II

Inhaltsverzeichnis

Am nächsten Morgen ging Ulrich Just in bebender Erwartung, wie seit Wochen, zur Schule. Noch heute pochte zum ersten Male in diese froh-beglückende Erregung ein dunkler Mißklang der Schuld. Eine dumpfe Bedrücktheit, deren er sich, aller Vernunft und allem Trotz zuwider, nicht erwehren konnte.

Gaby machte, wie immer stolz auf ihren schönen, berühmten Papa, mit ihren nackten, besockten, sonnen-braunen Beinchen neben ihm komische Springeschritte. Es war ihr Ehrgeiz, mit »Papsel« Tritt zu halten. Sonst verwehrte er es ihr lachend und mäßigte die Gangart. Heute beachtete er ihre drolligen, eigenwilligen Bemühungen nicht. Sie gingen immer zusammen zur Schule, wenn Just die erste Stunde hatte. Dann plauderte er lebhaft, ergriff jede Gelegenheit, spielerisch, unauffällig den Wissenskreis seines einzigen Kindes zu erweitern und zu klären. Heute, wie oft in der letzten Zeit, schwieg er. Auch Gaby hielt die plauderfrohen Lippen fest geschlossen.

Sie verehrte den Vater als ein überirdisches Wesen. Sie wußte, daß er für den besten und beliebtesten Lehrer der Schule galt, kannte die Verehrung, mit der die Schülerinnen der obersten Klassen – o ferner Traum! – an ihm hingen. Ein Abglanz seines Glorienscheins leuchtete auch auf sie herab unter Lehrern und Schülern. Sie fühlte, daß sie um ihren Vater beneidet wurde. In ihrem Herzen war er der bedeutendste und größte lebende Mensch. Auch von Mama hatte sie ähnliche Urteile vernommen.

Sie war andachtsvoll überzeugt. Wenn Papa, wie heute, schwieg, türmten sich in ihm große Gedanken. Mit Riesenschritten kämpfte sie sich neben ihm dahin, bemühte sich trotzdem, leise aufzutreten, und schoß zornige Blicke auf jedes Auto, das es wagte, hupend oder ratternd die Gedankenarbeit ihres Abgotts zu stören.

In der Nähe des Gymnasiums gerieten sie in den Strom der Schülerinnen. Sie wußte, wie ein kleiner Soldat, der mit einem hohen Offizier geht, daß sie nicht mitgrüßen dürfe, wenn Papa die Knickse der Jüngeren, die Verbeugung der obersten Vierhundert dankend quittierte. Aber ganz steif und gereckt vor Zugehörigkeit ging sie doch.

Da rief eine Stimme sie mit Namen. Sie wandte sich um. Es war ihre Busenfreundin Liselotte. »Willst du mit ihr gehen?« fragte Just. Er lechzte nach Alleinsein; das Kind störte ihn heute sonderbar.

»Aber nein!« empörte sich Gaby und nahm seine Hand, eine Anhänglichkeit, die sonst, als einer großen Gymnasiastin unwürdig, voller Verachtung streng verpönt war.

»Ich mag Liselotte überhaupt nicht mehr. Sie schimpft immer so auf ihren Vater.«

»Schimpft?« fragte Just automatisch. Seine Gedanken waren weit weg von den Worten des Kindes.

»Ja«, berichtete Gaby wichtig, »er hat Liselottes Mutter doch verlassen. Ist aus dem Hause weg. Er liebt eine andere.«

Justs Teilnahme war plötzlich gepackt. »Was ist das?«

»Ja. Und Mutti hat gestern auch gesagt, als ich es ihr erzählt habe, es wäre eine Gemeinheit, die Frau mit ihren drei Kindern zu verlassen.«

»Man soll nicht Geschichten aus andern Häusern weitertragen«, tadelte er sanft. »Das führt stets zu schiefen Urteilen. Kein Fernstehender kann in eine fremde Ehe hineinsehen.«

»Nicht wahr?!« rief Gaby kindlich feurig. »Ich habe auch zu Mutti gesagt, man weiß doch nicht, wie sie zu ihm gewesen ist, wenn keiner dabei war!«

Just stutzte schuldbewußt über den verteidigenden Eifer des Kindes.

»Wir wollen uns nicht um anderer Leute Privatangelegenheiten kümmern«, wehrt der Pädagoge in ihm. Dann aber fuhr er fort, als suche er bei seinem Kinde Hilfe und Verstehen in seiner Seelennot.

»Es kommt in einer Ehe nicht allein darauf an, Gaby, wie die Menschen zueinander sind. Liebe ist etwas unendlich Schweres – und Zartes. Schuld und Nlchtschuld spielen darin keine ausschlaggebende Rolle. Auch nicht Güte und Unverträglichkeit. Liebe kommt und geht. Liebe ist kein Verdienst für Treue und Zärtlichkeit. Liebe ist eine unverdiente Gnade und unverschuldete Schuld. Aber das verstehst du wohl noch nicht, kleine Gaby.«

Sie sah zu ihm auf aus ihren klugen braunen Augen, die den seinen wundersam glichen, und sagte nichts. Aber in der leuchtenden Iris stand ein altkluges ererbtes Begreifen, weit über ihre Jugend hinaus.

Sie kamen in das Vestibül der Schule, das widerhallte von dem stürmischen, lebensvollen Andrang Hunderter junger Menschen. Just strich über Gabys dunkles, unbedecktes Haar.

»Auf Wiedersehen, Gaby.«

»Auf Wiedersehen, Papsel.«

Sie stob kindlich wild davon.

Langsam stieg er die Treppe zum Lehrerzimmer hinauf. Auf dem Flur des ersten Stockes zögerte er. Er wollte nicht zu den Kollegen, konnte jetzt keine Gesellschaft ertragen.

Ruhelos ging er auf und nieder. Die Worte Gabys hatten ihn aufgewühlt. Kinder sprachen schon weise über Ehen! Jeder meinte, sich über Ehen ein Urteil anmaßen zu dürfen. Was wußte man von fremden Ehen – und von der eigenen?

Es zuckte verzagt um seinen bartlosen Mund. Nichts, nichts wußte man. Man lebte Jahre, elf Jahre, im Wahn der glücklichsten körperlichen und seelischen Gemeinschaft, und plötzlich – – Unsinn. Er liebte Julie. Ja doch. Wie immer, wie alle diese langen Jahre. Sie war sein bester, sein einziger Kamerad und Freund.

Er war immer in seiner Ehe aufgegangen. Hatte alles, alles Geistige und Wirtschaftliche, mit Julie besprochen, sie teilnehmen lassen an seinem Werden und Wachsen und Planen, seinen literarischen, pädagogischen Arbeiten und seinen Erfolgen. Hatte außer ihr keinen Geistesgenossen. Auch nicht unter den Kollegen, von denen mancher ihm wissenschaftlich nahestand. Aber Freund? Freund war ihm nur Julie mit ihrer seelischen Einfühlung und ihrem rasch erfassenden Verstand. Und dennoch – trotz allem – liebte er Ute Haink! Ja, warum eigentlich nicht? Es war doch töricht und anmaßend, zu glauben, die Liebesfähigkeit eines Menschen erschöpfe sich in einer Liebe. Mit fünfundzwanzig, nach dem Staatsexamen, hatte er geheiratet. Und damit sollte jede weitere Liebe ihm verschlossen sein!

Ein Wahn, ein Vorurteil, ein Aberglaube, den die Ehe aus Selbsterhaltungstrieb und Notwehr erfunden hatte. Eine Frauenerfindung. Er war ein lebendes Zeugnis dafür, daß Männer zur gleichen Zeit zwei Frauen lieben konnten. Frauen liebten anders. Aber Männer! Männer konnten zwei – vielleicht auch mehr – Frauen zur selben Zeit lieben mit der gleichen Kraft und Tiefe. Der Mann liebte ja in jeder Frau etwas anderes, andere Eigenschaften, andere Gaben, andere Verführungen und Beglückungen.

Just blieb stehen.

Hm, belog er sich nicht? Wahrhaftig nicht?! Liebte er Julie noch so ausschließlich, wie er sie geliebt hatte, ehe Ute in sein Leben getreten war? War er ganz ehrlich gegen sich – gegen sie?

Er ging gesenkten Hauptes durch den einsamen Korridor, in den der Atem des belebten Hauses hineinfauchte.

Ganz ehrlich sein! Keinen Lug und Trug in sein Leben einschleichen lassen! War nicht schon seit Monaten, noch ehe Ute Haink auf die Schule gekommen war, eine Müdigkeit in ihm gewesen, eine Sehnsucht nach Jugend und Rausch, nach Abenteuer und neuen Spannungen? Ein Fluchtwunsch aus dem geruhigten Gleichmaß des Altgewohnten, eine seelische Bereitschaft und ein tief innerlich bohrendes Verlangen nach Umschwung, nach Abwechslung, nach Aufruhr? War das alles in ihm gewesen, unbewußt vielleicht, oder bildete er es sich jetzt nur ein, weil das Neue, dieser Ausbruch aus der umzäunten Bahn einer elfjährigen Ehe über ihn gekommen war?

Die Glocke schrillte durch die Korridore. Just ging langsam auf seine O Ia zu.

V

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Tage später erlebte das Gottfried-Keller-Gymnasium eine neue Erschütterung. Am Morgen kam die Nachricht, daß Fräulein Wolter in der Nacht Selbstmord begangen hatte.

Jugend ist grausam. Die Schülerinnen atmeten befreit auf. Die Lehrerschaft schwieg oder flüsterte. Just war ins Mark getroffen.

Ihm war, als habe er den Tod dieser zerquälten Frau verschuldet durch sein Eintreten für Ute Haink. Den Brief, den er erhielt, ehe er an diesem schicksalsschweren Morgen zur Schule ging, zeigte er keinem. Auch Julie nicht.

»Mein lieber Herr Kollege«, hatte die freudlose Frau in ihrer letzten Nacht geschrieben, »ich werfe dieses Leben von mir. Ich habe genug davon. Was kann es mir noch bringen als neuen Haß und neue Demütigung! Sie haben mich durchschaut. Ja, ich habe diese jungen glücksgierigen, glücksgewissen, glücksbestimmten Dinger gefoltert. Aus Neid und Schmerz … Genug davon. Aber auch ich habe Sie – als Vergeltung vielleicht, wenn es so etwas gibt – durchschaut. Sterbende sind prophetisch und eifersüchtige Sterbende sehen den Zurückbleibenden bis ins Herz. Hüten Sie sich! Als Sie für Ute Haink sprachen, war in Ihren Augen nicht das heilige Feuer der Gerechtigkeit – nein –, das falsche Licht der Verliebtheit flackerte darin. Ich habe es gesehen. Mich konnten Sie nicht täuschen. Ich habe Sie geliebt. Es wird Ihnen gleichgültig sein – wie auch mir in diesem Augenblick, in dem die Erde mit ihren kleinen Wichtigkeiten vor mir zurücksinkt. Vorbei.

Ich habe Böses getan, gegen mein Gefühl. In einem dunklen, grimmen Zwang. Die Verzweiflung der Ausgeschlossenen hat in mir gefressen. Vorbei, nur etwas Gutes will ich noch tun: Sie warnen. Lassen Sie das Mädel in Frieden! Was wollen Sie von ihr? Wohin soll das führen? Setzen Sie nicht Ihren Beruf, Ihre Stellung, Ihr Leben aufs Spiel. Kein Mädel ist dieses Opfer wert. Das sage ich nicht in Neid und Eifersucht. Ich bin mit allem fertig. Mit allem versöhnt, wenn Sie es so nennen wollen. Ich gehe in das große Nichts zurück, ganz still und ohne Weh. Wirklich. Seien Sie vernünftig. Und möge es Ihnen erspart bleiben, dort zu stehen, wo heute steht

Ihre Marta Wolter.«

Um Viertel vor acht erhielt er den Brief. Um acht hatte er Stunde. Er raste nicht in die Wohnung der Frau. Er wußte, sie hatte ihren Entschluß ausgeführt und so umsichtig ausgeführt, daß jede Hilfe zu spät kam. Und war eine Wiedererweckung, eine Störung ihres Willens wirklich berechtigte Hilfe?

In der Schule hieb ihm sofort die Nachricht von ihrem Tod entgegen.

Dann vergaß er den Brief im ehrlichen Schmerz um dieses einsame verirrte Leben in dem Bewußtsein, daß sein unbedachtes heftiges Wort den letzten Anstoß zu ihrem tragischen Entschluß gegeben hatte, und in den Bemühungen um das Begräbnis, dessen Ordnung er übernahm. Sie stand völlig allein.

Erst am Sonntag, als alles vorüber war, während Julie seine Sachen für den zehntägigen Aufenthalt an der See packte, wurde das Schreiben der Toten wieder in ihm lebendig.

Es war im Schlafzimmer. Julie legte die Wäsche, die Gaby unterstützungseifrig herbeitrug, in den Koffer. Just saß auf dem Bett, das eine Knie von den gefalteten Händen umspannt, und sah geruhsam mit müßiger Verwöhntheit den umsichtigen Bewegungen der schönen, großen, dunklen Frau zu.

Immer wenn sie ins Zimmer trat, war sie ihm noch eine Überraschung und ein ästhetischer Genuß. Ihre edlen Züge wurden mit den Jahren immer reiner, immer vergeistigter, trotz der schweren körperlichen Arbeit, die sie auf sich nahm. Nie hörte er das Klappern der Wirtschaftsmaschinerie. Alles im Hause richtete sich nach ihm, nach seinen Gewohnheiten, seinen Bedürfnissen, seinen Launen. Sie lebte nur seinem Behagen und Wohlbefinden. Dabei nahm sie fördernden, spornenden Anteil an seinem Beruf, seinen Arbeiten, seinem Erfolge.

Sie war die Tochter eines berühmten Germanisten in Freiburg. Als Student hatte er sie dort kennengelernt, bald darauf geheiratet.

Er sah ihr Profil, rührend herb gegen das Licht des Fensters. Sein empfänglicher Sinn berauschte sich an der noblen Linie der Nase, der Stirn, der Kopfform mit dem glänzenden blauschwarzen Haar. Und plötzlich, mitten hinein in die genießende Freude an seinem Weib, tauchte hinter dem reifen Antlitz der fünfunddreißigjährigen Frau der schattenhafte Umriß eines schmalen, ovalen Gesichts auf im Flimmer und Zauber stürmender, drängender Neunzehn.

In diesem Augenblick gedachte Just des Briefes der Toten, die sie gestern im Krematorium zu Wilmersdorf den Flammen übergeben hatten. Seltsam, daß diese Frau ihn durchschaut hatte wie er sie. Seltsam! War er schon so tief in diese Liebe verstrickt, daß sie ihm die Zeichen aufgedrückt hatte, daß Fremde sie sehen oder erahnen konnten? Ob Julie …?

Sie bückte sich grade über den Koffer. Ihr Rücken baute einen reizvollen Bogen der Kraft und Anmut. Er sah zu und dachte: Warum, warum strebe ich mit jedem Pulsschlag zu der andern? Warum fiebere ich bei dem Gedanken an diese Reise?

Er prüfte wieder sein Gefühl. Er liebte Julie nicht weniger, seitdem diese neue Leidenschaft ihn überkommen hatte. Sicher nicht. Ohne jede Täuschung. Nichts hatte sich zwischen ihnen geändert. Er hatte Julie gegenüber auch nicht das Schuldbewußtsein eines Raubes oder Verrats. Er glaubte, ihr nichts zu nehmen, was ihr gehörte.

An Ute entzückten ihn Gaben, die Julie nicht zu verschenken, nicht mehr zu spenden hatte – diese Frische, dieses Erwartende, dieses Impulsive, Hemmungslose, sich grandios Verschwendende – ihre Jugend. Daß er damit Julie am schmerzlichsten verriet, kam ihm nicht in den Sinn.

Abends, nachdem Gaby zu Bett gegangen war, saß er in seinem Zimmer auf dem Lieblingsplatz der Mußestunden, dem Klubsessel am Lampentisch. Julie saß ihm gegenüber, ein Buch im Schoß. Sie hatten beide lange in ihre Gedanken hinein geschwiegen. Da winkte er sie mit den Augen zu sich heran.

Sie setzte sich auf seine Knie, wie immer. Sie schmiegte sich an ihn und fragte wie immer: »Bin ich dir auch nicht zu schwer?«

Er lachte wie immer und nahm sie ans Herz. Sie preßte das Gesicht an seine Schulter. Die Angst um ihn war in den letzten Tagen riesenhaft in ihr gewachsen. Er war ihr fast fremd geworden in seinen Stimmungsschwankungen, seiner Rastlosigkeit und nervösen Überreiztheit.

Ihr Gemüt, der feinste Seismograph für jede Seelenerschütterung dieses Mannes, registrierte und empfand, daß ihn etwas Unausgesprochenes erregte und bedrückte, ahnte die fremde Frau mit dem untrüglichsten Instinkt der Liebe und wagte nicht zu fragen, vielleicht auch aus Angst vor einer Wahrheit.

Sie hob den Mund an seinen Hals und flüsterte: »Ich bin so froh, daß du endlich einmal hinauskommst. Du bist arg überarbeitet.« Sie log bewußt. »Und dieser Selbstmord hat dir den Rest gegeben.«

Er schwieg.

»Du wirst dich an der See fein erholen. Glaubst du nicht?« Sie wartete bang auf eine Antwort. Und wußte selbst nicht, auf welche.

»Natürlich«, sagte er obenhin, »aber im Grunde fehlt mir doch nichts.«

Da preßte sie sich leidenschaftlich an ihn, ihr Körper drängte sich zu ihm, sie stieß hervor: »Mir ist so angst um dich!«

Er fühlte eine Träne an seiner Backe.

»Aber Julie!«

Es sollte scherzhaft klingen, klang aber hohl und geisterhaft. Der Brief der Toten stand wieder vor ihm mit seiner gespenstischen Warnung.

Aber es war doch alles unsinnig! Was sollte denn Schreckhaftes geschehen? Was konnte denn Schlimmes daraus werden? Er wollte doch Ute zu nichts verführen und verleiten. Sehen wollte er sie, sich an ihrer Erscheinung, ihrem Wesen, ihrem Wissen laben, ja, sie von fern genießen wie ein Kunstwerk, ihre Jugend in sein Leben funkeln lassen, weiter doch nichts.

Und dann, in einigen Monaten, war der Rausch vorbei. Ostern machte sie ihr Examen. Dann verlor er sie aus seinem Bereich, aus den Augen, aus seinem Dasein.

Wo lag die Gefahr? Wo lag die drohende Tragödie?! Und da packte ihn das Verlangen, alles zu beichten. Vielleicht regte sich in ihm auch der Wunsch, durch ein Geständnis eine Schutzwehr zu bauen zwischen Ute und sich. Für alle undenkbaren Zufälle.

Er suchte nach Worten. Aber was sollte er Julie bekennen? Was eigentlich? Was Greifbares, Sagbares lag denn eigentlich vor? Sollte er stammeln: ich liebe eine meiner Schülerinnen? Unmöglich. Das klang lächerlich, unreif, jungenhaft. Julie würde es gar nicht fassen und nicht ernst nehmen. In ihren Augen – auch in seinen bis vor wenigen Wochen – waren Schülerinnen keine Geschlechtswesen, sondern Objekte seiner Unterweisung und Erziehungskunst. Ein neutraler Massenbegriff, mehr nicht. Julie würde ihn für ernstlich krank halten, geistig und seelisch. Dabei war diese Liebe so natürlich, so selbstverständlich. Nein, Julie würde Schwierigkeiten machen, ihn nicht fahren lassen, nicht aus Sorge um die Schülerin, die würde sie niemals als gefährdet ansehen, die zählte nicht mit als Frau. Aber ihn würde sie für geistesschwach durch Überanstrengung halten und – nein, nein, sich nicht lächerlich benehmen! Nicht folgeschwere Wichtigkeiten aus dieser Liebe machen, sie nicht aufbauschen durch Wort und Bekenntnis.

Da sprach Julie. Sie beichtete. Beichtete Erkenntnisse, zu denen sich ihre Angst und Sorge um ihn in wachen Nachtstunden durchgerungen hatte. Sagte Dinge, die nur ihre Klugheit sprach, gegen die ihr Gefühl sich empörte. »Es ist sicher sehr gut, daß du wieder einmal von mir wegkommst.«

Er zog sich im Stuhl überrascht von ihr zurück.

»Bleib nur«, es gelang ihr zu lächeln, »ich meine es ganz ehrlich. Ich habe viel über Ehe – unsere Ehe, wenn du willst – in letzter Zeit nachgedacht.«

»Was du so alles heimlich treibst«, scherzte er gequält.

»In den elf Jahren unserer Ehe waren wir immer nur die Tage getrennt, die du mit deiner Klasse an der See warst. Das zählt nicht, da du dort keine Gelegenheit hattest, andere Frauen kennenzulernen.«

»Ich verstehe nicht.«

Er rückte unruhig auf dem Lederpolster umher.

Unbeirrt sprach sie weiter. »Ich wünschte, du könntest ohne die Klasse fahren.«

»Warum?« fragte er betroffen, als wäre er ertappt.

»Damit du ganz frei wärst für ein neues Erlebnis.«

»Ich verstehe wirklich nicht.«

»Ein Mann muß von Zeit zu Zeit Urlaub aus der Ehe haben.«

Bestürzt hörte er seine geheimsten Gedanken.

»Er muß von Zeit zu Zeit aus der ewigen Gleichheit der Gewohnheit herausgerissen werden, muß neue Sehnsucht nach seiner Frau – tanken.«

Sie lachte und hatte sich mit diesem Lachen über sich und ihre Feigheit erhoben. Jetzt wurde sie ganz sie, wie sie gewesen war, ehe die Furcht des Verlustes ihr vornehmes Herz zermürbt und den Adel ihrer Gesinnung getrübt hatte. »Man muß so ein Weibstück ja überkriegen, das einem ewig auf der Pelle sitzt.«

Sie sprach absichtlich burschikos, um sich und ihm die Echtheit ihrer Erkenntnis zu beweisen.

»Aber Julie!«

»Doch.«

»Und die Frau?«

»Frauen sind anders und fühlen anders. Männer sind doch nur wider Willen und wider ihre innerste Natur monogam.«

Er setzte sich straff auf und warf sie beinahe von den Knien. »Wie kommst du hinterrücks zu diesen ehestürzlerischen Ketzereien?«

»So. Frauen sind von Natur einmännig und dankbar für ein gefestigtes häusliches Glück. Mit Ausnahmen natürlich. Aber die Abenteuerinnen unter uns haben wohl alle einen starken männlichen Einschlag. Der Mann aber ist, seiner Bestimmung in der Maschinerie dieser Erde nach, Eroberer. Die sogenannte Kultur hat ihn verweichlicht, entmannt zum Ehemann.«

Er lachte kurz auf.

»Aber der alte Adam steckt doch in ihm und rumort in ihm und will sein altes Naturrecht haben. Er löckt immer noch gegen den Stachel. Wenn er es auch grade seiner Frau aus Ritterlichkeit nicht eingesteht.«

»Habe ich dir jemals Grund…?«

»Nein, aber ich fühle es doch von Zeit zu Zeit in dir durchbrechen.«

»Jetzt zum Beispiel?«

»Vielleicht.«

»Du irrst dich absolut und …«

»Sag nichts. Ich verlange kein Geständnis. Ich weiß nur, wenn wir Frauen klug wären – aber wir sind es leider nicht …«

»Diese Verleumdung widerlegst du schlagend …«

»Laß mich ausreden, sonst verliere ich den Faden und bringe meine neue Weisheit nicht an den Mann, für den sie bestimmt ist.« Sie sprach ganz leicht, aber das Herz war ihr nicht leicht. »Wenn wir Frauen klug wären, würden wir euch gesetzliche Ferien von der Ehe aufzwingen.«

»Julie«, seine Verblüffung ließ sich nicht länger stauen, »was hast du heute?«

»Eine Anwandlung von Verstand und Ehrlichkeit. Man müßte euch Männerbande zwingen, eine gewisse Zeit in jedem Jahr fern von uns auf Abenteuer auszuziehen und eure Eroberer-Instinkte auszutoben.«

Es schien ihm das Vernünftigste, auf ihre Idee einzugehen. »Ein gefährliches Experiment, mein Kind«, überlegte er. »Und wenn das Abenteuer so fesselnd wäre, daß der Mann nach Ablauf der ›Ferien‹ das Wiederkehren vergäße? Was dann, erlauchte Reformatorin?«

»Darin sehe ich keine Gefahr. Ihr, die ihr uns wirklich liebt, würdet bestimmt zurückkehren, und an den andern hätte die Frau nichts verloren. Das ist mein Glaubensbekenntnis. Denn das heißt doch Ehe: Bindungen über das Abenteuer hinaus.«

Er schwieg beklommen. Er wußte nicht, ob es Zufall war, daß sie grade heute abend so sprach. Oder wußte und ahnte ihre Liebe und Größe alles, sah sie in der Schülerin doch eine ebenbürtige Frau und wollte sie ihm die Erniedrigung des Verrates ersparen und ihm ihr Verstehen und Verzeihen mitgeben auf die Reise?

Wieder wollte er bekennen. Er unterdrückte es. Denn er wußte sowenig wie irgendein Mann – ob Weisheiten, die Frauen in hohen Augenblicken sprechen, gelebte Wahrheiten sind oder nur ein Spiel mit Worten, Versuchungen und der Angst in ihrem Herzen.

VII

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Am nächsten Tage änderte sich nichts. Es war, als wäre für Ute alles, was die Nacht gebracht hatte, Spuk aus den Jahrmillionen gewesen. Harmlos munter begrüßte sie ihn, den Verwirrten, beim Frühstück, unbefangen beantwortete sie seine Fragen beim Unterricht. Vergebens wartete er auf einen Lidschlag ihres geheimen Erlebens, auf einen raschen Blick ihres nächtlichen Bundes. Zweifel packten ihn. War alles gestern abend nur ein nichtiges Spiel für sie gewesen, oder war sie so durchtrieben – pfui Teufel, ein gemeines Wort! Nein, sie war so beherrscht und ruhte so fest in sich und ihrer Liebe, daß sie sich und ihn nicht verriet. Ihm fiel es schwer, seine Stimme vor jedem zärtlichen Unterton zu behüten, wenn er sie ansprach.

Mittags schwamm sie wortlos neben ihm hinaus. Er sprach nicht. Wenn sie wirklich sein Bekenntnis im Nachtwind verhallen lassen wollte … doch grade da hob sich die blaue Badekappe aus dem Wasser, ihr nasses, von der Kraftleistung gerötetes Gesicht wandte sich ihm zu.

»Hier draußen kann ich Ihnen endlich danken für das, was Sie mir gestern abend gesagt haben«, rief ste über die Wogenkämme hin. »Es hat mich tief beglückt.«

Er antwortete: »Ich danke dir für das, was du mir gegeben hast. Es war das große Wunder meines Lebens.«

Dann schwammen sie zurück.

Am Abend erwartete er sie vergeblich im Strandkorb. Als sie sich wegstehlen wollte, traf sie auf Esther Mayer, die sie zu einem Spaziergang mit einigen anderen einlud. Es war eine helle Mondscheinnacht.

Sie konnte nicht ablehnen, ohne Verdacht zu erwecken. Man schritt die weiße Landstraße hinab. Der Strand war abends unbeliebt. Er galt als kalt, unheimlich und nicht ganz geheuer.

Ute hielt wacker mit den anderen Schritt. Man marschierte eingehakt und nahm die ganze Breite der Chaussee ein. Sie sang die Soldaten-und Studentenlieder mit und plauderte mit. Doch ihre Sinne blieben zurück bei dem einsamen Strandkorb vorn an der See. Sie wußte ohne Verabredung, daß er sie erwartete. Ihn zu enttäuschen erschien ihr Treubruch.

Die Rede kam, wie immer, wenn einige seiner Oberprimanerinnen beisammen waren, auf Just. »Was treibt der denn jetzt abends immer? Er hat sich doch so selten gemacht?« fragte eine Gekränkte. »Der hockt in seinem Zimmer und kliert ein neues Buch über ›Karlchen Miesnick und sein Einfluß auf die Schule‹«, antwortete eine Lustige. Alles lachte. »Woher weißt du, daß er schreibt?« zweifelte später eine Ungläubige. »Ich hab’s von der Oberin. Der hat er es gestanden.«

Er hat vorgebeugt, lächelte Ute in sich hinein und biß gleich darauf die Zähne zusammen in Zorn und Schmerz, daß sie ihn warten ließ. Als sie heimkamen, wollte sie ihm ein Zeichen geben, daß sie mit den andern war und sich nicht loslösen konnte. Seine Klugheit würde sofort alles erraten. Sie sandte einen gellen Jauchzer zum Himmel. Das Beispiel zündete. Ein Feuerwerk junger Stimmen prasselte auf.

Just hörte es und begriff sofort. Sein Groll verpuffte. Er hatte sie zuerst mit knabenhafter Erwartung und Ungeduld, dann mit Erbitterung und eingebildetem Verzichten erharrt. Hatte auf jedes Sträuben des Sandes, auf jeden Laut der Nacht gelauscht, hatte immer gemeint, sie zu hören. Hatte alle Strandkörbe abgesucht und war dann in den kalten zornigen Schmerz des Zurückgewiesenen versunken.

Sie wollte keine Wiederholung, keine Fortsetzung. Sie hatte seine Beichte höflich quittiert. Die Sache war erledigt. Sie hatte sich bedankt – sie bedankt sich für meine Liebe. Das Wortspiel tat seiner Bitterkeit wohl. Aber er begriff sie nicht und wußte, daß er ihr unrecht tat.

Das Signal riß ihn zu ihr zurück.

Am folgenden Tag war das Schwimmen unmöglich geworden. Die See ging hoch. Die Wellen hatten der Nordsee zur Ehre gereicht. In den weißen hohen Brechern, dicht am Strand, tummelten sich viele mit Geschrei. Doch jede Möglichkeit des Alleinseins zwischen ihr und ihm fehlte.

Am Abend gelang es Ute zu entschlüpfen. Er hörte ihren Schritt sofort, trotz der Dämpfung in dem losen Sand.

Sie streckte ihm leidenschaftlich beide Arme entgegen. Er nahm ihre Hände und zog das Mädchen an sich. Sie taumelte nieder auf die Knie, vor ihm in den Sand, und so küßten sie sich lange, lange. Wieder spürte er diesen sonnenwarmen Hauch von wogendem Korn ihrer Haut entströmen. Sie lag gegen seinen Körper gelehnt, er hielt sie fest umschlossen. Heute war er der Führende.

Dann saßen sie nebeneinander, umhegt von dem schirmenden Wall des Korbes, Hand in Hand, und sagten einander all die Worte, die ewig sind und bleiben wie das Meer, die Worte, die durch die Jahrmillionen von den Lippen aller Menschen tropfen, wenn sie sich lieben und es sich gestehen. Sinn und Inhalt dieser ersten Laute des Findens bleiben immer die gleichen über die weite Erde hin, ob er und sie klug ist, ob beschränkt, ob arm, ob reich, ob er ein weiser Lehrer und Erzieher der Jugend und sie ein zur Liebe verwundert erwachendes junges Weib und seine Schülerin ist.

Als Vernunft wiederkehrte, erzählte sie auf sein Verlangen von sich und ihren Eltern.

»Wem siehst du ähnlich?«

»Mutter und Vater, glaube ich. Ich bin vom großen Mixer Natur gut gemischt«, lächelte sie, noch in der Verklärung seiner Küsse.

»Von wem hast du deine warmblütige Intelligenz?«

»Jetzt müßte ich bescheiden tun und ›oh‹ sagen. Aber ich kann mich nicht zieren.«

»Sollst du auch nicht. Paßt gar nicht zu dir.«

»Daß du mich liebst, ist ja schon das höchste Zeichen meiner Begabtheit«, scherzte sie.

Hier war Zwang und Gelegenheit zu neuen Küssen. Sie fügten sich und nahmen sie wahr.

Dann berichtete sie ernsthafter: »Vater ist Maler, Mutter Ärztin.«

»So?« rief er überrascht. »Daher!«

»Was daher?« echote sie.

Er staunte über ihre sprudelnde Gelöstheit. In ihm war die Liebe schicksalhaft und tragisch. In ihr brach eine Froheit durch, die er nie vorher an ihr bemerkt, noch in ihr geahnt hatte.