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53639 Königswinter www.pro­talk­verlag.de

Umschlag: Katrin Kawinkel, katika­media.de Titelfoto:  www.fotolia.com/sonne_fleckl Satz: Katrin Kawinkel, katika­media.de Schrift: Gentinum Basic


ISBN: 978­3­939990­37­6


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Martin Demmler

Laubenpieper

Wo das wahre Leben tobt…

Prolog


Ich kann den Lärm, der mich geweckt hat, nicht genau einordnen. Es klingt nach schwerem Gerät, ein Bagger vielleicht oder eines dieser Kettenfahrzeuge. Metall kreischt, Motoren röhren. Befehle werden gebrüllt. Presslufthämmer dröhnen. Motorsägen fressen sich jaulend durch Stämme und Äste.


Um mich herum ist alles dunkel. Komplett schwarz. Ich versuche, die Augen zu öffnen, aber das klappt nicht. Als ich mir mit der Hand durchs Gesicht fahre, merke ich, dass ich meine Arme nicht bewegen kann. Meine Beine auch nicht. Panik macht sich in mir breit, mein Herz rast. Bin ich gelähmt? Ich will schreien, auf mich aufmerksam machen, aber mein Mund ist wie ausgetrocknet, fühlt sich an wie Sandpapier. Ich versuche, mit der Zunge meine Lippen zu befeuchten, doch auch das funktioniert nicht. Ich kann meine Zunge überhaupt nicht mehr spüren.


Ich habe keine Ahnung, wo ich mich befinde. Vielleicht ist es ein Holzverschlag, eine Hütte oder eine Gartenlaube. Jedenfalls riecht es schwach nach Holz. Die Luft ist stickig. Ich liege auf einer Art Pritsche. Metallfedern quietschen und piken mich, wenn ich versuche, mich zu bewegen. Es riecht muffig, nach getrocknetem Mäusekot und zu lange getragenen Socken. Eigentlich genau wie in meiner versifften, unsanierten Gartenlaube am Fürstenbrunner Weg in Berlin. Bin ich dort? Aber wie komme ich dahin? Was hat dieser schreckliche Lärm zu bedeuten? Und warum kann ich mich nicht bewegen?


Die schweren Maschinen kommen immer näher. Holzbalken fallen polternd auf die Erde. Bretter ächzen und knirschen, bevor sie schließlich bersten. 

Eine Art Bagger oder Planierraupe hält offenbar direkt auf mich oder besser gesagt auf den Verschlag zu, in dem ich mich befinde. Ich rieche die Dieselabgase der gewaltigen Maschine. Planken brechen, Glas splittert. Plötzlich spüre ich einen leichten Luftzug. Gleichzeitig nimmt der Geräuschpegel noch einmal zu. Ich zittere wie Espenlaub und bemerke, dass ein feuchter, kalter Schweißfilm mein Gesicht bedeckt. Das T-Shirt, das ich trage, klebt mir an Brust und Rücken. Das Kettenfahrzeug ist jetzt direkt vor mir. Der Geruch von nasser Erde und kaltem Metall steigt mir in die Nase. Ich ringe nach Luft und spüre gleichzeitig das gleichmäßige Vibrieren des Motors. So stirbst du also, denke ich. Ein schwerer Stützbalken löst sich und fällt mir mit der scharfen Kante direkt auf den Kopf. Knochen splittern, Blut läuft mir über die Wange. Ich schreie laut auf.


„Was hast du denn, Dicker?“, fragte Sabine besorgt und fuhr mir schlaftrunken mit der Hand über die schweißnasse Stirn.

„Warum weinst du? Hast du wieder schlecht geträumt?“ Mir liefen tatsächlich Tränen über die Wangen. Es dauerte eine Weile, bis ich wusste, wo ich mich befand. Ich zog mir das durchgeschwitzte Nachthemd über den Kopf und ging pinkeln.


Auf der Toilette kam ich wieder zu mir. Ich starrte die Klopapierrolle an und versuchte, mir den Traum in Erinnerung zu rufen. Aber es waren nur noch einzelne Sequenzen, die ich sah, kein zusammenhängender Film mehr.


Sabine schnarchte leise, als ich zurück ins Schlafzimmer kam. Draußen rauschte ein Krankenwagen mit eingeschaltetem Martinshorn vorbei. Sabine hatte sich auf die Seite gedreht und hielt ihren kleinen Funkwecker verkrampft in ihrer Linken. Ich wusste, dass sie am nächsten Morgen früh raus musste, und legte mich möglichst leise wieder hin. Mein Herz klopfte immer noch stürmisch, als ich mich unauffällig an sie kuschelte, mit meinem Kopf an ihrem Rücken.


Seit Wochen verfolgten mich jetzt diese Albträume. Seit die Zukunft unserer Schrebergartenkolonie auf der Kippe stand, hatte ich kaum noch eine ruhige Nacht. Berlin brauchte dringend neuen Wohnraum und die innerstädtischen Kleingartenanlagen waren vielen Politikern und Investoren ein Dorn im Auge. Aber warum nahm mich das so mit? Ich klebte doch nicht an meiner Parzelle. Ich hatte doch nie ein richtiger Kleingärtner sein wollen! Sabine hatte mir das alles eingebrockt. So sah ich das jedenfalls. Seit mich diese Horrorträume heimsuchten, verfluchte ich den Tag,  an  dem wir die Parzelle gepachtet hatten. Dabei hatte doch alles so harmlos begonnen…

1


Eigentlich suchte ich keinen Kleingarten – im  Gegenteil! Wenn mir vor fünf Jahren jemand gesagt hätte, ich würde als Laubenpieper enden und das auch noch aus Überzeugung – ich hätte ihn nicht mal eines Blickes gewürdigt, geschweige denn einer Antwort. Doch es sollte anders kommen. Ich wurde Kleingärtner. Parzellenpächter. Gartenfreund.


Seit Monaten war ich mit Sabine auf der Suche nach einem Haus mit Garten. Möglichst im Grünen. Wir hatten unermüdlich Immobilienanzeigen studiert und unbezahlbare Villen in Grunewald und am Wannsee besichtigt. Aber mit jedem Anwesen, das uns gefiel, wuchs die Einsicht, dass wir uns so etwas nicht leisten konnten. Sich aber mit einem Reihenhaus oder einem Bungalow aus den sechziger Jahren, die zumindest noch bezahlbar waren, zufriedenzugeben, kam  für uns nicht infrage. Wie wir dann von der Villa zur Schrebergarten­Holzhütte gekommen sind, kann ich heute nicht mehr mit Gewissheit sagen. Vielleicht ein mentaler Blackout? Eine Sinnkrise größeren Ausmaßes? Oder Eingebung?


Während eines Sonntagsspaziergangs durch den Schlosspark Charlottenburg, der uns anschließend immer an der Spree entlang und durch mehrere, hintereinanderliegende Kleingartenkolonien führt, entdeckten wir dort ein verwildertes Grundstück. Sabine blieb neugierig stehen und musterte die baufällige Hütte, die von einer ungepflegten Rasenfläche umgeben war. Hier hatte sich seit Monaten niemand mehr um die Pflege des Gartens gekümmert. Faulende Äpfel lagen im Gras und nahe des Zauns hatte das Unkraut bereits eine wirklich erstaunliche Höhe erreicht. Sabine gaffte und gaffte, so dass es mir schon unangenehm wurde. Ich bin mehr der zurückhaltende Typ und meide nach Möglichkeit die Begegnung mit Fremden. Und dieses Gaffen mitten in einer Kleingartenkolonie musste ja Reaktionen hervorrufen, was mir naturgemäß gar nicht Recht war. Ängstlich blickte ich mich in alle Richtungen um. Denn eigentlich bin ich eher furchtsam als zurückhaltend. Vielleicht sogar ein wenig paranoid. Ein drahtiger, etwa vierzigjähriger, muskelbepackter Rotschopf mit Schubkarre, bekleidet nur mit einer kurzen Hose und Turnschuhen ohne Schnürsenkel, kam vorbei. „Können Se pachten“, rief er uns verschmitzt im Vorübergehen zu, nickte mit dem Kopf in Richtung des brachliegenden Gartens und fuhr mit seiner Fracht dem Ausgang der Kolonie entgegen. Seine Schuhe schlabberten an den Füßen. Das machte Sabine noch neugieriger. Immer wieder streifte sie am Zaun entlang, musterte die feuchten Zementsäcke, die sich vor dem Eingang der heruntergekommenen Laube stapelten. Auf den Zehen stehend, beäugte sie die wenigen welken Stauden, die sich in dem kniehohen Gras noch gehalten hatten.


Ich versuchte, sie zum Fortsetzen unseres Spaziergangs zu animieren, indem ich sie zuerst zärtlich rief, dann etwas lauter, und schließlich demonstrativ in Richtung der nahe gelegenen Straße ausschritt, aber vergebens. Sabine klebte geradezu an dem Zaun, so dass mir nichts anderes übrig blieb, als wieder umzukehren. Verstohlen musterte ich die Umgebung und versuchte gleichzeitig, sie vom Zaun wegzuziehen.


Das ganze Grundstück, von allen Seiten perfekt einsehbar, wirkte verlottert und wenig attraktiv. Das Gras war kniehoch und der einzige Obstbaum, das sah ich mit Kennerblick, war seit Ewigkeiten nicht beschnitten worden. Ein Zitronenfalter flatterte auf einen verholzten Lavendelbusch zu. Auf dem schmalen, gepflasterten Weg, der zum Ausgang der Kolonie führte, bespritzten sich zwei halb nackte Kinder mit einem Wasserschlauch. Aus einem entfernter liegenden Garten drang leise Schlagermusik der siebziger Jahre. Zwei rotgesichtige Männer standen an einer hölzernen Pforte mit Bierflaschen in der Hand und unterhielten sich. Einer von ihnen trug einen ausgefransten Strohhut. Es war eher eine Art nonverbaler Kommunikation, die sich auf leises Seufzen, gelegentliches Kratzen im Schritt und gegenseitiges Zuprosten beschränkte. Eine Regionalbahn rauschte vorbei, von der nahen Stadtautobahn erklang ein beruhigendes Summen – sonntags hielt sich der Verkehr dort in Grenzen. Eine friedliche Atmosphäre lag über der Kolonie.


Von der Seite näherte sich plötzlich ein glatzköpfiger Alter.

„Suchen Se’n Jarten?“, krähte er, während die Promenadenmischung zu seinen Füßen unaufhörlich kläffte. Ein fieser, kleiner Köter, dem man schon ansah, dass er am liebsten zugebissen hätte. „Sei doch mal ruhig“, keifte der Alte, was den Hund allerdings nicht zu interessieren schien. Herrchen strich sich derweil über den kahlen Kopf, der eine ähnliche Form aufwies wie der mächtige Bauch, den er vor sich her schob. Er trug dicke Wollstrümpfe und ausgelatschte Filzpantoffeln, die möglicherweise noch aus der Vorkriegszeit stammten und in denen er über den Gartenweg schlurfte.


Sabine ging sofort auf den Zaun zu, während ich mich in die entgegengesetzte Richtung bewegte, um jederzeit Reißaus nehmen zu können. „Vielleicht?“, antwortete sie dem Glatzkopf und lächelte ihn an.

„Det  is  nüscht“,  meinte  der  Dicke,  und  zeigte  auf  das heruntergekommene Nachbargrundstück. „Ein Türke“, ergänzte er, als wäre das schon ein hinreichender Grund für die Beschaffenheit des Gartens, und unterstützte dies durch eine wegwerfende Geste. „Kümmert sich nich mehr drum, hat wohl zu viel mit seine viele Weiber zu tun. Scheiß­Türken. Machen sich hier überall breit. Jetzt auch schon inne Kolonie.“ Sein Gesicht wirkte schmerzverzerrt. Deutschnationale Gesinnung war hier offensichtlich noch salonfähig. Auf seiner Laube wehte die schwarz­rot­goldene Flagge. Immerhin nicht der Reichsadler, dachte ich.


In diesem Moment wurde einige Parzellen weiter ein Rasenmäher angeworfen. Der Glatzkopf erstarrte. Seine Halsschlagader schwoll an und seine froschartigen Augen schienen aus den Höhlen zu treten. Offenbar war er gegen dieses Geräusch allergisch. Mit hochrotem Kopf öffnete er das Gartentor und warf es mit aller Wucht hinter sich zu.

„Kalle, du Arsch“, schrie er so laut, dass man es in der ganzen Kolonie hören konnte. „Bist du bekloppt! Is Sonntag, du weiche Birne. Mach det Ding aus.“ Wutschnaubend stapfte er in Richtung des Grundstücks, das offenbar dieser Kalle gepachtet hatte. Der Lärm erstarb so schnell, wie er begonnen hatte. Anscheinend war unser Glatzkopf eine Art Autorität in der Anlage. Zufrieden und mit stolzgeschwellter Brust schlurfte er zurück zu seinem Stammplatz. Struppi jaulte stolz und wedelte mit dem kurzen Schwanz, als Herrchen wieder vor Ort war. Die Sonntagsruhe war hier definitiv heilig. Das war mir sympathisch.

Der Alte zog seine verbeulte Jogginghose hoch und wischte sich mit dem Unterarm über die verschwitzte Stirn. „I’m a Star“ war auf seinem nicht mehr ganz sauberen, hellblauen T­Shirt zu lesen. „Aber dahinten“, grunzte er dann, „is ooch noch en Jarten, Besitzerin is neulich verstorben, jroßet  Grundstück, und sogar mit Kalinisation“, nahm er seinen Bericht wieder auf. Er grinste, dann schien er zu bemerken, dass irgendetwas falsch gewesen war an dem Wort und seine Gesichtszüge entgleisten. Sein Geist arbeitete fieberhaft. Irritiert blickte er zu seinem Köter, der wieder begonnen hatte, bösartig zu kläffen. Aber Struppi wusste scheinbar auch keinen Rat und jaulte jetzt zur Abwechslung.


„Jehen Se ma gleich zum Vorstand, Parzelle 53, Herr Rosteck, der kann ihnen det zeijen. Mit Hütte, stinkt wahrscheinlich bisscken nach Hund, denn die Olle war da immer mit ihrem Schäferhund drinne. Aba wie jesacht, mit Kalinisation.“ Wieder kam ihm das Wort nicht so recht über die Lippen. „Könn’ Se sich doch ma ankieken“. Er hustete und versuchte, die kleine Bestie ins Haus zu jagen, doch Struppi ließ sich davon nicht beeindrucken und kläffte wieder munter weiter.


Offenbar wollte uns der Alte als Nachbarn gewinnen. Warum, war mir allerdings unklar. Vielleicht suchte er eine nette, jüngere Frau in seiner Nähe, der er dann mal seine Gartenwerkzeuge zeigen konnte? Aber der Alte war mindestens siebizg und, so schien mir, nicht mehr sonderlich an Sex interessiert. Aber man weiß ja nie! Was wusste ich schon vom Geschlechtsleben der Kleingärtner? In diesem Augenblick war ein mächtiges Donnergrollen zu hören, Wind kam auf und erste Tropfen fielen auf die staubige Straße. Wir verabschiedeten uns rasch.

„Jehen Se ma zum Rosteck und ’nen schönen Gruß vom Herrn Strasser“. Er grinste uns verschmitzt an.

„Strasser? Wie der Major in ‚Casablanca’?“, fragte ich. „Reizender Typ.“ 

Der Alte glotzte mich verständnislos an und kratzte sich unter der Achsel.

„War nur ein Scherz“, meinte ich. Die Glubschaugen fixierten mich kurz. Dann wandte er sich ab.


Während der Alte in seine Hütte schlurfte, die eher einem ausgewachsenen Einfamilienhaus glich, suchten wir unter einer nahen Eisenbahnbrücke Schutz vor dem aufkommenden Gewitter. Der Regen prasselte auf die Gleisanlagen. Ein Güterzug donnerte über unsere Köpfe hinweg – Romantik pur. Zwei Medizinbälle und ein Lendenschurz hoppelten vorbei. Jedenfalls kam es mir so vor. Vielleicht hatte ich schon Halluzinationen von der vielen Frischluft hier draußen.


Sabine wirkte ganz euphorisch. „Lass es uns doch mal angucken gehen“, flötete sie, die bisher nie eine ausgeprägte Neigung zur Gartenarbeit gezeigt hatte. Eigentlich ist ihr schon die Pflege des Balkons zu viel, denn als Ärztin hat sie einen anstrengenden Job. Deshalb ähnelt unsere Balkonbrüstung meist einer Neupflanzung in der Sahara in Zeiten des Klimawandels.

Ich wiegelte ab: „Das können wir doch immer noch machen. Es regnet. Außerdem: Ich bin doch kein Kleingärtner. Das sind doch die schlimmsten Spießer! Mit FeinrippUnterhemd, Schäferhund und Heino im Gemüt. Niemals! Nicht mit mir! Nur über meine Leiche!“

„Wer sagt, dass das alles Heino­Fans sind?“, konterte Sabine. „Vielleicht bist du einfach der Spießer, der sich keine andere Lebensweise als seine eigene, eingerostete, vorstellen kann. Da solltest du mal drüber nachdenken. Ich fände einen Garten toll, mit eigenem Obst und Gemüse, frischen Erdbeeren und saftigen Pflaumen. Tomaten, Zucchini, Peperoni.“ 


Ich machte ein verzweifeltes Gesicht, als hätte ich gerade einen nahen Angehörigen verloren, und überredete Sabine, zunächst mal die nahegelegene Kneipe aufzusuchen, die zwischen Bahntrassen und Autobahnzufahrten so abseits jeder Zivilisation lag, dass sie nur von den Kolonisten der nahegelegenen Kleingartenanlagen aufgesucht wurde: Das

„Tunneleck“ – der Name war Programm. Zu dieser Schänke gelangte man nur, wenn man, von der Spree kommend, eine lange, dunkle Tunnelröhre passierte. In der Mitte des Tunnels war es so dunkel, dass man seine Hand kaum vor Augen sah. Wenn es stark geregnet hatte, wurden dort, ähnlich wie in Venedig, Bretter ausgelegt, damit man nicht aus Versehen in die riesigen Pfützen tappte.


Erblickte man dann Licht am Ende der Röhre, präsentierte sich die Kneipe in ihrer Einmaligkeit, allerdings völlig anders als Venedig. Seltsame Skulpturen in der Form von lebensgroßen Pferden und Menschen bildeten die Kulisse, in grotesken Farben angemalt. Ein einbeiniger Pirat mit Augenklappe und Dreispitz auf dem Kopf, eine Art Schneewittchen aus Pappmaschee mit langem, blondem Haar im weißen Kleid, ein überdimensionierter Frosch mit einer goldenen Krone auf dem verwitterten Haupt. Ein Fantasiepark, ein regelrechtes Panoptikum hatten die Besitzer hier zusammengetragen. Nebenan präsentierte sich ein aufgebockter Trabant ohne Räder mit einer bereits etwas verblassten Deutschlandfahne auf dem Dach. Daneben lag ein mannshoher Haufen Schrott. Hier hatten die Kleingärtner mehrerer Generationen ihre defekten Gartenwerkzeuge entsorgt. Es gab durchgerostete Schubkarren, Rechen jeder Art, meist ohne Stiel, altertümliche Blechgießkannen, Fragmente mehrerer Kinderwagen und ausrangierte Grillroste. Vor einer Mauer plätscherte ein Teich, in dem zahllose, fette Goldfische schwammen.


Die Kneipe selbst war in einer Art Baracke untergebracht, die wohl noch aus der unmittelbaren Nachkriegszeit stammte. Ein zeltartiger Anbau schloss sich an. Hier wurde gefeiert und palavert, getanzt und getrunken. Meist saßen jedoch nur einige einsame Trinker oder Spaziergänger an den wackligen Metalltischchen und stärkten sich mit einem alkoholhaltigen Getränk. Dass hier auch beste Berliner Hausmannskost serviert wurde, wussten die wenigsten. Neben Schmalzstullen und Currywurst bot die zerfledderte Speisekarte auch Rinderrouladen, Pferdesteak und einen deftigen Schweinebraten an. Es war zwar ein eher schattiges Plätzchen, aber für einen lauen Sommerabend gerade richtig.


Dem Wirt, Egon, sah man an, dass er schon viel erlebt hatte, seit er die Kneipe vor über zwanzig Jahren übernommen hatte. In seinem Mundwinkel klebte immer eine selbstgedrehte Zigarette. Seine muskulösen Arme waren flächendeckend mit so unterschiedlichen Motiven wie finsteren Drachen, Ankern, Eisenketten oder Wassernixen tätowiert. Und das, obwohl er nie zur See gefahren war. Seine Stimme war rau, fast heiser von den vielen Selbstgedrehten und sicher auch von dem einen oder anderen Schnäpschen, das er mit den Gästen kippte. Er war ein friedlicher Typ, wurde nie laut und wirkte eher ein wenig verträumt und in sich gekehrt.


„Ein eigener Garten, das wär’s doch“, meinte Sabine, als wir im „Tunneleck“ unter dem zeltartigen Vorbau saßen und der Regen auf das Dach trommelte. Ich nahm einen kräftigen Schluck von meinem Weizenbier und blickte geistesabwesend auf den seltsamen Skulpturenpark.

„Alle unsere Freunde haben inzwischen einen Garten“, setzte Sabine nach. „Nur wir nicht.“

„Die haben doch auch alle kleine Kinder“, entgegnete ich.

„Da macht so was Sinn. Aber bei uns? Wir kriegen doch unseren Alltag so schon nicht auf die Reihe. Und da willst du jetzt Gemüse züchten und Pflaumen ernten? Überleg’ doch mal! All diese Vorschriften. Diesen Baum darfst du nicht pflanzen, dafür musst du Radieschen anbauen. Von allen Seiten wirst du ständig beäugt, kontrolliert und begafft, nirgends gibt es so etwas wie Privatsphäre. Das ist doch grauenhaft!“


Aber Sabine zeigte sich uneinsichtig. „Endlich könnte ich mir einen Teich anlegen, mit Seerosen und Goldfischen. Das wollte ich schon immer.“ Sehnsüchtig musterte sie die fetten, glubschäugigen Exemplare, die im Tümpel an der Kneipe ihre Runden drehten. „Lass uns doch den Garten wenigstens mal ansehen. Bitte!“ Sie setzte ihren Schmollmund auf und strich sich die langen, dunkelbraunen Haare aus dem Gesicht. Ich betrachtete ihre schmale, leicht gebogene Nase und das Grübchen auf ihrem Kinn, das ich so liebte.

Ich seufzte. „Okay“, gab ich schließlich klein bei, in der stillen Hoffnung, dass sich die ganze Sache in Wohlgefallen auflösen würde, und wollte ein zweites Weizenbier bestellen. Doch da hatte ich die Rechnung ohne Sabine gemacht.


Als es aufgehört hatte zu regnen, strebte sie schnurstracks zu der Bekanntmachungstafel am Eingang der Kolonie zurück und notierte sich die Telefonnummer des Vorstands in ihr ausgefranstes Adressbüchlein. Fortan sollte kein Tag vergehen, ohne dass sie mich nicht dringend bat, dort anzurufen.


Warum sie es nicht selbst tat, weiß ich nicht. Wahrscheinlich brauchte sie einen Mitschuldigen – für den Fall der Fälle. Nach einer Woche war ich weichgekocht und verabredete mit dem großen Vorsitzenden Rosteck einen Besichtigungstermin. Am Telefon schien er erleichtert, dass sich endlich ein Interessent für das Grundstück gefunden hatte. Wahrscheinlich würde der glatzköpfige Alte noch eine Vermittlerprovision einstecken. Bei diesen Typen weiß man nie!

 2


Wir hatten uns am sogenannten Festplatz verabredet, einer kümmerlichen, aber frisch gemähten Wiese, die an einer Seite von einer kleinen, überdachten Bühne begrenzt wurde. Hans-Dieter Rosteck, mit Mafiabrille und offenem Hemd, hielt die Schlüssel in der linken Hand und musterte uns neugierig, als kämen wir von einem anderen Stern. Er war schätzungsweise Mitte siebzig, hatte gelbe, hervorstehende Hasenzähne und schütteres, schlohweißes Haar. Wie alle Kleingärtner war er tief gebräunt und wirkte noch immer äußerst drahtig. Locker reichte er uns seine Rechte und murmelte: „Dann wollen wir mal.“ Nachdem er es geschafft hatte, mit seinen leicht zittrigen Fingern den richtigen Schlüssel für die Gartentür zu finden, ließ er uns den Vortritt – ganz der Gentleman. Was wir sahen, übertraf meine schlimmsten Erwartungen.


Der Farbanstrich an der geduckt wirkenden Laube war schon weitgehend abgeblättert. Die Terrasse bestand aus verschiedenfarbigen, klobigen Steinplatten, die sich unterschiedlich tief in den sandigen Boden gesenkt hatten. Davor wuchsen mächtige Büsche, die den Ausblick auf den restlichen Garten fast vollständig verdeckten. Fachmännisch musterte ich das dornenreiche Gesträuch, während HansDieter Rosteck sich abmühte, die etwas baufällige Tür zur Hütte zu öffnen. Offenbar klemmte das Schloss. Schweißperlen traten dem großen Vorsitzenden auf die Stirn bei dem Versuch, den Schlüssel im Schloss zu drehen, ohne ihn abzubrechen. Doch er machte gute Miene zum bösen Spiel. Als sich die Tür schließlich ächzend öffnen ließ, erwartete uns im Inneren eine Mischung aus Spinnweben und Mäusekot. Der Boden war völlig verdreckt und einige der Holzdielen gaben schon verdächtig nach, wenn man sie betrat. In einer Ecke ringelte sich ein verklebtes Verlängerungskabel. Im hinteren Verschlag türmten sich alte Töpfe, Pappkartons und Farbdosen aller Größen. Dort roch es leicht faulig.


Durch die verschmierten Fenster fiel fahles Licht in den kahlen Raum. Die Tapeten schienen noch aus dem letzten Krieg zu stammen und hingen an vielen Stellen lose von den Wänden. Ein uralter Elektroherd stand herrenlos mitten im Raum. Daneben befand sich ein weiterer Verschlag mit einer Kloschüssel und einem winzigen Waschbecken. Das war also die berühmte „Kalinisation“.


„Das können wir uns richtig schön machen“, hauchte Sabine und strich über die vergilbten Wände. Es roch muffig und feucht im Hauptraum, aber Hans­Dieter Rosteck, ganz Makler von Welt, beeilte sich, mit allen Kräften die beiden verzogenen Fensterflügel zu öffnen.

„Det wird schon allet“, war sein einziger Kommentar. „Paar Rigipswände rin und denn wird det schon.“ Seine Hasenzähne blitzten. Er klapperte vernehmlich mit seinem Schlüsselbund und sah demonstrativ auf seine billige Armbanduhr. Er schien es eilig zu haben hier wieder wegzukommen, was ich gut verstehen konnte. Dabei weiß doch jeder, dass Kleingärtner alle Zeit der Welt haben.


Auch ich war froh, als ich wieder im Freien stand. Der Rest des Gartens bestand aus einer Wiese, die lange nicht mehr gemäht worden war, umgeben von einigen Sträuchern und Büschen. In der Mitte thronte ein uralter Apfelbaum, bei dem selbst ich mit meinem unbestechlichen Gärtnerblick erkennen konnte, dass er kaum noch Früchte trug. In der unvorstellbaren Höhe von etwa zehn Metern baumelten etwa dreißig verschrumpelte Äpfel. Karge Ausbeute, dachte ich unbekümmert, denn ich mag keine Äpfel.

„Da sind ja Johannisbeeren“, rief Sabine und eilte auf einige ungepflegt aussehende Sträucher zu. „Und Stachelbeeren. Himbeeren gibt’s auch!“ Gierig stopfte sie sich einige Früchte in den Mund, während ich mit dem großen Vorsitzenden über Ablösesumme und Pachtzins schwadronierte. „Die schmecken wunderbar“, raunte sie aus dem hinteren Teil des Gartens und wieselte von Strauch zu Strauch.

Als ich von der Wiese Richtung Laube blickte, sah ich hinter dem vergammelten Lattenzaun wieder die beiden Medizinbälle vorbeihoppeln. Ich wischte mir über die schweißnasse Stirn, um diese Fata Morgana zu vertreiben. Einen Lendenschurz konnte ich diesmal nicht ausmachen. Derweil faselte der große Vorsitzende weiter über die heroischen Aufgaben der Kleingärtner und die Geschichte der Selbstversorgung, riet uns zu Kartoffelund Zwiebelanbau und versäumte auch nicht, auf die enormen Herausforderungen bei der Erhaltung der Artenvielfalt und die naturnahe Erholung hinzuweisen. Ich war nicht richtig bei der Sache.


„Das ist doch total günstig“, erklärte Sabine, als sie sich wieder zu uns gesellt hatte und etwas von 340 Euro Pacht pro Jahr aufschnappte.

„Wir überlegen es uns“, ließ ich Hans­Dieter Rosteck weltmännisch wissen, als wir uns auf dem Festplatz von ihm verabschiedeten.

„Und nächsten Sonnamt is Sommerfest. Seid herzlich einjeladen! Alle beede“, rief er uns noch zu, bevor er, mit seinem Schlüsselbund klappernd, in Richtung seiner Parzelle verschwand.


Von wegen: „Wir überlegen es uns“ – ich hatte gar keine Wahl. Sabine erklärte mir bereits auf dem Heimweg, sie habe sich in den Garten verliebt und außerdem müssten die Himbeeren bald geerntet werden. „Die schmecken so gut wie früher bei uns im Garten. Als erstes werde ich Marmelade kochen.“

Diesen Zug kannte ich gar nicht an ihr. Bei uns ist die Küchenarbeit Männersache und für das Kochen von Marmelade hatte sich Sabine noch nie interessiert. Doch mein Hinweis, auch im Discounter gäbe es leckere Konfitüren wohlfeil zu kaufen, wurde brüsk zurückgewiesen. „Du hast doch keine Ahnung, das ist doch nicht das Gleiche“, wies sie mich zurecht. „Da ist doch nur Chemie drin. Und Zucker!“ Seufzend fügte ich mich in mein Schicksal. Die Begegnung mit der Natur hatte in ihr irgendwelche Instinkte geweckt, von denen ich bis dahin nichts geahnt hatte.


Jedenfalls unterschrieben wir zwei Tage später den Pachtvertrag. Beim Vorstand unserer Kolonie im Vorgarten. Muntere Gartenzwerge bewachten einen kleinen, sumpfigen Tümpel, in dem es unaufhörlich blubberte. Wir mussten mehr Unterschriften leisten als bei Kauf und Finanzierung unserer Charlottenburger Eigentumswohnung. Das Kleingedruckte las ich lieber nicht – dafür fehlte auch die Zeit. Aber schon an der Zahl der nötigen Unterschriften hätte uns die Bedeutung des Projekts deutlich werden  müssen.  Der  Moment der Aufnahme in diesen exklusiven Club war so feierlich, dass Hans­Dieter Rosteck zumindest zwei Knöpfe an seinem offenstehenden Hawaii­Hemd schloss und sein Kugelbauch für den Moment der Zeremonie bedeckt blieb – allerdings erst, nachdem ihm seine Frau Margot mit einem stechenden Blick einen dezenten Hinweis gegeben hatte.


„Und dann bekommen Sie in Zukunft auch immer unsere Zeitschrift, den ‚Gartenfreund’“, erklärte er uns beim Abschied und zeigte erneut sein Hasengebiss. Das klang nach einer spannenden Lektüre. Danach Händeschütteln, ein festlicher Schluck Aldi­Mineralwasser aus der PET­Flasche und schon waren wir Mitglieder. Parzellisten. Gartenfreunde.


Ich beschloss, das alles erst einmal auf mich wirken zu lassen und die Inspektion des Grundstücks, das wir bei der Besichtigung ja nur relativ flüchtig gemustert hatten, auf den nächsten Tag zu verschieben.

3


Zu Hause auf dem Balkon – der doch eigentlich alles bietet, was man so braucht, wie ich finde – studierte ich bei einer kühlen Flasche Weißwein das Kleingedruckte unseres Vertrages. Plötzlich war der Garten nicht mehr 300 Quadratmeter groß, wie vom großen Vorsitzenden behauptet, sondern 500. Wogegen ja eigentlich nichts zu sagen war. Auch der Pachtzins hielt sich mit 340 Euro pro Jahr in Grenzen. Dafür waren nicht fünfzehn Prozent der Gartenfläche mit Obst und Gemüse anzubauen, wie er uns erklärt hatte, sondern dreißig. Aha, dachte ich, da bleibt ja dann nicht viel vom Garten übrig. 150 Quadratmeter Möhren und Zucchini – ich sah mich schon auf dem Wochenmarkt stehen und all diese Dinge feilbieten, denn eigentlich mag ich keine Mohrrüben. Und Zucchini auch nicht.


Doch der Vertrag enthielt noch weitere brisante Informationen. Ein Teich darf angelegt werden – davon träumte Sabine seit Jahren − allerdings nicht größer als zehn Quadratmeter. Die Zäune und Begrenzungssträucher zu den Nachbarn dürfen nicht höher als 1,35 Meter sein. Das wird also nichts mit dem Sichtschutz, dachte ich. „Die Weghälfte vor dem Grundstück muss immer vom Pächter in Ordnung gehalten werden.“

Vor meinem geistigen Auge sah ich den Streifen verwelkten Grases, aus dem riesige Unkrautbüschel emporwuchsen. In Paragraf fünf kam dann die Liste mit den verbotenen Baumarten: Walnuss, Linden, Weiden, Tannen, Platanen – alles verboten. Das schreckte mich nicht sonderlich, machte mir aber erneut deutlich, dass die Freiheit im Kleingarten nicht grenzenlos ist.


Ich blätterte weiter und stieß auf das interessante Kapitel mit der Gemeinschaftsarbeit. „Die Teilnahme an der Gemeinschaftsarbeit ist Pflicht“, hieß es dort. Und dann: „Wer seinen Garten bewirtschaften kann, ist auch in der Lage, Gemeinschaftsarbeit zu leisten.“ Das leuchtete ein. Doch mir schwante Böses, als ich weiter las: „Betrachten Sie daher die Gemeinschaftsarbeit nicht als notwendiges Übel oder gar als Zwangsarbeit. Nutzen Sie die Geselligkeit während der Gemeinschaftsarbeit – so kann man sich ganz leicht näher kennenlernen.“ Ganz am Ende des Absatzes war dann vermerkt, dass ein Fernbleiben mit 50 Euro Strafe geahndet würde. Geselligkeit war also angesagt – schon die Vokabel bereitet mir in der Regel leichte Übelkeit.


Noch kannte ich ja niemanden in der Kolonie bis auf den dickbäuchigen Glatzkopf Strasser und den großen Vorsitzenden mit dem gelben Überbiss. Das sollte sich jedoch bald ändern. Denn Kleingärtner, so musste ich lernen, sind ein geselliges Völkchen. Das Sommerfest hatten wir zwar verpasst, was sicher eine gute Gelegenheit gewesen wäre, uns dem illustren Kreis vorzustellen. Aber der nächste Anlass würde sich schon ergeben.

4


Ich bin ausgebildeter Geisteswissenschaftler, sogar promoviert, und arbeite als Redakteur bei einem großen Verlag. Dort betreue ich die Abteilung Psychologie und Philosophie. Eine Art fest angestellter Philosoph, den sich die Verlagsgruppe leistet. Noch. Für mich ist es ein absoluter Traumjob. Denn viel Bedarf besteht nicht an meinen Fähigkeiten. Deshalb verbringe ich die meiste Arbeitszeit mit der Lektüre von Manuskripten von Sachbüchern, die in der Regel nie gedruckt werden. Denn in meinem Ressort erscheinen pro Jahr nur wenige Titel. Und so beschäftige ich mich mit Themen wie „Ethik im Wandel“, „Warum wir böse sind“ oder „Politiker – die beschädigte Kaste“.


Im Verlag lässt man mich meist in Ruhe. Da haben die Kollegen in der Abteilung „Ratgeber“ schon einen ganz anderen Stress. „Yoga für Hunde“ oder „Wie finde ich zu mir selbst?“ – solche Titel sprechen eben deutlich mehr Menschen an. Ich schätze es sehr, dass ich mich mit immer neuen Themen beschäftigen kann und mir niemand so genau sagt, was ich wann tun muss. Zumindest noch so lange, wie sich die Titel halbwegs gut verkaufen.

Wie gesagt: Ich bin kein besonders geselliger Mensch, eher ein scheuer Zeitgenosse. Manche bezeichnen mich auch als Misanthrop, aber das halte ich für übertrieben. Ich rede einfach nicht gern. Was soll ich auch erzählen? Ich schätze es, wenn man mich in Ruhe lässt, und auch ich dränge mich meinen Zeitgenossen nach Möglichkeit nicht auf. Mit meinem Beruf verträgt sich das sehr gut. Aber mit einer Tätigkeit als Kleingärtner im lustigen Kolonistenleben? Da hatte ich meine Zweifel.

Sabine hatte sich vor drei Jahren als Hausärztin selbstständig gemacht. Viel warf ihre Praxis in Moabit zwar nicht ab, aber es reichte zum Leben. Moabit ist nicht gerade berühmt für Massen von Privatpatienten und Sabine tendiert ohnehin dazu, Patienten möglichst umsonst zu behandeln, was mich in regelmäßigen Abständen zur Weißglut treibt, denn ich verwalte in unserer Ehe das Ersparte. Wir sind nicht arm, leben bescheiden und leisten uns nicht einmal ein eigenes Auto. Die Ablösesumme für das Gartengrundstück war die erste größere Investition seit langer Zeit.


Auf Sabines Rat hin bestellte ich mir zwei Sachbücher über Gartenkunst bei einem Spezialverlag als Rezensionsexemplare. Sabine hatte sich die dickleibigen Bände gleich unter den Nagel gerissen. Die Hochglanzfotos waren ästhetisch von bester Qualität, aber ich musste meine Frau gelegentlich darauf aufmerksam machen, dass diese Bilder große Gärten und Parks, aber in keinem Fall Kleingärten zeigten. Trotzdem träumte Sabine von ihrer Traumgartenlandschaft mit Hecken und Teich. Dass mir dies in unserem Kleingarten nicht realisierbar schien, deutete ich lediglich hintergründig an. Ich war nicht auf Streit aus, sah aber schon eine Menge Arbeit auf mich zukommen: Pflanzen und Schneiden, Kompostieren und Säen – alles Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte. Allein beim Gedanken daran schmerzte mein Rücken. Trotzdem bestimmte der Garten inzwischen bereits unser Leben. Kein gemeinsames Abendessen ohne Gestaltungsideen, kein Telefonat mit Freunden ohne Tipps für Obstanbau und den Schnitt von Sträuchern.


Im Verlag hatten sie mich  nur  ungläubig  angesehen,  als ich notgedrungen berichtet hatte, ich sei jetzt unter die Kleingärtner gegangen. Ein hinterhältiger Kollege hatte uns bei dem Besichtigungstermin von der Straße aus beobachtet und natürlich brühwarm alles ausgeplaudert. Ein Arschgesicht ohne Stil und Einfühlungsvermögen. Ich hätte ihm gern die Fresse poliert, aber für körperliche Auseinandersetzungen bin ich physisch leider nicht geschaffen. Medienmenschen hassen Kleingärtner. Aus Prinzip. Für sie sind das alles verkappte Faschisten, Anhänger einer verachtungswürdigen Blut-und Boden-Ideologie.


Nur wenn im Stadtgebiet eine Kolonie geschlossen werden soll, um dringend benötigte Wohnungen zu errichten, entdecken vor allem die Fernsehleute ihre Solidarität mit der sonst verhassten Spezies. Dann schrecken sie nicht davor zurück, hilflos wirkende Kleingärtner vor die Kamera zu zerren und ihnen ebenso hilflose Kommentare über die gute Luft und die funktionierende Gemeinschaft zu entlocken. Eine bösartige Brut. Manchen Kollegen sah ich an, dass sie mein neues Gärtner­Dasein für eine leichte Form von geistiger und auch politischer Verwirrung hielten. Aber so etwas muss man aushalten. Die Gemeinschaft der Gartenfreunde würde mich schon auffangen.

5


Dass ein Kleingarten kein Ponyhof ist, wurde  mir  schon bald klar. Unsere Liste mit den nötigen Besorgungen wurde immer länger. Wir beschlossen, zunächst lediglich ein paar wichtige Pflanzen zu erwerben und den neuen Lebensabschnitt am Wochenende ganz entspannt anzugehen.

Der Stapel der Gartenzeitschriften auf dem Wohnzimmertisch war inzwischen schon fast so hoch wie der der Ärzteblätter, die von Sabine nur zur Seite geräumt werden, wenn Besuch ins Haus steht. „Landlust“, der „Gartenfreund“ und „Mein schöner Garten“ hatten dort inzwischen einen festen Platz.


„Wollen wir uns nicht eine Rambler­Rose für den Apfelbaum zulegen?“, fragte Sabine, wenn ich  erschöpft und lustlos aus dem Verlag nach Hause kam. „Was hälst du von einem Aprikosenbaum? Ich glaube, Storchschnabel wäre ein idealer Bodendecker. Oder lieber die Zwerg­Astilbe? Die sieht auch schön aus. Efeu wäre gut im Schattenbereich. Was meinst du?“

Mir war das eigentlich ziemlich egal. Natürlich wusste ich inzwischen, was eine Rambler­Rose war. Und wie wichtig bodendeckende Pflanzen für die Unkrautminimierung waren. Der Gartenfreund sprach allerdings lieber von Wildkräutern.