen hatte Klein wohl ohne Zweifel erkannt, dass ich jemand mit Beta-Erfahrung war. Er hatte mich angehalten und mich inständig gebeten: »Bitte gib mir ’ne Lektion!«

Ich hatte diese Unverschämtheit bei der ersten Begegnung unwillkürlich bewundert und wie ein durch die Stadt führender Nicht-Spieler-Charakter so etwas wie »Äh, ja. Also … Wollen wir zum Waffenhändler?« geantwortet. Wir waren schnell ein Team geworden, ich hatte sogar eine Kampfeinführung auf dem Feld gegeben, und so waren wir hierhergekommen.

Um ehrlich zu sein, ich war im Game, wie wohl auch in der realen Welt, nicht sonderlich gut im Umgang mit Menschen. Während des Betatests hatte ich eine Menge Bekannte gefunden, aber darunter war kein Einziger gewesen, den ich einen Freund hätte nennen können.

Dieser junge Mann namens Klein hatte jedoch etwas, das mir auf wundersame Weise ans Herz ging, und mir war das auch gar nicht unangenehm. Während ich dachte, dass ich mit ihm vielleicht lange Zeit zusammenbleiben könnte, machte ich wieder den Mund auf.

»Na dann … Was machen wir jetzt? Jagen wir noch ein bisschen, bis du dein Geschick trainiert hast?«

»Na logo! Also … gern, aber …«

Kleins schöne Augen bewegten sich ein bisschen nach rechts. Er checkte die Uhrzeit, die am Rand seines Gesichtsfelds angezeigt wurde.

»… so langsam muss ich mal kurz aufhören und was essen. Ich hab mir für 17:30 Uhr ’ne Pizza nach Hause bestellt.«

Ich war erstaunt. »Du bist auf alles vorbereitet, was?«

Klein streckte stolz seine Brust heraus und fuhr fort, als sei es ihm gerade erst eingefallen. »Ah, also ich hab mit einigen Bekannten aus ’nem anderen Game ausgemacht, dass wir uns später in der Stadt der Anfänge treffen. Wie wär’s, ich stell dich vor, dann kannst du sie auch zu deinen Freunden hinzufügen? Das ist praktisch, da kann man sich jederzeit Messages schicken.«

»Äh … tjaaa …« Ich stammelte unwillkürlich.

Mit diesem jungen Mann Klein war ich ganz unbefangen zusammen, aber das war keine Garantie dafür, dass ich mich auf gleiche Weise mit seinen Bekannten anfreunden würde. Mir schien, dass es eher darauf hinauslaufen würde, dass, wenn ich mit ihnen nicht zurechtkäme, es auch mit Klein unangenehm werden würde.

»Na jaaa …«

Ich fragte mich, ob Klein wohl aus meiner unklaren Antwort auf deren Grund geschlossen hatte.

»Na, ich will dich natürlich nicht zwingen. Es wird bestimmt noch ’ne Gelegenheit geben, dich vorzustellen.«

»Hmmm. Tut mir leid. Aber danke.«

Klein schüttelte vehement den Kopf. »Hey, hey, bedanken muss hier ja wohl ich mich! Du hast mir echt voll geholfen, dafür werde ich dir eines Tages noch sehr dankbar sein.« Er lachte breit und sah wieder auf die Uhr.

»Hm, ja, also ich hör hier jetzt erst mal auf. Ein fettes Danke, Kirito. Ich freu mich drauf, dich wieder zu treffen.«

Ich schüttelte seine mit einem Ruck ausgestreckte Hand, während ich dachte, dass dieser junge Mann in »dem anderen Game« sicher ein guter Anführer gewesen war.

»Ja, ich freu mich auch. Wenn du wieder Fragen hast, kannst du mich jederzeit rufen.«

»Jo. Ich verlass mich drauf.«

Bis zu diesem Moment war Aincrad – oder die Welt namens Sword Art Online – ohne Zweifel für mich nur ein unterhaltsames »Game« gewesen.

Klein ging einen Schritt zurück, streckte den Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand senkrecht nach oben und schwang sie gerade nach unten. Das war die Bewegung, mit der man das »Hauptmenü-Fenster« des Games aufrief. Sofort erschien, begleitet von einem Klangeffekt, als würden Glocken läuten, ein violett leuchtendes, halb durchsichtiges Rechteck.

Ich ging ebenfalls ein paar Schritte zurück, setzte mich auf einen Felsen und öffnete ein Fenster. Ich begann, den Finger zu bewegen, um die Gegenstände zu ordnen, die bis zum jetzigen Kampf mit dem Eber fallen gelassen worden waren.

Kurz darauf erklang Kleins aufgeregter Ausruf.

»Hä? Was soll das denn …? Es gibt keinen Log-out-Button!«

Jetzt wurde ich aufmerksam und hob den Kopf.

»Wie, es gibt keinen Button …? Das kann nicht sein, schau noch mal genau hin.«

Der hochgewachsene Krummschwertträger mit dem Bandana mit dem geschmacklosen Muster bedachte mich mit einem bösen Blick und näherte sein Gesicht dem Menü vor seinen Händen.

In dem querformatigen rechteckigen Fenster waren im Startzustand links mehrere Menü-Tabs aneinandergereiht, und rechts wurde eine menschliche Silhouette dargestellt, die den eigenen Ausrüstungszustand mit Gegenständen anzeigte. Ganz unten unter diesem Menü musste »Log-out« stehen, also der Button, der den Ausstieg aus dieser Welt befahl.

Als ich meinen Blick wieder der Übersicht der Gegenstände widmen wollte, die ich in den vielstündigen Kämpfen erhalten hatte, schrie Klein mich mit einer ziemlichen Lautstärke an. »Es ist wirklich keiner da! Schau doch selbst, Kirito!«

»Oh Mann, ich sag doch, das ist unmöglich …« Ich seufzte und drückte oben links in meinem Menü den Button, um ins Hauptmenü zurückzukehren.

Das Inventar, das sich rechts geöffnet hatte, schloss sich sanft und das Fenster kehrte in den Startzustand zurück. Eine Figur mit vielen offenen Ausrüstungsslots erschien und links reihten sich die Menü-Tabs eng aneinander.

Mit einer Bewegung, die ich inzwischen im Schlaf gekonnt hätte, ließ ich meinen Finger bis ganz nach unten gleiten – und erstarrte.

Er war nicht da.

Wie Klein gesagt hatte, der Log-out-Button, der während des Betatests – nein, auch direkt nachdem ich mich heute Mittag um 13 Uhr eingeloggt hatte, ganz sicher – da gewesen war, war jetzt verschwunden.

Ich starrte ein paar Sekunden auf die leere Stelle, sah noch einmal die Menü-Tabs eins nach dem anderen langsam durch, und nachdem ich mich überzeugt hatte, dass sich die Position des Buttons nicht einfach geändert hatte, blickte ich auf.

Klein hatte seinen Kopf geneigt, als wolle er »Na?« sagen. »Er ist weg, oder?«

»Ja, er ist weg.«

Der Krummschwertträger zog eine Grimasse und strich über sein kräftiges Kinn. »Na ja, heute ist der erste Tag des offiziellen Service dieses Games. Da kommen solche Bugs schon mal vor. Da wird’s jetzt eine Flut von Game-Master-Rufen geben. Bestimmt sind die Admins fast schon am Heulen.«

Klein hatte das in einem sehr entspannten Tonfall gesagt, doch ich fuhr ihn an.

»Wie kannst du nur so gelassen sein? Hast du nicht gerade gesagt, du hättest dir für 17:30 Uhr den Pizza-Lieferservice bestellt?«

»Oh, Moment, ja!« Er riss erschrocken die Augen auf.

Ich beendete mein Ordnen, bei dem ich die unnötigen Dinge in der Gegenstandsübersicht, die durch das Überschreiten des Maximalgewichts schon rot geleuchtet hatte, gelöscht hatte, und näherte mich Klein, der etwas von einer Teriyaki-Mayo-Pizza und Gingerale jammerte.

»Du solltest auf jeden Fall auch einen Game-Master-Ruf absetzen. Vielleicht lassen sie dich aufseiten des Systems raus.«

»Hab ich versucht, aber es kam keine Antwort. Ahh, jetzt ist es schon 17:25 Uhr! Hey Kirito, gibt’s denn keine andere Möglichkeit, sich auszuloggen?« Mit einem jämmerlichen Gesichtsausdruck warf Klein die Arme in die Luft.

Mein Lächeln gefror, und mir lief es plötzlich kalt den Rücken hinunter. »Ähm … Um sich auszuloggen …« Ich dachte murmelnd nach.

Um aus diesem Game auszusteigen und in sein eigenes Zimmer in der realen Welt zurückzukehren, reichte es, das Hauptfenster zu öffnen, den Log-out-Button zu berühren und im rechts erscheinenden Bestätigungsdialog auf »Ja« zu drücken. Es war wirklich einfach. Aber – gleichzeitig kannte ich keine andere Möglichkeit außer dieser.

Ich sah hoch in Kleins Gesicht, der mich um einiges überragte, und schüttelte langsam den Kopf.

»Nein … da gibt’s nichts. Um sich freiwillig auszuloggen, gibt es keinen anderen Weg, als das Menü zu benutzen.«

»So ein Dreck … Es muss doch was geben!«, brüllte Klein, als könne seine Weigerung, die Wahrheit zu akzeptieren, das Problem lösen. Dann schrie er: »Zurück! Log-out! Abbruch!«

Aber natürlich passierte überhaupt nichts. In SAO waren derartige Stimmkommandos nicht implementiert.

Klein versuchte es trotzdem weiter, rief dies und das und fing schließlich sogar an, auf und ab zu hüpfen, bis ich ihn mit gedämpfter Stimme ansprach.

»Klein, das bringt nichts. Auch in der Anleitung waren keinerlei derartige Methoden für Notabschaltungen enthalten.«

»Aber …! Die wollen uns doch verarschen! Egal was das für ein Bug ist … Es kann doch keiner sein, bei dem ich nicht in mein Zimmer … in meinen Körper zurückkehren kann!«

Klein drehte sich zu mir um. Seine Augen waren vor Entsetzen geweitet. Ich fühlte mich ganz genauso. Für dumm verkauft. Das war Wahnsinn. Aber dennoch war das jetzt nicht zu ändern.

»Oh Mann, oh Mann … Das kann nicht sein, das kann ich nicht glauben. Wir können jetzt nicht aus diesem Game raus?« Klein stieß ein ziemlich angespannt klingendes Lachen aus und fuhr dann mit schneller Stimme fort. »Genau, ich könnte der Maschine den Strom abschalten. Das, oder ich reiße mir das Gear vom Kopf.«

Ich versuchte, Klein, der mit seinen Händen sein Gesicht berührte, als wolle er sich eine unsichtbare Kappe abziehen, zu beruhigen, während es mir erneut kalt den Rücken hinunterlief. »Das kannst du beides nicht. Wir können unsere echten Körper nicht bewegen. Das NerveGear unterbricht alle Signale, die von unserem Gehirn an unseren Körper ausgehen …«, ich berührte mit den Fingern meinen Hinterkopf, »… und wandelt sie in Signale um, die den Avatar bewegen.«

Klein verstummte und ließ ganz langsam seine Hände sinken.

Wir hingen eine Weile schweigend unseren jeweiligen Gedanken nach.

Um die Full-Dive-Umgebung zu realisieren, unterbricht das NerveGear komplett alle Befehlssignale, die vom Gehirn an das Rückenmark gehen und den Körper bewegen, und wandelt sie stattdessen in Signale um, die den Körper in dieser Welt steuern. Egal wie auffällig ich hier mit meinen Händen herumwinkte, meine wirklichen Arme, die in der Realität in meinem Zimmer mit meinem restlichen Körper auf dem Bett lagen, zuckten kein bisschen, und daher holte ich mir auch keine Beule, wenn ich gegen den Tisch stieß. Aber genau wegen dieser Funktion konnten wir jetzt den Full Dive aus eigenem Willen nicht beenden.

»Tja, also dann können wir jetzt nur drauf warten, dass dieser Bug behoben wird oder bis uns auf der anderen Seite jemand das Gear vom Kopf nimmt«, murmelte Klein immer noch fassungslos.

Ich nickte schweigend.

»Aber ich lebe allein. Wie ist es bei dir?«

Ich war ein bisschen verlegen, aber antwortete ehrlich. »Zu dritt mit meiner Mutter und meiner jüngeren Schwester. Darum denke ich, dass mein Dive mit Gewalt beendet wird, wenn ich zum Abendessen nicht nach unten komme.«

»Oooh?! W… Wie alt ist deine jüngere Schwester, Kirito?« Plötzlich funkelten seine Augen und er lehnte sich in meine Richtung.

»Das bringt dich auf andere Gedanken, was? Meine Schwester ist im Sportverein und hasst Games, die hat überhaupt keine Berührungspunkte mit Menschen wie uns. Aber sag mal …« Um das Thema zu wechseln, streckte ich meinen rechten Arm aus und wies auf unsere Umgebung. »Findest du … das nicht irgendwie merkwürdig?«

»Klar ist das merkwürdig, ist ja auch ein Bug.«

»Das ist kein einfacher Bug. Dass man sich nicht ausloggen kann, wird massive Auswirkungen auf die Zukunft des Spiels haben. Während das hier passiert, wird deine bestellte Pizza ganz langsam kalt, und das ist ein finanzieller Schaden in der realen Welt, oder?«

»Kalte Pizza ist ja noch schlimmer als Natto, das nicht klebt* …«

Ich überging Kleins Einwurf und fuhr fort.

»In dieser Situation wäre die natürliche Maßnahme, dass die Admins die Server einmal runterfahren und alle Spieler zwangsweise ausloggen. Aber … es ist wirklich seltsam, dass, obwohl schon fünfzehn Minuten vergangen sind, seit wir beide diesen Bug entdeckt haben, kein Abbruch oder gar eine Durchsage der Admins kam.«

»Jetzt, da du’s sagst … stimmt.« Mit einem etwas ernsteren Gesichtsausdruck rieb Klein sich das Kinn. Im Schatten des bis in die Stirn geschobenen Bandana leuchteten seine fein geschnittenen Augen scharf.

Mich erfasste ein seltsames Gefühl des Unwohlseins dabei, mit jemandem über die reale Welt zu sprechen, mit dem ich keine direkte Beziehung hatte und den ich nie wieder treffen würde, sollte ich meinen Spiel-Account löschen.

»›Argus‹, die Firma, die SAO entwickelt hat und betreibt, hat sich einen Namen gemacht mit der Einstellung, den User ernst zu nehmen. Dass ihr erstes Online-Game so sehnlich erwartet wurde, ist doch ein Zeichen dafür, wie sehr die Community ihnen vertraut. Die können sich am ersten Tag nicht so ’nen riesigen Schnitzer erlauben.«

»Ich bin genau der gleichen Meinung. Außerdem ist SAO ein Wegbereiter des Genres VRMMO. Wenn hier ein Problem auftritt, könnte das ganze Genre verboten werden.«

Klein und ich wandten uns die virtuellen Gesichter zu und atmeten beide gleichzeitig tief aus.

Die vier Jahreszeiten von Aincrad stimmten mit der Wirklichkeit überein. Daher war es jetzt wie drüben auch Frühwinter.

Ich sog tief die virtuelle kalte trockene Luft ein, und während ich die virtuelle Kühle in meiner virtuellen Lunge spürte, wanderte mein Blick nach oben.

Hundert Meter weit in der Ferne war der Boden der zweiten Ebene in hellvioletten Dunst gehüllt. Als ich seiner groben Oberfläche mit den Augen folgte, erhob sich ganz in der Ferne ein riesiger Turm: der »Dungeon«, der die Verbindung mit der oberen Ebene darstellte. Weit jenseits davon konnte ich sogar ein Stück Himmel entdecken.

Die Uhr rückte vor auf 17:30 Uhr, und das Stück Himmel war in tiefes Abendrot getaucht. Die sinkende Sonne ließ die weite Wiese golden leuchten und ob der Schönheit der virtuellen Welt verschlug es mir trotz unserer ungeheuerlichen Situation die Sprache.

Direkt darauf … veränderte sich diese Welt für immer.

*höfliche, geschlechtsunabhängige Anrede

*»Zeit der kämpfenden Reiche«, ca. 1477–1573, Zeit vor der japanischen Reichseinigung

*Traditionelle japanische Speise aus klebrig vergorenen Sojabohnen, die lange Fäden ziehen

3

Plötzlich ertönte ein sehr lauter Ton wie von einer Glocke – oder wie ein Alarmton –, und Klein und ich sprangen auf.

»Wa…?«

»Was ist das?!«

Wir hatten gleichzeitig geschrien, sahen uns gegenseitig an und rissen unsere Augen auf.

Kleins und meinen Körper umhüllte plötzlich eine Säule aus kräftigem blauem Licht. Auf der anderen Seite verblasste im Nu die Wiesenlandschaft.

Das Phänomen selbst hatte ich während des Betatests mehrmals erlebt. Das war ein »Teleport«, ausgelöst durch ein Item zum Ortswechsel. Aber ich hatte im Moment keinen Gegenstand in der Hand und auch kein entsprechendes Kommando gegeben. Wenn dies eine gewaltsame Ortsveränderung von Admin-Seite war, warum gab es dann keine Durchsage?

Während meine Gedanken rasten, pulsierte das meinen Körper umhüllende Licht stark und nahm mir die Sicht.

Gleichzeitig mit dem darauf folgenden Verblassen des blauen Lichts kam die Landschaft zurück. Aber dies war nicht mehr die Wiese im Abendrot. Grobes Steinpflaster, Bäume entlang der Straßen und elegante Häuser im mittelalterlichen Stil. Und in der Ferne ein riesiger dunkler Palast.

Ohne Zweifel, dies war der zentrale Platz der Stadt der Anfänge, dem Startpunkt des Games.

Ich tauschte Blicke mit Klein, der neben mir seinen Mund aufgerissen hatte. Und dann sahen wir beide gleichzeitig die um uns herum dicht gedrängte Menschenmenge.

Eine bunte Masse aus Rüstungen, Haarfarben, Männern und Frauen mit schönen Gesichtern. Ohne Zweifel, das waren SAO-Spieler, so wie ich. Allem Anschein nach waren hier fast 10.000 Menschen versammelt. Vermutlich waren gleichzeitig mit Klein und mir alle SAO-Spieler, die derzeit eingeloggt waren, gewaltsam auf diesen Platz teleportiert worden.

Wenige Sekunden lang schwiegen die Menschen und beäugten neugierig ihre Umgebung.

Doch bald entstand in allen Richtungen ein Flüstern und Murmeln, und die Stimmen wurden nach und nach lauter. Kommentare wie »Was soll das denn jetzt?«, »Kann ich mich jetzt ausloggen?«, »Jetzt macht schon voran!« erreichten bruchstückhaft meine Ohren.

In dem Aufruhr verstärkte sich allmählich der ärgerliche Tonfall und sporadisch kamen jetzt auch Rufe wie »Das soll wohl ein Witz sein!« und »Game Master, komm raus!«.

Und dann, plötzlich – schrie jemand und brachte diese Stimmen zum Schweigen. »Aaaah … Schaut nach oben!«

Klein und ich hoben reflexartig den Blick. Und sahen dort etwas Sonderbares.

Hundert Meter über uns wurde der Boden der zweiten Ebene zu einem purpurroten Schachbrettmuster.

Wenn man ganz genau hinsah, erkannte man dort abwechselnd zwei Ausdrücke, die in tiefroter Farbe angezeigt wurden: »Warnung« und »Systemankündigung«.

Nach einem Moment des Schreckens dachte ich, jetzt käme endlich die Durchsage der Admins, und ließ die Anspannung aus meinen Schultern fahren. Der Aufruhr auf dem Platz erlosch, und alle spitzten gespannt die Ohren.

Aber was dann passierte, zerstörte all meine Hoffnungen.

Aus der Mitte des purpurroten Musters, das den Himmel vollständig bedeckte, sickerte etwas mit einer zähflüssigen Bewegung nach unten, ganz langsam, wie ein riesiger Tropfen Blut. Er fiel aber nicht herunter, sondern änderte plötzlich mitten in der Luft seine Form.

Was erschien, war eine riesige menschliche Gestalt, vielleicht 20 Meter hoch und verhüllt von einer purpurroten Robe mit Kapuze.

Nein, das stimmte nicht ganz. Da wir vom Boden aus nach oben sahen, konnten wir in die tief nach unten gezogene Kapuze hineinblicken, aber – dort war kein Gesicht. Da war einfach nur Leere, und man konnte das Futter und sogar die Stickarbeit am Rand der Kapuze ganz genau erkennen. Auch in den locker nach unten hängenden langen Ärmeln befand sich nur düsteres Nichts.

Die Robengestalt selbst hatte ich schon einmal gesehen. Das war die Kleidung, die während des Betatests ohne Ausnahme die Game Master getragen hatten, die für die Firma Argus arbeiteten. Aber damals hatte in der Kapuze immer ein Avatar gesteckt, bei männlichen Game Mastern ein alter Mann mit langem Bart wie ein Magier, bei weiblichen ein Mädchen mit Brille. Vielleicht konnten sie wegen irgendeines Problems keinen Avatar benutzen und hatten daher nur die Robe erscheinen lassen, aber die Leere unter der purpurroten Kapuze erfüllte mich mit unbeschreiblicher Sorge.

Den zahllosen Spielern um mich herum ging es wohl genauso. Von überallher stieg Geflüster auf: »Nanu, ein Game Master?« und: »Warum hat er denn kein Gesicht?«

Und als wolle er diese Stimmen unterdrücken, bewegte sich unerwartet der rechte Arm der riesigen Robe.

Plötzlich blickte aus dem weiten Ärmel ein blütenweißer Handschuh heraus. Aber der Ärmel und der Handschuh waren voneinander getrennt und es war absolut kein Fleisch zu sehen, das sie verbunden hätte.

Als Nächstes wurde auch der linke Ärmel locker hochgehalten. Über den Köpfen von 10.000 Spielern breiteten sich die zwei weißen Handschuhe ohne Inhalt nach links und rechts aus, und die Gestalt ohne Gesicht öffnete ihren unsichtbaren Mund – so kam es mir zumindest vor. Direkt darauf erklang aus der Höhe die tiefe, entspannte, gut hörbare Stimme eines Mannes.

»Werte Gamer, willkommen in meiner Welt.«

Ich brauchte einen Moment, um den Sinn dieser Worte zu erfassen.

»Meiner Welt«? Wenn diese rote Robe der Game Master auf der Admin-Seite war, dann war sie sicherlich ein Wesen wie ein Gott, das die Kompetenz zur Bedienung der Welt besaß, aber was sollte es, dies jetzt zu verkünden?

Klein und ich sahen uns verblüfft an, während das Wesen in der roten Robe beide Arme senkte und fortfuhr.

»Mein Name ist Akihiko Kayaba. Diese Welt steht derzeit unter meiner alleinigen Kontrolle.«

»Wa…«

Durch den großen Schock schnürte sich der Hals meines Avatars und vielleicht auch gleichzeitig der meines realen Körpers zu.

Akihiko Kayaba!

Ich kannte diesen Namen. Natürlich kannte ich ihn.

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Der geniale junge Game-Designer und außerdem Quantenphysiker, der zur treibenden Kraft hinter Argus geworden war, die bis vor ein paar Jahren nur eine von vielen Firmen gewesen war, die bedeutungslose Games entwickelt hatte. Dank ihm war sie inzwischen so weit gewachsen, dass man sie den Branchenführer nennen konnte.

Er war der Entwicklungsdirektor von SAO und gleichzeitig der Entwickler des NerveGear selbst.