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°luftschacht

In Flugobst entführt uns Roman Israel nach Klarabach, in die frühen 1990er. Die Wende hat das verschlafene Bergkaff an der deutsch-tschechischen Grenze ganz schön mitgenommen: Für die Alten gibt es keine Arbeit, für die Jungen kaum Perspektive. Überall wimmelt es plötzlich von Nachwende-freaks – Techno-Omas, Raketenbastler und T-Rex-Punks. Einstige Jobmotoren sind dicht, indes schießen aber Autohändler und Spielbanken wie Pilze aus dem Boden. Abrissbagger fressen sich durch die Stadt. Altes weicht, Neues entsteht in rasantem Tempo und Existenzgründer reiben sich die Hände. Der jüdischstämmige Wolf Czeschlak nutzt die Gunst der Stunde, um sich mit einem Paradiesfrucht-Stand auf Rädern selbständig zu machen. Das Geschäft brummt, vor allem weil sein Partner Gert den Umsatz mit reißerischen Verkaufsperformances in die Höhe treibt – zumindest bis ein Todesfall die Kleinstadt gehörig durcheinanderbringt …

Mit viel Liebe zu seinen Figuren erzählt Israel eine unkonventionelle Vater-Sohn-Geschichte inmitten der Provinz: Humorvoll spürt er den kleinen Absurditäten des Alltags nach, ohne dabei seine Protagonisten jemals der Lächerlichkeit preiszugeben.

ROMAN ISRAEL, *1979 in Löbau, studierte Physik, Germanistik und Philosophie in Dresden. Lebt als freier Schriftsteller in Berlin und Leipzig. Aufenthaltsstipendien u.a. in Krakau und Prag.

Titel bei Luftschacht:

Caiman und Drache (Roman, 2014)

Flugobst (Roman, 2017)

Roman Israel

Flugobst

Roman

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© Luftschacht Verlag – Wien

Alle Rechte vorbehalten

1 Auflage 2017

Die Entstehung dieses Werkes wurde durch ein Stipendium der Kulturstiftung Sachsen ermöglicht.

luftschacht.com

Umschlaggrafik: Inga Israel – ingaisrael.de

Satz: Luftschacht

Gesetzt aus der Scala

ISBN: 978-3-903081-09-3

ISBN E-Book: 978-3-903081-63-5

Inhalt

IBusiness und Binsen

IIWie der Stumme zum Blinden kam

IIISüdlich des Yukon

IVZombies ab zwölf

VBedrohte Tiere

VIFest ins Auge geblickt

VIILeben beginnen von selbst

VIIINo-Gos to go

IXHerrin des Wassers

XEin Mensch, ein Mensch, es geht vorbei

XIÜber Land

XIIIm Land der Raketen

XIIIStatisten des Aufstiegs

XIVEinfach nur wir

XVWarme Füße

XVIWhat’s about Frau K.?

XVIIDer Fall Paradies

XVIIIVorne und hinten

XIXVon fernen Dingen

XXRäumbefehl

XXIAlbedo

I

Business und Binsen

Das ist der 11. September, ein Markttag wie jeder andere, aber einer mit mehr Appetit. Von Wurst-Womatsch und was mit Honecker geschah. Von der schönen Blumen-Karla, ihrem Hang zu Klaviermusik und zum Neandertal. Von Gemüse-Gert und einem dreckigen Deal. Von Captain Gorgy und warum Wolf eine Auszeit nahm. Wer seinen Namen groß machen will, wird ihn verlieren. Hier ist der 11. September. So ist er passiert.

11. September 1990

Wolf zog den Hänger von der Kupplung und bockte ihn auf. Er sah die LKW am Transitübergang Schlange stehen. Nicht selten reihten sich hier fünfzig oder mehr Fahrzeuge hintereinander. Heute waren es aber deutlich weniger. Wolf baute über dem Anhänger das Gerüst für die rot-weißgestreifte Markise auf und befestigte das Schild, auf dem der Name seines Geschäftes, Banana Jones, geschrieben stand. Dann hob er die Kisten in den dreistufigen Rahmen, damit die Kunden später besser nach den Früchten greifen konnten. Davor stellte er einen Campingtisch. Für seine Bestseller – Bananen und Saisonobst. In der Sommersaison sind das Litschis, Ananas, Kiwis, Mangos und Melonen.

Als Wurst-Womatsch mit seinem Stand eintraf (eine rollende Fleischtheke mit Plastikwurst auf dem Dach), gingen bei Wolf schon die ersten Bananen über den Tisch.

„Moin, Wolf“, rief Womatsch. Er schien nicht gut geschlafen zu haben. Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen und er musste reichlich oft gähnen. „Schon gehört?“ Er wedelte mit der Morgenpost. Die Titelseite zierte das Seitenprofil eines weißhaarigen Typen. „Ist das Honecker?“, fragte Wolf. „Ist der endlich tot?“

„Quatsch“, sagte Womatsch. „Das ist Pichow.“

„Pichow? Ist der wenigstens tot?“

„Im Gegenteil. Der ist quicklebendig und will die Stadt verklagen.“

„Verklagen? Wegen was denn?“ Wolf gab einer Kundin das Wechselgeld heraus und packte die Ananas und die Kakis in eine Tüte. „Lassen Sie sich’s schmecken, schöne Frau!“

„Pichow macht gerade einen auf Opfer. Er behauptet, er sei enteignet worden. Damals. Irgendwann!“ Womatsch schüttelte den Kopf. „Fünfzigtausend DM Entschädigung fordert sein Anwalt. Was glaubst du? Ob er damit durchkommt?“

„Ach was, der kriegt keinen Pfennig.“

Wolf wandte sich einer beleibten Frau mit Kopftuch zu, die skeptisch auf einigen Kiwis herumdrückte und eine Auskunft bezüglich der Haltbarkeit dieser Früchte haben wollte. „Von Anfang an in den Kühlschrank legen, dann sind bis zu zwei Wochen drin“, erklärte ihr Wolf. „Zwei Wochen? In zwei Wochen bin ich vielleicht schon tot“, scherzte die Frau und kaufte zehn Stück.

Wolf spürte die Müdigkeit in seinen Knochen, die sich wie ein Muskelkater anfühlte. An jedem zweiten Tag quälte er sich nun um zwei Uhr morgens aus dem Bett, flößte sich einen Viertelliter Bohnenkaffee ein und fuhr zum hundert Kilometer entfernten Dresdner Großhandel für Obst und Gemüse. Vier Stunden dauerte so eine Fahrt, zwei hin, zwei zurück. Noch etwas flotter war man natürlich auf der Autobahn, aber die Landstraße sparte jede Menge Nerven. Das Obst schaffte er dann in seine Gartenlaube, die ihm als Zwischenlager diente. So sparte er sich dienstags und donnerstags eine Fahrt. Dass sein Trabi das nach all den Jahren noch mitmachte, grenzte fast an ein Wunder. Manchmal hatte er sich schon vorgestellt, wie bei ihm die Bremsen versagten und er sich mit all dem Obst spektakulär überschlagen würde. Das Obst würde dann mit ihm zusammen den Hang hinabrutschen und dabei zu Mus werden.

Ein Mann verlangte Zwetschken. Exakt einundvierzig Stück. Nein, ein paar mehr dürften es keinesfalls sein, schon zwei mehr seien zu viel. Exakt einundvierzig bräuchte er, um seinen Blechkuchen zu backen. Er habe beim letzten Mal genau mitgezählt. Wolf zählte ihm die Früchte in eine Plastiktüte und beschwerte seine Balkenwaage mit Gewichten. Mit dem Taschenrechner rechnete er den Preis aus. „Macht drei fünfundfünfzig, bitte.“

„Was? So teuer? Da schau ich lieber erstmal bei der Konkurrenz.“

Wolf sah wieder zu Womatsch hinüber. Er war immer der Meinung, dass der etwas von einem Neandertaler hatte. Diese breiten Schultern und der brachial-anarchische Gang. Womatsch half Blumen-Karla beim Aufspannen des Sonnenschirms. Wolf starrte Karla aufs Hinterteil, das in einer engen Leggins steckte. Es war eine regelrechte Wucht. Maximale Erotik! Er leckte sich über die Lippen. Wäre Karla bloß nicht so ekelhaft intelligent. Er konnte sich nicht helfen, aber das war sie tatsächlich. Diese versnobten Späße, die nur Akademiker verstanden, diese grotesken Pointen, der rabenschwarze Humor! Was zum Teufel war eigentlich los mit dieser Frau? Aber genau das machte sie so begehrenswert. Er ging zu den beiden hinüber und ging Womatsch zur Hand, obwohl der Schirm längst aufgespannt war.

„Pfoten weg“, röhrte Womatsch, der gerade dabei war, den Schirm nach der Sonne auszurichten. „Ich kriege das selber hin!“

„Dankeschön“, sagte Karla, als es vollbracht war, und dehnte dabei das a extrem in die Länge. „Das ist sehr nett von dir.“ Sie lächelte charmant und nahm die silberne Brille von der Nase, um sie an ihrer Schürze abzuputzen. Ihr Mann würde ihr daheim auch immer helfen, sagte sie. Sie sei wirklich sehr glücklich mit ihm. Eigentlich sogar sehr, sehr glücklich. Eigentlich? Wieso nur eigentlich? überlegte Wolf. Wenn Frauen ‚eigentlich‘ sagten, da war doch was im Busch. Wolf ließ seinen Blick über ihren Unterkörper wandern. Alles dran! Alles fest! Kein Makel! Doch plötzlich war Kundschaft da. Wolf musste an seinen Stand zurück.

Während einer seiner Kunden die spanischen Bergpfirsiche in Augenschein nahm, begann Wolf die Nektarinen nach Farbschattierungen zu ordnen.

Etwas später hatte sich der Himmel eingetrübt. Eine Böe hob Karlas Sonnenschirm aus dem Betonfuß und wehte ihn ein Stück davon. Diesmal war Wolf als Erster zur Stelle und half ihr ihn zusammenzufalten. Womatsch drohte ihm mit der Faust. Karla streifte Wolfs Arm und sie sahen sich für einen Moment in die Augen. Aus der Ferne war leises Donnern zu hören. Von Westen her zogen dunkel gefärbte Gewitterwolken heran, was zur Folge hatte, dass es auf dem Marktplatz schnell einsam wurde. Die Kunden zerstreuten sich in alle Winde, um sich vor dem Regenschauer in Sicherheit zu bringen.

Wolf deckte seinen Stand mit einer wasserdichten Armeeplane ab und schlug zur Sicherheit noch ein paar Heringe in den Boden, damit sie nicht weggeweht wurde. Karla hatte sich schon in ihren Bus zurückgezogen und versteckte ihr Gesicht hinter einer Frankfurter Allgemeinen. Der Wind fuhr in die Kronen der Kastanien, die um den Marktplatz gruppiert waren. Die Äste bogen sich und warfen Babykastanien ab. Vögel hatten vorsorglich das Zwitschern eingestellt. Im Westen hatte sich eine gewaltige grauschwarze Wolkenfront aufgebaut, vor der ein paar weiße Nebelschleier hingen. Plötzlich ging der Regen los. Wolf spannte schnell seinen Schirm auf. Wasser suppte durch seine Sandalen, und seine Strümpfe wurden nass. Es blitzte. Einige Sekunden später setzte der Donner ein. Der Regen wurde heftiger, das anfängliche leise Brausen ging nun in ein Prasseln über.

Wolf rannte zu Karlas Bus und stieg auf der Beifahrerseite ein, während er den Schirm zusammenfaltete. Aus dem Radio tönte klassische Klaviermusik. Wasser tropfte von seiner Stirn und lief über seine Wange bis zum Hals. Karla ließ sich viel Zeit, um die Zeitung zusammenzufalten und ihren Blick auf Wolf zu richten. „Du nimmst dir ganz schön was raus“, sagte sie, als hätte sie etwas anderes erwartet.

„Ja“, erwiderte Wolf.

„Fühlst du dich nicht sicher in deinem Trabant?“ Sie lachte abfällig. Schwere Tropfen schlugen auf das Dach und einige Blitze erhellten den Himmel, auf die ein Grummeln folgte.

„Ich wusste, dass du kommst“, sagte sie.

„Ich auch.“

Sie strich sich die aschblonden Haare aus dem Nacken und streckte ihre Beine aus. „Wie müssten wir uns bei so einem Gewitter eigentlich verhalten, wenn wir jetzt mitten auf freiem Feld wären?“, fragte sie.

„Wir zwei?“

Sie nickte.

„Hm, möglichst klein machen“, antwortete Wolf, „Kopf einziehen, Füße eng zusammen, damit man den Boden so wenig wie möglich berührt und dann …“

„Auf diese Weise wird man ziemlich nass.“

„Kann schon sein.“

„Aber hier sind wir sicher! Hier müssen wir uns nicht kleinmachen.“

Ein Zickzackmuster riss den rosa aufleuchtenden Himmel in Fetzen. Ein ohrenbetäubendes Röhren schloss sich an, dass sich einem das Trommelfell zusammenpresste. Nachdem es abgeklungen war, hatte sie ihre Wange an seine Schulter gelehnt. Er beugte sich zu ihr und wollte sie küssen, aber sie drehte sich weg. Sie legte ihre Hand auf seinen Hosenschlitz, und sein Schwanz wurde steif.

Hagelkörner prallten gegen die Scheibe. Sie schob ihre Leggins ein wenig herunter, um Platz für Wolfs Hand zu schaffen, die sie sanft streichelte.

„Okay so für dich?“ Sie war unten nicht rasiert, das machte ihn scharf. Er spürte einen leichten Stich im Herz, als sie „Okay“ hauchte. Sie drückte ihr Gesäß tiefer in den Sitz und legte den Kopf auf der Nackenstütze ab. Ihre Zungenspitze hatte sie zwischen die leicht geöffneten Zähne geklemmt. Leicht stöhnend schloss sie die Augen und flüsterte: „Hilf mir beim Kommen!“ Als er die richtige Stelle gefunden hatte, begann sie schwer zu atmen. „Ja“, wisperte sie, das zweite Ja zog sie in die Länge. „Nicht aufhören!“ In ihrem Gesicht und am Hals zeichneten sich rote Flecken ab. Dann schob sie Wolfs Hand weiter nach unten in Richtung ihrer Schenkel, während ihre Finger dort weitermachten, wo Wolf soeben aufgehört hatte. Sie richtete sich ein wenig auf und half Wolf, seinen Finger in sie hineingleiten zu lassen. Schwül war es da drin und angenehm, fand Wolf. Mit leichten Stößen drang er vor, ohne zu tief in sie einzusinken, was ihren Atem flacher werden und in ein Hecheln übergehen ließ. Ihre Finger bewegten sich jetzt schneller und auch Wolf wurde schneller. Bald presste sie den Atem stoßweise aus sich heraus und stieß schwache Lustschreie aus. Wolf war mit jeder Bewegung tiefer in sie eingedrungen. Er spürte, wie sich ihre Muskeln anspannten, wie sich ihr ganzer Körper anspannte und wie sie ihre Beine zusammenpresste, bis sie einen hohen langen befreienden Seufzer hervorbrachte. Einen Moment sah er in ihre weit aufgerissenen Augen – ein göttlicher Moment, der ihn selbst in höchste Ektase versetzte. Er war noch in ihr, aber sie hatte ihre Beine zusammengepresst, sodass er seine Hand nicht mehr bewegen konnte. Wieder wollte er sie küssen, aber sie drehte sich abermals weg. Wenigstens biss sie ein wenig an seinem Ohrläppchen herum. Ihre Lippen waren ganz warm. Ihr kleines Bäuchlein bewegte sich schnell auf und ab, bis ihre Atmung sich wieder beruhigte und ihre schwitzenden Schenkel seine Hand freiließen. Ein paar Haare klebten an ihrer feuchten Stirn fest. Er strich sie zur Seite und wollte sie streicheln, aber sie wollte nicht. „Nein“, sagte sie und weinte, ob aus Freude oder aus einem anderen Grund, wusste er nicht. Draußen wurde der Regen langsam schwächer. Die Scheiben waren von innen beschlagen. Sie kurbelte das Fenster auf der Fahrerseite herunter. Frische Luft drang durch den schmalen Spalt. Man hörte, wie Regenwasser neben dem Bus in einen Gully floss. Ein Martinshorn war in der Ferne zu vernehmen. Das Geräusch wurde lauter und entfernte sich wieder.

Als nur noch wenige Tropfen fielen, stieg Wolf aus. Noch immer war es schwül. Er wusch seine Hand, die eben noch ein Teil von Karla gewesen war, in einer Pfütze und ging zu seinem Stand zurück, wo er die Plane zurückschlug. Zehn Minuten vergingen, bis er Karla aussteigen sah. Und plötzlich war die Kundschaft zurück. Ein Mann im blauem Regencape stand vor ihm, um nach Hokkaidō-Kürbissen zu fragen. Wolf musste ihn enttäuschen, Hokkaidōs hatte er heute nicht. Er sah zu Karla, die ihren Sonnenschirm gerade wieder aufbaute – diesmal allein. Er sah sich nach Womatsch um, aber der blätterte gerade in einem Magazin für Angelbedarf. Womatsch hatte nichts mitbekommen. Das war gut so.

Gegenüber war mittlerweile Gemüse-Gert eingetroffen und baute seinen Stand auf. Er war immer zu spät dran. Trotzdem war Gert gefürchtet, er war ein Meister der Kundenakquise. Wenn Preise dafür vergeben würden, hätte Gert seinen Platz auf dem Siegertreppchen sicher. Er war noch nicht einmal fertig mit dem Aufbauen, da ging es auch schon los: „Liebe Leute, liebe Leute, das ist heute nicht normal, dieser Preis. Kommt, heute dabei: Paprika dabei – Paprika gegen Magenprobleme, gegen Blähungen, Mundgeruch. Blumenkohl dabei. Blumenkohl gegen die Gicht, wer hat sie nicht. Das ist nicht normal. Kommt, ich geb einen aus. Nicht eine, nicht zwei, sondern drei Gurken heute dabei. Kommt hier. Alles für fünf deutsche Mark. Nicht mehr und nicht weniger. Fünf deutsche Mark!“ Die ersten Menschen blieben stehen und die Gemüse wechselten den Besitzer. „Ich muss vollkommen bekloppt sein, Leute, das alles für nur fünf Deutsche Mark, fünf Deutsche Mark. Hier, bitteschön. Ich weiß nicht, was meine Frau dazu sagen würde, aber ich lege noch eine Aubergine dazu. Eine Aubergine, liebe Leute, ich bin vollkommen irre, drei Gurken, ein Blumenkohl und eine Paprika dabei, alles für sage und schreibe fünf Deutsche Mark. Ich mach mich arm. Und komm, hier, noch eine Zucchini dabei, drei Zucchini für fünf Deutsche Mark, alles zusammen in diesem Eimerchen. Alles mit an Bord, verwöhnen Sie Ihre Männer, verwöhnen Sie Ihre Damen. Machen Sie Eintopf heute Abend! Hier kommt, ein Mal, zwei Mal, drei Mal Suppengrün dabei und noch Kartoffeln obendrauf.“ Schaulustige klatschten Beifall. Eimer um Eimer ging über den Tisch. Gert hatte in wenigen Minuten mehr verkauft als Wolf in einer ganzen Stunde. „Leute, ich muss total verrückt sein, aber hier ist alles fast geschenkt. Meine Damen, meine Herren, jetzt zugreifen. Hier kommen Sie, machen wir noch etwas Gesundes dazu, nein, nicht nur Gemüse. Warum nicht mal ein Dessert. Warum nicht einen Beutel voll Bananen von Banana-Jones mitnehmen, gleich hier gegenüber, gibt’s gratis dazu, nicht? Alles für fünf Deutsche Mark“, er sah zu Wolf hinüber, der schüttelte den Kopf. „Bist du bekloppt?“, rief er Gert zu. „Ja, ich bin bekloppt“, antwortete dieser. „Ich und Banana-Jones, wir sind total bekloppt. Alles zusammen für nur fünf Deutsche Mark.“ Wolf war ratlos. Die Leute rissen ihm einfach die Bananen aus der Hand ohne zu bezahlen. „Sehen Sie, meine Damen, meine Herren. Wir sind uns einig geworden. Wir sind noch immer bei fünf Mark, meine Damen und Herren. Fünf Deutsche Mark und keinen Pfennig mehr. Wir sind bei fünf Deutsche Mark, fünf Deutsche Mark für gute Laune, alles drin im Eimer. Wo gibt’s denn sowas, einen Eimer Grünzeug und die Bananen gibt’s gratis dazu? Nur fünf Deutsche Mark.“ Vor Wolfs Stand hatte sich eine Schlange gebildet. Er sah Gert fragend an, dem die Eimer aus der Hand gerissen wurden, als stünde ein Hungerwinter bevor. „Geht in Ordnung“, rief ihm Gert zu, „die haben schon bei mir gezahlt. Wir einigen uns dann später!“

„Später?“

„Ja, später. Wann sonst? Jetzt geht’s ja nicht.“

Wolf hatte keine Wahl. Seine Bananenkisten wurden geplündert, jeder konnte sich frei bedienen. Zehn Minuten später waren alle Kisten leer und er ging zu Gert, um seinen Anteil einzufordern. „Erst mal nimmst du dir einen Sack Kartoffeln mit“, sagte Gert, „und hier, komm, noch drei Gurken dazu.“

„Ich scheiß auf deine Gurken. Was ist wegen Moneten?“, fragte Wolf.

„Machen wir ein anderes Mal, okay?“

Zornig blickte Wolf ihn an. Wenn Gert das alles nur spielte, spielte er verdammt gut.

„Mensch, Wolf, Wölfchen“, Gert sprang vom Hänger, drückte ihm einen Eimer mit Gemüse in die Hand und klopfte ihm auf die Schulter. „Wölfchen, Kumpel. Ich hab Kasse gemacht und du hast Erfahrungen gesammelt, neue Kunden hinzugewonnen, ist das nichts? Das lässt sich nicht mit Geld bezahlen.“

Wolf wurde giftig. „Scheiß auf dich“, sagte er, „überleg mal, wovon soll ich jetzt neue Ware kaufen, wenn ich nichts in der Kasse habe?“

„Wölfchen, locker bleiben“, sagte Gert. „Ist ja okay. Alles gut! Hier!“ Er drückte ihm ein paar Scheine in die Hand. „Dafür nimmst du jetzt die Tüten hier und packst die mit Bananen, Ananas und dem ganzen anderen Scheiß voll. Mach einen festen Preis, fünf Mark, du musst immer fünf Mark machen, die Leute rechnen nicht nach. Die sehen prallgefüllte Tüten mit Obst und denken: Das alles gibt’s für nur fünf Mark? Sparen ist saugeil! Verstehst du, die wissen nicht, wie viel das wirklich kostet, was da drin ist. Wir legen den Laden zusammen, ein Eimer Gemüse, ein Beutel Obst, und lassen das zusammen einen Zehner kosten. Fifty-fifty. Ich sag dir, du wirst profitieren.“ Wolf zählte die Scheine nach, die Gert ihm gegeben hatte.

„Das ist Beschiss.“

„Wolf, kapierst du nicht. Du hast eine Idee gekauft. Du wirst in jedem Fall profitieren. Sieh ihn dir an.“ Er zeigte auf seinen Mercedes. „Du wirst reich.“

„Und was ist mit meinen Stammkunden?“

„Cool bleiben, Wolf. Dinge, die von selbst passieren, über die denkt man nicht nach! Wozu brauchst du noch Stammkunden? Wir packen die Tüten voll. Kein lästiges Wiegen, kein Antatschen der Ware, kein dummes Gequatsche. Alles kostet ’nen Fünfer. Du wirst sehen, das geht wie warme Semmeln.“ Gert reichte ihm die Hand. „Abgemacht?“

„Was, abgemacht?“

„Dass wir die Stände zusammenlegen. Hast du nicht aufgepasst?“

Wolf zögerte.

„Kundschaft!“, rief Gert. Er gab Wolf einen leichten Schubs. Eine Oma hielt ihren Rollkoffer auf. „Vollmachen“, rief sie. Eine halbe Stunde packte Wolf Tüten voll und eine halbe Stunde später war alles, sogar die Limetten, verkauft. Die Kasse quoll über, und es war längst nicht Mittag, und diesmal musste gar nichts weggeworfen werden. Wolf plättete die Kartons und packte die Kasse weg.

„Willst du schon aufhören?“, rief Gert.

„Was soll ich machen“, sagte Wolf. „Ich hab nichts mehr. Ausverkauft.“

„Dann dalli, hol was aus dem Lager, ich halte solange die Stellung.“

„Wenn ich jetzt schon das Lager plündere, kann ich morgen nichts mehr verkaufen.“

„Bist du nicht ganz bei Trost? Wenn du verkaufen kannst, dann musst du verkaufen. Dann holst du halt Nachschub morgen. Was ist schon dabei? Wenn die Kasse klingelt, lässt du sie klingeln. Verstanden!“

„Sonst fahre ich aber nur jeden zweiten Tag zum Großhandel.“

„Verdammt nochmal, muss man euch Ossis immer in den Arsch treten? Willst du Business oder in die Binsen gehen? Komm, Wolf, hau ab, hol das Zeug aus dem Lager, bevor ich mich vergesse. Ich pass auf deinen Hänger auf. Hier!“, er warf ihm die Schlüssel rüber, „nimm meinen Wagen, biste schneller als mit deiner Pappkiste.“

Die Schlüssel waren in den Kies gefallen. Wolf war ein schlechter Fänger. Er bückte sich und sah durch seine gegrätschten Beine Karla. Die schwatzte gerade einem jungen Punk einen Strauß Rosen auf. Herrlich, sie lächelt wieder, dachte er. Dann stieg er in Gerts weißen Mercedes. Er trat die Kupplung und legte den Gang ein. Der Motor heulte laut auf, als er aufs Gaspedal trat. Kieselsteine flogen beiseite. Gert rief ihm noch hinterher, er solle vorsichtig fahren, doch Wolf hörte ihn nicht mehr. Er nahm die Hauptstraße und bog in die Senftenberger ab. Das Gewitter war nach Südosten abgezogen. Die Berge lagen im Nebel.

Im Garten trafer seinen Gartennachbarn Gorgy, der am Zaun lehnte. Sie waren gemeinsam in die Schule gegangen. Danach hatten Wolf und Gorgy sich aus den Augen verloren. Während Wolf eine Lehre als Weber im ehemaligen Volkseigenen Betrieb VEB Buntspecht begann, schwankte Gorgy von einer Anstellung zur nächsten. Als Lagerarbeiter, Gebäudereiniger, Fensterputzer, Taxifahrer und auf dem Bau hatte er es versucht, bis er eine Anstellung als Briefträger fand. „Was machst du denn schon hier?“, fragte Gorgy. „Musst du nicht arbeiten?“

„Bin gleich wieder weg. Und was ist mit dir? Warum bist du schon da?“, fragte Wolf.

„Ich hab jeden Tag Punkt zwölf Schluss.“

„Das ist vielleicht ein Leben.“

Wolf schloss das Gartentor auf. Vor allem wegen der Kin der hatten sie sich den Garten zugelegt. Erst später hatte Wolf die Idee, ihn auch als Zwischenlager für seinen Obststand zu nutzen. Carola hatte sich damals in die mit Kletterrosen umrankte kleine Laube verliebt. Sie wollten sich eine Hollywoodschaukel zulegen und einen Grillofen und einen kleinen Pool, in dem man sich bei heißen Temperaturen abkühlen konnte. Doch nichts davon war bisher in die Tat umgesetzt worden. Ihr Vorbesitzer, Herr Luban, kam damals schon ein wenig tattrig daher. Er wollte den Garten vor allem aus gesundheitlichen Gründen loswerden. Er war damals geschätzte Achtzig und jetzt vermutlich schon längst tot. Sein Bart hatte dem von Karl Marx geähnelt. Im Grunde gab es nichts zu verhandeln. Sie waren die einzigen In teressenten. Luban wollte verkaufen, egal zu welchem Preis. Am liebsten hätte Wolf gar nichts dafür bezahlt. Die Laube war in einem schlechten Zustand. Der Dachfirst bog sich durch und der Teer warf Blasen, die an kleine Kamelhöcker erinnerten. Die Laube stammte aus den Dreißigern. Kleine Instandsetzungsarbeiten seien da die Regel, sagte Luban, der sich selbst nicht daran gehalten zu haben schien. Die ganze Hütte, anders konnte man dieses Hexenhaus nicht nennen, war ein einziges Wrack. Als Luban einen Preis vorschlug, fünfhundert Mark, fand Wolf diesen deutlich übertrieben. Die Laube war ja keine fünfzig wert, man würde sie abreißen und eine neue errichten müssen. Doch Caro rief beschwingt: „Na, ich würde sagen, da müssen wir nicht lange überlegen. Da schlagen wir glatt zu, oder Wolf?“ Natürlich hätte man sich das noch einmal überlegen sollen, fünfhundert Mark waren kein Pappenstiel, und wenn man bedachte, welche Arbeit da auf sie zukam. Aber gegen ihre leuchtenden Augen kam Wolf nicht an. Luban wies noch auf die erst kürzlich gepflanzten Pfingstrosen hin, die dem Garten einen unvergleichlichen Charme verliehen. „Die sind das Tüpfelchen auf dem i.“

„Himmlisch“, sagte Carola. „Wirklich himmlisch. Fünfhundert sind voll in Ordnung!“ Ihr Entschluss stand fest: „Ich fahre schnell zur Sparkasse und hole Geld. Wolf bleibt hier!“

„Ich weiß nicht“, sagte Wolf.

„Meinen Glückwunsch“, sagte Luban. „Darf ich Ihnen gleich mal Ihren Nachbarn vorstellen? Dort kommt er gerade.“ Wolf erkannte ihn sofort wieder. Es war Gorgy Metschke, der hinter der Hecke auftauchte. Sie hatten sich viele Jahre nicht gesehen.

Wolf schloss die Laube auf und öffnete die Bodenluke, um nach dem Obst zu sehen, das er heute Morgen dort verstaut hatte. Erst vor ein paar Monaten hatte er diesen Keller gegraben, der sich wirklich bezahlt gemacht hatte. Da unten war es immer schön kühl.

Jemand klopfte an die Fensterscheibe. Es war Gorgy. „Hab noch bisschen Eintopf übrig, Wolf, Erbsen! Komm, wir essen was zusammen. Das heißt: Du musst nicht.“

„Nee, geht nicht. Ich hab’s eilig, Gorgy“, rief Wolf zurück, doch als der herrliche Duft in seine Nase stieg, entschied er sich um. Es war ihm egal, ob Gert auf ihn wartete. Er hatte Hunger. „Ich koste mal was. Ich liebe Erbsen. Die blähen so schön.“

Er ging in Gorgys Garten rüber und nahm auf einem Campingstuhl Platz. Gorgy holte einen Hocker, der als Tisch diente, und stellte zwei dampfende Schüsseln mit Erbseneintopf darauf. Wolf musste zugegeben, dass Gorgy verdammt gut kochen konnte. „Wie machst du das bloß?“, fragte er.

„Alles eine Frage von Gewürzen. Die meisten vergessen Majoran dranzumachen.“ Gorgy ließ seine Hand in das Beet mit den Küchenkräutern wandern und nannte die Namen von einigen Kräutern. „Petersilie, Dill, Bohnenkraut, Minze, Zitronenmelisse, Schnittlauch, Senfrauke. Gibt jedem Gericht das gewisse Etwas. Koste mal!“

„Und das ist alles in diesem Eintopf drin?“

„Du liebe Güte, nein.“

Wolf löffelte die Erbsensuppe so schnell runter, als sei er bei der Armee. „Das ist echt preisverdächtig, Gorgy. Du hättest Koch werden sollen.“

„Noch’n Schluck, Wolf? Ich mach nochmal heiß.“

Gorgy riss das Feuerzeug an und brachte den Propangaskocher zum Zischen. Ein leichter Wind schaukelte die Blätter der Obstbäume. Ein Flugzeug brummte mit heiserem Ton über ihren Köpfen und stieß einen breiten Kondensstreifen aus, der von Höhenwinden ausgefranst wurde. Eine Amsel flötete verborgen hinter Blättern und wartete die Antwort einer anderen Amsel ab. Als Wolf sich nach dieser tatsächlich antwortenden zweiten Amsel umsah, erspähten seine Augen etwas hinter dem Liguster, etwas aus glänzendem Metall. „Was ist das da?“, fragte er Gorgy. Es sah ja beinahe so aus, als habe Gorgy einen dieser Raketenabwehrschilde, über die die ganze Welt sprach, in seinem Garten installiert. „Gar nicht mal so verkehrt“, erwiderte Gorgy. Das da sei eine Startrampe für Raketen – selbstgebastelte Raketen. Und dann erzählte Gorgy, wie er irgendwann mit Anfang zwanzig damit begonnen hatte, Raketen zu bauen. Anfangs kleine, kaum größer als Silvesterraketen, dann größere, die bis in viele Kilometer Höhe vordringen konnten.

„Schön, aber wozu?“, fragte Wolf.

Zum Beispiel, um Kameras hochzuschießen, die Luftaufnahmen von Klarabach machten, oder von denen da oben. Sein Finger zeigte nach oben, und Wolf folgte ihm.

„Ich glaube nämlich, dass es dort oben jemanden gibt!“

„Das ist doch Humbug“, erwiderte Wolf.

„Du irrst dich. Spielberg hat echt viel kaputt gemacht.“

„Wegen E.T.?“, fragte Wolf und lachte. „Was sollen das dort oben denn für Typen sein? Ob sie auch so behämmert sind wie wir?“

„Sie sind uns ähnlicher, als wir denken, Wolf.“

Gorgy zog sich die Boxershorts bis knapp oberhalb des Bauchnabels hoch. Sie schwiegen eine Weile. „Siehst du die Wolke?“, fragte Gorgy. „Das könnten sie sein. Ihre Raumschiffe sind schwer von Wolken zu unterscheiden.“

„Jetzt hör aber auf, Gorgy. Willst du mir Angst machen? Ich kenn mich doch, wenn du mir sowas erzählst, dann glaub ich am Ende noch dran.“

Gorgy schnupperte plötzlich. „Sag mal, riechst du das auch?“

„Riecht wie angebrannt.“

„Die Erbsen, verdammt!“

Als Wolf zum Markt zurückgekehrt war, wollte Gert von ihm wissen, wo er zum Teufel nochmal gewesen sei. Er habe sich schon Sorgen um seinen Partner gemacht, ja, Wolf habe richtig gehört, sie seien jetzt Geschäftspartner. „Hab schon gedacht, du hast dich mit meinem Benz aus dem Staub gemacht und dabei ist die ganze Ladung bereits verkauft!“ Gert zeigte auf zwei Herren in Bermuda-Shorts, die an einer Limousine mit verdunkelten Seitenscheiben lehnten. „Kannst deine Kisten gleich mal zu ihnen rübertragen!“

„Was sind denn das für Typen?“, fragte Wolf.

„Hoteliers!“

„Und aus welcher Stadt?“

„Aus keiner Stadt“, entgegnete Gert, „von irgendwoher. Spielt doch keine Rolle.“

„Wo soll ich hin mit dem Zeug?“, fragte Wolf den größeren von den beiden Hoteliers. „Vielleicht in den Kofferraum?“ Der schüttelte energisch den Kopf, als wolle er sagen, überallhin, nur nicht in den Kofferraum, da sei natürlich eine Leiche drin. Er öffnete die Hintertür des Wagens. Wolf sah noch einmal unschlüssig zu Gert hinüber. „Mann, nicht lang fragen, Mensch, einfach machen, Wolf!“, sagte der. „Vertraue einfach deinem Partner, und dann machen wir Feierabend für heute!“

Als Wolf fertig war, wollte er sich noch von Karla verabschieden, doch die war längst weg. „Hat sie nach mir gefragt?“, fragte er Gert.

„Wer?“

„Na, Karla, die Blumenverkäuferin.“

„Nicht dass ich wüsste. Die ist kurz nach dir weg.“

„Wo wollte sie denn hin?“

„Bin ich vielleicht Hellseher oder was?“

Das war der 11. September.

II

Wie der Stumme zum Blinden kam

Das ist der 3. Mai. Achtung! Er brachte Folgendes: Andrej Czeschlak zittert um seinen Job und bekommt es mit Yetis, Sternburgs und Puddings zu tun. Ein Ausflug mit einem Blinden. Ein Skisprung ins sprichwörtliche Nichts. Jemand verbirgt sich, aber keiner will ihn suchen. Hier ist der 3. Mai. So ist er passiert.

3. Mai 1994

Andrejs Gespräch mit dem Klarabacher Bauhof verlief sauber und unkompliziert. Es war eines dieser Gespräche, die einem nachher wie Ohrwürmer nicht mehr aus dem Kopf wollen. Am anderen Ende der Leitung war eine ältere Dame mit einer Stimme, die an Miss Piggy aus der Muppet Show erinnerte. Andrej stotterte vor Aufregung. Er stellte sich seine Gesprächspartnerin als weiblichen Orca-Wal vor, das machte es für ihn leichter mit ihr zu sprechen. Er sagte seinen Namen, Czeschlak-Andrej und wiederholte ihn, weil er nicht verstanden wurde. „Von wo rufen Sie an, Herr Czeschlak?“, fragte es aus dem Hörer. „Aus Klarabach.“

Wenige Tage später fing er auf dem Klarabacher Bauhof zu arbeiten an. Noch halb in Trance (er war es nicht gewohnt, morgens um fünf aus dem Schlaf gerissen zu werden) fand er sich in der Bahnhofstraße Nummer 8 ein. Er fühlte sich alles andere als in der Lage, diesen Tag heil zu überstehen. Immer von Neuem packte ihn die Müdigkeit, die ihn, als wäre er eine Marionette, zu steuern schien. Mal zitterte eines seiner Augenlider, später das Knie, dann der Oberarm und so weiter. Am schlimmsten war das Gähnen, das ohne Ankündigung aus ihm herausbrach und seine Kiefer dehnte, als gehörten sie einer Kaninchen verschlingenden Boa. Dagegenhalten half nichts, im Gegenteil, Schlag auf Schlag hieß es: 1:0 für die Müdigkeit, 2:0 für die Müdigkeit, 3:0. Nicht mehr lang und er, Andrej, ginge K.O. Da half nur starker Kaffee, eine pechschwarze, brühend heiße Hochlandmischung.

Er wartete dort, wo Miss Piggy ihn hindirigiert hatte, am Eingang zum Pausenraum. Zehn nach sechs war es und keiner in Sicht. Eine aufgeplusterte Taube, deren Gefieder am Hals grünlich schimmerte, tippelte neben seinem Citroën hin und her und balzte mit einem tiefen Gurren. Er sah auf die Uhr. Der Sekundenzeiger bewegte sich kaum. Die Zeit war zu flüssigem Beton geworden, aus dem man eine Bodenplatte für ein ganzes Haus gießen konnte.

Als er die Klinke des in die Jahre gekommenen Backsteinbaus herunterdrückte, stellte er fest, dass abgeschlossen war. Hatte sich Miss Piggy geirrt, würden seine Kollegen erst um sieben oder um acht Uhr eintreffen? War seine Uhr vielleicht kaputt? Als er das Haus umrundete, entdeckte er einen Hintereingang. Der hochgeschossene Löwenzahn ließ ihn jedoch zweifeln, ob die Tür in den letzten Tagen geöffnet worden war. Zwei Bierkästen standen übereinander – leere Kästen. In seinem Kopf lief ein Werbe-Jingle aus dem Radio. Durst hatte er plötzlich, Durst auf Bier. Durst auf Landskron. Sechs Uhr früh.

Es musste erst sechs Uhr fünfundzwanzig werden, als ein Kadett bedächtig, als hätte er rohe Eier geladen, die Einfahrt hinauffuhr. Als hätte er alle Zeit der Welt (er hatte alle Zeit der Welt) testete der Fahrer mehrere Parklücken, bis sein Wagen exakt zwischen zwei Markierungen zum Stehen kam. Wenige Atemzüge später trafen weitere Fahrzeuge ein – ein Clio, ein Corsa und ein Vectra.

Ob er der Neue sei, fragte man Andrej, während die Wagentüren geräuschvoll geschlossen, hektisch Zigaretten angezündet und Cola-Dosen geöffnet wurden. Weil er nichts entgegnete, fragte einer: „Bist du stumm?“ und als er verneinte, rief ein anderer: „Stummer, herkommen!“ Ein lautes Gelächter war zu hören. Die Männer standen im Kreis. Andrej sah ihnen beim Rauchen zu. Der Versuch, sich in ihr Gespräch einzuklinken (Familienangelegenheiten, Expertenwitze, Interna), scheiterte und endete in einem Versprecher.

Als er den anderen in den Pausenraum folgte, ahnte er noch nicht, dass ihm eben ein Spitzname auf Lebenszeit verpasst worden war. Jeder hatte hier einen, wie er später erfuhr. Einer, der ohne Glimmstängel nicht konnte, hieß „Zigarre“. Einen anderen, dessen Bauch voluminöse Ausmaße angenommen hatte (während des Duschens wurden Füße und der Schwanz von seiner Wampe verdeckt), hatten sie „Pudding“ getauft. Einen mit braunledernder Augenklappe und stechendem Blick nannten sie „den Blinden“. „Yeti“ hieß ein großer Schlanker mit ergrautem Haupt- und Brusthaar, das ihm übers Dekolleté wallte, und „Sternburg“ einer, der vermutlich niemals ein anderes Bier außer Sternburg trinken würde. Und den Chef der Brigade, den man für einen älteren Bruder von Mr. Bean halten konnte, tauften sie wegen des höheren Gehalts „Penunze“. Und nun gab es auch noch den „Stummen“.

Im Pausenraum roch es nach kaltem Rauch. Andrej zählte acht randvolle Aschenbecher. In den Ecken hingen graue Spinnweben, die im Winter in der Heizungsluft tanzten. Weberknechte spazierten lässig an der Decke entlang. Obstfliegen schwirrten über einem Mülleimer herum. Die Tapete war ein Relikt vergangener Tage, filigrane Muster, blumenähnliche Verzierungen und einstmals rote, nun ausgeblichene hellbraune Borten. Sie setzten sich an einen langen Tisch, um den herum gemütliche Sessel gruppiert waren. Der Tisch war mit einem Sammelsurium aus leeren Flaschen und Getränkedosen vollgestellt. Ein Besen lehnte an der Wand, die Borsten waren voller Staubmäuse. In einer Ecke lagerte Bauschutt in verbeulten Blecheimern. Auf den grauen Spinden lagen orangefarbene Helme, packenweise Arbeitshandschuhe, mindestens zweihundert Stück, und ein Stapel Warnwesten.

Aus Thermosflaschen dampfte es. Es roch nach Kaffee und schalem Bier. In Brotbüchsen lagen mit Käse oder Wurst belegte Schnitten. Ein Kassettenrekorder mit Schlagermusik wurde angestellt. Blauer Dunst stieg zur Decke auf, der die Luft verpestete, als sei es unter diesen Männern verpönt, Sauerstoff zu atmen. Der Rauch schwenkte in eine Umlaufbahn um den Deckenventilator ein und verwandelte sich in ein Durcheinander aus wirbelnden Schlieren. Sternburg, Yeti und Zigarre blätterten in Zeitschriften und begutachten mit teilnahmslosem Scharfblick Fahrgestelle aus Metall oder Fleisch und Blut, als sei jedes kleine Schräubchen, jede Schweißnaht, jedes Schamhaar bedeutsam.

Andrej hatte am vorderen Ende des Tisches Platz genommen, er saß zwischen Pudding und dem furchteinflößenden Blinden, der im normalen Leben Pichow hieß und ebenfalls im Stadtteil Nordpol lebte, und zwar im einzigen Gebäude in Nordpol, das kein Plattenbau war.

„Darf man ihn was fragen?“, sagte er zu Andrej, der darüber nachdachte, was sich unter seiner Augenklappe befinden könnte. Ein Auge aus Glas? Ein zugenähtes Lid? Ein Augapfel, dem die Iris fehlte? Im letzten Jahr wollte Andrej noch Kriminalbeamter werden. Er hatte sich erkundigt, hatte bei der Dienststelle nach einem Kriminalistik-Studium gefragt. Nein, das gäbe es nicht, hieß es. Zunächst müsse er auf Streife gehen, dann könne er wechseln, sagte man ihm. Streife? Täglich mit Freaks zu tun haben, die im schlimmsten Fall mit der Axt oder dem Messer auf einen losgingen? Darauf hatte Andrej keinen Bock. Er rückte seinen Stuhl zehn Zentimeter weg. Dieser Mensch war zum Fürchten. Eine Gestalt aus einem Horrorfilm.

„Versteht er einen Spaß?“, fragte der Blinde verkrampft. Seine Nägel waren abgekaut. Am Hals befand sich ein schwachroter Hautausschlag.

„Macht der mit jedem“, erklärte Pudding. „Sag ruhig ja.“

„Klar“, antworte Andrej stockend, als er sah, dass fünf Augenpaare auf ihn gerichtet waren „wenn’s ein Spaß ist.“

„Klar“, beruhigte Pudding und steckte seine Hand unter das Shirt und knetete seinen Bauch.

„Also“, sagte der Blinde, „aufpassen! Vor ein paar Jahren war ich im Krankenhaus. Da haben sie reingestochen und hier und hier“, er zeigte auf Nase, Wange, Stirn und Kinn, „überall Blut. Einen ganzen Liter haben sie abgezapft. Blut, Blut, Blut.“

„Stimmt!“, sagte Pudding.

„Aha“, sagte Andrej, während ihn das gesunde Auge des Blinden hypnotisierte.

„Über-all Blut“, sprach der Blinde mit unheimlichem Mienenspiel weiter. „Versteht er, Blut?“ Andrej nickte bestürzt. Deswegen also die Augenklappe, dachte er. Er tippte auf einen Autounfall.

„Achtung, und jetzt kommt’s. Welche Farbe“, der Blinde wartete einen Augenblick, um die Spannung zu erhöhen, „hat der Storch?“

„Ein Storch?“ Andrej musste lachen. Was hatte denn das eine mit dem anderen zu tun? „Meinst du den Storch als Symbol oder irgendeinen Storch?“

„Welche Farbe hat der Storch?“, ungeduldig legte der Blinde seine Hand auf Andrejs Schulter und presste sie zusammen. „Wel-che Far-be hat der Storch!“, schallte es furchteinflößend wie aus dem Maul eines Löwen.

„Tja, welche Farbe kann der schon haben?“, erwiderte Andrej und dachte nach.

„Hallo?“, der Blinde klopfte ihm auf die Stirn. „Jemand zu Hause? Er soll die Frage beantworten und keine neuen stellen. Aufpassen jetzt!“ Der Blinde kaute an seinem Daumennagel und konzentrierte sich wieder. „Also! Nochmal. Hier haben sie rein gestochen, siehst du, hier, hier und hier.“ Dieses Mal zeigte er auf Rücken, Brust und Knie. „Überall zähes Blut, die Nadel steckte schon im Rückenmark, alles voller Blut. Überall Blut. Kann er sich vorstellen, was das für Schmerzen gewesen sind?“ Wieder presste er Andrejs Schulter zusammen, bis es hörbar knackte. Andrej bejahte, wusste aber immer noch nicht, worauf dieser Mann nun hinauswollte. Die anderen starrten ihn an, als läge ihm die Antwort schon auf der Zunge. Aber sie lag ihm nicht auf der Zunge. Er überlegte, was die alberne Frage sollte. War das so etwas wie eine philosophische Frage? War der Storch hier als eine Art Symbol für die Geburt gemeint? Dachte Pichow vielleicht an den afrikanischen Regenstorch? Oder eher an den Milchstorch aus Sumatra oder an den nackthäutigen Dingsbums-Marabu, der sich von Aas ernährte? Andrej kannte sich ein bisschen aus. Er hatte letztens eine Doku über Störche im Fernsehen gesehen, als sonst nichts anderes lief.

„Welche Farbe hat der Storch?“, wurde er wieder gefragt, als müsse er eine Prüfung ablegen. Was will dieser Idiot von dir, ist der vollkommen irre, dachte Andrej. „Hey“, sagte Pudding, „nicht lange sinnieren, Stummer, du sollst die Frage beantworten.“

„Storch, Storch, Storch“, riefen die Männer im Chor.

„Welche Farbe, welche Farbe, welche Farbe?“, zischte der Blinde und trommelte auf den Tisch, als wäre es der Auftakt zu einem Rap über Störche. Penunze sprach ein Machtwort, „Antworten, Stummer, wird’s bald!“

Wo war er hier nur hineingeraten? In eine Selbsthilfegruppe für Nicht-ganz-Dichte? Er wusste, dass es eine Falle war, egal was er antwortete. „Ich begreife nicht, was das eine mit dem anderen zu tun haben soll.“

„Kapiert er noch nicht?“, rief der Blinde. „Ich verlange doch nichts Unmögliches. Ich will wissen, welche Farbe der Storch hat, eine simple Frage, die man schon im Kindergarten stellt“, seine Hand schlug auf den Tisch. „Welche Farbe, hat der Sto-orch?“

„Au“, schrie Andrej. Pichows Fingernägel krallten sich in seine Haut.

„Rot?“, erwiderte Andrej eingeschüchtert.

„Leute“, fragte der Blinde triumphierend in die Runde, „habt ihr schon mal ’nen roten Storch gesehen?“ Das Gelächter wirkte wie einstudiert, als habe man die merkwürdige Pointe schon einige Male gehört.

„Schon gut“, gab Andrej zu, „das Geschwafel vom Krankenhaus und dem vielen Blut, das sollte ein Ablenkungsmanöver sein“, er lachte, „es hat mich ja wirklich abgelenkt, also weiß oder schwarz sind die.“ Doch niemand hörte ihm mehr zu, selbst der Blinde interessierte sich nicht mehr dafür. Der Blinde nahm ein Taschenmesser aus dem Latz seiner Hose, richtete die Klinge auf und spießte einen Apfel auf, um diesen wie ein Eis am Stiel zu verputzen. Andrej schluckte. Das war kein Job hier, das war die Hölle.

Zehn Minuten ließ Penunze verstreichen, bis er in einem Aktenordner blätternd die am Tag anstehenden Aufgaben verteilte. Zweierteams wurden gebildet. Pudding und Sternburg würden zur Seitenstraße fahren, Schlaglöcher ausbessern. Yeti und Zigarre würden im Gagarin-Park mit mehrtägigen Mäharbeiten beginnen und der Blinde würde den Skihang am Cottmar mähen. „Und“, sprach Penunze und machte es spannend, „am besten, du nimmst dir den Stummen zum Einarbeiten mit.“

Super, dachte Andrej, deinen ersten Arbeitstag verbringst du gleich mit dem Oberverrückten. Es war jener Moment, in dem eines zum anderen, der Stumme zum Blinden kam.

Sensen, Kanister, Rechen und Heugabel wurden auf den Kipper aufgeladen. Der Blinde übernahm das Steuer. Im Schneckentempo ging es zum Cottmar. Der Kipper war eine alte Dieselameise ohne Fahrerkabine, die stehend zu bedienen war. Da es vorn nicht genügend Platz für zwei gab, ließ sich Andrej auf der Laderampe den Fahrtwind um die Nase wehen. Es roch nach Sommer, blühenden Wiesen und Teer.

Mit Mühe bewältigte das Fahrzeug die steile Straße. Der Blinde hielt am Sessellift, der nur im Winter in Betrieb war, wenn es hier von Skiläufern nur so wimmelte. Andrej sah in ein Universum aus blühendem Gras, Brennnesseln, Gestrüpp, Wicken und Disteln. Zitronenfalter flatterten herum und Admirale und jede Menge brummender Insekten.

Der Blinde goss Benzin in die Tanks der Motorsensen. Er prüfte, ob die Sensenblätter scharf genug waren und schnallte sich seine Sense an den Tragegurt, den er am Oberkörper trug. „Aus der Hüfte raus. Immer so! So und so!“, erklärte er Andrej, als handele es sich beim Rasenmähen um eine Wissenschaft. Sein Körper vollführte die sanften Schwingungen einer Ballerina. Es war eine Wissenschaft. „Er muss aufpassen, dass er nicht zu tief geht, sonst gräbt er die Wiese mit um.“ Von mir aus kannst du beim Grasmähen Figuren tanzen, ich mach sowieso, was ich will, dachte Andrej. Er klappte das Visier von seinem Helm herunter und watete ins knietiefe Gras. Dann zog er am Anlasser, zwei, drei Mal, bis der Zweitakter gemächlich tuckerte und einen vertrauten Duft aus Abgasen ausstieß. Andrej schnüffelte, der Geruch paralysierte ihn. Es war der gleiche Geruch wie damals.

Er erinnerte sich ziemlich genau. Die ganze Familie war dabei – sein Vater, seine Mutter und auch Nina. Sie fuhren mit dem Trabi zum Senftenberger See, und vor ihnen fuhr auch ein Trabant, so einer, wie ihn jeder fuhr, grau mit himmelblauem Dach. Wolf, sein Vater, versuchte den anderen Trabant, auf Biegen und Brechen zu überholen, weil der so fürchterlich qualmte und stank (wie Andrejs Motorsense). Es sah gefährlich aus. Und obwohl sie nicht gläubig waren (warum eigentlich nicht?), begann Andrej in diesem Moment zu beten. Seine Mutter brüllte vom Beifahrersitz aus: „Willst du uns umbringen, Wolf? Stopp!“ Doch sein Vater bremste nicht, im Gegenteil. Wie in Zeitlupe fuhr er auf die Überholspur. Der Motor näherte sich der Belastungsgrenze, Zentimeter für Zentimeter ging es vorwärts. Vorderachse an Stoßstange, Hinterachse an Tür, Seitenspiegel an Vorderachse des ungeliebten Vorausfahrers. Die Achse des einen an der Achse des anderen. Gleichstand. Vorderachse an Vorderachse, Hinterachse an Hinterachse und ein energischer Blick auf den antiquierten Schnösel, der die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit von achtzig Stundenkilometern um keinen Kilometer pro Stunde überbieten wollte. So einer muss einfach überholt werden, sagte Wolf, koste es, was es wolle, dieser Gestank ist einfach nicht normal. Wolf krallte seine Hände am Lenkrad fest, verwegener Blick nach vorn und dann: Vollgas! Vorderachse an Vorderachse, Hinterachse an Hinterachse, keine Veränderung! Kein Vorankommen, kein Vorrücken. Fast dreißig Sekunden fuhren sie so dicht nebeneinander her. Bis ihnen auf der Überholspur aus der anderen Richtung ein Traktor entgegenkam. Bedrohlich näherte er sich, er wurde größer, immer größer, die Kabine wurde zum blauen, mächtigen Berg, bis nur noch wenige Meter zwischen ihrem 601er und dem Traktor lagen.