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Paul Heyse

Unheilbar

 Novelle

Paul Heyse

Unheilbar

 Novelle

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962811-97-6

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Unheilbar

Meran, den 6. Ok­to­ber 186∗

Seit acht Ta­gen, die ich nun hier bin, kei­ne Zei­le ge­schrie­ben! Ich war zu er­schöpft und auf­ge­regt von der lan­gen Rei­se. Wenn ich mich nie­der­setz­te und auf die wei­ßen Blät­ter starr­te, war mir’s, als blick­te ich in eine Ca­me­ra obscu­ra. Alle Bil­der, die mir un­ter­wegs ent­ge­gen ge­flo­gen wa­ren, tauch­ten ganz deut­lich und far­big wie­der auf und jag­ten sich wie im Fie­ber­trau­me, bis mir die Au­gen über­gin­gen. Un­ter­wegs fühl­te ich auch mehr als ein Mal, dass mir die Trä­nen nahe wa­ren; aber ich war nicht al­lein, und von den frem­den Her­ren, die mit­fuh­ren, be­mit­lei­det und aus­ge­fragt zu wer­den, hat­te ich wahr­lich kei­ne Lust. Hier ist’s an­ders; ich bin ein­sam und frei; ich habe es schon er­fah­ren, dass nur die Ein­sa­men frei sein kön­nen. Wa­rum schä­me ich mich denn auch jetzt noch, zu wei­nen? Ist es denn nicht trau­rig ge­nug, dass ich erst einen Blick in alle Schön­hei­ten die­ser Welt tun durf­te, seit ich weiß, dass es ein Ab­schieds­blick ist? –

Es wäre wohl bes­ser, ich ver­schlös­se die­ses Heft und lie­ße die Blät­ter leer. Wo­mit kann ich sie fül­len, als mit un­frucht­ba­ren Kla­gen? Ich hat­te es mir schön und tröst­lich ge­dacht, al­les nie­der­zu­schrei­ben, was mir in die­sem letz­ten Win­ter, den ich noch zu le­ben habe, durch den Sinn ge­hen wür­de. Ich woll­te mei­nem ge­lieb­ten Bru­der, mei­nem klei­nen Ernst, der jetzt doch noch zu jung ist, um das Le­ben und den Tod zu ver­ste­hen, an die­sem Hef­te ein Ver­mächt­nis hin­ter­las­sen, das ihm teu­er wäre, wenn er spä­ter ein­mal nach sei­ner Schwes­ter frag­te und Nie­mand da wäre, der ihm ant­wor­ten könn­te. Aber ich sehe wohl, es war ein tö­rich­ter Ge­dan­ke. Möch­te man denn in der Erin­ne­rung ei­nes teu­ren Men­schen fort­le­ben un­ter dem Bil­de der letz­ten Krank­heit? Er soll mich lie­ber ver­ges­sen, als sich die­se blas­sen Züge ein­prä­gen, die mich sel­ber er­schre­cken, so oft ich in den Spie­gel sehe.

Abends. Schwü­le, be­deck­te Luft.

Ich habe ein paar Stun­den lang am Fens­ter ge­ses­sen. Man sieht da weit in das schö­ne Etsch­land hin­aus, über die Stadt­mau­er, die Al­lee mit den breitäs­ti­gen Pap­peln, die auf dem Stein­dam­me längs der rau­schen­den Pas­ser ste­hen, in die Nie­de­rung hin­ein, wo die Her­den zwi­schen den hun­dert klei­nen Bä­chen wei­den, bis zu den fer­nen Ber­gen. Die Luft war ganz still; ich konn­te so­gar ein­zel­ne Stim­men von den Spa­zier­gän­gern auf der Was­ser­mau­er un­ter­schei­den; oder schi­en mir’s nur so? Die Kin­der mei­nes Wirts, des Schnei­ders, sa­hen neu­gie­rig zur Tür her­ein, bis ich ih­nen das Letz­te von mei­ner Rei­se-Scho­ko­la­de gab. Wie glück­lich sie da­mit zur Mut­ter hin­aus­lie­fen! Ich bin dann ganz hei­ter und still ge­wor­den und habe mir’s über­legt, dass ich Un­recht täte, mich vor mei­nen Selbst­ge­sprä­chen zu fürch­ten. Mö­gen die­se Blät­ter doch im­mer­hin ein Te­sta­ment sein – müs­sen sie dar­um schon Trau­er tra­gen? Bin ich nicht von Hau­se, wo ich wie mit hun­dert Ban­den ein­ge­schnürt war, mit herz­haf­tem Ent­schlus­se fort­ge­gan­gen, noch ein­mal des Le­bens und der Frei­heit froh zu wer­den, und soll­te mir jetzt das Zeug­nis ge­ben, dass ich nicht ver­dien­te, frei zu sein? Frei­lich, ich weiß, es ist ein kur­z­es Glück. Aber um so fes­ter muss ich es hal­ten und mir’s nicht durch Schwä­che und Ver­sin­ken in Selbst­be­mit­lei­dung ver­küm­mern. – –

Die Wir­tin hat mir er­zählt, dass heu­te früh ein Me­ra­ner Bür­ger in den bes­ten Jah­ren, der nie eine Krank­heit ge­habt, plötz­lich ge­stor­ben sei. Alle hät­ten ihm im­mer ein lan­ges Le­ben zu­ge­traut, und er selbst sich wohl auch. Bin ich nicht zu be­nei­den, wenn ich mich mit ihm ver­glei­che? Er wird eben auch, wie die meis­ten Men­schen, in Mühe und Ar­beit hin­ge­lebt und ge­dacht ha­ben, die Zeit, um aus­zu­ru­hen und sein bi­schen Le­ben auch zu ge­nie­ßen, wer­de end­lich ein­mal kom­men, wenn ge­nug er ge­schafft und er­wor­ben hät­te. Er hat sein Ziel nicht ge­kannt; ich ken­ne das mei­ni­ge; das ist der Un­ter­schied. Ist er nicht zu mei­nen Guns­ten? Ist es nicht noch lan­ge ge­nug bis zum Früh­ling, und wür­de ich die­se Gna­den­frist aus­kos­ten, wie ich jetzt tue, wenn ich sie nicht kenn­te? O es ist in Wahr­heit eine Gna­de, vom Tode nicht über­rascht und über­fal­len zu wer­den, ihn lang­sam kom­men zu se­hen, dass man, Auge in Auge mit ihm, erst noch le­ben ler­nen kann! Ich kann es un­serm Arzt, mei­nem lie­ben, vä­ter­li­chen Freun­de, nie ge­nug dan­ken, dass er mir die Wahr­heit nicht ver­schwieg. Er hat da­durch das Wort, das er mei­ner ster­ben­den Mut­ter gab, mir im­mer ein Freund zu sein, reich­lich ein­ge­löst.

Die Nacht ist nun her­ein­ge­bro­chen; ich kann kaum mehr se­hen, was ich schrei­be. Habe ich mein Le­ben lang je­mals einen so tie­fen Frie­den, um mich und in mir, ge­nos­sen, wie hier in die­sem schö­nen, blü­hen­den, re­ben­be­kränz­ten Vor­hof des Gra­bes? Nur einen Hauch da­von in dei­ne ge­press­te, kum­mer­vol­le See­le, mein ar­mer Va­ter! Gute Nacht! Und gute Nacht, mein klei­ner Ernst! Wer wird dich heu­te zu Bet­te ge­bracht und dich mit Mär­chen in Schlaf ge­plau­dert ha­ben?

Am 6. Nach­mit­tags.

Mei­ne Frau Meis­te­rin hat heu­te, als sie mir das Es­sen brach­te, mir eif­rig zu­ge­re­det, nicht im­mer im Zim­mer zu sit­zen, es sei so schön auf der Was­ser­mau­er, man sehe da so vie­le Leu­te, ich müs­se mich doch zer­streu­en. Ich konn­te der gu­ten See­le nicht be­greif­lich ma­chen, dass es mir lie­ber sei, mich zu sam­meln, als mich zu zer­streu­en, dass ich nach frem­den Men­schen gar kein Ver­lan­gen trü­ge.

Nur dass ich noch zu schwach und müde sei von der Rei­se und die zwei stei­len Trep­pen mir be­schwer­lich fal­len, hat ihr end­lich ein­ge­leuch­tet.

Nun sitz’ ich wie­der und schrei­be. Die Sti­cke­rei habe ich weg­le­gen müs­sen; sie greift mir jetzt die Brust an; auch das klei­ne Töch­ter­chen des Wir­tes, dem ich täg­lich Un­ter­richt in Hand­ar­bei­ten ge­ben will, muss­te ich wie­der weg­schi­cken. Es liegt mir auch ein Zwei­fel im Sinn, der mich erst heu­te beim Auf­wa­chen, da aber ganz hef­tig und heiß über­lief, und mit dem ich erst ins Rei­ne kom­men muss.

Selt­sam, dass er mir nicht frü­her be­geg­net ist. Ich war so völ­lig über­zeugt, das Rech­te zu tun. Ich wuss­te so deut­lich, dass ich Nie­mand zu Hau­se feh­len wür­de, dass mein Va­ter je­den un­gü­ti­gen Stief­mut­ter­blick, der mir galt, schwer emp­fand, dass ich auch für Ernst über­flüs­sig war, seit die Mut­ter dar­auf be­stan­den hat, ihn trotz sei­ner Ju­gend in die Pen­si­on zu tun, nur um ihn nicht mehr zu se­hen und für ihn sor­gen zu müs­sen. Der Va­ter wein­te, als er mich zum letz­ten Mal an sich drück­te. Aber es er­leich­ter­te ihm doch das Herz, mich fort­rei­sen zu se­hen. Er gönnt mir das Bes­te; und was kann er für mich tun? – Nun ist es mir den­noch auf ein­mal nahe ge­tre­ten, ob ich nicht noch an­de­re Pf­lich­ten zu­rück­ge­las­sen habe, ob ein Mensch, so lan­ge er nicht ganz un­fä­hig ist, die Hän­de in den Schoß le­gen und einen win­ter­lan­gen Fei­er­abend ge­nie­ßen darf? – Erst seit ich mich glück­lich füh­le, seit al­ler Staub und Druck des kah­len klein­städ­ti­schen All­tags­le­bens von mir ab­ge­fal­len ist, frag’ ich mich, welch ein Recht ich habe, glück­li­cher zu sein, als die Tau­sen­de, die dem Tode nicht fer­ner sind, als ich, und doch bis auf den letz­ten Bluts­trop­fen kämp­fen müs­sen! Und ich schlie­ße hier einen selbst­süch­ti­gen Waf­fen­still­stand mit dem Fein­de und feie­re ein Fest, als hat­te ich den größ­ten Sieg da­von ge­tra­gen? –

Am 8. Ok­to­ber.

Die Ant­wort, die ich mir da­mals schul­dig blieb, weil mein ar­mer Kopf sich nicht Rats wuss­te, ist mir nun zu Teil ge­wor­den. Ich bin von mei­nem ers­ten Aus­gan­ge so zer­bro­chen und aus­ge­löscht nach Hau­se ge­kom­men, als hät­te ich einen har­ten Ar­beits­tag in Ket­ten hin­ter mir. Nein, ich tau­ge nur noch für das Gna­den­brot, und wenn es mir sü­ßer schmeckt als Man­chem, wird mir’s ja wohl kein Vor­wurf sein. Ich bin auch ge­nüg­sa­mer als Man­cher.

Und wenn ich Nie­mand mehr nüt­ze, wem fal­le ich denn zur Last? Mein klei­nes müt­ter­li­ches Erbe, auch wenn ich es nicht an­grif­fe, um es für Ernst auf­zu­he­ben, könn­te es ihm die Pf­licht er­spa­ren, sich mit ei­ge­ner Ar­beit durchs Le­ben zu hel­fen? Es wird auch noch da­von üb­rig blei­ben, denn wie ich heu­te er­fah­ren habe, ist der Rest mei­ner Kräf­te arm­se­li­ger, als ich dach­te. Wer weiß, wie kurz mein Win­ter im Sü­den sein wird.

Ich wer­de nicht oft un­ter die Pap­peln hin­aus­ge­hen. Es war mir nicht wohl un­ter den ar­men, schlei­chen­den, hüs­teln­den, ge­putz­ten Men­schen, die mit ih­ren Trau­ben­körb­chen am Arm her­um­schwank­ten und mit je­der Bee­re be­gie­rig einen Trop­fen Hoff­nung ein­so­gen. Die aber, de­nen die Hoff­nungs­lo­sig­keit auf dem Ge­sich­te stand, fühl­te ich mir noch frem­der. Es mag wohl­tu­end sein, mit Lei­dens­ge­fähr­ten zu ver­keh­ren. Aber wenn das glei­che Schick­sal un­glei­che Ge­sin­nun­gen er­zeugt, so trennt das, was ver­ei­nen soll­te, und man fühlt den Ab­stand der Ge­mü­ter um so deut­li­cher. Kei­nen habe ich ge­se­hen, dem ich mich ge­traut hät­te von mei­ner fest­li­chen und dank­ba­ren Stim­mung ein Wort zu sa­gen. Sie hät­ten mich für eine Über­spann­te, vom Fie­ber Ver­stör­te, oder für eine Heuch­le­rin ge­hal­ten.

Und kann ich es ih­nen übel neh­men? Es ist mög­lich, dass auch ich den Tod mehr fürch­te­te, wenn ich das Le­ben mehr lieb­te. Wa­rum war das mei­ne nicht lie­bens­wür­di­ger?

Es kön­nen sich auch wohl nur We­ni­ge vor­stel­len, in welch er­ha­be­ner Grö­ße und Stil­le die­se Na­tur auf eine arme See­le wirkt, die zwei­und­zwan­zig Jah­re nicht den Fuß aus den Mau­ern ei­ner kah­len, en­gen, spieß­bür­ger­li­chen klei­nen Stadt ge­setzt hat. Man reist so viel heut­zu­ta­ge. Auch ich wäre wohl frü­her aus un­se­rer trau­ri­gen Ein­öde her­aus­ge­kom­men, ohne die lan­ge Krank­heit der Mut­ter und dann, als sie ge­stor­ben war, mei­ne Mut­ter­pflich­ten ge­gen den Klei­nen. Nun ist mir die­ses wun­der­vol­le Tal schon wie ein Jen­seits, ein wah­rer Gar­ten Got­tes, und die ers­ten Atem­zü­ge dar­in wa­ren so be­rau­schend, als trü­gen schon Flü­gel mei­ne See­le über den Bo­den hin. Dass sie mei­nem Kör­per nicht bes­ser hal­fen, als ich wie­der die enge, stei­le Trep­pe hin­auf­sch­lich, war frei­lich schlimm. Aber ich habe ja auch un­ten nichts zu su­chen. Je­der Blick aus dem Fens­ter ist schon wie ein Aus­flug ins Pa­ra­dies.

Mei­ne Wir­te sind sehr arm, der Mann ar­bei­tet bis in die Nacht hin­ein, die Frau hat alle Hän­de voll mit den vie­len Kin­dern zu tun, im Hau­se sieht es düs­ter und un­freund­lich aus. Wie ich zu­erst mit dem Ho­tel-Die­ner, der mir die­se Woh­nung nach­wies – wahr­schein­lich weil er aus mei­nem ein­fa­chen An­zu­ge auf mei­ne Kas­se schloss – die lan­gen, dunklen Gän­ge und trü­ben Höfe durch­schritt und die bau­fäl­li­ge Stie­ge hin­auf­klet­ter­te, über die Flu­re, auf de­nen ver­staub­ter Haus­rat: alte Spinn­rä­der, Bett­stücke, Ge­schirr und Mais-Vor­rä­te, bunt durch ein­an­der liegt und die Spin­nen jah­re­lang un­ge­stört ihre dich­ten Ge­we­be wir­ken, wur­de mir die Brust zu­ge­schnürt, und das Herz klopf­te mir so stark, dass ich auf je­der drit­ten Stu­fe still ste­hen muss­te. Aber der ers­te Blick in mein nied­ri­ges Zim­mer­chen, und vollends aus dem Fens­ter, ver­söhn­te mich rasch mit dem Ge­dan­ken, dass die­ses mei­ne letz­te Woh­nung auf Er­den sein soll­te. Der alt­mo­di­sche Schreib-Se­kre­tär mit den Mes­sing­grif­fen sieht ganz so aus, als wäre er ein Zwil­lings­bru­der von je­nem, der im Zim­mer mei­ner lie­ben Mut­ter stand, und der Lehn­stuhl ist ge­ra­de so braun und hoch und schwer, wie der ihre war. Ein paar schlech­te Bil­der, die mich stör­ten, habe ich gleich weg­ge­nom­men, und die der El­tern da­für hin­ge­hängt. Nun ist mir’s, als wäre ich schon jah­re­lang hier zu Hau­se.

In der Ecke, auf ei­ner Kon­so­le von schwar­zem Holz, ist ein Kru­zi­fix an­ge­bracht. Es gibt mir oft zu den­ken, ob­wohl ich nicht da­mit groß ge­wor­den bin. – –

Nun habe ich auch mei­ne Bü­cher be­kom­men, die mir der Va­ter nach­ge­schickt hat, nun fehlt mir nichts mehr. Er hat auch dazu ge­schrie­ben, ganz wie ich’s er­war­te­te. Den Zug, sich ins Unab­än­der­li­che zu fü­gen, ohne sich zu sper­ren, habe ich von ihm. Von Ernst sechs Zei­len, er ist höchst ver­gnügt in der Pen­si­on mit sei­nen neu­en Ka­me­ra­den. Von der Mut­ter auch einen Gruß; we­nigs­tens steht er im Brief. Der Va­ter wird ihn wohl ohne zu fra­gen hin­zu­ge­fügt ha­ben.

Nun will ich nach Hau­se schrei­ben; wie viel lie­ber tät’ ich es, wenn ich wüss­te, dass die Brie­fe nur in Va­ters Hän­de kämen!

Am 10. Abends.

Was es doch für selt­sa­me Men­schen gibt! Vor ei­ner Stun­de, als ich le­send und an nichts Ar­ges den­kend am Fens­ter sit­ze und mich an der mil­den Abend­luft er­qui­cke – denn die Son­ne geht schon um 5 Uhr hin­ter den ho­hen Mar­lin­ger Berg, und dann ist es noch vie­le Stun­den som­mer­lich warm, und die ört­li­chen Berg­häup­ter ste­hen noch lan­ge im Lich­te – klopft es an mei­ner Tür, was mich im­mer er­schreckt, da es so sel­ten ge­schieht, und eine klei­ne, kor­pu­len­te, mir völ­lig un­be­kann­te Dame tritt her­ein, die sich ganz un­be­fan­gen mir vor­stellt und aufs Herz­lichs­te ihr Ver­lan­gen, mich ken­nen zu ler­nen, an den Tag legt. Sie habe mich auf der Was­ser­mau­er, die ich seit je­nem ers­ten Male noch nicht wie­der be­tre­ten, ge­se­hen und ein großes Tend­re1 für mich ge­fasst, da ich of­fen­bar sehr krank und so al­lein in der Welt zu ste­hen schie­ne, und sich gleich vor­ge­nom­men, das nächs­te Mal mich an­zu­re­den, in der Hoff­nung, mir viel­leicht in ir­gend et­was nütz­lich zu sein. »Denn wis­sen Sie, lie­bes Kind«, sag­te sie, »ich selbst, wie Sie mich da se­hen, bin nun neun­und­fünf­zig Jah­re alt, aber nie einen Tag lang krank ge­we­sen, au­ßer im Kind­bett. Mei­ne zwei Söh­ne und drei Töch­ter sind auch alle, Gott sei Dank, kern­ge­sun­de Men­schen, alle schon ver­sorgt und ver­hei­ra­tet. Nun aber habe ich von früh an eine wah­re Pas­si­on ge­habt, ar­men Men­schen, die nicht so gut dar­an sind, wie ich, zu hel­fen, Kran­ke zu pfle­gen, Ster­ben­den die letz­ten Lie­bes­diens­te zu er­wei­sen. Mein se­li­ger Mann nann­te mich im­mer die pri­vi­le­gier­te Le­bens­ret­te­rin; denn eine bes­se­re Wär­te­rin kön­nen Sie sich nicht den­ken. Ich bin noch aus ei­ner Ge­ne­ra­ti­on, wo man gar nicht wuss­te, was Ner­ven sind; da ver­schlägt es mir gar nichts, zehn Näch­te hin­ter ein­an­der kein Auge zu­zu­tun; selbst Ope­ra­tio­nen kann ich mit an­se­hen, ohne jede An­wand­lung von Schwä­che. Eben jetzt habe ich eine Freun­din hie­her be­glei­tet, die es schwer­lich lan­ge mehr ma­chen wird. Wenn die Ärms­te er­löst sein wird, habe ich noch mehr freie Zeit, als jetzt, wo sie mich auch schon im­mer mit Ge­walt nö­tigt, sie al­lein zu las­sen, um mir Be­we­gung zu ma­chen. Soll­ten Sie also ir­gend eine Stüt­ze, einen Rat, eine Hil­fe be­dür­fen, mein lie­bes Kind, so wen­den Sie sich an Nie­mand an­ders, als an mich, das müs­sen Sie mir gleich aufs Fei­er­lichs­te ver­spre­chen. Dass ich im Üb­ri­gen nicht zu­ge­ben wer­de, dass Sie ihre Tage so wie bis­her mut­ter­see­len­al­lein hin­brin­gen, ver­steht sich von selbst. Ich wer­de oft kom­men, ich ma­che kei­ne Um­stän­de mit mei­nen Freun­den, und Sie müs­sen mir’s schon zu Gute hal­ten, wenn ich Sie et­was ty­ran­ni­sie­re, es ge­schieht Al­les zu Ihrem Bes­ten. Denn auf Ner­ven­lei­den ver­ste­he ich mich, wie der bes­te Arzt; die wol­len Zer­streu­ung, Luft, An­re­gung. Apro­pos, wen von den hie­si­gen Ärz­ten ha­ben Sie kon­sul­tiert?«

Ich er­wi­der­te, dass ich mich an kei­nen Arzt ge­wen­det hät­te, es auch nicht Wil­lens sei, da ich ge­nau wis­se, dass ich un­heil­bar sei. Als sie un­gläu­big den Kopf schüt­tel­te, hol­te ich das Blatt Pa­pier aus mei­ner Map­pe, auf dem un­ser Arzt mir wie auf ei­ner Land­kar­te auf­ge­zeich­net hat, wie weit die Zer­stö­rung in mei­ner Lun­ge schon um sich ge­grif­fen habe. Sie be­trach­te­te es ganz sach­ver­stän­dig. Lie­bes Kind, sag­te sie, das ist Al­les dum­mes Zeug; ich ken­ne die Ärz­te, je mehr sie sa­gen, je we­ni­ger wis­sen sie. Ich möch­te eine Wet­te ma­chen, dass es ganz an­ders in Ih­nen aus­sieht, als auf die­sem Stück Pa­pier.

Ich sag­te ihr, dass ich ja alle Hoff­nung habe, hier­über klar zu wer­den, wenn ich auch für die Wet­te dan­ken müs­se, da ich sie doch lei­der nicht bei le­ben­di­gem Lei­be ge­win­nen kön­ne. Sie hör­te nur halb zu, wenn ich sprach, fuhr aber eif­rig fort, mit ei­ner so kraft­vol­len Stim­me, dass sie mir durch Mark und Bein drang, mir alle mög­li­chen Krank­heits-Ge­schich­ten, die sie er­lebt und die ge­gen die Un­fehl­bar­keit der Ärz­te zeu­gen soll­ten, mit De­tails zu er­zäh­len, von de­nen mir end­lich wirk­lich übel ward. Ich hat­te noch so viel Mut und Be­sin­nung, sie um Scho­nung zu bit­ten. Da stand sie end­lich auf, mach­te beim Ab­schie­de eine Be­we­gung, als wenn sie mich küs­sen woll­te, schi­en of­fen­bar be­frem­det, als ich steif und förm­lich ihr nur die Fin­ger­spit­zen gab, und rausch­te mit stür­mi­scher Eile und der Ver­si­che­rung, bald wie­der­zu­kom­men, zur Tür hin­aus.

Ich muss­te eine hal­be Stun­de die Au­gen schlie­ßen und still mein Blut wie­der eb­ben las­sen, als sie fort war. Aber ein schar­fer Ge­ruch von Es­sig-Äther, der sie um­gab und den sie mir als sehr ner­ven­stil­lend an­ge­prie­sen hat­te, ist noch jetzt im Zim­mer, und im­mer muss ich die kalt zu­trau­li­chen Au­gen und die re­so­lu­te un­be­weg­li­che Mie­ne der Men­schen­freund­lich­keit in dem großen run­den Ge­sich­te vor mir se­hen, und nur der Ge­dan­ke, dass ich we­nigs­tens heu­te vor ei­nem neu­en Über­fall si­cher bin, ist mir ein Trost. Aber um das Tête-à-tête mit mei­nem Schick­sa­le, das mir die­sen Ort so heim­lich mach­te, bin ich ge­bracht; ich müss­te denn noch deut­li­cher wer­den, was ich selbst im Fal­le ei­ner Not­wehr kaum übers Herz bräch­te.

Was ist doch der An­teil der Men­schen! Die We­ni­gen, die uns lie­ben, tun uns, wenn wir lei­den, mit ih­rem Mit­ge­fühl weh, weil wir se­hen, dass wir sie trau­rig ma­chen; die uns nicht lie­ben, kön­nen die uns mit ir­gend et­was wohl tun? »Nur Bett­ler wis­sen, wie Bett­lern zu Mute ist«, habe ich ein­mal im Les­sing ge­le­sen. Aber kön­nen Bett­ler ein­an­der Al­mo­sen ge­ben?

Am an­de­ren Mor­gen.

Schlecht ge­schla­fen! Ich bin des Ge­sprächs mit Men­schen so ent­wöhnt, dass ich im­mer die har­te, hel­le Stim­me der barm­her­zi­gen Dame hö­ren und mich im Traum aufs Hef­tigs­te mit ihr zan­ken muss­te, bis sie mir zu­letzt so­gar ihre blon­de Haar­tour mit den drei dün­nen Löck­chen auf je­der Sei­te ins Ge­sicht warf, dass ich ganz ent­setzt und in Schweiß ge­ba­det auf­wach­te. Nun muss ich frei­lich dar­über la­chen. Was habe ich ihr für un­höf­li­che Din­ge ge­sagt, un­ter An­de­rem so­gar, dass ich ihr mei­ne Lun­ge in Spi­ri­tus ver­ma­chen wür­de! Ist man doch un­ge­zo­gen im Trau­me!

Nun bin ich ei­lig in die Klei­der ge­fah­ren und habe die größ­te Angst, dass sie mich wie­der über­fal­len möch­te. Mein ar­mes, fried­li­ches, klei­nes Ster­be­win­kel­chen, dass es mir so ver­stört wer­den muss­te, dass ich auch hier kei­ne Ruhe ha­ben soll! Ich muss wirk­lich aus­ge­hen, um zu se­hen, ob ich drau­ßen ir­gend­wo einen si­che­ren Ver­steck aus­fin­dig ma­chen kann.

Am Nach­mit­tage.

Ich habe große Din­ge hin­ter mir, einen ho­hen Berg, ein Aben­teu­er mit ei­nem wil­den Mann, einen be­rau­schen­den Trunk Na­tur und Ein­sam­keit. Ob­wohl ich nun so müde bin, dass ich den Arm je­des Mal, wenn ich die Fe­der ein­tau­che, mit ei­nem be­son­de­ren An­lau­fe mei­nes Wil­lens auf­he­ben muss, bin ich doch in­ner­lich neu ge­stärkt und habe die schlech­te Nacht ver­wun­den und ge­trau­te mir jetzt, es mit ei­ner gan­zen Kaf­fee-Ge­sell­schaft barm­her­zi­ger Schwes­tern in blon­den Haar­tou­ren auf­zu­neh­men.

Wie schön mein Grab ist, wie wun­der­ba­re Son­nen­strah­len dar­auf her­nie­der­flie­ßen, habe ich längst zu wis­sen ge­meint, und erst heu­te sind mir die Schup­pen recht von den Au­gen ge­fal­len. Ich glau­be im Ernst, was wir im Nor­den Son­nen­schein nen­nen, ist nur eine Imi­ta­ti­on, eine bil­li­ge­re Mi­schung von Licht und Luft, so eine Art Gold­bron­ze im Ver­gleich mit dem ech­ten, so­li­den, un­be­zahl­ba­ren Gol­de, das hier ver­schwen­det wird.

Ganz lang­sam bin ich durch die stei­ner­ne, küh­le und düs­te­re Lau­ben­gas­se ge­schli­chen, wo mich im­mer frös­telt und eine selt­sa­me Angst mir den Atem ein­schnürt. Dann kommt man auf den klei­nen Platz an der schö­nen al­ten Kir­che. Er war ganz schwarz und rot von den Land­leu­ten aus der Um­ge­gend und Pass­ei­er, in ih­ren kur­z­en Ja­cken mit dem ro­ten Vor­stoß, den brei­ten Hü­ten und dem gan­zen schmu­cken Sonn­tags­an­zug. Auch sind die meis­ten schö­ne, statt­li­che Leu­te, die Män­ner aber viel an­sehn­li­cher, als die Frau­en, un­ter de­nen ich bis jetzt erst zwei sau­be­ren und re­gel­mä­ßi­gen Ge­sich­tern be­geg­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­