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INHALT

IMMER EIN ABENTEUER

DER GROSSE WURF DER BOOTSBAUGESCHICHTE

EHER LEHRREICH ALS SCHÖN: PAULAS UND MEINE ERSTE SAISON (2008)

ALS DAS GLÜCK AN BORD KAM ODER: DAS KLEINE, KLEINE SCHIFFCHEN FÄHRT IN DIE GROSSE, GROSSE STADT (2009)

VERGANGENHEIT UND ZUKUNFT (2010)

WAS SONST NOCH GESCHAH: EIN UNVERGESSLICHER TÖRN (2010)

WENN DER ERSATZKANISTER DURCHS COCKPIT FLIEGT, IST EINDEUTIG ZU VIEL WIND (2011)

WAS SONST NOCH GESCHAH: HAFENKINO IN KLINTHOLM (2011)

ZEIT FÜR VERÄNDERUNGEN ODER: DIE BESTE REISE (2012)

WAS SONST NOCH GESCHAH: KREUZ UND QUER DURCHS KATTEGAT (FRÜHJAHR 2012)

»DANN TUT MAN IMPROVISIEREN«: NEUE HERAUSFORDERUNGEN (2013)

WAS SONST NOCH GESCHAH: MAN MUSS SEGELN, WO DER WIND IST (2013)

PAULA GEHT RUDER (2014)

WAS SONST NOCH GESCHAH: SAISONABSCHLUSS: VIEL MEHR ALS EINE SCHWIMMENDE HOLZKISTE (2014)

JANES MISSION (2015)

WAS SONST NOCH GESCHAH: AUF DIENSTREISE (2015)

SCHLUSS: PAULAS MEISTERSTÜCK

 

IMMER
EIN
ABENTEUER

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Waghalsige Manöver, kräftezehrendes Kreuzen, begleitet von ruppigen Böen und heftigen Adrenalinstößen. Schräglage, Spritzwasser und Schaukeln im Seegang. Plötzliche Winddreher, Welle von Lee, aufreißende Wolkendecke oder Pladderregen aus heiterem Himmel kurz vorm Anlegen: Kaum ein Segeltag vergeht ohne Überraschungen. Oft ist das großartig, andernfalls muss man lernen, es auszuhalten. Doch besteht nicht das eigentliche Abenteuer darin, in der Morgensonne zu Vogelzwitschern und Möwengeschrei den ersten Schluck Kaffee zu trinken, den Blick über die Ufer der Ankerbucht in die Weite der See schweifen zu lassen und sich bewusst zu werden, dass man durch eigenes Geschick und auf eigenem Kiel an diesen traumhaften Ort gelangt ist?

Beide Aspekte – spektakuläres Segeln und tiefen Genuss – erlebt man auf einem kleinen, schlichten Boot besonders intensiv. Als ich PAULA kennenlernte, ahnte ich nichts von den Glücksmomenten, aber auch nicht von den Aufregungen, die uns gemeinsam bevorstanden. Der Wunsch, auf eigenem Kiel zu segeln, es überhaupt erst einmal richtig zu lernen, brachte mich in Verbindung mit einer Reihe rationaler Überlegungen zum Folkeboot.

Es gibt viele Arten zu segeln, unterschiedliche Reviere, verschiedene Bedürfnisse. Zu jedem existiert das passende Boot – die Aufgabe besteht darin, es zu finden. In dieser Hinsicht lief es perfekt. PAULA ist das Boot für mich. Viel mehr als das: Mein Platz an der Pinne entpuppte sich als ein Ort, der sich mit dem Begriff »Heimat« beschreiben ließe. Hier zu sitzen, fühlte und fühlt sich richtig an – an Land befand ich mich oft genug auf der Flucht oder doch wenigstens auf Reisen, selbst wenn ich mich dauerhaft niederließ. In dem Geschaukel auf See, in der Rastlosigkeit des Fahrtensegelns, kam ich in gewisser Weise endlich zur Ruhe.

Dieses Buch berichtet nicht von der einen großen, alles in den Schatten stellenden Reise. Statt dessen handelt es von PAULAs und meinem Verhältnis zueinander, davon, wie es sich im Laufe der Zeit entwickelt hat, dem gemeinsamen Weg. Es schildert, wie Folkeboote mir zur Lebensaufgabe wurden – inzwischen besitze ich fünf davon. Ungeschönt gibt es auch das preis, was unterwegs schiefgegangen ist.

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Noch weiß ich es nicht, aber dies ist das perfekte
Boot für das Revier vor meiner Haustür.

Es gehört zu den Eigenheiten einer Segelreise, aber auch einer »Seglerkarriere«, dass sie sich kaum als Geschichte aus einem Guss darstellen lässt: Bestenfalls ergibt sich eine Geschichte, die zu Tränen rührt und im nächsten Moment schallendes Gelächter hervorruft. Die Handlung unterliegt dem ewigen Wechsel aus günstigen und widrigen Bedingungen, motivierenden Erlebnissen und schmerzenden Enttäuschungen, richtigen Entscheidungen und Fehlern, von denen erst die Zukunft zeigen wird, ob Wertvolles aus ihnen gelernt wurde – sie verläuft zu chaotisch, um sich nachträglich in einen roten Faden von ansprechender literarischer Qualität und stetig sich steigernder Spannung zwängen zu lassen. Womöglich ist das gerade das Faszinierende an einer Segelreise. Dementsprechend werden Segeltörns in aller Regel chronologisch geschildert, den Logbucheinträgen folgend: Am ersten Tag passierte dies, am zweiten das, am dritten jenes usw. Das ist unmittelbar plausibel und wird gern von allen gelesen, die die Reise in ihren Facetten nachvollziehen möchten.

Ich versuche dennoch einen anderen Weg, meine und PAULAs Sommerreisen darzustellen: Als in sich geschlossene Geschichten. Notgedrungen lasse ich Dinge weg: Ereignisse, Tage, manchmal ganze Wochen. Vielleicht wären die eine oder andere traumhafte Nachtfahrt, manche Begegnung mit ausgesprochen netten Menschen oder die gelegentliche freudige Überraschung in einem notgedrungen angelaufenen, fälschlich für hässlich gehaltenen Hafen es durchaus Wert, aufgeschrieben zu werden, doch sie passen nicht in den angestrebten Spannungsverlauf. Ich nehme es in Kauf. Denn ich hege die Hoffnung, dass die Reiseberichte nicht nur für sich stehen, sondern gemeinsam eine Entwicklung erkennbar machen: Meine Entwicklung, in deren Verlauf ich nichts Geringeres fand als meinen ganz persönlichen Platz in der Welt. Segeln verändert. Das geht deutlich über das hinaus, was im Logbuch steht.

Das Buch möchte vor allem eines: Es möchte die Lust wecken, auf Segel- und Entdeckungsreise zu gehen – auf ein 7,64 Meter langes und 2,20 Meter breites Abenteuer mit 1,20 Meter Tiefgang.

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Ruhe vor dem Chaos:
PAULA in unserer ersten Saison.

DER GROSSE
WURF DER
BOOTSBAUGESCHICHTE

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Ostseetauglich. Ein Klassiker, oder jedenfalls aus Holz, um damit bei meinen Freunden im Museumshafen akzeptiert zu werden – wer möchte schon gerne zu den verpönten »Yachties« mit ihren hässlichen »Joghurtbechern« gehören? Groß genug, um Gäste mitzunehmen, aber klein und handlich genug, um auch allein damit klarzukommen. In Kaufpreis und Unterhalt meinem Budget an Geld und Zeit entsprechend. So lauteten die verblüffend rationalen Kriterien, als ich mich – seglerisch unerfahren, bootsbauerisch naiv, ansonsten in mancherlei Hinsicht desillusioniert, aber von ganzem Herzen bereit für diesen großen Schritt – entschloss, ein eigenes Boot zu kaufen.

Inzwischen sind es noch ganz andere Motive, warum ich PAULA, warum ich ein Nordisches Folkeboot gegen kein anderes Wasserfahrzeug eintauschen würde: das tiefe Cockpit. Der lange Kiel. Das schlichte, markante Rigg mit dem winzigen Vorsegel. Der Klinkerrumpf. Der unverwechselbare, zeitlos-elegante Riss. Kaum ein Segler schwärmt nicht von den erstaunlichen Segeleigenschaften des Folkebootes. Man sitzt fast auf Wasserlinie, behütet und geborgen, auch wenn gelegentlich ein erfrischender Schwall Gischt über die Kante fliegt, in einem Cockpit, das den unübertrefflichen Charme klassischer Bootsbaukunst in jeder Faser, jeder Kupferniete trägt. Unerschütterlich stürzt sich das Boot in die See, vermittelt den Segelspaß einer wendigen Jolle und ist dabei so seetauglich, dass selbst eine Atlantiküberquerung keine Unmöglichkeit wäre. Ja, der Pflegeaufwand einer alten Holzkiste ist erheblich, Platzangebot und Komfort wirken unzeitgemäß. Aber ist es nicht gerade heute überaus wohltuend, sich einmal auf das Wesentliche zu besinnen, auf Wind und Wetter, darauf, mit ihnen und niemals gegen sie das nächste Ziel zu erreichen?

Es gibt viele Gründe, kein Folke zu segeln oder zu besitzen: Zu klein für die Familie, zu unkomfortabel für die alten Knochen, zu aufwendig in der Pflege. Dann passt eben ein anderer Bootstyp besser zu den Bedürfnissen. Das Boot ist für die Ostsee gebaut, dort sollte es auch segeln. Nicht im Wattenmeer, nicht auf dem Atlantik. Unter dieser Voraussetzung behaupte ich, dass das Boot kaum Nachteile hat – im Gegenteil, es entspricht zumindest meinen Bedürfnissen haargenau. Viele der Errungenschaften des Bootsbaus, die sich inzwischen durchgesetzt haben, möchte ich überhaupt nicht haben: Rollanlage? Riesige Vorsegel, mit denen nur Popeye kreuzen kann? Kurzkieler, die in jeder Bö vertreiben? Selbst lenzendes Cockpit, bei dem man wie auf dem Präsentierteller im Wind sitzt? Sprayhood? Seezaun und Bugkorb? Bordtoilette? Nichts davon vermisse ich, im Gegenteil erwarte und verlange ich von meinem Boot, dass keines dieser Ärgernisse vorhanden ist.

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Gegenseitiger Einfluss:
Boot und Eigner wachsen zusammen.

Die Idee einer einheitlichen skandinavischen Bootsklasse wurde auf dem Nordischen Seglertag 1940 konkret, und man beschloss die Ausschreibung eines internationalen Konstruktionswettbewerbs. Ganz andere Kriterien als meine waren ausschlaggebend: Das Boot musste ausreichend Platz für vier Personen bieten und sollte schlicht und billig sein, sodass jede skandinavische Familie es sich leisten könne. Die Vorgaben hinsichtlich des Materials orientierten sich an den Notwendigkeiten der Zeit: Es war Krieg. Das Boot sollte aus einheimischen Hölzern bestehen (ein Mahagoniausbau wurde früh akzeptiert und setzte sich dann auch durch), für den Ballast war Gusseisen vorgeschrieben. Keiner der eingereichten Entwürfe überzeugte die Jury, und so wurde der schwedische Ingenieur und Bootskonstrukteur Tord Sundén aufgefordert, aus den Vorzügen der besten sechs das »Nordische Folkeboot« zu konstruieren. Der Prototyp lief am 23. April 1942 vom Stapel.

Bevor die endgültigen Pläne vorlagen, gab es aus ganz Schweden bereits 80 Bestellungen. Der Bedarf war also gegeben – doch statt Begeisterung weckte das Boot zunächst Entsetzen: Die an elegante, schlanke Formen mit endlos langen Überhängen gewöhnten Skandinavier mussten sich mit dem Plattgattheck, anderen rein zweckmäßigen Details und dem insgesamt spröden Charme des Folkebootes erst anfreunden. Zunächst deutete wenig darauf hin, welcher Begeisterung es sich erfreuen sollte. Doch man gewöhnte sich an die neue, unverwechselbare Optik, die für einige Jahrzehnte geradezu stilprägend wurde im Bootsbau. Die Idee, beim Folkeboot alles betont schlicht zu halten, entsprach dem Zeitgeist. Die beeindruckenden Segeleigenschaften des kleinen Bootes mit dem simplen, inzwischen mehr als altbackenen Rigg und der geradezu winzigen Segelfläche überzeugen bis heute: Erstaunlich schnell, gutmütig und unaufhaltsam ziehen wir unsere Bahn.

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TIBBE im Museum (oben).
Kein Holzfolke gleicht dem anderen (unten).

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Spurensuche im Limfjord.
Die neue Farbe war meine Idee.

In den 1970er-Jahren setzte sich GFK als preisgünstiges Baumaterial für Bootsrümpfe durch. Der Yachtsport erlebte einen gewaltigen Boom – jetzt konnte sich wirklich eine breitere Masse ein Segelboot leisten. Der arbeitsintensive Holzbootbau war dafür zu teuer. Eric Andreasen aus Kerteminde rettete das Folkeboot mit einer Kunststoffversion, geklinkert wie das hölzerne Original, mit identischen Segeleigenschaften. Heute erregen Folkeboote immer noch Aufsehen in jedem Hafen. Außerhalb der lebhaften Regattaszene sind es hauptsächlich Individualisten, die bewusst auf den vom Leben an Land gewohnten Komfort verzichten, obwohl modernere und größere Yachten ihn durchaus zu bieten wissen. Doch während die GFK-Boote die reine Zweckorientierung konsequent zu Ende betreiben, vermittelt die Holzversion den Eindruck, jedes Boot habe seinen ganz eigenen Charakter, eine Seele, ein Herz, das irgendwo im Inneren des rustikalen Rumpfes schlägt. Keine zwei Holzfolkes sind vollkommen identisch – das liegt an der Vielzahl von Werften, die sie in Serie gebaut haben, den zahlreichen Einzelbauten, aber auch dem inzwischen stolzen Alter der Boote: Im Lauf der Jahrzehnte hat so mancher Eigner eingebaut, was ihm sinnvoll erschien, und was sich bewährte, durfte an Bord bleiben. Wenn Boote sprechen könnten, hätten sie ganz sicher einiges zu erzählen …

Geschätzte 9000 Folkes wurden gebaut, 4000 aus Holz und 5000 aus GFK – wir reden von der meistverkauften Kielbootklasse weltweit. Bei solchem Erfolg ist nicht immer alles nur rosig und friedlich – Tord Sundén zettelte mehrere Rechtsauseinandersetzungen an. Es ging unter anderem darum, ob ihm Lizenzgebühren für Nachbauten zustehen. Schließlich durfte das von ihm konstruierte, von Marieholm gebaute »Internationale Folkeboot« nicht mehr so genannt werden, sondern musste »IF-Boot« heißen. In den großen Zeiten, als die einschlägigen Werften – Lind, Brandt-Møller oder Børresen in Dänemark, diverse in Schweden – Folkes in Serie produzierten, ging man von einer Lebensdauer von höchstens 20 Jahren aus. Es waren rustikale Boote, keine zum Prahlen geeigneten Schmuckstücke. Doch viele davon, Serienbauten und Einzelstücke, versehen auch nach 50, 60 Jahren munter ihren Dienst. Manche hässlichen Entlein sind wirklich abgerockt, wobei nicht die Jahrzehnte, sondern ein Reparaturstau von wenigen Saisons das eigentliche Problem darstellt. Andere sind in wirklich beeindruckendem Zustand und werden – trotz des allgemeinen Preisverfalls bei Gebrauchtbooten – immer noch für fünfstellige Summen gehandelt.

PAULA kann das alles: was Jury, Konstrukteur und Bootsbauer beabsichtigten. Was ich anfangs suchte. Was ich später zu schätzen lernte. Und darüber hinaus noch eine ganze Menge Dinge, die man niemals von einem Boot erwarten würde. Sie veränderte mein Leben. Sie gestaltet meine Freizeit und unterstützt mich bei der Arbeit. Sie teilt meine Freude und löst meine Probleme. Unnötig zu erwähnen, dass sie bisweilen zuverlässig Ruder geht und sogar die Törnplanung übernimmt. Dass sie Tonnen ausweicht, die ich übersehen habe. Dass sie mir Freundschaften knüpft, denen gegenüber ich selbst gar nicht aufgeschlossen genug wäre.

Lange Zeit ahnte ich nicht einmal, dass Menschen sich über solcherlei Dinge Gedanken machen können. Im Binnenland geboren, als die meisten Holzfolkes bereits durch die Wellen pflügten, faszinierten mich Schiffe zwar schon als Kind, wenn es im Sommer für zwei Wochen an die Nordsee ging, aber diese vage Faszination führte nie zu einem konkreten Interesse. Ein ehrenamtliches Engagement bei Greenpeace brachte mich der Seefahrtsromantik erheblich näher, die die Organisation geschickt in ihre Öffentlichkeitsarbeit einbindet. Doch außer eines Umzugs nach Hamburg bedurfte es einer Reihe von Zufällen, damit ich meine wahre Leidenschaft finden konnte.

Der alte Diesel tuckert monoton und zuverlässig. Das stählerne Schiff vibriert im vorgegebenen Rhythmus, schiebt eine gleichbleibende Bugwelle über den Havelkanal. »Ich fahre seit 30 Jahren diese Strecke«, brüstet sich der Skipper. Orange Latzhose, graues Haar – so sieht also ein Binnenschiffer aus? Dem Motor traue ich nicht so ganz: Als früh um sieben in Rathenow die Schleuse öffnete, sprang er Dieters sämtlichen Bemühungen zum Trotz nicht an. Also musste ich das Schiff von Hand in die Schleusenkammer ziehen. In Sandalen! Vor dem ersten Kaffee!

Die OLDENBURG ist ein Binnenschiff, dessen Rumpf um einige Meter verkürzt und grün lackiert wurde. Von Greenpeace gechartert, beherbergte sie eine Ausstellung über Leben und Bedrohung der Wale. Nun wird sie nach Berlin überführt, um sie ihrem Eigner zurückzugeben. Wir sind zu viert: ein angeheuerter Kapitän von sprödem Charme und zweifelhafter Revierkenntnis. Dieter, Maschinist und eingefleischter Greenpeacer. Meine Freundin, die gerade ein Praktikum bei der Umweltorganisation hinter sich hat, bei dem sie weder im Büro noch im Aktionslager wirklich gebraucht wurde und schließlich auf der OLDENBURG landete. Und ich. Es ist die erste Schiffsreise meines Lebens, eine vollkommen neue Erfahrung. Unterwegs lackiere ich den Mastkoker, der an Deck herumkullert, ansonsten versorge ich den Mann im orangen Overall mit Kaffee und halte ihn bei Laune. Unbezahlt, der guten Sache dienend.

»Übernimmst du mal kurz? Ich muss auf Klo«, sagt der Kapitän. Als er durch die Tür des Steuerhauses huscht, steht mein Mund offen, um zu protestieren: »Aber, aber, aber ich hab das noch nie gemacht.« Ich spare mir die sinnlosen Worte und sondiere die Lage. Das Steuerrad ist ganz an Backbord, der Maschinentelegraf an Steuerbord. Dazwischen liegen zwei Meter Panoramafenster, durch das ich mit Schrecken erkenne, dass das Schiff sich vom rechten Ufer entfernt. Ich lege Ruder. Eine halbe Umdrehung. Nichts passiert. Eine ganze Umdrehung. Das Schiff zieht weiter nach Backbord. Eine weitere Umdrehung, und noch eine, und noch eine, bis zum Anschlag. Die OLDENBURG beginnt zu drehen. Nach wenigen Sekunden fahren wir mehr oder weniger direkt aufs Ufer zu.

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In aufkommender Panik wirbele ich das Ruder herum, während das Schiff die vorherige Kursänderung hartnäckig beibehält. Gerade noch rechtzeitig, bevor es eng wird, gehorcht die alte Dame. Doch jetzt schießt sie wieder mit Schwung auf die Mitte des Kanals zu, und es kommt Gegenverkehr. Zitternd und schwitzend überlege ich, Fahrt wegzunehmen. Doch dazu müsste ich das Ruder loslassen, und das traue ich mich nicht – würden wir dann nicht in einen unkontrollierten Schlingerkurs geraten? Der Kapitän kehrt zurück. Musste wohl nur kurz pinkeln statt des großen Geschäfts. »Wie – du hast das noch nie gemacht? Warum hast du denn nichts gesagt?«, empört er sich, während er das Schiff zurück auf Geradeausfahrt bringt. »Du warst ja so schnell weg«, murmele ich, bevor ich unter Deck verschwinde und neuen Kaffee aufsetze.

Steffi und ich sind im Begriff, nach Hamburg zu ziehen. Raus aus der Provinz, rein in die Metropole an der Wasserkante. Ich bin 26 – höchste Zeit, mal etwas anderes zu sehen und zu erleben als Fichtenmonokulturen und bedrückend enge Täler. Während der Wohnungssuche übernachten wir auf der OLDENBURG, die im Harburger Binnenhafen auf ihre Überführung wartet. Diese kleine Reise über Elbe und Havel passt genau vor Schlüsselübergabe und Renovieren.

Ich zweifle nicht daran, dass es von nun an so weitergeht: Dass ich von jetzt an bei jeder Gelegenheit auf Schiffen fahren werde. Dieselgeruch in der Nase, dickes Tauwerk in den Händen, kernige Sprüche im Ohr – es ist ein verheißungsvoller Auftakt zu meinem neuen Leben. Dass ich bisher von nichts eine Ahnung habe, gerade einmal gelernt habe, was Fender sind und wie man sie an die Reling tüdelt, und dazu einen kurzen, schweißtreibenden Eindruck von der Schwierigkeit bekomme, die es bedeutet, ein Schiff zu steuern: Das stört mich nicht. Ich werde es ja nach und nach lernen. Meine Unkenntnis hält mich gewiss nicht vom Fachsimpeln ab – verbal probiere ich schon mal aus, was es heißt, ein erfahrener Seemann zu sein.

Nur: So läuft es nicht. Für die meisten Bewohner Hamburgs sind Elbe und Hafen nicht mehr als eine reizvolle Kulisse, vor deren Hintergrund sie ihr urbanes Leben in Szene setzen. Die anderen, die Segler und Seeleute und Freizeitkapitäne, lerne ich nicht automatisch kennen. Vorläufig genügt mir das mit der Kulisse. Ich habe mich entschieden, Geografie zu studieren. Steffi jobbt zwar auf der Jöhnck-Werft in Harburg, aber den Hafen verlässt auch sie nicht.

Ein Jahr vergeht. Wir trennen uns. Freundschaften kommen und bleiben, Liebschaften kommen und gehen, im Nu sind weitere sieben Jahre vorbei. Frierend demonstriere ich im Wendland gegen Atomtransporte. Schwitzend lerne ich in Uganda eine ganz andere Realität kennen und schätzen. Ich bade in Atlantik, Pazifik und Indischem Ozean. Dann schlägt eine Freundin – auch eine Zugereiste, wir kennen uns vom Spanischunterricht an der Uni – einen Kurs zum »Sportbootführerschein See« vor. Sie wisse auch nicht, was sie damit anfangen wolle, aber die Veranstalter seien Freunde von ihr, denen eine Barkasse aus den Zwanzigerjahren gehörte. Wir sind uns einig: Grundsätzlich kann es nicht schaden, mal wieder etwas Neues zu probieren. Skeptisch bin ich allemal, als ich den Kursraum betrete. Doch dann fällt mir am Türrahmen ein Spruch auf:

»Hätt nicht der Seemann den Humor –

ihm käm die See

versalzen vor.«

In den folgenden vier Jahren fuhr ich immer mal wieder auf einem Traditionssegelschiff mit, der JONAS VON FRIEDRICHSTADT – zunächst als Gast, von einem flüchtigen Bekannten dazu überredet. Nach dem Studium gehörte ich sogar zur Stammcrew. Nicht einmal PAULA vermag mir heute die seltsame Faszination erklären, die mich bei der Stange hielt, denn es überwogen die Nachteile: Auf einem 120 Tonnen schweren Zweimaster lernt man zwar nach und nach eine Menge über Seemannschaft, Navigation und Wetterkunde, aber nichts von den Grundlagen des Segelns. Der permanente Mangel an Privatsphäre ist für einen latenten Einzelgänger wie mich nicht einfach zu ertragen. Und weil der Skipper über den gesamten Tagesablauf entscheidet, von der Weckzeit bis zum Schlafengehen, fühlte ich mich fremdbestimmt. Als ich in Vollzeit arbeitete, aber jeden Urlaub an Bord verbrachte, wurde es mir auf Dauer schlicht zu anstrengend, ständig auf die Bedürfnisse der immer neuen Gästegruppen einzugehen.

Am wohlsten fühlte ich mich in den seltenen Momenten, in denen ich ungestört Ruder gehen durfte. Dabei wurde mir allmählich klar: Wenn das mit mir und der Segelei etwas werden sollte, brauchte ich ein eigenes Schiff. Allmählich lichtete sich der Nebel, der diese fixe Idee umgab, und es wurden die Kriterien erkennbar, die es erfüllen musste. Ich landete, ohne Näheres über diesen oder irgendeinen anderen Bootstyp zu wissen, beinahe zwangsläufig beim Nordischen Folkeboot.

Und noch etwas anderes kristallisierte sich heraus, noch bevor ich konkret auf Bootssuche ging und irgendwie auch unabhängig davon: Ich wollte etwas haben, das PAULA heißt. Auch für mich selbst ist es schwer zu verstehen, warum ich so lange und konsequent an der Faszination des Segelns festhielt, obwohl ich sie allenfalls ahnte, sie noch gar nicht wirklich erfahren hatte. Eine ähnlich diffuse Faszination muss wohl von diesem Namen ausgehen. Nun hätte ich ihn auch einem Hund oder einer Katze verleihen können, aber ein Haustier mochte ich gar nicht. Eine Tochter – das ist deutlich voraussetzungsreicher. Ich wollte eine PAULA, also kaufte ich mir ein Folkeboot. Und damit begann das Abenteuer …

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Die JONAS:
Viel gelernt und Freunde gefunden –
aber das Abenteuer begann mit PAULA.

EHER LEHRREICH
ALS SCHÖN:
PAULAS
UND MEINE
ERSTE SAISON
2008

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Skeptisch, unsicher –
aber auch ein bisschen stolz.

April 2008: Das unscheinbare Foto zeigt einen skeptisch dreinblickenden Mann mit dunkler Wollmütze, der sich mehr oder minder verkrampft am Vorstag eines Segelbootes festhält und unsicher in die Kamera lächelt. Er wirkt von seiner Sache ganz und gar nicht überzeugt. Der Fotograf hat sein Geld bekommen, nicht für die Aufnahme, sondern für das Boot, das er soeben verkauft hat. Der Porträtierte hingegen hat zu seiner Skepsis allen Grund, auch wenn er noch gar nicht ahnt, auf welch beschwerlichem Weg er und die künftige PAULA ein eingespieltes Team werden sollen.

In den nächsten Monaten begleitet ihn in unregelmäßigen Abständen ein Traum durch unruhige Nächte: Da segelt er seine Neuerwerbung einen überfluteten Waldweg entlang. Eindeutig handelt es sich um keinen Fluss, sondern einen von jahrzehntelangem Holzrücken oder einer ähnlich bodenständigen Tätigkeit tief in die Landschaft eingeschürften Weg, auf dem es bergauf und bergab geht – und obwohl er, offenbar nach gewaltigen Regenfällen, über weite Strecken tief unter Wasser steht, kommen doch immer wieder Kuppen und Schwellen, wo der Schlamm an die Oberfläche tritt. Ordentlich Schwung ist vonnöten, um den Rumpf des Bootes durch diese Passagen zu manövrieren – entgegen aller Erfahrung und jeglicher Wahrscheinlichkeit gelingt es jedes Mal. Dann, obwohl sich das ganze Unterfangen wie ein unsinniges Wagnis anfühlt, das von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, kommt es statt zum schweißüberströmten Erwachen zu einem grandiosen Happy End: Der Hohlweg weitet sich zu einem idyllischen Waldsee hin, geschützt vor dem ruppigen Wind, der die vorhergehende Achterbahnfahrt erst ermöglichte, und dort fällt in der Abendsonne der Anker. Grillen zirpen, das Schiffchen wie sein Eigner kommen zur Ruhe wie scheue Rehe, die einen stillen Platz zum Äsen finden.

Das mulmige Gefühl, auf einen ganz und gar verkehrten Weg geraten zu sein, mich auf völlig ungeeignetes Terrain begeben zu haben, die Angst, dabei stecken zu bleiben und nie wieder vor- oder zurückzukönnen; am Ende die Belohnung: malerische Idylle, die zu erleben ein großes Glück bedeutet, das nur dem zuteil wird, der das Wagnis eingeht – ich bin gespannt.

Unter der kundigen Anleitung des Vorbesitzers ist PAULAPAULA