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Geschichte der christlichen Orden

 

Herausgegeben von Franz Xaver Bischof, Christoph Dartmann und Klaus Unterburger

Christoph Dartmann

Die Benediktiner

Von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN: 978-3-17-021419-4

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-025346-9

epub:   ISBN 978-3-17-025347-6

mobi:   ISBN 978-3-17-025348-3

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Inhaltsverzeichnis

 

 

 

  1. 1 Zur Einleitung
  2. 2 Die Benediktsregel und das normative Gerüst benediktinischen Mönchtums im Mittelalter
  3. 2.1 Eine sehr kurze Geschichte des frühen christlichen Mönchtums
  4. 2.2 Benedikt von Nursia und die Benediktsregel
  5. 2.3 Die frühe Rezeption der Benediktsregel
  6. 2.4 Der Aufstieg der Benediktsregel zum wichtigsten monastischen Basistext der Karolingerzeit
  7. 2.5 Die Aufzeichnung klösterlicher Gewohnheiten (Consuetudines) und die hochmittelalterliche Verbandsbildung
  8. 2.6 Die hochmittelalterliche Diskussion über ein regelgemäßes Leben
  9. 2.7 Benediktinisches Mönchtum im Spätmittelalter. Päpstliche Interventionen und Klosterreformen
  10. 3 Gebet, Religiosität und Kunst im benediktinischen Mönchtum
  11. 3.1 Gebet und Religiosität der Benediktiner
  12. 3.2 Kunst im benediktinischen Mönchtum
  13. 4 Schriftkultur und Gelehrsamkeit im Kloster
  14. 5 Das Kloster zwischen König, Kirche und Stadt
  15. 5.1 Klöster in Kirchenreichen des früheren Mittelalters
  16. 5.2 Klöster zwischen Kirche und Politik im Hochmittelalter
  17. 5.3 Kloster und Stadt
  18. 6 Die Wirtschaft der Klöster
  19. 6.1 Frühmittelalterliche Klöster als diversifizierte agrarische Großbetriebe
  20. 6.2 Die Intensivierungs- und Wandlungsprozesse hochmittelalterlicher klösterlicher Agrarwirtschaft
  21. 6.3 Spätmittelalterliche Klöster zwischen Krisen und Konsolidierungen
  22. 7 Ein Epilog
  23. 8 Danksagung
  24. 9 Anmerkungen
  25. 10 Bibliographie
  26. 11 Register
  27. 11.1 Personenregister
  28. 11.2 Ortsregister

 

1          Zur Einleitung

 

 

 

»An dich richte ich jetzt mein Wort, wer immer du bist« (RB Prolog, 3)1.

Benedikt von Nursia – oder wer immer die Benediktsregel niedergeschrieben hat – hat zu Beginn des Prologs ein Grundproblem des Schreibens angesprochen: An wen richtet sich der Text? Was erwarten seine Leser? Wofür interessieren sie sich? Was muss der Autor erklären, was darf er als bekannt voraussetzen? Wer sich in Deutschland im Jahr 2017 daran macht, eine einführende Darstellung zur Geschichte des benediktinischen Mönchtums von seiner Entstehung bis zur Reformation zu verfassen, sieht sich vor erhebliche Probleme gestellt, will er diese Fragen schlüssig beantworten. Denn in der bundesrepublikanischen Kultur gibt es je nach Milieu genaue, vage oder gar keine Vorkenntnisse zu seinem Thema. Das gilt bereits für Grundzüge christlicher Praktiken und Sinnhorizonte, das gilt erst recht für jede Form des Mönchtums als einer hoch spezialisierten Sonderform christlichen Lebens. Daraus resultieren für dieses Buch unterschiedliche Herausforderungen. Denjenigen, denen diese Religion mit ihren Gottesdiensten und Gebeten, grundlegenden Texten sowie theologischen Konzepten weitgehend unbekannt ist, müssen wenigstens Grundzüge erklärt werden, soweit das für ein Verständnis der hier erzählten Geschichte notwendig ist. Allzu ausführliche Erläuterungen der Hintergründe könnten allerdings das eigentliche Thema überlagern. Der Erzähler müsste beinahe die Rolle Williams von Baskerville im Film »Der Name der Rose« übernehmen, der nicht nur die Mordserie aufklärt, sondern nebenbei dem Novizen Adson und damit den Zuschauern in etwas aufdringlicher Weise die fremde Welt des Mittelalters erklärt – die in dem Film von fiesen Prälaten sowie grotesken, intriganten und fanatischen Mönchen bewohnt wird, vor Schmutz starrt und ein Ort ungezügelter Leidenschaft und Brutalität ist, also kaum ein Klischee moderner Mittelalterbilder auslässt. Praktizierende Christen verschiedener Konfessionen laufen hingegen Gefahr, die historischen Ausformungen ihrer religiösen Tradition als Selbstverständlichkeit vorauszusetzen. Weil Christen sich mit der Bibel auf eine »Heilige Schrift« berufen, die seit mehr als anderthalb Jahrtausenden unverändert vorliegt, besteht das Risiko, das eigene Verständnis ihrer Botschaften als den überzeitlich gültigen Wesenskern des Christentums zu begreifen. Bestenfalls führt das zu einem Missverstehen mittelalterlicher Praktiken, schlimmstenfalls zu ihrer Abwertung, weil sie sich so grundlegend von modernen Ausprägungen unterscheiden.

Was das Buch will

Das vorliegende Buch ist im Zuge mehrjähriger Lehrtätigkeit an den Universitäten in Münster, Rostock und Vechta entstanden. In den Vorlesungen und Seminaren zur Geschichte des mittelalterlichen Mönchtums ist mir beides begegnet, sowohl eine für mich überraschende Unkenntnis christlicher Traditionen als auch die Verwechslung moderner Überzeugungen mit einem vermeintlich überzeitlichen Wesen der eigenen Religion. Eindrucksvoll war für mich etwa eine Seminarsitzung in Rostock, in der wir uns mit dem klösterlichen Psalmengebet auseinandergesetzt haben. Die eher beiläufig gestellte Frage: »Wie stellen Sie sich eigentlich konkret vor, was Mönche machen, wenn sie sich zum Stundengebet treffen?«, stieß auf hartnäckiges Schweigen, bis mich eine Studentin dankenswerter Weise darauf hinwies, dass die Anwesenden wirklich keine Vorstellung davon besäßen. In anderen Veranstaltungen, vor allem in Münster, äußerten Studierende hingegen häufig Bedenken, dass das, was ich über christliche Mönche berichtete, so gar nicht zu dem passe, was das Christentum eigentlich wolle oder sei. Nicht selten besuchten schließlich in Münster Studierende meine Veranstaltungen, die selbst Theologie studierten oder in einem Benediktinerinternat zur Schule gegangen waren und denen daher vieles vertraut war, was ich umständlich zu erklären versuchte. Es gleicht der Quadratur des Kreises, wenn ich mich darum bemühe, ein Buch vorzulegen, das Lesenden mit diesem grundsätzlich verschiedenen Vorwissen gerecht werden soll. In der Hoffnung, dass mir das dennoch ein Stück weit gelungen ist, widme ich den Band den Studierenden in Münster und Rostock.

An wen richte ich also mein Wort? Das Buch soll Studierenden, ausgebildeten Historikern sowie allen interessierten Laien einen zuverlässigen und anschaulichen Eindruck von der Geschichte des benediktinischen Mönchtums von der Abfassung der Benediktsregel im 6. Jahrhundert bis zur grundsätzlichen Erschütterung mittelalterlicher Religiosität durch die Reformation vermitteln. Es soll also für alle lesbar und verständlich sein, die im Zuge ihres Studiums, ihrer Tätigkeit in Wissenschaft und Unterricht, eines Ausstellungsbesuchs oder einer Reise auf Spuren mittelalterlichen Mönchtums stoßen oder einfach aus Neugier ihre Kenntnisse über diesen Zweig christlicher Askese vertiefen wollen. Weil ich selbst über eine katholische Sozialisation verfüge, bin ich mir des Risikos bewusst, Wissen vorauszusetzen, das mir selbstverständlich erscheint. Zum Glück liegen seit einigen Jahren hervorragende Einführungen in die christliche Religiosität des Mittelalters oder in die Kultur- und Mentalitätengeschichte dieser Epoche vor, die einen zuverlässigen Zugang zu den Hintergründen eröffnen, die hier nicht in aller Breite erörtert werden können – einschlägige Titel verzeichnen die bibliographischen Hinweise am Ende des Bandes.

Andersartigkeit mittelalterlicher Religiosität

Bei einer Auseinandersetzung mit mittelalterlicher Religiosität sticht vor allem ihre Andersartigkeit ins Auge, die sie von jeder modernen Praxis und allen modernen Vorstellungen unterscheidet. Denn trotz des gemeinsamen Bezugs moderner und mittelalterlicher Christenheiten auf dieselben Basistexte und dieselben Traditionen hat das Bild, das dieses Buch vom mittelalterlichen Mönchtum entwirft, wenig mit gegenwärtigen religiösen Praktiken oder Glaubensinhalten gemeinsam. Das resultiert aus dem beständigen Wandel des kulturellen und gesellschaftlichen Kontexts, in dem Klöster und Mönche existierten und existieren. Die unauflösliche Vernetzung asketischen Lebens mit seiner Umwelt steht im Widerspruch zum monastischen Selbstverständnis, im Kloster einen Alternativentwurf zur Welt zu verwirklichen und eine »Kontrastgesellschaft« (Gerhard Lohfink) zu errichten. Ein mittelalterlicher Mönch dürfte mit seinem Eintritt ins Kloster das Bewusstsein verbunden haben, sich von der Welt ab- und dem geistlichen Leben zuzuwenden. Immer wieder wird in den Quellen die Bekehrung zum asketischen Leben als ein Verlassen der Welt beschrieben – und dennoch musste immer neu ausgehandelt werden, wie weit »die Welt« das Leben im Kloster prägte. Denn die Errichtung von Klostermauern und der Rückzug hinter sie kappte keineswegs alle Verbindungen zur Welt »draußen«. Die in den monastischen Idealen scharf gezogene Grenze zwischen Kloster und Welt musste in der Praxis immer wieder neu bestimmt werden. Diese Grundspannung zwischen dem Ideal einer Abkehr von der nichtklösterlichen Gesellschaft und Kultur auf der einen und der Realität eines unhintergehbaren Verwobenseins mit der außerklösterlichen Umgebung auf der anderen Seite verlieh dem mittelalterlichen benediktinischen Mönchtum seine Dynamik – das Kloster war nie so klar von der Welt abgegrenzt, wie es sollte. Es sah sich immer neu herausgefordert, das Verhältnis zur Welt auszutarieren – nach Mayke de Jong machte das den Kern der Reformbemühungen aus, die die Geschichte des Mönchtums von seinen Anfängen an begleiteten. Es wäre daher verfehlt, die Geschichte des benediktinischen Mönchtums mit der Erwartung zu lesen, es gebe einen überzeitlichen Kern, der womöglich mit seinen Ursprüngen identisch wäre, und daneben gebe es historische Überwucherungen, die an diesen idealen Ursprüngen zu messen seien. In der Tat beriefen sich zahlreiche geistliche Gemeinschaften über Jahrhunderte auf die Benediktsregel als Basistext für ihr geistliches Leben. Aber erst im Wechselspiel mit den Welten, in denen diese Regel praktiziert werden sollte, ergab sich, wie sie verstanden wurde. Dazu trug bei, dass sich europaweit die unterschiedlichsten Klöster auf dieselbe Regel beriefen, ohne durch einen Orden oder eine andere institutionelle Klammer miteinander verbunden zu sein. Der Rückgriff auf die gemeinsame Klosterregel einerseits und die jeweiligen gesellschaftlichen, kulturellen und spirituellen Bedürfnisse der einzelnen monastischen Gemeinschaften andererseits prägen die Geschichte, die ich entwerfe. Sie ist von der Spannung zwischen dem Festhalten an eigenen Traditionen und ihrer Adaptation an grundverschiedene Lebensweisen bestimmt. Die Ausstrahlung des benediktinischen Mönchtums auf die Welt kann hingegen nur in Ansätzen angedeutet werden. Dieses Thema systematisch zu behandeln würde bedeuten, eine Einführung in die Geschichte des lateinischen Mittelalters zu schreiben.

Der Aufbau des Bandes

Die folgende Geschichte des benediktinischen Mönchtums im europäischen Mittelalter besteht aus zwei Hauptteilen. Zunächst dient ein chronologischer Durchgang dem Ziel, wesentliche Etappen des Umgangs mit den normativen Grundlagen aufzuzeigen, denn der Rekurs auf die Benediktsregel ist das einzige Bindeglied zwischen den hier zu behandelnden religiösen Häusern. Daher eignet sich die Fokussierung normativer Schriftlichkeit als roter Faden, um zugleich ein Grundgerüst der Geschichte des benediktinischen Mönchtums zu erarbeiten. Neben der Klosterregel selbst und anderen Texten aus dem monastischen Bereich besitzen hier Synodalakten, herrscherliche Erlasse und kirchenrechtliche Bestimmungen ein erhebliches Gewicht, sodass bereits in dem chronologischen Teil die Spannung zwischen klösterlicher Autonomie und der Vernetzung von Kloster und Welt zur Sprache kommt. Der zweite Teil präsentiert systematische Kapitel, die wesentlichen Aspekten mittelalterlicher monastischer Praxis gewidmet sind, beginnend mit Gebet, Liturgie und klösterlicher Lektüre, auf die dann die Einbindung von Klöstern in die Politik folgen sowie eine Skizze der ökonomischen Grundlagen. Dieser Aufbau geht vom Leben innerhalb der Klostermauern aus und erweitert dann die Perspektive auf die Interaktion zwischen dem Binnenbereich und der sie umgebenden Gesellschaft.

 

2          Die Benediktsregel und das normative Gerüst benediktinischen Mönchtums im Mittelalter

 

 

»Die Regel als Anfang unseres Weges zur vollen Gerechtigkeit« (RB 73).

Der Bezug auf Benedikt von Nursia und die ihm zugeschriebene Regel stellt die zentrale Gemeinsamkeit dar, die das benediktinische Mönchtum verband. Diese Gemeinsamkeit bewirkte jedoch keine Uniformierung klösterlichen Lebens, eher ließe sich von einer gewissen Familienähnlichkeit zwischen den verschiedenen Klöstern sprechen, in denen nach der Regula Benedicti gelebt wurde. Neben diesem normativen Text dienten andere Schriften, allen voran die Bibel, ferner ein breites Spektrum monastischer und anderer theologischer Literatur als Inspirationsquellen für die asketische Praxis. Darüber hinaus spielten schließlich die Entwicklungen christlicher Religiosität, die Erwartungen der Umgebung an ihre Klöster sowie die Vernetzung mit kirchlichen Institutionen wie gesellschaftlichen Eliten eine entscheidende Rolle für die Vielfalt asketischen Lebens, das unter Bezug auf den einen Regeltext verwirklicht wurde. Diese Faktoren führten nicht zuletzt dazu, dass sich auch der Umgang mit der Benediktsregel und anderen normativen Basistexten innerhalb des mittelalterlichen Mönchtums in fundamentaler Weise wandelte. Daher bündelt die Geschichte des normativen Gerüsts, das das benediktinische Mönchtum trug und formte, zentrale Aspekte seiner mittelalterlichen Entwicklung.

2.1       Eine sehr kurze Geschichte des frühen christlichen Mönchtums

Die Abfassung der Benediktsregel und die Entstehung des benediktinischen Mönchtums lassen sich nicht ohne einen knappen Rückblick auf die frühe Geschichte christlicher Askese verstehen, denn sie bündelt zahlreiche ältere Traditionen, auf die sich der Regeltext sogar ausdrücklich bezieht. Auch das Modell klösterlichen Lebens, das Benedikt von Nursia entwirft, speist sich aus zahlreichen älteren Quellen, die daher an dieser Stelle wenigstens in einigen groben Strichen nachgezeichnet werden müssen.

Asketen

Seit dem Beginn des Christentums gab es zwar bereits Asketen, aber noch keine Mönche. Asketen, die sich aus religiöser Motivation bestimmte Einschränkungen bei Nahrung, Schlaf oder Sexualität unterwerfen, sind bereits im Neuen Testament belegt. Die Anfänge christlichen Mönchtums fallen erst auf das Ende des 3. nachchristlichen Jahrhunderts. Es ordnet sich damit in ein breites Panorama »asketischen Virtuosentums« (Max Weber)1 ein, das in den meisten religiösen Traditionen der Welt zu beobachten ist. Zugleich greift es Motive einer im Hellenismus wie im zeitgenössischen Judentum verbreiteten Sorge um sich selbst auf. Philosophen wie der Neoplatoniker Plotin († 270) bemühten sich um eine strenge Disziplinierung körperlicher und geistiger Vollzüge im Dienste eines philosophisch-religiösen Lebensentwurfs. Ähnliches wird in der Bibel etwa vom Propheten Elias oder von Johannes dem Täufer berichtet. Neben diesen literarisch bezeugten Figuren dürfte bei der Entstehung des christlichen Mönchtums die Präsenz einer hohen Zahl heidnischer wie christlicher viri Dei, sogenannter »Gottesmenschen«, in der Spätantike als Vorbild gedient haben. Dabei handelte es sich um Personen, deren asketischer Lebenswandel ihnen in den Augen der Zeitgenossen einen direkten Zugang zu Gott, Göttern oder anderen jenseitigen Mächten eröffnete und es ihnen ermöglichte, Botschaften oder den heilsamen Beistand göttlicher Mächte an ihre Umgebung zu vermitteln. In christlichen Zusammenhängen fungierten Märtyrer als Vermittler göttlichen Heils, von denen geglaubt wurde, dass sie nach ihrem Tod unmittelbar in der direkten Anschauung Gottes weiterlebten und daher in der Lage seien, den Menschen göttlichen Beistand zukommen zu lassen. Nach dem Ende der antiken Christenverfolgungen traten Mönche in die Tradition der Märtyrer ein, die ihr Leben in rigoroser Askese als Zeugnis für die »wahre« Religion und für einen Bruch mit der Welt verstanden.

Antonius und die Eremiten

In das Panorama religiöser Virtuosen der Spätantike ordnen sich die frühen Mönche als eigenständige Spielart christlichen Asketentums ein. Ihre ersten beiden namentlich bekannten Vertreter, Antonius und Pachomius, lebten um die Wende vom 3. zum 4. Jahrhundert im Gebiet des heutigen Ägypten. Antonius, der nach seiner Lebensbeschreibung (Vita) im Jahr 356 mit über 100 Jahren starb, verließ als junger Mann den heimatlichen Bauernhof im mittleren Niltal, um in der Einsamkeit der Wüste ein allein Gott geweihtes Leben zu führen. Ausschlaggebend dafür sei, so die Vita, ein Ausspruch Jesu gewesen, den er zufällig gehört habe:

»Willst du vollkommen sein, so geh, verkaufe deinen Besitz und gib ihn den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir!« (Mt 19,21).

Sein Weg führte ihn in mehreren Etappen in die Wüste, wo er in Gräbern und Ruinen hauste. Dort habe er, so wird weiter berichtet, seine Tage damit zugebracht, zu beten und über Bibelpassagen nachzudenken sowie seinen Körper durch harte Askese zu disziplinieren. Dieses psychische wie physische Training habe ihn dazu in die Lage versetzt, sich erfolgreich gegen die Anfechtungen zu verteidigen, mit denen der Teufel und seine Dämonen ihn bedrängt hätten. Die Vita Antonii beschreibt diese Anfechtungen als Auseinandersetzungen darum, wer den Ort kontrolliere, an dem sich Antonius aufgehalten habe, weil der Heilige und die Dämonen dort nicht gemeinsam Platz gefunden hätten. Trotz dieses gezielten Rückzugs in die Einsamkeit sei Antonius nach einigen Jahren wieder vermehrt mit anderen Menschen in Kontakt gekommen. Einerseits hätten sich jüngere Einsiedler dem älteren Eremiten angeschlossen, um nach seinem Vorbild und nach seinen Weisungen zu leben, andererseits habe er sich in die innerchristlichen Auseinandersetzungen des 4. Jahrhunderts eingemischt – ehe er hoch geehrt gestorben sei. Durch die Lebensbeschreibung, die der alexandrinische Bischof Athanasius bald nach Antonius’ Tod verfasste und die rasch in einer lateinischen Übersetzung im Westen Verbreitung fand, wurde der Einsiedler und »Altvater« (= abbas) Antonius zur wohl wichtigsten Gründerfigur des mittelalterlichen Mönchtums. Sein Modell, sich aus der Welt in die Wüste, in den éremos, zurückzuziehen, um dort in strenger Askese unter beständiger Meditation an einem Ort auszuharren und den Anfechtungen zu widerstehen, stand an der Wiege des christlichen Mönchtums im eigentlichen Sinne. Als »Reglement« des eremitischen Lebens begegnet hier – neben der Orientierung an der Bibel – die Autorität eines erfahrenden Einsiedlers, der jüngeren Schülern als Vorbild dient und sie mit individuellen Mahnungen berät.

Pachomius und das Zönobitentum

Die zweite Gründungsfigur des ägyptischen Mönchtums, Pachomius († 346/7), steht für die Entstehung von Klöstern, in denen die sogenannten Zönobiten ein streng reglementiertes Gemeinschaftsleben führten. Nach seiner Vita soll Pachomius, ein Sohn nichtchristlicher Eltern, erst nach Beendigung seiner Militärzeit zum Christentum konvertiert sein. Ähnlich wie Antonius habe er sich dann einem erfahrenen Eremiten angeschlossen, der ihn in das asketische Leben der Wüste eingeführt habe. Dauerhafte Bedeutung gewann Pachomius jedoch erst dadurch, dass er gegen 320 dem monastischen Leben mit den ersten Klöstern eine neue institutionelle Form gab. Die Vita des Pachomius sowie die unter seinem Namen überlieferten Bestimmungen zum klösterlichen Alltag lassen Grundzüge dieser neuen Institution erkennen, die sowohl für die Benediktsregel als auch für andere Traditionen des christlichen Mönchtums prägend werden sollten. Im Zentrum stand das Bemühen, in einem von der Welt durch eine Mauer abgetrennten Bereich ein möglichst vollkommenes Leben zu führen, das den Weg zum ewigen Heil ebnen sollte. Durch die Gemeinschaft Gleichgesinnter, so die Erwartung, sei es möglich, nach dem Vorbild der Jerusalemer Urgemeinde zu leben, wie es die Apostelgeschichte (Apg 4) schildert. So sollten viele Asketen ihre Lebensentwürfe verwirklichen können, weil sie unter der strengen Aufsicht von Vorgesetzten standen, die Fehlverhalten korrigierten. Die Hierarchie im Kloster diente allerdings nicht nur der Aufrechterhaltung der Autorität des Abts und des weiteren Leitungspersonals, sondern auch dem Kampf gegen den Eigenwillen – ein im frühen Mönchtum breit präsentes Ideal. Unter Anleitung und Aufsicht führten die Insassen der neun Männer- und zwei Frauenklöster, die Pachomius gründete, ein intensives Gemeinschaftsleben mit gemeinsamem Gebet, gemeinsamer Nahrungsaufnahme sowie gemeinsamer Arbeit unter Hören biblischer Lesungen. Durch das Flechten von Matten und Seilen oder die Produktion von Sandalen erwirtschaftete das Kloster Gewinne, die es zusammen mit den Erträgen landwirtschaftlicher Arbeit trugen. Die Vita des Pachomius und die unter seinem Namen überlieferten Regeltexte lassen das Ideal erkennen, ein für viele zu bewältigendes asketisches Gemeinschaftsleben mit dem Freiraum für Einzelne zu verbinden, die nach strengerer Enthaltsamkeit strebten. Etwa indem sie Speisen nicht anrührten, die den Konventen vorgesetzt worden waren. Im Zentrum stand aber das Ideal eines gemeinsamen Lebens, dessen fester institutioneller Rahmen die individuelle Askese absichern sollte. Die überlieferten Quellen – verschiedene Fassungen einer Vita des Pachomius sowie mehrere als Regel bezeichnete Sammlungen kurzer Anweisungen zu Detailfragen des monastischen Alltags – lassen das Bemühen erkennen, die Lehre des charismatischen Klostergründers auch über seinen Tod hinaus zu sichern. Sie begründeten zugleich die dauerhafte Bedeutung dieser ersten Klostergründungen für die weitere Geschichte des zönobitischen Mönchtums.

Basilius von Caesarea

Neben Ägypten zählten Palästina und Syrien zu den Regionen des östlichen Römischen Reichs, in denen sich das Mönchtum früh entfaltete. Für die östliche Tradition wurde allerdings mit Basilius von Caesarea in Kappadokien († 379) ein Theologe und Mönch prägend, der aus dem heutigen Zentralanatolien stammte. Das basilianische Mönchtum verband das Streben nach Askese mit einem Gemeinschaftsleben, das auch dem Dienst am Nächsten gewidmet sein sollte. Als Aristokrat, gebildeter Theologe und Kirchenpolitiker gründete Basilius zunächst ein eigenes Kloster auf einem Privatgut, integrierte es dann aber als Erzbischof in die kirchlichen Strukturen seiner Diözese. Dadurch entwickelte er eine eigene Form klösterlichen Lebens, die zwar Anregungen aus Ägypten und anderen östlichen Klosterlandschaften aufnahm, die Basilius bereist hatte, aber weitaus stärker die Einbindung der Asketen in die Welt jenseits der Klostermauern betonte als das ägyptische Zönobitentum. Wichtiger noch als durch seine Gründung wurde Basilius allerdings durch sein umfangreiches Corpus asceticum, eine Zusammenstellung normativer Texte für die monastische Praxis. Sie besteht aus den sogenannten Moralia, einer Sammlung von Zitaten aus dem Neuen Testament, die zu ethischen Regeln zusammengefasst werden, sowie dem Kleinen und dem Großen Asketikon. In letzteren verarbeitet Basilius die Unterredungen mit anderen Asketen, die sich im Umfeld seines ersten Klosters in Annisi in weiteren geistlichen Gemeinschaften angesiedelt hatten. In einer Folge von Fragen und Antworten, die als Gespräch unter Mönchen inszeniert werden, diskutiert Basilius in diesen Werken grundlegende spirituelle Themen und daraus abgeleitete praktische Fragen des asketischen Lebens. Anders als die Regel des Pachomius bieten diese Texte nicht vornehmlich konkrete Vorgaben für die Organisation des Klosteralltags, sondern widmen sich der grundsätzlichen Programmatik monastischer Lebensentwürfe. Wie die Vita Antonii und die Pachomius-Regeln fand auch das asketische Werk des Basilius rasch weite Verbreitung, unter anderem durch die lateinische Übersetzung der Regula S. Basilii durch Rufinus († 410/1). Die überragende Bedeutung des Basilius schlägt sich nicht zuletzt darin nieder, dass er der einzige Mönchsautor ist, den die Benediktsregel namentlich nennt:

»[D]ie Unterredungen der Väter, ihre Einrichtungen und ihre Lebensbeschreibungen sowie die Regel unseres heiligen Vaters Basilius, sind sie nicht für Mönche, die recht leben und gehorsam sind, Anleitung zur Tugend?« (RB 73,5–6).

Ausbreitung des Mönchtums in den lateinischen Westen

Das Vorbild des östlichen Mönchtums sowie dessen literarische Produktion haben im lateinischen Westen des Römischen Reichs rasch Verbreitung gefunden. Kirchenpolitische Auseinandersetzungen führten dazu, dass Athanasius zeitweise aus Alexandria nach Trier an den Kaiserhof floh und dort seine Vita Antonii publik machte. Konflikte um das theologische Erbe des Origenes († 253/4) sorgten zu Beginn des 5. Jahrhunderts für den Exodus zahlreicher Mönche aus den nordägyptischen Wüsten, unter anderem floh Johannes Cassian († nach 430) von dort zunächst nach Rom, um dann in Marseille zwei Klöster zu gründen, in denen er auf Latein seine programmatischen Basiswerke zur Theorie und Praxis des Mönchtums verfasste, die Institutiones und die Collationes. Neben diesen Flüchtlingen aus dem Osten suchten auch westliche Asketen die persönliche Begegnung mit ihren Vorbildern in den alten Mönchslandschaften des östlichen Mittelmeerraums. Hieronymus († 419/20) ließ sich dauerhaft in Palästina nieder, um gemeinsam mit der römischen Aristokratin Paula in Bethlehem ein Kloster zu gründen, von wo aus er weiterhin mit zahlreichen Korrespondenzpartnern im lateinischen Westen in Kontakt blieb. Sein zeitweiser Weggenosse und späterer Intimfeind Rufinus bereiste von Aquileia aus Ägypten und Palästina, wo er mehrere Jahre lebte, ehe er sich mit Hieronymus überwarf und nach Italien zurückkehrte. Diese persönlichen Kontakte prägten zugleich den Transfer von Texten und Ideen aus dem griechischen Mönchtum in den lateinischen Westen. Von der Übersetzung von Athanasius’ Vita Antonii war schon die Rede, gleichfalls von der lateinischen Fassung der Regula S. Basilii, die Rufinus besorgte – neben der Übertragung anderer monastischer und theologischer Schriften. Gleiches gilt für Hieronymus, der maßgebliche Texte des pachomianischen Mönchtums in Latein vorlegte. Johannes Cassian ging einen anderen Weg. Er nutzte seinen Ruf, selbst lange Zeit bei den nordägyptischen Wüstenvätern verbracht zu haben, um seine Traktate mit der Aura der Authentizität zu umgeben. Unter geschickter Verbindung seiner eigenen Vorstellungen mit dem, was er in Ägypten gesehen und gehört hatte, präsentierte er sich als authentischen Interpreten der hoch geschätzten Wüstentradition für den lateinischen Westen. Die persönlichen Kontakte sowie die Übersetzungen versorgten das westliche Mönchtum mit einem reichen Fundus exemplarischer Figuren wie Texte, durch die die Erfahrungen des östlichen Mönchtums in die lateinischen Traditionen eingespeist wurden.

Charakter des lateinischen Mönchtums

Es wäre allerdings verfehlt, im lateinischen Mönchtum ausschließlich die Nachahmung östlicher Vorbilder zu sehen. Der Transfer von Texten und exemplarischen Figuren führte vielmehr zu einer sehr eigenständigen Anverwandlung asketischer Traditionen. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: Der Theologe und Bischof Augustinus († 430) schildert in seinen autobiographischen Confessiones seine Bekehrung zum Christentum und zum asketischen Leben. Unmittelbar vor sein Bekehrungserlebnis schaltet er folgenden Bericht: Er habe, als er sich in Mailand mit der christlichen Religion beschäftigt habe, Besuch von einem afrikanischen Landsmann namens Ponticianus erhalten. Dieser habe ihm von der Bekehrung zweier Höflinge am Trierer Kaiserhof berichtet. Bei einem Spaziergang vor den Toren der Stadt seien sie zufällig auf die Hütte einiger Einsiedler gestoßen, in der sie die Vita Antonii gefunden hätten. Vom Leben dieser Einsiedler wie von der Lektüre der Vita tief bewegt hätten sie beschlossen, ihre weltlichen Karrieren zugunsten eines asketischen Lebens aufzugeben. Das Vorbild der Wüstenmönche, das Augustinus hier anführt, greift er nach seiner Erzählung im Anschluss selbst auf, jedoch unter stark gewandelten Bedingungen. Nach seiner Bekehrung zog er sich mit einigen Freunden auf das Landgut Cassiciacum in der Nähe von Mailand zurück, das ihnen ein befreundeter Mailänder Grammatiker namens Verecundus zur Verfügung gestellt hatte. Dort verbanden die Freunde eine sehr gemäßigte Askese mit der römischen Tradition philosophischer Muße fern des Tagesgeschäfts – und wegen der Großzügigkeit des Verecundus fern aller materiellen Sorgen. Auch wenn Augustinus und seine Freunde in diesem neuen Leben die Bekehrung zu einer konsequenten Askese gesehen haben, ist nicht zu übersehen, wie frei sie die Impulse monastischer Ideale aus Ägypten aufgenommen haben, die sie unter anderem der Kenntnis der Vita Antonii verdankten. Das gilt auch noch für die spätere Klerikergemeinschaft, die Augustinus nach seiner Weihe zum Bischof des nordafrikanischen Hippo an seiner Bischofskirche begründete.

Dieses Beispiel zeigt, wie eigenständig im Westen die östlichen Vorbilder adaptiert wurden. Die Spannbreite des lateinischen Mönchtums im 4. und 5. Jahrhundert ist sehr groß. Auf der einen Seite stehen Gruppen wie zum Beispiel die Philosophenasketen um Augustinus in Cassiciacum oder die hoch gebildeten Aristokratinnen, die in Rom eine »Art von intellektueller Salonaskese« (Alfons Fürst) verwirklichten und in deren Kreisen Hieronymus zeitweise wirkte. In diesen Gruppen lebten Traditionen wie das aristokratische otium cum dignitate oder auch das Selbstbewusstsein spätantiker Führungsschichten fort, die die weitaus radikaleren Ideale des östlichen Mönchtums zu einer gemäßigten Askese umformten. Noch das stark bildungsorientierte monastische Programm, das Cassiodor († nach 580) Mitte des 6. Jahrhunderts auf seinem Landgut Vivarium verwirklichte, stand in dieser Tradition. Auf der anderen Seite bildeten sich auch im Westen Mönchsgruppen, die ein weitaus harscheres Asketenleben wählten, so am Unterlauf der Rhone und auf den Lerinischen Inseln oder auch in der Umgebung von Tours am Unterlauf der Loire. Die Wahl ihres Gründers Martin zum Bischof von Tours verweist auf die im lateinischen Westen häufig anzutreffende Einbindung des Mönchtums in die kirchlichen Strukturen der Bistümer – eine Entwicklung, die sich deutlich von den starken Spannungen unterscheidet, die im oströmischen Raum oft das Verhältnis zwischen Mönchen und Klerikern prägte.

Bis zum 6. Jahrhundert, in dem Benedikt von Nursia lebte und die Benediktsregel entstand, hatte sich das Mönchtum zu einem festen Bestandteil der religiösen Landschaft des Christentums im Mittelmeerraum entwickelt. Die im 4. Jahrhundert geradezu modische Züge annehmende Welle von Bekehrungen zum asketischen Leben hatte zu festeren institutionellen Formen gefunden. Klöster verschiedenster Ausprägungen sowie andere asketische Gemeinschaften gab es sowohl in Städten als auch auf dem Land. Einige betätigten sich als agrarische oder handwerkliche Großbetriebe, andere widmeten sich auf der Grundlage großer aristokratischer Vermögen ausschließlich der Kontemplation. Die grundlegenden Konzepte und maßgeblichen Vorbilder stammten aus dem 4. und 5. Jahrhundert, insbesondere Basilius, Augustinus und Cassian prägten das Programm zahlreicher monastischer Gemeinschaften. Noch die Benediktsregel schöpfte aus dem reichen Fundus dieser Lehren, der in Regeln, Traktaten, Briefen und Lebensbeschreibungen herausragender Asketen überliefert wurde.

2.2       Benedikt von Nursia und die Benediktsregel

In der aktuellen Forschung gibt es eine Debatte, ob Benedikt von Nursia überhaupt eine reale Person war und ob er folglich die unter seinem Namen überlieferte Regel verfasst haben kann. Für das mittelalterliche Mönchtum stand hingegen beides fest. Wer war nach der Überlieferung dieser Gesegnete (Benedictus) und wie sollte nach seiner Regel das klösterliche Leben gestaltet werden?

2.2.1     Benedikt von Nursia

Die einzige Quelle, die über das Leben Benedikts von Nursia Auskunft gibt, ist das zweite Buch der Dialoge Gregors des Großen – oder der Dialoge, die unter dem Namen Papst Gregors I. († 604) überliefert worden sind, doch dazu später. Im Rahmen seiner Erörterungen über die Wunder, die Heilige aus Italien gewirkt haben, widmet er sich ausführlich dem Leben des Mönchsvaters und Gründers der Abtei Montecassino. Benedikt wird in diesem Werk so ausführlich gewürdigt wie keine andere Person: Das gesamte zweite Buch zeichnet sein Leben nach, während in den anderen Büchern der Dialoge lediglich Einzelepisoden aus dem Leben verschiedener Heiliger referiert werden. Trotz der unterschiedlichen Gewichtung der Protagonisten wird auch das Leben Benedikts in der literarischen Form eines Dialogs präsentiert: Knappe Fragen des Dialogpartners Petrus rhythmisieren die ausführlichen Erzählungen Gregors, die kurze Erörterungen über die Bedeutung einzelner Episoden unterbrechen.

Eine Rekonstruktion seines Lebens

Unterstellt man, diese Heiligenvita beruhe auf glaubwürdigen Informationen, und verknüpft sie mit der Chronologie der italienischen Geschichte des 6. Jahrhunderts, lässt sich folgende Biographie rekonstruieren: Benedikt wurde um 480–490 in eine angesehene Familie geboren, die in der umbrischen Stadt Norcia lebte. Er wurde zum Studium nach Rom geschickt, brach jedoch die Ausbildung ab und schloss sich einer Asketengemeinschaft in Affile (gut 70 km östlich von Rom) an. Von dort zog er sich, nachdem er Mönch geworden war, als Einsiedler in eine einsame Höhle in Subiaco zurück. Nach drei Jahren wurde er von den Mönchen eines benachbarten Klosters – die spätmittelalterliche Tradition sollte es mit Vicovaro identifizieren – zum Abt ausersehen. Wegen heftiger Konflikte um die strengen asketischen Vorgaben, die Benedikt dem Konvent machte, floh er aus dem Kloster, um stattdessen zwölf eigene Kleinklöster zu gründen, denen er vorstand. Um 530 gründete er schließlich 100 km von Subiaco entfernt in Montecassino ein neues Kloster, in dem er von da an gemeinsam mit seinen Mönchen lebte. Die Dialoge präsentieren Benedikt als Abt, der sich intensiv um seine Mönche kümmert und zugleich ein hohes Ansehen in der Region genießt, was ihm enge Kontakte zu den Oberschichten der Landschaften zwischen Rom und Neapel verschaffte. Unter dem Einfluss Benedikts standen ein in der Nähe von Montecassino gelegenes Frauenkloster sowie ein von Montecassino besiedeltes Kloster in Terracina. Benedikt starb etwa um 550–560.

Die Datierung der meisten Etappen von Benedikts Biographie ist vage. Sie hängt vor allem von einigen Ereignissen ab, die nebenbei erwähnt werden und die in die Zeit fallen, in der Benedikt in Montecassino gelebt hat: eine Hungersnot in den Jahren 535–538/9 (Gregor, Dialoge 2,21 und 28–29), ein Besuch König Totilas sowie des Bischofs Sabinus von Canosa in den Jahren 546/7 (ebd. 2,14–15). Alle anderen Daten sind lediglich auf Plausibilitätsüberlegungen zurückzuführen bzw. folgen weitaus späteren Überlieferungen.

Benedikt als Abt und Wundertäter

Wichtiger als diese chronologischen Fragen ist die doppelte Perspektive, in die die Dialoge Benedikt stellen: Benedikt als Abt und als Wundertäter (Thaumaturg). Die verschiedenen Etappen des asketischen Lebens dienen als äußeres Gerüst für die Biographie und präsentieren zugleich in mustergültiger Weise verschiedene monastische Lebensformen. Am Beginn steht die lose Assoziation Benedikts mit einer nicht klösterlich lebenden Asketengemeinschaft, in deren Umfeld der junge Heilige gemeinsam mit seiner Amme lebt. Es folgt die Einkleidung mit dem Mönchsgewand durch einen Klosterinsassen namens Romanus. Nach den Dialogen stellt dieser Romanus in den drei Jahren, in denen sich Benedikt als Einsiedler in einer Höhle aufhält, die einzige Verbindung zur Außenwelt dar. Somit wird hier das Modell eines Eremitentums präsentiert, das im Umfeld eines Klosters angesiedelt ist und unter der Aufsicht eines erfahreneren Mönchs steht. Schließlich folgen drei Stationen, in denen Benedikt als Abt klösterlichen Gemeinschaften vorsteht. Zunächst scheitert er als von außen berufener Abt an den Widerständen des Konvents gegen seine Forderungen, dann gründet er in der Umgebung von Subiaco sowie schließlich auf dem Berg über Cassino eigene Konvente, die seinen Vorgaben folgen.

Im Zuge dieser Episoden aus dem mönchischen Leben werden in den Dialogen zentrale Themen der klösterlichen Welt verhandelt. An mehreren Stellen steht die Autorität über Mönche im Mittelpunkt, die dem Abt und den von ihm propagierten Lebensregeln zukommt. Die gescheiterte Leitung des Klosters von Vicovaro thematisiert die Differenz zwischen verschiedenen asketischen Idealen. Bereits vorab, so die Erzählung, habe Benedikt die Mönche gewarnt, »dass ihre Lebensweise nicht mit der seinen zusammenpasse« (Gregor, Dialoge 2,3). Benedikts Weisheit bringt der Text explizit mit seiner Fähigkeit in Verbindung, als geistlicher Vater (virtutum magister [Meister der Tugenden],

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Abb. 1: Szenen aus dem Leben Benedikts nach der Schilderung Gregors des Großen: Benedikt als Einsiedler (oben) und als wundertätiger Abt, der Dämonen austreibt (unten). Fresko in der Sakristei von S. Miniato al Monte (Florenz) von Spinello Aretino.

doctor animarum [Lehrer der Seelen]) zu wirken, und kontrastiert sie mit dem Unwillen der Mönche, sich seiner Leitung zu unterwerfen. Die Bedeutung dieses Kontrasts unterstreicht ein längerer Einschub, in dem die Gesprächspartner Gregor und Petrus die Frage diskutieren, ob sich die Verantwortung für störrische Mönche mit dem Ideal eines kontemplativen Lebens verbinden lässt. Auch in seinen eigenen Gründungen musste sich Benedikt, folgt man den Dialogen, mit dem Widerstand einzelner Mönche auseinandersetzen, jedoch nicht mit einer fundamentalen Opposition der gesamten Gemeinschaft gegen seine Vorgaben. Mehrere Wundergeschichten beinhalten Episoden, wie einzelne Asketen sich über die Weisungen Benedikts hinweggesetzt haben und deswegen von ihm getadelt und auf den rechten Weg zurückgeführt werden; damit thematisieren diese Passagen klösterliche Leitungsfunktionen, die vereinbar sind mit dem kontemplativen Leben eines Abts. Das herausragende Charisma Benedikts als Vater seiner Mönchsgemeinschaft betont auch der kurze Verweis auf die von ihm verfasste Klosterregel. Im 36. Kapitel heißt es, dass dieser Text die Lebensweise festhalte, die Benedikt vorgelebt und seine Mönche gelehrt habe. Somit erscheint der Regeltext als Instrument zur Verstetigung der Wirkung eines herausragenden Vorbilds über seinen Tod hinaus.

Gebet und Kontemplation

Gebet und Kontemplation sind ein zweites Thema aus dem Kernbestand monastischer Praxis, dem sich die Vita Benedicti in den Dialogen widmet. Die eben bereits angesprochenen Erörterungen zwischen den Gesprächspartnern Gregor und Petrus zur Frage, ob ein Abt einem widerspenstigen Konvent treu bleiben muss, münden in grundsätzliche Ausführungen zum asketischen Leben. Als Ziel des Asketen wird benannt, innere Ruhe zu finden, beständig Gott zu betrachten und alle Gedanken auszuschließen, die ihn von der Kontemplation ablenken. Das habe Benedikt erreicht, denn er habe sich kontinuierlich selbst geprüft und aus der Perspektive Gottes kritisch betrachtet (Gregor, Dialoge 2,3). Dieses Thema wird in einer unmittelbar sich anschließenden Wunderepisode aufgegriffen, in der Benedikt einem Mönch beisteht, der nicht in der Lage ist, seine Gedanken zu fokussieren. Statt sich nach der gemeinschaftlichen Psalmenrezitation ins Gebet zu vertiefen, habe er das Oratorium verlassen und sei mit umherschweifenden Gedanken draußen herumgegangen. Durch sein Gebet habe Benedikt den geistig wie körperlich umherirrenden Mönch wieder zur Meditation geführt (Gregor, Dialoge 2,4). Es ist bemerkenswert, dass das Stundengebet des Klosters in der Vita Benedicti keine zentrale Rolle spielt, sondern eher als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird. Das individuelle Gebet der Kontemplation gewinnt hingegen eine prominente Stellung, wenn Benedikt am Ende des zweiten Buchs der Dialoge spektakuläre Visionen zugeschrieben werden. Deren literarische Motivik – der Aufstieg der Seelen von Verstorbenen in den Himmel sowie eine kosmische Vision – lässt sich bis in die vorchristliche antike Literatur zurückverfolgen, wird jedoch an dieser Stelle in den Zusammenhang des individuellen Gebets gestellt (Gregor, Dialoge 2,35).

Mit der Autorität des Abts und dem kontemplativen Gebet behandelt die Lebensbeschreibung Benedikts zentrale Themen der monastischen Tradition. Dies geschieht jedoch in einem Gesamtwerk, in dem es um christliche Wundertäter geht. Folgerichtig überlagert sozusagen der Wundertäter Benedikt den Mönchsvater Benedikt. Schließlich prägt die Anordnung verschiedener Wunderberichte die Komposition der Vita Benedicti. Wie der Dialogpartner Petrus bemerkt, führen die Kapitel 5 bis 8 Benedikt als Nachfolger der biblischen Figuren Moses, Elischa, Petrus, Elija und David vor, weil sein Wirken deren Wundertaten gleichkommt. Und in den Kapiteln 12 bis 33 folgen je zwölf Episoden über das wunderbare Wissen des Gottesmannes sowie über seine herausragenden Taten. Auch die erörternden Einschübe, die den Gesprächspartnern Gregor und Petrus in den Mund gelegt werden, befassen sich mit der von Gott verliehenen Gabe, Wunder zu wirken (Dialoge 2,8), der Offenbarung göttlichen Wissens (ebd. 2,16 und 21), der Fähigkeit, auch über Entfernungen Wunder zu wirken (ebd. 2,22), oder auch der Bedeutung des Gebets eines Heiligen für sein Wunderwirken (ebd. 2,30). Der Benedikt von Nursia, von dem die Dialoge berichten, war also nicht nur ein herausragender Asket und Mönchsvater, sondern zugleich auch ein Thaumaturg, dem Gott aufgrund seiner besonderen asketischen Leistungen wie seines tugendhaften Lebens die Kraft verlieh, Wunder zu wirken.

2.2.2     Ist Benedikt von Nursia eine literarische Fiktion?

In der deutschen Geschichtswissenschaft vertritt Johannes Fried mit Nachdruck die These, bei Benedikt von Nursia handele es sich nicht um einen Menschen, der tatsächlich gelebt habe, sondern um eine rein literarische Figur. Diese These speist sich aus drei voneinander unabhängigen Diskussionen, die Fried miteinander verknüpft: Erstens die umstrittene Autorschaft der Dialoge, die Gregor dem Großen zugeschrieben werden, zweitens das hohe Maß an literarischer Stilisierung der Benediktsvita im zweiten Buch der Dialoge und drittens die frühen Belege für eine Rezeption der Benediktsvita. An dieser Stelle ist nur auf die ersten beiden Punkte einzugehen, die Wirkungsgeschichte Benedikts und seiner Klosterregel ist später darzulegen. Vorab sei jedoch betont, dass die Frage nach der historischen Authentizität Benedikts für eine Geschichte des mittelalterlichen Mönchtums unerheblich ist, denn in dieser Epoche ist seine Existenz ebenso wenig angezweifelt worden wie seine Verfasserschaft der Regula Benedicti.

Johannes Frieds Kritik an der Historizität Benedikts

Die Diskussion darüber, ob Gregor der Große die Dialoge verfasst hat, ist alt. Seit der Reformation wurden Zweifel daran geäußert, dass die vermeintlich primitiven Wundergeschichten vom selben Autor niedergeschrieben sein können wie die hoch geschätzten theologisch-exegetischen Werke des Papstes. Die Skepsis resultierte also aus der Ablehnung des Mirakels, ja geradezu dem Ekel gegenüber dem mittelalterlichen Wunderglauben. In abgeschwächter Form wirkt dieses Motiv in den Thesen Francis Clarks weiter, der seit den 1980er Jahren die Verfasserschaft Gregors grundsätzlich infrage gestellt hat. Auch ihm erschienen die Wunderepisoden der Dialoge nicht dasselbe Reflexionsniveau und die gleichen theologischen Konzepte widerzuspiegeln wie zum Beispiel die Moralia in Iob (Hiobkommentar) oder die Predigten über das Alte und Neue Testament, die unzweifelhaft aus Gregors Feder stammen. Um das zu präzisieren, bemühte Clark sich darum, authentische Passagen des Textes von späteren Hinzufügungen zu unterscheiden. Damit wollte er die These beweisen, dass sich in einem römischen Archiv nicht publiziertes Material Gregors erhalten habe, das spätere Autoren zu den in sich widersprüchlichen Dialogen zusammengefügt hätten. Neben diesen inhaltlichen Argumenten meinte Clark auch beobachtet zu haben, dass es auffallend wenige und späte Bezüge auf die Dialoge gebe. Das gelte zum einen für das Œuvre Gregors selbst, zum anderen auch für die Werke anderer Autoren. Daher vermutete Clark, bei den umstrittenen Dialogen handele es sich um eine pseudepigraphische Schrift, ein späterer Verfasser habe sein Werk unter dem Namen des weitaus höher angesehenen Papstes publiziert. Hatte Clark dafür zunächst einen Zeitpunkt nach 670 vermutet, also rund ein Jahrhundert nach dem Leben Gregors, korrigierte er den Entstehungszeitraum später auf die Mitte des 7. Jahrhunderts. Denn die These, Gregor sei nicht der Verfasser der Dialoge und sie seien erst rund 100 Jahre später niedergeschrieben worden, hat eine Flut von kritischen Publikationen hervorgerufen. Diese haben sich mit den Bezügen auf das umstrittene Werk in anderen Quellen befasst sowie die konzeptionelle Kohärenz der Wunderberichte mit der Theologie Gregors herausgearbeitet. Im Werk des Kirchenvaters finden sich nämlich durchaus Hinweise darauf, dass er sich mit Wundern auseinandergesetzt hat, die in Italien geschehen sind, etwa in einem Brief an den päpstlichen Vikar für Sizilien Maximianus, in dem er um Informationen über den Abt Nonnosus bittet, der im ersten Buch der Dialoge Erwähnung findet. Darüber hinaus lassen sich in der sogenannten Chronik des Fredegar, in den Werken Isidors von Sevilla sowie in der Vita Columbans des Jonas von Bobbio deutliche Bezüge auf die umstrittenen Dialoge nachweisen, die also bis in die 630er Jahre zurückreichen. Auch die inhaltlichen Brüche, die Clark zwischen den Wundergeschichten und der Theologie Gregors ausgemacht haben wollte, sind keineswegs so scharf, wie zunächst postuliert. Der späte Gregor schreibt Wundern die Funktion zu, Menschen zum Glauben bzw. zum Einhalten der göttlichen Lehren zu bewegen, weil sie als Beispiel stärker wirkten als jede belehrende Predigt. Sie bewiesen zugleich die ethische Tugend der Wunderwirker, seien also mehr als reine »Zaubergeschichten«. Andererseits mussten auch Clarks Kritiker anerkennen, dass die Dialoge vermutlich keiner Endredaktion unterzogen und nicht zu Gregors Lebzeiten publiziert worden sind. Möglich erscheint daher, dass der Papst in seinen letzten Lebensjahren an dieser Erörterung der Wundertaten italischer Heiliger gearbeitet hat, dass sein umfangreiches Manuskript aber erst nach seinem Tod von engen Mitarbeitern abgeschlossen und publiziert worden ist.

Dieser Position schließt sich auch Fried an, verbindet sie aber mit der Beobachtung, dass die Lebensbeschreibung Benedikts ein hohes Maß symbolischer Stilisierung erkennen lässt. Auch das ist bereits zuvor breit herausgestellt worden, vor allem von Adalbert de Vogüé, dem Herausgeber der umfangreich kommentierten kritischen Edition der Dialoge. Nur einige Befunde seien hier zusammengetragen: Die ersten drei Bücher der DialogeDialogen