»Zweihundertfünfunddreißig Dollar?« Entsetzt starre ich die Frau am Schalter an, die ungerührt meinen Blick erwidert.

»Ist ’ne weite Strecke«, sagt sie, als ich mich nach einer Weile immer noch nicht rühre. »Und wir haben kostenloses Wi-Fi in jedem Bus.«

Na toll! In meinem Portemonnaie stecken fast genau hundertachtzig Dollar. Unterwegs muss ich mir Proviant kaufen, und ein paar Dollar für Notfälle brauche ich auch.

»Wie weit komme ich auf der Strecke von New York nach Los Angeles mit hundertfünfzig Dollar?«, erkundige ich mich.

Die Fahrkartenverkäuferin runzelt die Stirn, während sie auf ihren Monitor sieht. »Bis nach Kansas City.«

»Dann bitte ein Ticket nach Kansas City.« Ich gebe ihr die hundertfünfzig Dollar und bekomme noch ein bisschen Kleingeld zurück. Irgendwie werde ich von Kansas City aus schon weiterkommen. Notfalls muss ich Mom bitten, für die restliche Strecke aus der Ferne mit ihrer Kreditkarte zu bezahlen.

Während mir die Ticketdame den Fahrschein hinschiebt, erklärt sie, dass ich mein Gepäck schon aufgeben kann, obwohl mein Bus erst in ein paar Stunden fährt.

Das erledige ich dann auch gleich. Meine Reisetasche ist zwar nicht sonderlich schwer, aber es ist viel bequemer, wenn ich nicht ständig auf sie aufpassen muss.

Bevor ich zu Hause losgefahren bin, habe ich mich in die Küche geschlichen und ein Joghurt und eine Banane gegessen. Trotzdem knurrt mir schon wieder der Magen. Blöd, dass ich keine Sandwiches mitgenommen habe. Ich dachte, hundertachtzig Dollar seien eine Menge Geld und würden locker für das Ticket und die Verpflegung unterwegs reichen.

Ich setze mich auf einen der gepolsterten Sitze in einer ruhigen Ecke und beschließe, noch mindestens zwei Stunden durchzuhalten, bis ich mir ein Frühstück kaufe. Je später ich esse, umso länger bleibe ich satt. Das spart Geld.

Ob Dad schon gemerkt hat, dass ich nicht da bin? Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und zögere, auf das Display zu schauen. Wenn ich an meinen Vater denke, spüre ich immer noch die Wut und die Enttäuschung in meinem Bauch. Eigentlich geschähe es ihm nur recht, ein bisschen Angst um mich auszustehen. Aber ich weiß nur zu genau, was passieren würde, sobald er feststellt, dass ich verschwunden bin. Also ist es besser, ich schreibe ihm ein paar Worte, bevor er die Polizei, die Seenotrettung, das FBI und jeden Fernsehsender im Land informiert.

Hastig tippe ich: »Musste mal raus. Alles okay. Harp.«

Die Nachricht soll klingen, als wäre ich nur kurz an den Strand gegangen. Wenn ich Dad verrate, dass ich auf dem Weg zu Mom bin, kommt er noch drauf, wo ich momentan gerade rumhänge. Denn dass er mich sucht, wenn er nur die leiseste Ahnung hat, wo ich sein könnte, ist klar. Vor allem weil er mir nicht zutraut, von New York nach L.A. zu fahren, ohne unterwegs einem Meuchelmörder in die Hände zu fallen. Schätzungsweise braucht Dad noch fünf bis zehn Jahre, um zu begreifen, dass ich ohne seine Zustimmung sogar nach Timbuktu auswandern kann, wenn ich Lust dazu habe.

Mom werde ich erst schreiben, dass ich auf dem Weg zu ihr bin, wenn ich im Bus sitze. Sie würde Dad sofort anrufen, und schon wäre er unterwegs zur nächsten Greyhound-Station.

Um mir die Zeit zu vertreiben, scrolle ich ein bisschen durch Instagram. Bei meinen Freunden gibt es nichts Neues. Natürlich nicht. Die schlafen wahrscheinlich noch alle. Und wo sie gestern Abend waren, weiß ich natürlich auch: bei meiner Geburtstagsparty am Strand.

Ich darf gar nicht daran denken, dass ich meine Freunde vielleicht erst in den nächsten Ferien wiedersehe. Falls wir dann vollzählig sind, was ich eigentlich nicht glaube. Trotzdem überlege ich keine Sekunde, wieder nach White Harbor zurückzufahren. Das mit Dad und mir funktioniert einfach nicht. Die Sache an meinem Geburtstag war nur der Punkt, an dem ich endgültig festgestellt habe, dass ich nicht mehr bei ihm wohnen will.

Momentan finde ich es sogar richtig gut, dass Mom so weit weg lebt, wie es nur eben geht, ohne das Land zu verlassen. Das bedeutet nämlich auch, zwischen Dad und mir liegen mehr als zweitausendfünfhundert Meilen, wenn ich bei Mom ankomme. Zu Semesterbeginn wäre ich sowieso nach Kalifornien gezogen. Zum Glück habe ich einen Platz am Santa Monica College bekommen – weit weg von White Harbor und meinem Dad.

 

Gegen halb neun fange ich an zu überlegen, was ich zum Frühstück essen möchte. Eigentlich habe ich mir ja vorgenommen, mindestens noch eine halbe Stunde zu warten. Aber mir ist schon ganz schlecht vor Hunger.

Die Zeit kriecht wie eine Schnecke dahin. Fast alle anderen Wartenden in meiner abgelegenen Nische haben mittlerweile schon gewechselt. Die Frau, die seit einigen Minuten schräg gegenüber sitzt, guckt mich jedes Mal ganz mitleidig an, wenn mein Magen Geräusche wie ein Bär auf der Jagd macht.

Plötzlich lässt sich jemand auf den freien Platz neben mir fallen. Ich nehme die Bewegung aus dem Augenwinkel wahr, wende aber nicht den Kopf, weil mein Magen sich gerade wieder lautstark meldet. Krampfhaft senke ich den Blick auf mein Handy und tue, als hätte ich mit den seltsamen Geräuschen nichts zu tun. »Unser Frühstück. Greif zu!«

Erstaunt starre ich das Tablett an, das auf der Armlehne neben mir aufgetaucht ist. Darauf stehen zwei große Becher Kaffee, eine Auswahl Bagels mit Schinken, Ei und Käse und zwei Plastikschälchen mit Obstsalat.

Ich hebe den Kopf und sehe den Typen an, der das Essen offenbar herbeigeschleppt hat. Ein Schreck durchzuckt mich. Nein, eher so was wie ein brennender Pfeil, der meinen Bauch auf eine ganz andere Art zum Rumoren bringt. Ich kenne ihn nicht, aber er sieht aus, als würden eine Menge Mädchen ihn gerne kennen. Dunkle Haare, Augen wie geschmolzene Zartbitterschokolade und die Art von Wangenknochen, mit denen es ein Typ in Hollywood weit bringen kann.

»Der eine Kaffee ist mit Milch, der andere ohne. Welchen möchtest du?« Der Klang seiner Stimmer verstärkt das Rumoren in meinem Bauch.

»Äh. Ich … Wir kennen uns nicht. Ich bin nicht die, die du meinst«, stoße ich hervor. Peinlicherweise begleitet mein Magen diese Worte mit einem unüberhörbaren Knurren.

»Wer sagt denn so was? Ich meine genau dich.« Er grinst mich breit an. »Wie es aussieht, komme ich gerade rechtzeitig, um dich vor dem Hungertod zu retten.«

»Nein. Das ist … Das macht mein Magen immer, wenn ich nervös bin.« Jetzt werde ich rot. Wieso muss ich so was Blödes sagen? Nun denkt er garantiert, ich bin seinetwegen nervös, was ja doch etwas peinlich ist. Ich finde Dreitagebärte toll und meinen neuen Sitznachbar ziemlich heiß, aber ich gebe mir große Mühe, ihm nicht zu zeigen, dass er mir gefällt. »Essen hilft.« Er schiebt den Plastikteller mit den Bagels in meine Richtung und deutet auf die Becher. »Mit Milch oder ohne?«

»Ohne«, rutscht es mir heraus, obwohl ich den Kaffee gar nicht will.

»Passt doch. Ich trinke ihn auch am liebsten schwarz.«

Verdutzt starre ich den Pappbecher an, den er mir in die Hand gedrückt hat. »Dann musst du ja den mit Milch trinken.«

»Dafür weiß ich jetzt, dass wir denselben Geschmack haben.« Er nimmt einen großen Schluck aus dem zweiten Becher, grinst mich an und stellt ihn zurück aufs Tablett.

Ich nippe auch an meinem Kaffee. Und weil ich schließlich dazu aufgefordert worden bin, nehme ich mir einen Bagel und beiße herzhaft hinein.

»Machst du das immer?«, erkundige ich mich, nachdem ich geschluckt habe.

»Was meinst du?« Er beugt sich so weit zu mir herüber, dass ich jede einzelne seiner dunklen Bartstoppeln erkennen kann.

»Fremden Mädchen in Busbahnhöfen Frühstück spendieren.« Weil mich seine Nähe unruhig macht, rutsche ich unauffällig zur Seite. Prompt beugt er sich noch weiter vor, als würde ich ihm an einem heißen Tag Schatten spenden.

Weil ich in Richtung Boden starre, kann ich nicht umhin, die langen Beine in ausgewaschenen Jeans zu sehen, die sich neben mir ausstrecken. Die grünen Sneakers sind riesengroß und ziemlich angesagt. Mit teuren Markenklamotten bin ich aber nicht zu beeindrucken. Meistens haben Mommy und Daddy die Klamotten für die Typen bezahlt, die damit angeben.

»Das ist das erste Mal.« Beim Lächeln entblößt er strahlend weiße Zähne. Ich könnte wetten, dass er sich für seine ebenmäßige Zahnreihe nicht wie ich jahrelang mit einer Spange herumplagen musste. Typen wie er bekommen erfahrungsgemäß im Leben fast alles geschenkt. Das sehe ich schon daran, wie er sich zurücklehnt, während er mit mir redet. Total selbstbewusst. Trotzdem wirkt er merkwürdig angespannt, was irgendwie nicht zu seinem Selbstbewusstsein passt.

Wie auf Kommando schnellt sein Oberkörper wieder nach vorn. Unsere Gesichter sind jetzt so dicht beieinander, dass ich seinen Atem spüre, auf meinen Wangen, meinem Kinn und meinen Lippen. Ich kann ihn noch so forschend anstarren, seine dunklen Augen verraten mir nicht, was hier los ist. Sie mustern mich nur interessiert. Als würde er sich fragen, was hinter meiner Stirn vorgeht. Dabei bin ich nicht diejenige, die wildfremde Leute zum Frühstück einlädt!

Im nächsten Moment zuckt sein Blick weg von mir und gleitet suchend durch den großen Raum. Dann taucht er mit seinem Kopf wieder in meinen nicht vorhandenen Schatten.

»Ich habe eine große Bitte an dich.« Seine Stimme passt perfekt zu seinen Augen. Sie klingt wie dunkler Samt. Im selben Moment, in dem mir das durch den Kopf geht, befehle ich mir, damit aufzuhören, so alberne Dinge zu denken. Ich reiße mich also zusammen und mustere ihn kühl.

»Ja?« Jetzt bin ich aber mal gespannt!

»Darf ich dich küssen?«

Fast verschlucke ich mich an den letzten Bagelkrümeln. Wie bitte? Jemand wie dieser Typ hat es nun wirklich nicht nötig, in einem Busbahnhof herumzuschleichen und fremde Mädchen um Küsse anzubetteln.

Ich bewege die Lippen, bringe aber kein Wort heraus. Was daran liegen könnte, dass mir keine passende Antwort einfällt. Angemessen wäre ein lautes, energisches NEIN. Aber komischerweise will dieses Wort einfach nicht aus meinem Mund kommen. Stattdessen starre ich seine Lippen an, die voll und perfekt geschwungen sind. Sicher fühlen sie sich gleichzeitig weich und fest an und …

»Warum?«, flüstere ich, bevor meine Fantasie mit mir durchgehen kann.

Er verrenkt den Hals noch etwas mehr, als würde ihm der imaginäre Schatten, den ich werfe, nicht genügen. Dabei runzelt er angestrengt die Stirn, obwohl meine Frage eigentlich nicht so schwierig zu beantworten ist.

»Weil ich Lust dazu habe. Und du vielleicht auch?«

Das klingt seltsam unsicher. Als wüsste er selbst nicht genau, warum er dieses Ansinnen an mich stellt. Er sieht mich auch nicht direkt an, sondern scannt schon wieder den Raum.

Da begreife ich plötzlich. Er will jemanden eifersüchtig machen! Seine Freundin oder eine Frau, nach der er so verrückt ist, dass er dieses Theater mit mir aufführt.

Ein oder zwei Sekunden lang bin ich enttäuscht. Aber dann sage ich mir, dass ich nicht wirklich der Typ bin, auf den einer wie er abfährt. Immerhin findet er mich attraktiv genug, um eine andere Frau mit mir eifersüchtig zu machen.

»Darf ich?«, flüstert er so dicht vor meinem Mund, dass es schon fast ein Kuss ist. Dabei greift er mir mit gespreizten Fingern in die Haare und zieht sie ganz sanft ein wenig nach vorn, als solle niemand sehen, was wir dahinter machen.

»Okay«, stoße ich hervor und weiß kaum, woher diese Antwort kommt. Das hier ist ziemlich seltsam, aber ich will diesen Kuss, auch wenn ich nicht genau erklären könnte, warum.

Dieser Typ sieht nicht nur unfassbar sexy aus, er riecht auch gut und ist mir kein bisschen unheimlich. Letzteres ist ziemlich erstaunlich, weil er sich wirklich seltsam verhält. Aber ich fühle mich dennoch sicher und wohl in seiner Nähe. Genau wie meine Stimme vorher, koppelt sich mein Körper von meinem Verstand ab. Ich neige den Kopf und spüre seinen Atem auf meinem Mund. Ein heißer Schauer durchfährt mich.

Er beugt sich noch ein winziges Stück vor und legt seine Lippen auf meine. Erst berührt er mich nur ganz leicht, als wolle er mich mit seinem Mund streicheln. Dann erhöht er den Druck und öffnet die Lippen ein wenig.

Kribbelnde Wärme breitet sich in meinem Körper aus und entzündet ein loderndes Feuer in meinem Bauch. Als seine Zungenspitze über meine Unterlippe streicht und zwischen meine Zähne gleitet, kommt ihm meine Zunge ungeduldig entgegen.

Obwohl er gerade Kaffee getrunken hat, schmeckt er nach Limonen. Vielleicht verströmt aber auch seine Haut diesen herben, fruchtigen Duft. Er weiß, was er tut, und auf geheimnisvolle Weise kenne ich meinen Beitrag zu diesem Spiel. Meine Lippen und meine Zunge reagieren bereitwillig auf seine Zärtlichkeiten, während meine Hand wie von selbst in seinen Nacken wandert …

Es gelingt mir nicht annähernd, den Tumult, der in meinem Körper herrscht, unter Kontrolle zu bringen, das Prickeln und das Kribbeln, die Hitze, die funkelnden Lichter hinter meinen geschlossenen Lidern und dieses seltsam wolkige Gefühl im Kopf, das jeden klaren Gedanken verhindert. Vollkommen neue und fremde Empfindungen überrollen mich wie haushohe Wellen, denn ehrlich gesagt halten sich meine Erfahrungen mit Jungs bisher ziemlich in Grenzen.

Dann ist es vorbei. Ich spüre ihn nicht mehr und fühle mich seltsam allein. Verwirrt schlage ich die Augen auf.

Sein Gesicht ist immer noch dicht vor mir, meine Hand liegt immer noch in seinem weichen Nacken.

»Danke«, sagt er leise.

Stumm nicke ich und ziehe meine Hand rasch zurück. Was, bitte, soll ich dazu sagen? Gern geschehen? Das klingt, als hätte ich ihm die Tür aufgehalten oder ihm den Weg zur Bibliothek beschrieben.

Schon wieder beobachte ich, dass er sich aufmerksam im Busbahnhof umsieht. Ich lasse meinen Blick ebenfalls schweifen. Sieht er die Schwarzhaarige mit den schulterlangen Locken dahinten am Zeitschriftenstand an? Die ist total hübsch. Aber sie beachtet uns gar nicht, sondern blättert in einem Modemagazin.

»Könntest du mich noch kurz nach draußen begleiten?«, erkundigt sich der Fremde an meiner Seite.

Ich will ihn fragen, warum er das nicht allein schafft, habe aber irgendwann während der vergangenen Minuten meine Stimme verloren. Außerdem bin ich schon aufgestanden, ohne überhaupt nachgedacht zu haben, ob ich das will. Meine Knie fühlen sich weich und zittrig an, aber ein paar Schritte werde ich wohl schaffen.

»Ich bin übrigens Luc«, stellt sich der Typ, der mir eben den heißesten Kuss meines Lebens verpasst hat, ziemlich verspätet vor.

»Harper«, erwidere ich und bin fast erstaunt, dass ich mich trotz des rosigen Nebels in meinem Kopf noch an meinen eigenen Namen erinnere.

»Freut mich, Harper.« Mit einer selbstverständlichen Geste legt er den Arm um meine Schultern.

Zunächst bemerke ich gar nicht, dass Luc auf dem Weg zum Ausgang einen Schlenker zum Souvenirstand macht. Wie sollte ich auch, mit seinem Geschmack auf meinen Lippen, der mir immer noch den Kopf vernebelt? Die letzten Schritte zu dem kleinen Laden legen wir, immer noch Arm in Arm, fast im Laufschritt zurück. Luc zieht mich einfach mit. Dabei sieht er sich irgendwie panisch um, wenn ich auch nicht verstehe, welche Gefahr uns in diesem ruhigen Busbahnhof drohen sollte. Im Vorbeigehen greift er blitzschnell zu und hält plötzlich eine schwarze Baseballkappe in der Hand. Im nächsten Moment hat er sie auf dem Kopf.

Entsetzt schnappe ich nach Luft. Hat er die Cap eben geklaut?

Da fängt der Mann hinter dem Verkaufstresen auch schon an zu brüllen. Er ruft irgendwas von Diebstahl und dass die Leute das Paar da aufhalten sollen.

Das Paar da sind dann wohl wir.

Luc lässt den Arm von meinen Schultern gleiten, nimmt stattdessen meine Hand, rennt los und zerrt mich hinter sich her. Ich stemme die Füße in den Boden. Wo will der Kerl mit mir hin?

»Was ist los? Komm mit, Harper!« Lucs Blick wirkt gehetzt.

»Wieso? Ich habe nichts geklaut.« Abwehrend will ich die Arme vor der Brust verschränken, aber Luc hält mich mit entschlossenem Griff fest.

»Wir sind Arm in Arm rumgelaufen. Wenn ich weg bin, kriegst du Ärger. Das will ich nicht.«

»Dann gib doch einfach die Cap zurück!«, schlage ich vor.

Inzwischen hat er mich bis zu den Glastüren gezogen, die sich automatisch vor uns öffnen. Als ich mich umdrehe, sehe ich zwei oder drei Männer auf uns zulaufen, die wahrscheinlich auf das Geschrei des Verkäufers reagieren.

»Harper, jetzt komm!« Luc umklammert meine Hand so fest, dass mir die Finger wehtun. »Bitte!«

Ich weiß nicht, ob es sein dunkelbrauner Blick ist oder die Angst, tatsächlich Ärger zu bekommen, weil der Typ geklaut hat, den ich geküsst habe und in dessen Arm ich durch den Busbahnhof gegangen bin. Jedenfalls gebe ich nach und folge ihm.

Luc scheint genau zu wissen, wo er hinwill. Als wir aus dem Gebäude treten, wendet er sich nach links und sprintet erst ein Stück die Straße entlang, nimmt dann eine schmale Abzweigung und biegt schließlich in einen Hinterhof ein, wo ein paar Mülltonnen buchstäblich zum Himmel stinken und zwei oder drei Büsche ein kümmerliches Dasein fristen. Hier bleiben wir stehen, und Luc lässt endlich meine Hand los.

Ich keuche, als hätte ich einen Marathonlauf hinter mir. Das kommt davon, wenn man zu viel Klavier übt und eher selten zum Sport geht. Luc hingegen atmet lediglich ein bisschen schneller. Er schiebt sich die blöde Cap, wegen der wir den ganzen Ärger haben, aus der Stirn und grinst mich an.

»Nicht lustig!«, stoße ich nach Atem ringend hervor und schüttle heftig den Kopf. »Wieso hast du das gemacht? Das hätte tierisch Ärger gegeben, wenn die uns gekriegt hätten.«

»Haben sie aber nicht.« Offenbar hat er begriffen, dass mich für den Moment mein Humor verlassen hat, denn er sieht mich ernst an. »Tut mir leid.«

Missmutig presse ich die Lippen zusammen. So gut, dass ich ihm ein derart blödes Verhalten verzeihe, kann ein Typ gar nicht aussehen und auch nicht küssen. Dann durchzuckt mich ein eisiger Schreck, weil mir klar wird, dass ich den Busbahnhof auf keinen Fall wieder betreten darf. Man hält mich für Lucs Komplizin, und sobald der Mann vom Souvenirstand mich sieht, habe ich garantiert die Polizei am Hals. Wie soll ich beweisen, dass ich den Kerl überhaupt nicht kenne?

Keine Chance.

Ich starre Luc böse an. Dass ich bei seinem Anblick sofort an den Druck seiner Lippen denken muss, der genau richtig war, nicht zu fest und nicht zu sanft, macht mich noch wütender.

»In zehn Minuten fährt mein Bus! Aber ich kann diese verdammte Greyhound-Station nicht betreten, nur weil du aus lauter Langeweile eine Cap geklaut hast. Was, bitte schön, soll ich jetzt machen?«

»Wo willst du denn hin?«, erkundigt er sich.

»Nach L.A.!« Ich sehe ihn herausfordernd an. Angesichts der Entfernung, die ich zurücklegen muss, wird ihm hoffentlich das Ausmaß der Katastrophe bewusst. »Das heißt, ich habe eine Fahrkarte bis Kansas City. Den Rest der Strecke wollte ich trampen. Aber aus dem Plan wird ja jetzt nichts.«

Das mit dem Trampen klingt ziemlich cool, finde ich. Obwohl ich eher vorhatte, mir irgendwie von Mom helfen zu lassen. Aber das geht ihn nichts an. Zum Glück weiß Luc auch nicht, dass ich nun zurück zu Dad muss. »Das trifft sich gut«, stellt er fest und wirkt angesichts meiner Mitteilung kein bisschen zerknirscht. »Zufällig will ich auch nach Kalifornien. Wir können sofort losfahren.«

»Wie? Losfahren? Ich habe doch gerade gesagt, dass ich nicht zurück in die Greyhound-Station kann. Und du erst recht nicht!« Ich wende mich ab, um den finsteren Hinterhof zu verlassen. Mit ein bisschen Glück hat Dad noch nicht gemerkt, dass ich weg bin, und glaubt, ich mache einen Spaziergang am Strand oder verbringe den Tag mit meinen Freunden.

»Wir fahren mit dem Auto. Mein Wagen steht zwei Querstraßen von hier.«

Ich drehe mich so hastig um, dass mir meine Haare in die Augen fliegen und ich sie wegschütteln muss, damit ich ihn betrachten kann. Irgendwie sieht er nicht aus, als wolle er mich auf den Arm nehmen.

»Ich kenne dich überhaupt nicht. Also werde ich wohl kaum in dein Auto steigen und mit dir quer durchs Land fahren.« Es ist schwierig, einen Typen, der aussieht wie er und dessen Kuss immer noch auf meinen Lippen brennt, mit einem wirklich kühlen Blick zu mustern, aber ich gebe mir redlich Mühe.

»Ach, ich dachte, du wolltest von Kansas City nach L.A. trampen. Meinst du, da kommt zufällig jemand vorbei, den du seit zehn Jahren kennst?« Er zwinkert mir zu, und ich bemerke, dass in seinen dunklen Augen goldene Tupfen funkeln.

Das bringt mich für einen Moment aus dem Konzept. Schulterzuckend sehe ich hinauf zum Himmel, über den gerade ein einzelnes weißes Wölkchen huscht. Aber auch von dort oben kommt keine Hilfe.

»Du bist immerhin ein Dieb«, fällt mir gerade noch rechtzeitig ein. Ich deute auf die Baseballkappe, die er immer noch trägt. »Eine vertrauensbildende Maßnahme war das jedenfalls nicht.« Dad redet gern von solchen Maßnahmen, die ich bitte ergreifen soll. Jetzt kann ich den blöden Begriff endlich mal selbst anbringen.

»Ich war in einer Notsituation. Sobald ich wieder in der Gegend bin, bezahle ich das Ding.« Er tut, als würden ihm meine finsteren Blicke nichts ausmachen. Blöderweise ist es wahrscheinlich so.

»In welcher Notsituation muss man denn eine Cap klauen? Ich glaube eher, du hast das aus Spaß gemacht. Um wem auch immer zu beweisen, was für ein cooler Typ du bist. Es ist aber nicht cool zu stehlen!«

Klar, dass ich mich jetzt zur Abwechslung wie meine Mom anhöre, aber ich stehe hinter meinen Worten.

»Ich hatte meine Gründe. Es war einfach nicht genug Zeit zum Bezahlen«, beharrt Luc. »Wollen wir uns dann jetzt auf den Weg machen?«

Natürlich bin ich absolut nicht überzeugt von der Idee, mit ihm ins Auto zu steigen und quer durchs Land zu fahren. Andererseits finde ich den Gedanken, zu Dad zurückzukehren, fast noch schlimmer. Er ist mein Vater, und ich glaube ihm sogar, dass er es irgendwie gut mit mir meint. Aber wieso interessiert ihn dann meine Meinung nicht? Wieso kapiert er nicht, dass ich nicht genauso denke und fühle wie er? Aber wie sollte er auch, wenn er sich nie Zeit nimmt herauszufinden, was in mir vorgeht? Überhaupt ist es erstaunlich, dass er es neben seiner vielen Arbeit schafft, mich mit seinen ständigen Fragen nach meinem Woher und Wohin zu nerven.

Dazu noch die Sache mit dem Musikwettbewerb und meinem Geburtstag. Ich will nicht zurück zu Dad!

Nachdenklich sehe ich Luc an. Kann ich einfach zu einem wildfremden Typen ins Auto steigen?

»Weißt du was«, sagt er und wirkt inzwischen einigermaßen ungeduldig. »Ich bin schuld daran, dass du deinen Bus verpasst hast. Und damit du trotzdem nach L.A. kommst, biete ich dir an, dich mitzunehmen. Wenn du nicht willst, ist das dein Problem.«

»Du kannst mir doch nicht erzählen, dass du den weiten Weg nach Kalifornien fährst, weil ich deinetwegen meinen Bus verpasst habe.« Misstrauisch kneife ich die Augen zusammen.

Jetzt fängt er doch tatsächlich an zu lachen! Und zwar so heftig, dass seine kurz geschnittenen Haare auf und ab tanzen. Dabei schimmern sie in der Mittagssonne rotbraun wie reife Kastanien.

»Das wäre eine bisschen übertrieben, meinst du nicht?« Immer noch breit grinsend, schüttelt er den Kopf. »Ich wollte da sowieso hin. Und ich finde auch ohne dich den Weg. Es ist ein Angebot. Nicht mehr und nicht weniger.«

Ich denke so angestrengt nach, dass ich spüre, wie sich meine Stirn in Falten legt. Bis auf ein paar Dollar habe ich mein ganzes Geld für das Ticket ausgegeben. Und vorerst kann ich die Fahrkarte nicht umtauschen, weil ich nicht in den Busbahnhof gehen kann. Also bleiben nur Lucs Auto oder der Weg zurück nach White Harbor. Zu Dad. Luc sieht nicht aus, als ob er es nötig hat, Mädchen in seinen Wagen zu locken, um Gott weiß was mit ihnen anzustellen. Er hat ja sogar höflich gefragt, ob er mich küssen darf. Andererseits war unser gemeinsamer Abgang aus der Greyhound-Station einigermaßen seltsam. Und jetzt sind wir praktisch auf der Flucht. Der Gedanke ist ziemlich aufregend. Zu dem Prickeln auf meinen Lippen, das ich immer noch spüre, wenn ich an unseren Kuss denke, gesellt sich jetzt noch ein Kribbeln im Bauch. Es fühlt sich an, als hätte da drinnen jemand ein paar Päckchen Brausepulver aufgelöst.

»Auf zu deinem Auto!«, sage ich entschlossen.

 

Als wir aus dem Hof auf den Gehweg treten, sieht Luc sich vorsichtig um, als würde er befürchten, dass irgendwo ein Sondereinsatzkommando lauert. Was ich jetzt eher nicht glaube, denn wegen der sechs Dollar, die die Cap etwa gekostet haben wird, werden wir bestimmt nicht durch die Stadt verfolgt.

Offenbar stellt Luc fest, dass die Luft rein ist, denn er geht entschlossen weiter. Knapp zehn Minuten später stehen wir von einem blauen Mustang.

»Der ist jetzt aber nicht geklaut, oder?« Prüfend betrachte ich Luc von der Seite.

»Quatsch.« Er zieht den Wagenschlüssel aus der Tasche und öffnet mir die Beifahrertür. Das muss man bei diesem Auto noch richtig mit Schlüssel ins Schloss machen.

Autodiebe bekommen normalerweise den Schlüssel nicht gleich mit dazu, beruhige ich mich selbst, während ich einsteige. Die brechen die Tür auf und schließen den Wagen kurz. Das sieht man dauernd in irgendwelchen Krimis.

»Ziemlich großes Auto für die Stadt«, stelle ich fest, während ich mich anschnalle und Luc sich hinters Lenkrad setzt. »Ist das nicht unpraktisch?«

Er zuckt mit den Schultern. »Ist einer der abgelegten Wagen meines Vaters. Er liebt Oldtimer, und ich bin nicht wählerisch. Meistens fahre ich ja nicht in der City herum, sondern raus aus New York.«

Geschickt fädelt er sich in den Verkehr in Richtung Highway ein. Nach ein paar Minuten lehne ich mich zurück und entspanne mich ein bisschen. Zumindest scheint er ein sicherer Fahrer zu sein.

»Luc klingt nicht gerade typisch amerikanisch«, stelle ich fest, als er an einer roten Ampel hält. »Wie heißt du mit Nachnamen?«

»Mercier«, erwidert er knapp. »Das ist französisch.«

»Aber du bist hier geboren, nicht wahr? Jedenfalls hört man nicht, dass du Franzose bist.« Womöglich hätte seine dunkle Stimme mit einem französischen Akzent noch aufregender geklungen, aber das behalte ich lieber für mich.

»Ich wohne erst seit anderthalb Jahren in New York.« Wieder bremst er an einer Ampel, und eine riesige Fußgängergruppe überquert vor uns die Straße.

»Aber …«, fange ich an, doch er unterbricht mich.

»Puh, Mädchen wie du sind immer furchtbar neugierig. Ihr müsst immer alles ganz genau wissen, was? Wo ich herkomme, wer meine Eltern sind, warum ich hier und nirgendwo anders lebe. Vorher gebt ihr keine Ruhe.«

»Was heißt hier Mädchen wie ich?«, frage ich verärgert.

»Ihr lebt in einer kleinen Welt, in einer hübschen Kleinstadt und findet alles spannend, was anders ist als das, was ihr kennt.« Es wird grün, und er startet so schwungvoll, dass es mich ins Polster drückt.

Ich öffne den Mund, um zu protestieren, klappe ihn aber sofort wieder zu. Irgendwie hat er ja recht, obwohl er gar nicht wissen kann, dass ich nicht aus New York komme. White Harbor ist wirklich ziemlich klein, und bis auf die paar Reisen nach Mexiko und nach Kanada, die wir als Familie unternommen haben, bin ich da bis jetzt auch nicht großartig rausgekommen.

»Ich kenne fast alle Länder Europas, ein paar in Afrika und ein paar in Südamerika. Die meisten haben mir nicht sonderlich gefallen.«

Verblüfft sehe ich ihn von der Seite an. Was soll man denn davon halten? Kennt die halbe Welt und findet das offenbar langweilig! Wieso ist er in seinem Alter schon so weit rumgekommen? Und warum findet er das nicht aufregend? Natürlich denke ich nicht dran, meine Neugierde zu zeigen. Das würde nur seine Meinung bestätigen.

»Gehst du noch zur Schule?« Er hat natürlich kein Problem damit, mich auszufragen. »Hoffentlich bist du volljährig. Nicht dass ich nachher wegen Entführung Minderjähriger dran bin.«

»Klar bin ich volljährig«, fauche ich. »Willst du meinen Ausweis sehen?«

Hoffentlich sagt er Nein. Sonst stellt er fest, dass ich seit genau einem Tag achtzehn bin.

»Später vielleicht.« Von der Seite sehe ich, dass er vor sich hin lächelt. Zwischen seinen dunklen Bartstoppeln taucht dabei ein Grübchen auf.

»Ich gehe aufs College«, füge ich hinzu, was fast die Wahrheit ist, denn das Semester fängt in nicht mal drei Wochen an. »Und du?«

»Ich auch. Theoretisch zumindest. Aber ich bin nicht sicher, ob der Laden mir gefällt und ich da weitermachen will. Kann sein, dass ich sowieso aus New York weggehe. Dieser bürgerliche Scheiß geht mir langsam auf die Nerven. High School, College und dann die große Karriere. Hab ich keine Lust drauf.«

»Du fährst doch gerade weg aus New York«, erinnere ich ihn.

»Für immer weg, meine ich.« Mit zusammengekniffenen Augen blickt er nach vorn auf die Straße.

»Magst du das College nicht oder die Stadt?«, erkundige ich mich vorsichtig.

»Ich habe meine Gründe«, erwidert er nach einer langen Pause. Was genau genommen keine Antwort ist.

Meine Tasche! Der Gedanke kommt wie aus dem Nichts, und ich stoße einen lauten Schrei aus. Luc zuckt zusammen und tritt auf die Bremse. Hinter uns quietschen Reifen, aber das Geräusch von aufeinanderkrachendem Blech höre ich zum Glück nicht.

»Bist du verrückt?«, fährt Luc mich an. »Mach das nicht noch mal! Was ist denn los?«

»Meine Reisetasche ist im Bus. Da sind alle meine Sachen drin. Ich habe fast nichts bei mir. Dann können wir unterwegs nicht übernachten.« Um meine Worte zu unterstreichen, halte ich meinen Lederbeutel hoch.

»Dir ist klar, dass mehr als zweieinhalbtausend Meilen vor uns liegen, oder? Ich weiß nicht, wie es dir geht, ich möchte nicht achtundvierzig Stunden am Stück im Auto sitzen. Zwischendurch wird geschlafen. Und zwar in einem anständigen Bett.«

Der Gedanke an eine Übernachtung gefällt mir gar nicht. Wie soll das bitte aussehen? Ein gemeinsames Zimmer im Hotel fällt ja wohl flach. Außerdem kann ich mir nicht mal ein Eckchen Matratze in einem Vierbettzimmer leisten.

Meine Reisetasche schaukelt nun also im Greyhound-Bus von der Ostküste nach Kansas City. Ob ich die jemals wiedersehe? Wahrscheinlich schmeißen sie mein Gepäck einfach raus, wenn sie feststellen, dass seine Besitzerin gar nicht an Bord ist. »Was ist denn? Keine Lust mehr zu streiten?«, erkundigt sich Luc, als ich nach ein paar Minuten immer noch verbissen schweige.

»Ich muss meine Tasche wiederhaben«, stoße ich hervor.

Er zuckt gelassen mit den Schultern. »Eine Zahnbürste kannst du dir jederzeit kaufen. Ich muss mir auch ein paar Klamotten zum Wechseln und so was besorgen.«

Geldsorgen scheint der Typ nicht zu kennen. Jedenfalls kommt er gar nicht auf den Gedanken, dass es eher mau um meine Finanzen bestellt sein könnte. Ehe ich ihm das sage, beiße ich mir aber lieber die Zunge ab.

Er sieht mich kurz von der Seite an, während ich immer noch nach Kräften versuche auszusehen, als hätte ich die Tasche voller Kreditkarten. Dabei habe ich noch nie auch nur eine einzige besessen.

»Ist in deiner Tasche irgendwas Wichtiges?«, erkundigt sich Luc. »Raus damit. Was ist es, woran dein Herz hängt?«, drängt er, als ich nach einer Weile immer noch verbissen schweige.

»Ich habe nichts gesagt. Nur dass meine Tasche weg ist.«

Luc lacht leise in sich hinein. »Du kannst äußerst beredt schweigen. Ich nehme mal an, du trauerst nicht deiner Zahnbürste mit tragischem Gesichtsausdruck hinterher.«

»Ich habe eine Lederjacke, die ist mir eben wichtig«, erkläre ich nach kurzem Zögern. Lederjacke klingt schließlich gar nicht so uncool.

»Teuer?«, erkundigt er sich knapp.

Ich nicke entschieden. Für Luc wäre der Preis der Jacke wahrscheinlich nicht der Rede wert, doch das interessiert mich gerade nicht. »Sie war ein Geschenk.« Ich räuspere mich.

»Von wem?« Luc hat eine sehr direkte Art, Fragen zu stellen. So als hätte er das Recht, alles über mich zu erfahren.

»Von meiner Mom«, sage ich leise. »Nach der Scheidung von meinem Dad ist sie wegen eines tollen Jobs nach L.A. gezogen. Ich habe sie seit Monaten nicht gesehen. Die Jacke ist mir bei unserer letzten gemeinsamen Shoppingtour in einem Vintage-Laden aufgefallen. Sie muss ewig in L.A. rumgelaufen sein, um eine zu finden, die fast genauso aussieht.«

Ich beiße mir auf die Unterlippe. So viel wollte ich gar nicht erzählen. Als wider Erwarten kein Spott von Luc kommt, mustere ich ihn erstaunt von der Seite. Er sieht starr nach vorn.

»Mütter sind so«, sagt er nach langem Schweigen leise, und seine Stimme klingt ein wenig belegt. »Wir sollten dafür sorgen, dass du die Jacke zurückbekommst. In Harrisburg können wir den Bus abfangen.«

Erstaunt schnappe ich nach Luft. »Das würdest du tun?«

»Warum nicht?« Er klingt ehrlich überrascht, dass ich mich wundere. »Harrisburg liegt fast auf unserer Strecke.«

»Danke«, hauche ich.

»Kein Problem.« Er beugt sich zur Seite und fummelt im Fußraum vor meinem Sitz herum, während er gleichzeitig den Kopf hochreckt, um die Straße im Auge zu behalten.

Sein Nacken ist direkt von meinem Gesicht, und ich sehe eine dunkelbraune Locke, die sich über seiner gebräunten Haut kringelt. Ein frischer Duft nach Limonen und etwas Frischem, Unbekanntem steigt mir in die Nase. Ich möchte wissen, was das ist. Ein Aftershave, ein Shampoo oder einfach nur seine saubere, männliche Haut?

»Was suchst du?«, erkundige ich mich nervös, als seine Hand meinen nackten Knöchel am unteren Saum der Jeans streift. Schon wieder wird mir seltsam heiß, obwohl der Wagen eine Klimaanlage hat.

»Da muss irgendwo eine Wasserflasche liegen.«

»Dann lass mich suchen und guck auf die Straße.«

Er richtete sich auf, ich denke, er setzt sich jetzt endlich wieder vernünftig hinter das Steuer, und bücke mich, um selber nach der Flasche Ausschau zu halten. Ich bin aber zu schnell. Jedenfalls hat Luc sich noch nicht ganz auf seine Seite zurückgezogen, und ich starre unvermittelt aus nächster Nähe in seine Augen. Ganz kurz nur, aber diese Millisekunde reicht, um mir schon wieder einen heißen Schauer zu verpassen. Ich bin es einfach nicht gewohnt, auf so engem Raum mit jemandem zusammen zu sein, den ich nicht kenne. Es ist jedes Mal so etwas wie ein leichter Elektroschock, wenn wir die unsichtbare Grenze überschreiten, die zwischen uns existiert.

Endlich sitzt Luc wieder aufrecht hinter dem Steuer. Ich räuspere mich, angle nach der Flasche, finde sie fast sofort neben meinen Füßen und gebe sie Luc wortlos.

Er schraubt sie auf und nimmt einen kräftigen Schluck, während er die Straße nicht aus den Augen lässt.

»Du auch?«

Ich zuckte zusammen, als er mir die offene Flasche hinhält, die er eben noch mit seinem Mund berührt hat. Automatisch wandert mein Blick zu seinen Lippen.

Luc bemerkt mein Zögern und lacht. »Ich habe nur die eine Flasche. Wenn du Durst hast, solltest du trinken. Immerhin haben wir uns schon geküsst, also ist das auch nicht schlimmer.«

Ich schnappe ihm die Flasche aus der Hand, lege den Kopf in den Nacken und trinke, bis ich nach Luft schnappen muss.

»So ist brav! Wir wollen doch nicht, dass du dehydrierst.« Er zwinkert mir kurz von der Seite zu.

Blödmann, denke ich, sage es aber nicht, sondern tue, als hätte ich nichts gehört, während ich die Flasche wieder zuschraube und im Fußraum verstaue.

Bald liegt New York City hinter uns, und es geht zügig voran. Aber zweieinhalbtausend Meilen sind eine sehr, sehr weite Strecke für zwei Menschen, die sich nicht kennen und sich nichts zu sagen haben.

Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und tippe eine Nachricht an Cait ein. Es wird höchste Zeit, dass meine beste Freundin erfährt, was bei mir los ist.

»Streng geheim! Bin auf dem Weg zu Mom. Am Steuer neben mir sitzt ein echter Hottie. Haben uns geküsst. Alles ein bisschen merkwürdig, aber mach dir keine Sorgen.«

Offenbar stört Luc die anhaltende Stille im Auto auch. Wortlos streckt er die Hand aus und schaltet Musik ein.

Lauschend hebe ich den Kopf, während ich mein Handy wieder in die Tasche schiebe. Das Intro des Songs, der gerade läuft, ist ein langes Gitarrensolo. Ich runzle die Stirn und überlege. Er wirft mir einen Seitenblick zu. »Hast du mit Musik nichts am Hut?«

Mein Lachen klingt sogar in meinen eigenen Ohren ein bisschen schrill. »Kann man so nicht sagen. Ich habe seit meinem siebten Geburtstag Klavierunterricht.«

»Also hörst du nur Klassik? Chopin und so?«

»Wofür hältst du mich?« Ich rolle mit den Augen. »Das ist Lee Clayton, oder nicht? Und der Bassist in dem Stück ist auch richtig gut.«

»Wow, das hätte ich dir nicht zugetraut«, sagt Luc. Mehr nicht, aber ich fühle mich gegen meinen Willen ein bisschen geschmeichelt.

Eine Weile hören wir beide der Musik zu, während die Häuser an der Straße immer kleiner werden und dazwischen mehr Bäume auftauchen.

»I ride alone, yes, I ride alone«, intoniert der Sänger.

Luc singt leise mit. Er hat einen schönen Bariton, aber ich muss lachen, als ich den Refrain höre. Von allein kann momentan nicht wirklich die Rede sein.

Eigentlich würde ich auch gern mitsingen, aber ich traue mich nicht, weil ich das peinlich finde. Also sitze ich ein bisschen steif da und klopfe vorsichtig auf meinem Schenkel den Takt mit.

Als der Song zu Ende ist, schaltet Luc mit einer energischen Handbewegung die Musik aus.

»Schade«, sage ich leise.

»Wir können noch genug Musik hören. Erzähl mir lieber was über dich«, fordert Luc mich auf.

»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, wehre ich steif ab. Was ich über mich zu berichten habe, würde ihn eher einschläfern als unterhalten, fürchte ich.

»Klar gibt es was zu erzählen«, widerspricht er prompt. Er scheint ziemlich viel Wert darauf zu legen, immer anderer Meinung zu sein als ich. »Was willst du so dringend in L.A.?« Ich unterdrücke einen Seufzer, weil mir sofort wieder die ganze Geschichte mit meinem Dad einfällt. »In L.A. will ich meine Mutter besuchen, ich habe dir ja erzählt, dass sie vor ein paar Monaten dahin gezogen ist.«

»Spontan?«

Unwillkürlich zucke ich zusammen. Mit dem einen Wort hat Luc praktisch den Finger auf die Wunde gelegt. »Ziemlich spontan. Woher weißt du das?«

Sein leises Lachen kribbelt mir im Bauch. »Du hast dir nur eine Fahrkarte bis Kansas City gekauft und wolltest von dort aus trampen.«

»Na und?« Ich zucke mit den Schultern.

»Also hattest du nicht genug Geld, was nicht dafür spricht, dass deine Mutter von deinem Besuch weiß. Sonst hätte sie dafür gesorgt, dass du sicher bei ihr ankommst.«

Dieser Typ ist entschieden zu schlau!

Ich habe bestimmt nicht vor, einem coolen Typen wie Luc zu erzählen, dass sich das Zusammenleben mit meinem Dad als ziemlich nervenaufreibend entpuppt hat, nachdem meine Mutter nach Kalifornien gezogen ist. Irgendwie bildet Dad sich ein, ich wäre nicht achtzehn, sondern acht und er müsste jeden meiner Schritte überwachen, selbst wenn ich mich nur mit meinen Freunden am Strand treffe.

Dem Ganzen die Krone aufgesetzt hat er aber, als er meinen Geburtstag vergessen und mich ziemlich fies von der Seite angemacht hat, als ich nach Mitternacht von meiner Geburtstagsparty am Strand zurückkam. Also bin ich auf dem Weg zu meiner Mom. Nach Kalifornien muss ich in zwei Wochen sowieso, wenn es im College losgeht.

Luc scheint mein eisernes Schweigen bemerkt zu haben und lässt eine Salve weiterer Fragen los.

»Und warum fliegst du nicht? Wo ist dein College? Was ist dein Lieblingsessen? Dein Lieblingsfilm? Hast du einen Freund?«

»Neugierig bist du wohl gar nicht?« Ich funkle ihn von der Seite an, was er aber nicht bemerkt, weil er entspannt nach vorn sieht.

»Ich bin so nett, dich in meinem Auto mit nach Kalifornien zu nehmen und nicht mal einen Anteil fürs Benzin von dir zu verlangen«, begründet Luc seine Neugier. In der Windschutzscheibe spiegelt sich sein Grinsen.

»Haha. Wenn du nicht wärst, würde ich jetzt gemütlich im Bus sitzen und hätte meine Lederjacke noch.«

»Na gut, dann fange ich eben an. Ich esse am liebsten Garnelen mit Knoblauchdip. Einen Lieblingsfilm habe ich nicht. Wahrscheinlich weil ich lieber Musik höre.«

»Dann hast du einen Lieblingssong«, stelle ich fest. »Oder eine Lieblingsband.«

»Stimmt. Aber meinen Lieblingssong verrate ich nicht jedem.«

Ich muss ihn erst von der Seite ansehen, um herauszufinden, dass er das offenbar ernst meint. Jedenfalls entdecke ich nicht den leisesten Anflug eines Grübchens.

»Jetzt du«, fordert er mich nach einer Weile auf.

»Du hast mir ja kaum was erzählt«, beklage ich mich.

Er würdigt mich keiner Antwort.

»Pancakes«, sage ich schließlich. Das ist nicht sonderlich originell, aber immerhin die Wahrheit.

»Lieblingsfilm?«

»Was ist mit deinem Song?«, kontere ich und verschränke die Arme vor der Brust.

Jetzt sehe ich doch eine winzige Vertiefung in seiner Wange, dort, wo das Grübchen ist, wenn er breit lächelt. In diesem Moment fängt sein Handy an, eine Melodie zu dudeln, die ich nicht kenne. Sein Musikgeschmack scheint ziemlich ungewöhnlich zu sein. Mit einer Hand am Lenkrad angelt Luc in seiner Hosentasche nach dem Telefon, sieht kurz aufs Display und lehnt mit einem schnellen Tippen des Daumens das Gespräch ab. Dann verschwindet das Handy wieder in seiner Tasche.

Natürlich habe ich neugierig hingeschielt. Der Anruf kam von einem gewissen Vic, auf dem dazugehörigen Foto hatte Luc leider seine Finger.

Während ich mich auf meinem Sitz zurücklehne, werfe ich heimlich einen Blick auf die Uhr an meinem Handgelenk. Wir sind jetzt fast genau neunzig Minuten unterwegs. Wenn es stimmt, dass wir bis L.A. achtundvierzig Stunden brauchen, kann das eine lange Fahrt werden. Lang und sehr anstrengend.

»Meinen Geburtstag habe ich mit all meinen Freunden am Strand gefeiert. Wir haben ein Feuer gemacht, und sie haben mir ein Dutzend Fackeln geschenkt, die den Weg durch die Dünen beleuchtet haben.«

Es kommt mir vor, als wäre es eine kleine Ewigkeit her, seit wir alle ums Feuer gehüpft sind und »Leaving On A Jet Plane« gesungen haben. Dabei sind nicht viel mehr als zwölf Stunden vergangen. Allerdings ist in der Zwischenzeit auch viel passiert. Ich habe White Harbor tatsächlich verlassen, wenn auch nicht in einem Flugzeug, sondern im Mustang eines heißen Typen, der mir ein Rätsel nach dem anderen aufgibt. Irgendwie hat er es geschafft, dass ich ihm viel mehr über mich und mein Leben in White Harbor erzähle, als ich jemals wollte. Er fragt einfach und lacht über mich, wenn ich nicht antworten will. Und weil die Fahrt so lang ist und ich sonst nichts zu tun habe, ertappe ich mich dabei, wie ich gesprächig werde.

Luc ist vollkommen anders als die Typen auf der High School. Selbst wenn er mir nicht erzählt hätte, wie weit er schon in der Welt rumgekommen ist – man spürt, dass er schon viel gesehen und erlebt hat. Und er hört mir aufmerksam zu.

Aber während ich ihm immer mehr verrate, weiß ich noch immer nicht, weshalb er schon so viele Reisen gemacht hat. Wieso er jetzt in New York lebt. Und vor allem, warum er einfach mal so und ohne Gepäck nach Kalifornien fährt. Da stimmt irgendwas nicht. Sonst wäre er doch nicht mit mir so schnell aus dem Busbahnhof weggerannt! Was sollte die Sache mit dem Kuss? Und wieso hat er die blöde Cap geklaut, die er längst nicht mehr trägt?

Lauter Fragen und weit und breit keine Antwort. Direkt zu fragen, traue ich mich nicht. Er würde mir sowieso nichts verraten, so gut kenne ich ihn immerhin schon. Ein paarmal habe ich versucht, hintenrum irgendwas aus ihm herauszukriegen. Hat natürlich nicht geklappt. Wenn Luc irgendwas nicht ist, dann dumm.

»Muss schön sein, in einem kleinen Ort am Meer aufzuwachsen, sein Leben lang im selben Haus zu wohnen und seine Freunde seit einer Ewigkeit zu kennen.«

Wieder einmal muss ich den Kopf wenden, um festzustellen, ob er seine Worte ernst meint. Ist er wirklich neidisch auf mein langweiliges Leben in White Harbor?

»Muss toll sein, viel rumzukommen«, kontere ich. »Und überall auf der Welt Freunde zu haben. In einer kleinen Stadt muss man sich mit den Leuten anfreunden, die gerade zur Hand sind.«

»Bist du mit deinen Freunden nicht zufrieden?«