cover.jpg

img1.jpg

 

Nr. 2965

 

Der Sternenring

 

Im Himmelsreifen – Atlan folgt der Spur der Superintelligenz

 

Christian Montillon

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1. Hasch und Ärger in der Luft

2. Willkommen!

3. Im Taumeltanz

4. Satag

5. Das letzte Paradies

6. Fremdenführer

7. Rache

8. Triangulation

9. Das Verbotene

Leserkontaktseite

Glossar

Clubnachrichten

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

img2.jpg

 

Gut dreitausend Jahre in der Zukunft: Perry Rhodan hat nach wie vor die Vision, die Milchstraße in eine Sterneninsel ohne Kriege zu verwandeln. Der Mann von der Erde, der einst die Menschen zu den Sternen führte, möchte endlich Frieden in der Galaxis haben.

Unterschwellig herrschen zwar Konflikte zwischen den großen Sternenreichen, aber man arbeitet zusammen. Das gilt nicht nur für die von Menschen bewohnten Planeten und Monde. Tausende von Welten haben sich zur Liga Freier Galaktiker zusammengeschlossen, Besucher aus anderen Galaxien suchen Kontakt zu den Menschen und ihren Verbündeten.

Derzeit machen vor allem die Thoogondu aus der Galaxis Sevcooris von sich reden, die vor Jahrzehntausenden ein Sternenreich in der Milchstraße hatten. Dazu gesellen sich die Gemeni, die angeblich den Frieden im Auftrag einer Superintelligenz namens GESHOD wahren wollen.

Ohne Vorwarnung erobern die fürchterlich aussehenden Xumushan das Sonnensystem und besetzen die Erde – diese Invasion ist allerdings eine reine Erfindung des Techno-Mahdi. Aber welches Ansinnen steckt dahinter?

Atlan indessen ist bei seiner Rückkehr aus den Jenzeitigen Landen in einer Galaxis gelandet, in der die Gemeni rege sind und ihm sofort nachstellen. Der Arkonide flieht durch einen Shod-Spiegel in eine autarke Station im Dakkarraum und von dort in die Nähe der Milchstraße. Sein Ziel ist DER STERNENRING

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Atlan – Der Arkonide erreicht einen Sternenring.

Fitzgerald Klem – Der Menes verteidigt sein Amulett.

Tamareil – Die Cappin im Roboterkörper neigt zu kreativen Wahrheiten.

Florence Hornigold – Die Kapitänin ergreift eine historisch einmalige Gelegenheit.

1.

Hasch und Ärger in der Luft

 

Kapitänin Florence Hornigold kiffte. Jedenfalls nahm sie an, dass es so war. Was seit Jahrhunderten als Hasch angeboten wurde, hatte nur wenig gemein mit dem, was in Perry Rhodans Jugendtagen auf Terra im Handel gewesen war. Vermutlich. Ihr fehlte der direkte Vergleich, dazu hätte sie etliche Jahrhunderte mehr auf dem Buckel haben müssen.

Aber es fühlte sich so an wie Kiffen.

»Das ist so herrlich altmodisch«, sagte sie. Die Zunge tanzte ein wenig im Mund. Es fiel Florence schwer, sie zu bändigen. Ungezogenes kleines Ding!

Der Lee, der ihr gegenübersaß, drehte das fingerlange Stäbchen, das die Kapitänin ihm als Begrüßungsgeschenk überreicht hatte, zwischen den beiden Daumen der rechten Hand. Er hob es sich vor die Augen und schob dabei die einzelne lange Haarsträhne seines ansonsten kahlen Schädels beiseite. »Und das ist ... was?«

»Eine Zigarette aus Hasch, Minze und Shiranta. War auf meiner Heimatwelt vor Ewigkeiten der letzte Renner.«

»Sollte ich auch nur von einer dieser Zutaten jemals gehört haben?«

Florence nahm einen tiefen Zug. »Eher nicht. Es ist ein altmodisches Vergnügen.« Sie lächelte, wobei sie sehen konnte, wie dieses Lächeln davonschwebte. Fast hätte sie danach gegriffen, um es zurückzuholen. Es verschwand irgendwo zwischen den kahlen Wänden ihres perfekt schallisolierten Audienzraums. Der Trubel des Markthauses blieb draußen.

»Ich kenne da ein paar andere altmodische Vergnügungen.« Der Lee stand auf.

Er schnippte die Zigarette in eine weit offen stehende Brusttasche seiner Uniform, verhakte die vier Daumen beider Hände ineinander – bei seinem Volk ein Ritual, um mit großer Potenz zu protzen – und öffnete den Mund. Die flachen Lippen stülpten sich vor. Dabei verfärbte sich die dunkelgrüne Haut des Gesichts noch dunkler.

Wie ein kleiner Insektenrüssel, dachte Florence amüsiert. Wahrscheinlich nicht gerade die Assoziation, die ihr Gast wecken wollte. Sie konnte ein Lachen kaum unterdrücken. Die Müdigkeit und das Hasch, das war wohl doch zu viel.

Mühsam riss sie sich zusammen. »Hör zu! Dein Angebot schmeichelt mir, und ich bin absolut davon überzeugt, dass dir keine Lee widerstehen könnte. Ich meine, du bist ...« Sie zögerte, suchte nach einer angemessenen Beschreibung.

»Ja?«

»... stattlich.«

»Stattlich?« Das Wort begeisterte ihn wohl nicht sonderlich.

»Entschuldige. Das Zeug hier ...« Florence tippte auf das Stäbchen, das in ihrem Mundwinkel baumelte. »... macht mich ganz wuschig im Kopf.«

»Wuschig?«

Sie grinste. »Immer diese kulturellen Unterschiede, die eine Verständigung so unnötig erschweren. Das Problem ist einfach ... nun, ich bin eben keine Lee, sondern eine Terranerin.«

»Unsere Völker sind kompatibel!«

Danke für die Information. Sie ignorierte den Hinweis. »Also, fangen wir von vorne an. Du hast mich nicht aufgesucht, um Sex zu haben, und auch nicht, um zu plaudern. Also kommen wir zum Geschäft, einverstanden?«

»Gut.«

Der Lee sah sogar erleichtert aus. Florence konnte seine Mimik genauestens lesen. Sie hatte ihr ganzes Leben mit diesem Volk verbracht und tausendmal mehr Lee als Terraner getroffen. Kein Wunder, hier im Exil.

Was Angehörige ihres Volkes anging, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich mit der Besatzung ihres Schiffes zu begnügen, und sie mochte nun mal nicht alle an Bord der WOODES ROGERS. Da war sie eigen. Es waren ihre Leute, ja, aber das hieß nicht, dass es auch ihre Freunde sein mussten.

»Also, welches Angebot bringst du? Was für ein Handel schwebt dir vor?«, fragte sie.

Das nun zu erwartende Routinegespräch entfachte die Müdigkeit, die ihr in den Knochen steckte. Wie lange führte sie bereits Verkaufs- und Handelsgespräche, rechtschaffen erfolglos, und ohne sich eine Pause zu gönnen? Zehn Stunden? Zwölf?

»Da wir sowieso von vorne beginnen, sollte ich mich dir vielleicht vorstellen«, sagte ihr Gast.

»Ich höre.«

»Ich bin Fann.«

Sie fragte sich, ob er erwartete, dass sie diesen Namen kannte. Womöglich war er eine Art Berühmtheit im Sternenring von Tson.

»Angenehm«, murmelte sie.

Er ließ es sich nicht anmerken, falls ihn ihre Reaktion enttäuschte. »Dein Schiff ist das schnellste. Der beste Weg, andere Sternenringe zu erreichen.«

»Du suchst eine Passage? Da muss ich dich enttäuschen. Die ROGERS ist ein reiner Handelsraumer.«

»Und wer hat dieses Gesetz geschrieben?«

Florence lächelte. »Ich.«

»Dann ändere es!«

In der Art, wie sich die Pupillen des eieruhrförmigen Doppelauges weiteten, lag etwas, das ihr gar nicht gefiel. Sie versuchte mit schierer Willenskraft, die berauschende Haschwirkung zu verdrängen. Wenn es gleich Probleme gab, musste sie einen klaren Kopf bewahren.

»Falls du Ärger suchst«, sagte sie, »geh woanders hin.«

»Da kenne ich ganz andere Geschichten über die legendäre Kapitänin Hornigold. Hätte nicht gedacht, dass du so langweilig bist. Kein Sex, keine Abenteuer, keine ...«

»Es liegt in der Natur von Geschichten, dass sie nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen. Wenn du mich für langweilig hältst, habe ich eine Botschaft, die dich enttäuschen mag: Das ist mir egal.«

Fann stand auf. »Also willst du mein Geld nicht?«

»Korrekt.«

»Es gibt nichts, das ich dir bieten kann?« Wieder stülpte er die Lippen vor, reckte außerdem seinen Körper. Am dunkelblauen Hals stellten sich die feinen Härchen auf.

Ein Widerling, dachte Florence. Sie erhob sich ebenfalls und merkte, wie sie vor Müdigkeit kurz einknickte. Höchste Zeit für eine Pause!

Langsam umrundete sie ihren Gast, betrachtete demonstrativ seinen Rücken, streckte die Hand aus und strich über seine Wirbelsäule, deren Zackenmuster sich unter dem eng anliegenden Stoff abzeichnete. »Nun, das hier ist interessant.«

Er lachte.

Sie fragte sich, ob es amüsiert klang. Unsicher. Oder unterschwellig aggressiv.

»Das ist kein Witz«, versicherte sie. »Dein Rückgrat gäbe einen stattlichen Leemagh ab. Mit der passenden Verzierung könnte ich es auf meiner nächsten Handelsreise teuer versteigern.«

»Du kannst irgendwelchen tattrigen Greisen ihre Knochen abkaufen, die sowieso bald sterben! Aber ich bin höchst lebendig, falls es dir nicht aufgefallen ist!« Seine Kleidung trug er über dem Brustkorb offen – wie fast alle Lee, denn sie kommunizierten untereinander auch damit, dass ihre Lunge bei starken Gefühlsregungen aufleuchtete.

Für einen Terraner kaum zu durchschauen, nahmen die Lee gegenseitig feinste Nuancen wahr. Gerade pulsierte sein Atemorgan überdeutlich in bläulichen Lichtschauern.

Florence fand das stets ein wenig unheimlich und überspielte ihre Unsicherheit mit einem breiten Grinsen. »Ich biete dir meinen Mustervertrag, der ...«

»Du bist verrückt!«

»Ist das nicht viel besser als langweilig?«

Fann eilte ohne weiteres Wort aus dem Raum. Die Hasch-Zigarette nahm er mit. Er ließ die Tür offen.

Lärm schwappte von draußen herein: Hintergrundmusik, Getrampel und das Stimmengewirr, das der ständige Handel eben mit sich brachte. Mit mechanischem Knarren stolzierte ein altes Robotermodell vorbei.

Ka-Liam streckte den Kopf durch die Tür.

Endlich ein erfreulicher Anblick. Wenn sie einen Freund im hiesigen Markthaus hatte, dann ihn.

Er trat ein, schloss die Tür und sperrte damit den Lärm aus. »Ich hatte die Waffe gezogen. Dachte, ich muss dir diesen Kerl vom Hals schaffen.«

Sie winkte ab. »Er war ein aufgeblasener Schwätzer. Zu keiner Sekunde eine Gefahr. Wenn er mich angegriffen hätte, wäre ich leicht mit ihm fertiggeworden.«

Ihre Worte begeisterten Ka-Liam nicht gerade. Er kaute lustlos auf einem Pirrack.

Sein trauriger Blick tat ihr leid. »Trotzdem danke, dass du mich bewachst«, schob sie deshalb rasch nach.

»Du bezahlst mich dafür.«

»Ist ein guter Grund.« Florence ließ sich in ihren Sessel fallen. Das alte Möbelstück quietschte. Einer der zahlreichen losen Fäden des Polsterstoffes kitzelte sie im Nacken. »Und du weißt genau, dass ich ohne dich völlig aufgeschmissen wäre. Keiner tut so viel für mich wie du.«

»Danke.« Er blies mit dem Pirrack eine Kugel, bis sie platzte. Süßer Beerenduft erfüllte den Raum und vertrieb das Hasch-Aroma.

Florence lächelte; nicht das Grinsen, das sie dem Lee gegönnt hatte. Sie legte die Hände auf die Brust. »Wartet noch jemand auf eine Audienz bei Kapitänin und Handelskönigin Hornigold?«

»Er war der Letzte«, erklärte Ka-Liam. »Du hast frei.«

»Klingt gut. Ich habe Schlaf dringend nötig.«

»Es ist nur ...«

»Ja?«

»Die Geschäfte hier im Markthaus stehen nicht zum Besten. Deine Leute machen sich Sorgen.«

»Gönn mir ein Stündchen.« Sie schloss die Augen. »Ein kurzes Schläfchen, dann kümmere ich mich darum.«

Wenn ich auch keine Ahnung habe, was ich tun soll. Aber so war es eben als Kapitänin: Alle erwarteten ständig, dass man Wunder wirkte.

Ka-Liam antwortete irgendetwas, doch sie hörte nur ein verschwommenes Lallen, weil sie bereits einschlief.

 

*

 

Sie wachte auf und erinnerte sich, von der Schönheit des Taumeltanzes geträumt zu haben.

Was war nur mit ihr los? Manchmal fühlte sie sich, als wäre sie bereits zu einer halben Lee mutiert!

Die Schönheit des Taumeltanzes ...

Davon faselten die Lee ständig, zitierten Gedichte, sangen Lieder und bewiesen damit nur ihre Eitelkeit. Wie stolz sie auf ihre Schöpfung waren!

Florence quälte sich aus dem Sessel. Es wurde Zeit für eine Partie Basketball, um die Muskulatur zu lösen, sonst brachten sie die Verspannungen noch um. Aber bis sie die Trainingshalle in der WOODES ROGERS aufsuchen konnte, gab es einiges an Arbeit in der hiesigen Markthalle zu erledigen.

Ihr schallisolierter Audienzraum bildete eine Oase der Ruhe mitten im Trubel des Handelsbereichs. Neben dem Sessel, dem Tisch und dem einfachen Stuhl für ihren jeweiligen Gesprächspartner stand nur eine kleine Kommode an der kahlen Wand, die der Eingangstür gegenüberlag. Florence zog die obere Schublade auf und fand zu ihrer Erleichterung eine Schale mit Fruchtmark.

Sie nahm sie heraus und öffnete den Verschluss. Mit einer Kaskade von Knackgeräuschen kühlte das Gefäß den Inhalt blitzartig ab, bis sich ein leichter Frostschauer darüberlegte.

Die Kapitänin biss ein Stück des festen Marks ab. Die Zähne schmerzten ein wenig, aber es erfrischte Zunge und Mund herrlich. So schmeckte es am besten.

Außerdem belebte es die Sinne wie kaum etwas anderes. Von einem guten Kuss abgesehen. Allerdings hatte Florence daran nur noch vage Erinnerungen. Die Auswahl an geeigneten Partnern war nicht groß.

Sie absolvierte eine Runde Schattenboxen, gönnte sich ein Dutzend Liegestütze und fühlte sich danach stark genug für den Trubel des Markthauses.

Dennoch traf sie die schwüle Atmosphäre wie ein körperlicher Schlag, als sie die Tür öffnete. Sie blickte sich um.

Mindestens fünfzig Lee.

Wenige Fremde, darunter ein hünenhafter Insektoide.

Nicht zu sehen, aber zu hören: die flatternde, unablässig plappernde Stimme eines Flug-Naohden.

Ein Roboter, der einen alles andere als funkelnagelneu aussehenden Transmitterbausatz davonschleppte.

Sieben Terraner des Markthauses, die gerade Verkaufsgespräche führten.

»Guten Morgen«, sagte Ka-Liam, der plötzlich neben ihr stand.

»Danke«, sagte sie. »Nur dass es kein Morgen ist.«

»Doch.«

Sie erschrak. »Was?« Sie hatte höchstens ein paar Minuten geschlafen!

»Du warst zehn Stunden da drin, nachdem dieser Lee wutentbrannt aus der Besprechung gestürmt ist.«

Kein Wunder, dass sie sich so verspannt fühlte. »Oh.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Und du bist immer noch da?«

»Ich bin gut, Florence – aber nicht verrückt. Ich habe die Nacht in meiner Kabine in der ROGERS verbracht und ...«

»Erspar mir die Details.«

»Ich habe nur ...«

»Schon gut.«

»Jedenfalls bin ich seit ein paar Minuten zurück.« Ka-Liam schnappte sich eine Wonnbeere von einem vorbeieilenden Bauchladenverkäufer. »Genau rechtzeitig, wie ich sehe.«

»Um Früchte zu stehlen?«

»Um dir zu Diensten zu sein.«

»Du hast gestern gesagt, die Geschäfte liefen nicht gut. Der Trubel hier macht einen anderen Eindruck.«

»Sieh genauer hin!«, forderte Ka-Liam. »Eine Menge Lee kommen hierher, aber sie sind geizig. Kaum einer kauft etwas. Stattdessen fordern sie Zeit und Beratung. Sag selbst: Wie viele Gespräche hattest du gestern? Und wie viele führten zu einem guten Geschäft?«

Franco – der Ersatzpilot der WOODES ROGERS – zog unvermittelt mit einem Trompetensolo mitten zwischen den Verkaufsständen eine Menge Aufmerksamkeit auf sich. Er gab ein klassisches Lee-Stück zum Besten, dessen für menschliche Ohren schräge Töne in Florence augenblicklich Kopfschmerzen weckten. Seine Lebenspartnerin Franca stimmte den passenden Brummgesang an.

Dass sie tatsächlich so hieß, glaubte Florence keine Sekunde, aber welche Rolle spielte das schon? Franco und Franca – die halbe Besatzung fand es wundervoll, die andere Hälfte albern. Die Kapitänin tendierte zur zweiten Auffassung.

Eine Menge Lee sammelte sich um die beiden Musiker. Nicht wenige schwangen ihre Leemagh-Stöcke im Takt. Und – kaum zu glauben! – einige tanzten sogar.

»Halt sie bei Laune, und sie zeigen sich großzügiger«, flüsterte Ka-Liam der Kapitänin zu.

Das wusste Florence, aber sie fürchtete, dass Franco und Franca ein heikles Spiel spielten. Die Lee bei Laune zu halten, war nämlich alles andere als einfach. Sobald Melodie und Gesang nicht mehr perfekt klangen, konnte die Stimmung kippen – und ein beleidigter Lee brachte üblicherweise Schwierigkeiten.

Der Gedanke beunruhigte Florence, denn in diesem Moment entdeckte sie ein bekanntes Gesicht in der Zuhörermenge. Eines, von dem sie gehofft hatte, es nicht so rasch wiederzusehen, und das sie dank der einzelnen langen Haarsträhne an der Seite des Glatzkopfes sofort erkannte: ihr letzter Gast vom Vortag, der wutentbrannt aus dem Audienzraum gestürmt war!

Dass er sich wieder im Markthaus aufhielt, verhieß nichts Gutes. Wie war sein Name gewesen ...?

Florence verfluchte die Kombination aus Müdigkeit und Hasch, unter der ihre Konzentration immer noch litt. Sie hasste es! Ach ja, Fann, richtig.

»Lia«, wisperte Florence ihrem Begleiter zu.

Der lächelte, wie jedes Mal, wenn sie ihn bei seinem Kurznamen nannte, was er nur den Wenigsten erlaubte und was sie nur selten tat. Doch er erkannte offenbar an ihrem Gesichtsausdruck, dass sie sich um etwas sorgte. »Was ...«

»Bei den Zuhörern die Gruppe ganz links«, sagte sie. »Der Größte der vier.«

Ka-Liam verstand sofort. Seine Hand wanderte in die Tasche der verschlissenen, hellblauen Uniform – und dort zweifellos zum Griff seines Strahlers.

»Halt dich zurück, solange es geht!«, forderte sie. »Eine Panik ist das Letzte, das wir jetzt gebrauchen können.«

Er murmelte etwas, das wohl seine Zustimmung ausdrückte.

Sie schauten einander kurz in die Augen, nickten und verstanden sich ohne weitere Worte. Ka-Liam machte sich auf den Weg und suchte unauffällig die Nähe des möglichen Randalierers.

Florence blieb zurück. Auch ihre Hand wanderte in eine Tasche ihrer Uniform – allerdings nicht zu einer Waffe, sondern um den Katastrophensummer zu drücken, wie sie ihn nannte.

All ihre Leute, einschließlich der Verkäufer des hiesigen Markthauses, die sie großzügig ebenfalls zu ihren Leuten zählte, empfingen das Alarmsignal, das ihre Armbandkommunikatoren in einen kurzen Vibrationsimpuls umwandelten.

Sämtliche Terraner vor Ort wussten damit, dass Ärger in der Luft lag.

Allerdings zog ihre Warnung ungeahnte Folgen nach sich. Franco erschrak offenbar, denn er spielte den ersten falschen Ton seines bisher tadellosen Trompetensolos. Für Florence klang es nicht mehr oder weniger schräg als vorher, doch die Lee reagierten mit Unmut.

Das Leuchten vieler Brustkörbe schuf eine seltsame Atmosphäre. Die bläulichen Körperlichter weckten eine Vielzahl von Schatten, die über Körper und Gesichter flackerten.

Und eine Lunge leuchtete heller als alle anderen. »Was fällt dir ein, uns mit dieser Darbietung zu beleidigen?«, schrie Fann.

Völlig überzogen, dachte Florence. Der Lee hatte nur auf eine Gelegenheit gewartet, sich zu beschweren!

Franco reagierte besonnen. Er nahm die Trompete herunter, während Franca eine letzte Dreier-Zeile sang:

Der Sternenglanz

im Taumeltanz

erhebt mein Herz.

»Ich entschuldige mich in aller Form«, sagte Franco.

Fanns Doppelauge zog sich zusammen. »Ach, und das genügt, glaubst du? Einfach so?«

»Wir ...« Weiter kam Franca nicht, die zweifellos einen Schlichtungsversuch starten wollte – denn ein Lee, der zwei Plätze neben Fann stand, empörte sich ebenso lautstark: »Dies ist unser Gebiet! Unser Sternenring! Ihr seid Gäste hier – also benehmt euch entsprechend!«

Florence zweifelte nicht daran, dass es sich um ein abgekartetes Spiel handelte. Das roch nach einer Inszenierung ... und den letzten Beweis lieferte ein dritter Lee, der genauso überzogen mit einstimmte: »Wir wissen längst, dass sie nur bei uns wohnen, um uns zu betrügen!«

Was sollte Florence tun? Die Situation drohte endgültig zu kippen. Jedes falsche Wort konnte für den entscheidenden Knall sorgen.

Andererseits durfte sie nicht einfach schweigen. Sie stand gut sichtbar in der Öffentlichkeit, und alle kannten sie. Sie spürte, wie viele Blicke sich auf sie richteten. Man wartete auf sie und ihre Reaktion – im Guten wie im Bösen.

Also trat sie ein paar Schritte näher ans Geschehen heran und rief: »Liebe Freunde! Wir helfen uns bereits so lange gegenseitig, dass ich überzeugt davon ...«

»Da kriecht die Oberste der Eindringlinge aus ihrem Loch!«, kreischte Fann. Lee-Stimmen neigten dazu, sich zu überschlagen, wenn die Erregung zunahm – in terranischen Ohren klang es fast lächerlich.

»Wir sollten ihr eine Lektion erteilen!«, tönte es von irgendwo ...

... und Florence fragte sich, ob diese Lee ebenfalls zu Fanns Leuten gehörten, oder ob sich die Hexenjagd bereits verselbstständigte.

Der Kapitänin wurde flau im Magen.

Im nächsten Moment krachte es, und ein Marktstand ging in Flammen auf.

 

*

 

Einige Lee schrien, einer davon zu Recht: Seine Kleidung fing Feuer.

Ein Roboter – ein humanoides Modell aus den Uraltbeständen der WOODES ROGERS – bahnte sich rabiat einen Weg durch die Menge und fuhr einen Tentakelarm aus. Davor waberte die Luft. Das war das einzig optisch erkennbare Zeichen dafür, dass die Maschine gegen den Brand vorging – abgesehen davon, dass rings um den Roboter die Flammen in Sekundenschnelle erstickten.

Trotzdem trug der Lee Brandwunden davon. Die dunkelblaue Haut am rechten Arm hatte sich schmutzig grau verfärbt.

Die Betreiberin des Standes – eine blutjunge Terranerin, die wie jeder Terraner in dieser Galaxis von der ursprünglichen Besatzung der ROGERS abstammte –