image

Das Geheimnis der Madame Yin

Das Geheimnis
der Madame Yin

von
Nathan Winters

Historischer Kriminalroman

image

Für meine Frau,
für ihre Kritik,
ihre Motivation,
ihre Ideen
und natürlich für ihre Liebe

Inhalt

26. August 1877 Chicago Einen Monat später

29. August 1877 Im Hafen von New York

4. September 1877 London Kurz nach Mitternacht

7. September 1877 Die Themse Früher Morgen

Südlich von Westminster Bridge Zur Mittagsstunde

Southampton Am Nachmittag

Polizeistation der L-Division Kennington Lane

London Paddington Station Acht Uhr abends

8. September 1877 Früh am Morgen

The City of London Kurz vor Mittag

The City of London Zur selben Zeit

St. Bethlehem Royal Hospital Eine Stunde später

Hyde Park Am frühen Nachmittag

Lambeth Wenig später

Scotland Yard Am späten Nachmittag

Scotland Yard 9.September Früh am Morgen

Lord Ellingsfords Anwesen Park Lane

10. September 1877 Polizeistation der L-Division Kennington Lane

St. Mary's Hospital …

11. September Scotland Yard Kurz nach acht Uhr

East End Spitalfield

Lambeth Kennington Lane

12. September Das Haus der Ellingsfords

Der Friedhof von Kensal Green zur Mittagsstunde

Folly Lane am späten Nachmittag

Park Lane Zehn Uhr Abends

Vier Tage später …

Sie hatte geträumt, von einer Blumenwiese aus roten Rosen und weißen Margeriten. Alles war hell, das Sonnenlicht brach durch die Wipfel der Bäume und ließ die Blüten in allen Farben erstrahlen.

Aber dann wachte sie auf und alles um sie herum war tiefschwarz. Angeekelt verzog sie das Gesicht. Der Geschmack nach Alkohol lag ihr auf der Zunge. Kloakengestank drang ihr in die Nase. Stöhnend versuchte sie sich aufzurichten, doch es gelang ihr nicht. Man hatte sie an Händen und Füßen gefesselt und an den Boden gekettet. Sie konnte lediglich vornübergebeugt knien und gerade noch den Kopf heben. Sie erinnerte sich an das Café am Victoria Embankment. Es war Abend gewesen und sie wollte gerade eine Droschke rufen, als dieser Mann mit den Blumen kam. Er hatte ihr sofort einen feuchten Stofffetzen auf Mund und Nase gepresst und sie war ohnmächtig geworden.

Er hat mich entführt. Oh Gott. Bitte … bitte mach, dass das nicht wahr ist. Ihr Herz begann, wie verrückt zu schlagen. Ich muss hier raus.

Panisch zerrte sie an ihren Ketten. Das Metall scheuerte ihr die Haut blutig. Sie schrie und weinte, doch damit änderte sich nichts an ihrer Situation. Minuten vergingen, vielleicht waren es auch Stunden. Sie wusste es nicht. Ein furchtbarer Gedanke fraß sich in ihr fest: Sie würde sich nicht befreien können. Alles, was sie tun konnte, war zu schreien. Vielleicht würde sie jemand hören und retten. Sie begann, laut um Hilfe zu rufen, bis sich nach einer Weile links von ihr eine Tür öffnete. Sie verstummte augenblicklich und ihr Kopf ruckte herum. Ein Mann stieg die Treppenstufen hinab.

Er hielt eine Petroleumlampe in der Hand, deren Docht tief herunter gedreht war. So warf sie nur ein schwaches Licht in ihr Gefängnis aus gemauertem Stein. Der Mann bewegte sich langsam, ließ sich für jede Stufe Zeit. Das Klacken seiner Sohlen war das einzige Geräusch, das sie hörte.

Sein Gesicht verbarg er hinter einer Maske. Sie war feuerrot mit verzerrten Zügen, einer schmalen, spitzen Nase und Teufelshörnern auf der Stirn. Ein Umhang mit einer Kapuze lag über seinen Schultern. „Dich kann hier niemand hören“, sagte er und seine Stimme klang dumpf und bedrohlich.

Erneut rannen Tränen über ihr Gesicht. „Warum haben Sie mich hergebracht? Wer sind Sie?“

Er antwortete nicht. Als er das Ende der Treppe erreicht hatte, blieb er einen Moment lang stehen, ehe er langsam auf sie zukam.

„Gehen Sie weg. Kommen Sie nicht näher!“ Ihr Protest war schwach und nutzlos.

Er trat neben sie, sodass sie nur noch seine Schuhe sehen konnte, die schwarz glänzten.

„Bitte lassen Sie mich gehen. Was wollen Sie denn vor mir? Lassen Sie mich doch bitte gehen!“

Er schwieg.

„Warum tun Sie das?“

„Weil es nötig ist.“

Sie zuckte zusammen.

Ihr Peiniger hatte sich neben sie gekniet, sein Mund war nun ganz dicht an ihrem Ohr. Sie konnte seinen Atem riechen. Nun drehte er den Docht der Lampe hoch und ihre Augen waren für einen kurzen Augenblick von der plötzlichen Helligkeit geblendet. „Sieh dorthin“, sagte er nach einer kurzen Weile, streckte den Finger aus und zeigte an ihr vorbei auf die Wand gegenüber.

Sie drehte den Kopf zur Seite. Panisch biss sie sich auf die Lippen. Sie wollte nicht hinsehen, egal was dort war, aber er packte sie grob bei den Haaren und zwang sie dazu.

Ihre Augen weiteten sich. „Oh Gott, nein. Bitte. Bitte.“ Sie wollte schreien, ihre Panik, das Grauen, alles herausschreien. Doch sie krächzte nur, während ihre Augen das Entsetzliche nicht wahrhaben wollten. Aber sie konnte den Blick nicht abwenden. Ihr Magen rebellierte, verdrehte sich und ein galliger Geschmack schoss in ihren Mund. Sie würgte die letzte Mahlzeit hoch. Tomatensuppe und Apfelkuchen. Es sah aus, als würde sie klumpiges Blut spucken.

Ihren Peiniger kümmerte es nicht. Ungerührt sah er ihr zu und wischte ihr mit dem Finger über den Mund, während sein Atem über ihre nassgeweinten Wangen streichelte. „Weißt du jetzt, warum du sterben musst?“

„Bitte … tun Sie es nicht. Bitte.“

Er zögerte. Sah sie Mitleid in seinen Augen?

26. August 1877
Chicago
Einen Monat später

Der Tag war sonnig und der Himmel strahlend blau. Aber für Celeste Summersteens Geschmack war es viel zu heiß. Sie schwitzte in ihrem Kleid aus dunkelblauer Seide und Taft. Ihre Spitzenhandschuhe juckten fürchterlich. Am liebsten hätte sie diesen unnötigen Tand aus dem Fenster der Kutsche geworfen und den Unterrock, der nass an ihren Beinen klebte, gleich hinterher.

Sie fuhren durch ein steinernes Tor und folgten einer schnurgeraden Allee zum Anwesen der Familie Roover.

„Schneller!“, rief sie.

„Soll ich uns umbringen?“, antwortete der Kutscher gereizt, ließ aber trotzdem die Peitsche knallen.

Celeste war wütend, doch nicht auf den Kutscher. Vielmehr waren es ihr Vorgesetzter und dieser grinsende Idiot Walters, die sie zur Weißglut getrieben hatten.

Walters hatte sie schon eine Lektion erteilt, ihr Vorgesetzter würde eine härtere Nuss werden. Schließlich war der nicht irgendwer, sondern Allan Pinkerton, der Gründer der berühmten Detektei Pinkerton. Seinen Männern sagte man nach, bei der Wahl ihrer Mittel nicht zimperlich zu sein. Viele hielten sie sogar für schießwütige Revolverhelden. Aber der Erfolg, wenn auch in manchen Fällen fragwürdig erworben, gab ihnen recht.

Über Pinkerton selbst kursierte das Gerücht, dass selbst die hartgesottensten Verbrecher anfingen zu weinen, wenn sie ihn sahen. Sie hatte keine Ahnung, ob das stimmte, aber es schreckte Celeste auch nicht länger, es herauszufinden. Für Pinkerton war sie eine Last und er gab ihr nichts anderes zu tun, als Akten zu sortieren und Briefe zu schreiben. Bisher hatte sie das stumm und geduldig ertragen und gehofft, dass sich irgendwann etwas ändern würde. Aber jetzt hatte sie erkennen müssen, dass das niemals geschehen würde.

Zwischen den Bäumen tauchte ein herrschaftliches Gebäude auf. In den hohen Fenstern spiegelte sich das Sonnenlicht und drei spitze Türmchen reckten ihre Dächer in den klaren Himmel. Es war der Stammsitz des Handelshauses Roover, einer der reichsten Familien Chicagos.

Das Pferd wieherte, Hufe stampften, die Räder blockierten und wirbelten Steinchen und Staub auf, als der Kutscher sein Gefährt zum Halten brachte. Es war ein dramatischer Auftritt, ganz im Sinne von Celeste, der es gefiel, wenn man sich den Hals nach ihr verdrehte.

So wartete sie auch nicht ab, bis jemand kam, um ihr beim Aussteigen zu helfen.

Ein Mann im schwarzen Gehrock stürmte aus dem Haus und die breite Treppe hinunter. Auf halbem Weg erkannte er sie. Seine angespannte Miene löste sich in einem höflichen Lächeln auf. Es war Mrs. Roovers Sekretär.

„Miss Summersteen.“ Er klang überrascht und warf einen hastigen Blick auf seine goldene Taschenuhr. „Wie schön, dass Sie doch noch kommen konnten. Mr. Pinkerton teilte uns mit, Sie seien verhindert.“

„Ja, das hätte er wohl gern“, presste sie hervor.

„Bitte?“

„Nichts. Sagen Sie, wo finde ich Mrs. Roover?“

„Wenn Sie mir bitte folgen wollen, ich bringe Sie zu ihr.“

Der Sekretär ging voran zur Rückseite des Anwesens. Dort befand sich ein kleiner See, in dessen Mitte eine Insel lag. Der Weg führte über einen kleinen Steg auf die Insel und geradewegs auf einen weißen Pavillon zu, in dessen Schatten ein runder Eichentisch stand.

Zwei Personen saßen an diesem Tisch. Der Wind trieb das Klirren von kristallenen Gläsern über das Wasser.

Als Celeste sich näherte und Pinkerton sie erkannte, konnte sie sehen, wie sein rundes Gesicht mit dem sauber gestutzten Backenbart rot anlief. Ruckartig stand er auf. „Was machen Sie denn hier?“, schnaubte er ungehalten.

Sie ignorierte ihn und knickste stattdessen vor der alten Dame. „Bitte verzeihen Sie die Verspätung. Mr. Walters hatte es versäumt, mich in Kenntnis zu setzen.“

Sie musste an Walters mieses Grinsen denken, als er ihr erzählt hatte, dass Pinkerton anstatt ihrer zu dem Treffen gefahren war.

„Miss Summersteen! Sie missachten meine Befehle. Ich habe Ihnen eine andere Aufgabe zugewiesen.“ Pinkerton war sehr darum bemüht, die Fassung zu wahren.

„Ich weiß und trotzdem bin ich hier.“ Sie hielt seinem Blick stand und fühlte eher Wut denn Angst. Zum Weinen war ihr auch nicht zumute – also waren die Gerüchte doch übertrieben. Aus ihrer Handtasche holte sie einen Schlüssel, den sie vor Pinkerton auf den Tisch legte. Er sah sie irritiert an.

„Der Schlüssel zum Aktenraum. Was soll ich damit?“

„Walters wollte mich nicht gehen lassen, also hab ich ihn eingesperrt.“

„Sie … So etwas ist mir ja noch nie untergekommen. Was fällt Ihnen ein? Sie sind entlassen!“, polterte Pinkerton los.

Celeste kniff die Augen zusammen. „Und wenn schon. Akten kann ich überall sortieren!“

Ein herzliches Lachen unterbrach den Streit. Mrs. Roover amüsierte sich köstlich. „Ich weiß schon, warum ich nur Sie haben wollte, meine liebe Celeste. Bitte, setzen Sie sich doch.“

„Ich soll dieses Verhalten tolerieren?“ Noch immer ähnelte die Farbe von Pinkertons Gesicht der eines heißgekochten Hummers.

„Ja, aus einem ganz einfachen Grund. Sie wollten mir Miss Summersteen vorenthalten. Obwohl ich ausdrücklich um ihre Anwesenheit gebeten hatte.“

„Aber, aber …“ Pinkerton suchte verzweifelt nach Worten.

„Ich bin Ihnen nicht böse, mein lieber Allan. Es sei denn, Sie machen Ihre Drohung wahr und entlassen sie tatsächlich. Dann allerdings sähe ich mich gezwungen, auf Ihre weiteren Dienste zu verzichten.“

Pinkerton holte tief Luft. „Nein, natürlich nicht. Sie können bleiben, Miss Summersteen.“ Er schaffte es, die Worte hervorzupressen, ohne Celeste dabei anzusehen.

„Wunderbar.“ Die alte Dame lächelte zufrieden in die Runde, und Celeste fragte: „Wie kann ich Ihnen helfen? Geht es wieder um einen betrügerischen Butler?“

„Nein, diesmal nicht. Diesmal geht es um etwas viel Wertvolleres als Geld: meine Nichte.“

„Madam. Ich bin immer noch der Meinung, dass meine Männer besser …“

„Allan. Ich bitte Sie. Ich kenne die Vorzüge Ihrer Revolverhelden. Sie sind äußerst nützlich, wenn man Pferdediebe oder Postkutschenräuber jagt. Aber meine Nichte ist ein zartes Geschöpf. Ich will sie nicht in der Obhut von Männern wissen, die keine Ahnung haben, wie man sich einer Lady gegenüber benimmt.“

„Es geht hier um den Ruf meiner Detektei. Wenn ich einen Auftrag annehme, dann will ich auch, dass er anständig ausgeführt wird“, sagte Pinkerton und sah Celeste dabei mit durchdringendem Blick an.

„Ich dachte, wir hätten das jetzt geklärt? Oder wollen Sie meinem ausdrücklichen Wunsch widersprechen?“

„Ähm … nein, Madam. Ganz und gar nicht. Ich bin immer … erfreut, Ihrem Haus zu Diensten sein zu können. Es ist nur …“

„Wenn es nicht das ist, dann wollen Sie mir mit anderen Worten sagen, dass Sie Miss Summersteen für ungeeignet halten?“

„Ähm. Nein … das hab ich damit auch nicht …“

„Gut. Dann sind wir uns also einig“, fiel ihm die alte Dame resolut ins Wort.

Pinkerton gab nach und zuckte mit den Achseln. „Na schön. Sie haben gewonnen. Ich gebe Ihnen Miss Summersteen. Ich hoffe nur, Sie bereuen es nicht.“ Er stand auf und schlug die Hacken zusammen. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen.“ Er schnappte sich den Schlüssel vom Tisch und brummte ein: „Ich habe noch zu arbeiten.“ Damit rauschte er davon, ohne Celeste auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen.

„Ich fürchte, er ist mit Ihrer Wahl nicht ganz einverstanden“, sagte Celeste, während sie ihm nachsah, wie er über den Steg davon stapfte.

„Papperlapapp. Er wird es verschmerzen. Schließlich bezahle ich gutes Geld für seine Dienste. Da soll er sich nicht so anstellen.“

Celeste konnte ihre wachsende Ungeduld nur schwer verbergen. „Wie kann ich Ihnen zu Diensten sein, Madam?“

„Sie kennen doch meine Nichte Dorothea?“

„Aber ja, natürlich.“ Celeste hatte sie während ihrer früheren Ermittlungen im Hause Roover getroffen. Eine freundliche, wenn auch recht schüchterne junge Frau von sechzehn Jahren.

„Sie war jetzt über ein Jahr in meiner Obhut. Nun will mein Bruder, ihr Vater, sie nach London zurückholen, und ich möchte, dass Sie Dorothea auf dieser Reise begleiten.“

Celeste konnte einen Anflug von Enttäuschung nicht vermeiden. Das klang nicht nach dem interessanten Fall, den sie sich erhofft hatte. Worte wie Gouvernante und Gesellschafterin kamen ihr in den Sinn. Doch dann drang auch die letzte Information zu ihr durch. „Nach London?“ Die Aufregung, die sie bei dem Gedanken an die ferne Stadt erfasste, gewann rasch die Oberhand.

„Freuen Sie sich nicht zu früh. Die Umstände sind komplizierter, als sie auf den ersten Blick erscheinen und auch … delikater. Alles, was ich Ihnen nun zu sagen habe, ist nur für Ihre Ohren bestimmt. Ich vertraue dahingehend auf Ihre Verschwiegenheit.“

Celeste nickte und die alte Dame fuhr fort. „Meine Nichte besitzt ein sehr zartes Gemüt. Als sie zu mir kam, war sie sehr still und weinte viel. Sie schien nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen. Ich wusste … sie war diesem Teufelszeug verfallen. Opium. Mein Bruder schickte sie zu mir, um sie davon zu kurieren. Er war der Meinung, eine andere Umgebung könnte ihr dabei helfen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich hatte nichts dagegen. Im Gegenteil, ich freute mich auf sie. Als ich meine Nichte das letzte Mal sah, war sie drei Jahre alt.“

„Wissen Sie, woher sie das das Opium bekommen hat?“, fragte Celeste.

„Das hat sie mir nie gesagt und ich habe auch nur einmal gefragt. Sie hatte sich nach dem Gespräch tagelang in ihr Zimmer eingeschlossen und wollte mich nicht mehr sehen. Das war ganz zu Beginn ihres Aufenthalts bei mir. Danach ging es ihr jedoch schnell wieder besser. Bis jetzt jedenfalls. Der Brief ihres Vaters hat sie tief erschüttert.“

„Inwiefern?“

„Sie will nicht nach Hause, aber mein Bruder besteht darauf. Er schreibt, eine Tochter müsse bei ihrer Familie sein. Er ist sehr bestimmend, müssen Sie wissen.“

„Woher kommt dieser plötzliche Sinneswandel?“

„Nun ja, sie ist seine Tochter. Ich kann es ihm nicht verdenken.“

„Könnten Sie nicht versuchen, ihn umzustimmen? Zumindest solange, bis Dorothea von selber nach Hause will?“

„Meine Liebe. Er würde nicht auf mich hören. Wir pflegen keine geschwisterlichen Bande. Er hat mir nie verziehen, dass ich unserer Familie den Rücken gekehrt habe, um einen Yankee zu heiraten, wie er sich gerne ausdrückt.“

„Das verstehe ich nicht. Wenn Ihr Verhältnis so schlecht ist, warum hat er Dorothea dann überhaupt zu Ihnen geschickt?“

„Ich weiß es nicht. Vielleicht weil ich seine einzige Verwandte bin. Ich habe aber nicht gefragt. Es ging um Dorotheas Wohl und ich habe keine eigenen Kinder.“

Celeste nickte, um dann eine Frage zu stellen, die sie seit Beginn des Gesprächs beschäftigte. „Ihre Nichte ist vom Opium geheilt. Sie fährt nach Hause. Ich finde daran nichts Ungewöhnliches. Warum wollen Sie, dass ich sie begleite?“

„Eine durchaus berechtigte Frage.“ Die alte Dame nahm eine in Leder gebundene Mappe von einem kleinen elegant verzierten Beistelltischchen und zog einen Brief heraus, den sie Celeste reichte.

„Diesen Brief hier bekam ich vor ungefähr drei Wochen von Dorotheas Mutter. Normalerweise schreibt sie nur ihrer Tochter, aber dieser hier war ausdrücklich an mich adressiert. Bitte … lesen Sie nur.“

Geschätzte Anette,

ich bedauere es, Ihnen nicht schon vorher geschrieben zu haben, so muss es Ihnen nun scheinen, dass ich mich nur in meiner persönlichen Not an Sie wende.

Zuvor möchte ich Ihnen allerdings versichern, wie dankbar ich Ihnen bin, dass Sie Dorothea mit großer Liebe bei sich aufgenommen haben.

Ich wünschte, dass dies allein der Anlass für mein Schreiben wäre, doch leider ist etwas unvorstellbar Schreckliches geschehen, worüber ich Sie dringend unterrichten muss.

Dorotheas Freundin Estelle wurde erwürgt und dann in die Themse geworfen, wo man ihren Leichnam angespült fand. Ich weiß nicht, wer zu solch schändlichen Taten fähig ist, sie war doch ein so liebes Mädchen. Und so jung. Sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich.

Ich habe es nicht übers Herz gebracht, es Dorothea zu schreiben. Meine Sorge war zu groß, sie könnte wieder in diese dunkle Stimmung verfallen, in der sie war, bevor sie zu Ihnen kam. Daher wende ich mich auch an Sie, liebe Anette. Sie sehen meine geliebte Tochter täglich und können eher ermessen, wie es um ihr Seelenheil bestellt ist. Entscheiden Sie, ob Sie ihr diese traurige Nachricht überbringen wollen oder nicht.

Mit geschätzten Grüßen und mit meinem zutiefst empfundenen Dank

Cynthia

Celeste ließ den Brief sinken und sah Mrs. Roover fragend an. Diese schüttelte aber nur leicht den Kopf. „Ich war nicht mutig genug und habe es ihr nicht gesagt. Ich dachte, ich hätte noch Zeit, aber dann traf der Brief meines Bruders ein. Jetzt ist es zu spät. In zwei Tagen wird sie abreisen und die ganze Reise regt sie bereits über alle Maße auf. Meine Liebe … ich fürchte, Dorothea wird in London vom Tod ihrer Freundin erfahren und ich weiß nicht, was sie dann tun wird. Ich will verhindern, dass sie wieder den alten Weg einschlägt, der sie dem Tod so nahe gebracht hat. Sie braucht eine Freundin, jemanden der ihr zuhört, der nicht aus ihrem angestammten Kreis kommt und dem sie vertrauen kann. Jemand, der ein wachsames Auge auf sie hat. Ich weiß, dass sie Sie mag. Sie hat es mir selber gesagt. Darum möchte ich Sie bitten, dass Sie Dorothea begleiten.“

Celeste war noch nicht überzeugt. „Was ist mit ihren Eltern? Haben Sie ihnen Ihre Bedenken nicht mitgeteilt?“

„Cynthia ist eine herzensgute Frau, aber von kränklicher Natur. Sie verlässt so gut wie nie das Haus und weiß nicht, was ihre Tochter tut. Und mein hoch geschätzter Bruder, der große Lord Ellingsford, hat vor allem seine politische Karriere im Sinn und weniger die seelische Gesundheit seiner Tochter. Ich hingegen kann die Augen nicht verschließen und darauf hoffen, dass alles gut wird. Bitte, helfen Sie ihr.“

Celeste atmete tief ein. Wenn sie zustimmte, war sie eine Gouvernante, aber was hatte sie schon zu verlieren? Akten sortieren und Briefe schreiben? Vielleicht würde Pinkerton sie auch gleich entlassen. Gründe hatte sie ihm genug geliefert. Wenn Sie aber Mrs. Roovers Angebot zustimmte und ihre Arbeit gut machte, würde sie sich vielleicht bei Pinkerton für sie verwenden. Ihre Zukunft als Detektivin hing von diesem einen Auftrag ab. Sie lächelte. „Ich bin einverstanden, Madam. Es wäre mir eine Freude.“

„Wunderbar.“ Die alte Dame lächelte dankbar. „Ich werde Ihnen in drei Tagen eine Kutsche schicken, die Sie abholen wird. Packen Sie ein, was Sie für nötig halten. Sie werden genug Platz haben. Und keine Sorgen wegen Ihrer Unkosten, darum werde ich mich kümmern.“

„Haben Sie vielen Dank, Madam. Auch für Ihr Vertrauen.“

„Ich muss mich bedanken. Sie haben eine alte Frau sehr glücklich gemacht.“ Sie seufzte und klingelte nach der Dienerschaft. „Dorothea wird bei Ihnen in guten Händen sein.“

„Ich werde mein Möglichstes tun, um Ihrer Nichte zur Seite zu stehen.“ Celeste wusste, ihr Leben würde sich von nun an ändern, ob zum Guten oder zum Schlechten, das musste sie abwarten.

image

29. August 1877
Im Hafen von New York

Die M. S. Cumberland lag mit rauchenden Schornsteinen im Hafenbecken. Gewaltige Taue hielten sie am Pier, während ihr stählerner Leib unter dem dumpfen Brummen der Maschinen erzitterte.

Bunte Fähnchen schmückten die Reling. Frauen mit ausladenden Hüten und weiten Kleidern flanierten am Arm ihrer Männer den Aufgang hinauf zum Schiff. Unter lauten Rufen, dem Ächzen von Seilwerk und dem Stampfen von Dampfmaschinen wurde die letzte Fracht verladen.

In all dem Trubel hielt eine Mietdroschke am Pier. Celeste stieg aus und atmete tief ein. Ein warmer Windhauch strich ihr über die Haut und die Luft war durchdrungen vom Geruch des salzigen Meeres. Sie liebte den Hafen, denn hier erinnerte sie alles an ihre Kindheit. Für sie bedeuteten diese Gerüche Heimat. New York war ihr Zuhause. Chicago war immer nur ihr Exil gewesen. Der Ort, an dem sie lebte, seit ihre Familie sie verstoßen hatte. Für einen Moment schloss sie die Augen und lauschte den Möwen, dem Wasser, das sich an den Schiffsrümpfen brach, und dem Gewirr verschiedenster Sprachen, die babylonisch durcheinander plapperten.

„Sie hätten sich wirklich nicht die Mühe machen müssen, mich zu begleiten.“ Die zarte Stimme gehörte Dorothea Ellingsford, die Celeste aus ihren Erinnerungen riss.

„Papperlapapp“, hörte sie Mrs. Roover keuchen. „Ich wollte es so. Außerdem hat es mir Freude gemacht. Ich bin schon ewig nicht mehr Zug gefahren.“

Celeste hielt sich etwas abseits. Sie wollte die beiden ungestört voneinander Abschied nehmen lassen.

„Ich wünschte, Sie könnten mitkommen.“ Dorothea rang mit den Tränen.

„Das wünschte ich auch, mein liebes Kind. Allein schon um das Gesicht deines Vaters sehen zu können. Er würde sicher einen riesigen Schrecken bekommen, wenn ich plötzlich vor ihm stünde.“

Beide lachten, dann deutete Mrs. Roover auf Celeste. „Miss Summersteen wird dir eine gute Freundin sein. Du bist also nicht alleine.“

Celeste fühlte, dass sie etwas sagen sollte, aber da ihr nichts einfallen wollte, lächelte sie nur aufmunternd.

Ein Nebelhorn dröhnte. Die Cumberland würde bald auslaufen.

„Es wird Zeit, mein Kind. Lass dich noch einmal ansehen.“ Die alte Dame hielt Dorothea bei den Armen. „Wir sehen uns ganz bestimmt wieder. Und solltest du Sehnsucht nach mir haben, dann schreib mir.“

Das Mädchen lächelte tapfer. „Ich schreibe Ihnen jeden Tag.“

„Du solltest kein Versprechen geben, das du nicht halten kannst.“ Ihr Lächeln verriet, dass sie die Worte nicht so ernst meinte.

Ein Diener trat hinzu. „Das Gepäck ist verladen, Madam.“

„Danke Gerald. Begleiten Sie Miss Dorothea bitte an Bord. Ich muss noch ein paar Worte mit Miss Summersteen wechseln. Gib gut auf dich Acht, mein Kind.“

Mit einer letzten Umarmung verabschiedeten die beiden sich voneinander.

„Celeste“, sagte die alte Dame gefasst.

„Madam?“

„Diese Briefe hier sind für meinen Bruder.“ In ihrer Hand hielt sie drei Umschläge.

„Der hier enthält eine Vollmacht von Mr. Pinkerton. Sie arbeiten in dieser Sache offiziell in seinem Auftrag.“ Celeste erkannte das Firmenzeichen. Ein geöffnetes Auge. Darunter der Schriftzug: We never sleep.

„Dieser hier ist von mir und erklärt, warum ich Sie angeheuert habe. Mein Bruder wird toben. Dafür kenne ich ihn gut genug. Er wird Sie nicht mit offenen Armen empfangen.“

Celeste nickte schweigend.

„Seine Ehre und sein Ansehen bedeuten ihm alles. Merken Sie sich das, wenn Sie mit ihm sprechen. Er ist ein schwieriger Mann.“

„Ja, Madam.“ Neugierig reckte Celeste den Hals und starrte auf den dritten Umschlag, den die alte Dame noch in der Hand hielt. Diese zögerte einen Moment und reichte ihn dann weiter. „Darin finden Sie alles, was ich über den Mord an Dorotheas Freundin erfahren konnte. Es ist nicht viel. Ein paar Zeitungsausschnitte, ein paar Briefe. Celeste … Ich will, dass Sie den Mörder finden und unschädlich machen. Auf amerikanische Art.“

Celeste wusste, was sie meinte. „Ich soll ihn töten?“

Die alte Mrs. Roover zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Auge um Auge, so heißt es doch in der Bibel. Ich habe kein Mitleid mit ihm. Er hat es verdient.“

„Aber ich könnte den Falschen erwischen.“

„Das werden Sie nicht. Ich weiß von Ihrer Vergangenheit, Celeste. Sie werden es richtig machen. Ich vertraue Ihnen.“

„Aber der Krieg ist längst vorbei. Das waren andere Zeiten. Ich bin keine Mörderin“

„Ich weiß, ich verlange viel von Ihnen und ich möchte, dass Sie mich verstehen. Es geht mir alleine um Dorotheas Wohl. Sie wird Albträume bekommen, sobald sie vom Tod ihrer Freundin erfährt, sie wird trauern und Angst haben. Und ich will nicht, dass sie Angst hat.“

„Aber … was ist mit der Londoner Polizei, die ermittelt doch, oder?“

„Sicher tut sie das. Und wenn sie den Mörder finden sollte, wäre ich beruhigt. Aber ich glaube nicht daran. Ein Monat ist schon vergangen und sie haben den Kerl noch immer nicht fassen können. Ich fürchte, die würden nicht einmal eine Fliege fangen, selbst wenn sie ihnen auf der Nase säße.“

Das Nebelhorn ertönte ein zweites Mal.

Mrs. Roover drängte auf eine Antwort. „Nun?“

„Sie verlangen sehr viel von mir.“

„Das ist mir bewusst.“

„Bitte alle an Bord! Letzter Aufruf! M. S. Cumberland! New York – Southampton“, dröhnte es aus einer Flüstertüte vom Schiff herüber.

Celeste sah ihre Auftraggeberin streng an. „Ich werde den Mann finden und bestrafen, das verspreche ich Ihnen, aber ich werde nicht sein Henker sein.“

Mrs. Roovers Miene blieb unbewegt. „Sie haben Moral, Celeste. Das ist selten in dieser Welt. Ich verstehe Ihre Entscheidung und akzeptiere sie. Ich weiß, Sie werden das Richtige tun.“

Sie deutete auf den Umschlag mit den Informationen. „Darin finden Sie eine Vollmacht für die Bank von England. Ich habe Ihnen dort ein Konto einrichten lassen, über das Sie frei verfügen können. Nutzen Sie das Geld, um dieses Schwein zu finden.“

„Ja, Madam, das werde ich.“

„Sie werden mich selbstverständlich auf dem Laufenden halten.“

„Natürlich. Auf Wiedersehen.“

Celeste gehörte zu den letzten Passagieren, die an Bord gingen. Kurz darauf wurden die Taue gelöst und die Cumberland machte sich auf ihren langen Weg über den Atlantik.

Eine Stunde später war alles, was von New York blieb, nur noch ein blasser Streifen am Horizont.

Celeste und Dorothea bewohnten zwei nebeneinanderliegende Kabinen in der ersten Klasse, die durch eine Schiebetür getrennt waren. Sie war nicht verschlossen, sodass Celeste immer nach dem Rechten sehen konnte.

Inzwischen war es Abend geworden. Beide hatten das Abendessen ausfallen lassen und Dorothea hatte sich schon bald darauf zur Nacht zurückgezogen.

Es dauerte nicht lange und Celeste konnte hören, wie das Mädchen leise im Schlaf stöhnte. Besorgt betrat sie auf nackten Füßen die Kabine. Das Licht einer kleinen Gaslampe warf zuckende Schatten durch den Raum.

Dorothea lag ausgestreckt in ihrem Bett, das Kissen mit beiden Armen fest umschlungen. Ihre goldenen Locken schimmerten auf den blütenreinen Laken und ihre sanft geschwungenen Lippen zuckten, als spräche sie im Schlaf. Sie träumte. So lebhaft, dass sie die Bettdecke ans Fußende gestrampelt hatte.

Celeste deckte sie wieder zu, strich ihr beruhigend über die kühle Stirn und kehrte dann wieder in ihre Kabine zurück.

Der Umschlag mit Mrs. Roovers Informationen wartete auf sie. Er lag auf dem Sekretär, vor dem sie Platz nahm. Ihre Augen brannten, sie war müde, aber noch nicht müde genug, um sich schlafen zu legen. Also öffnete sie den Umschlag und begann zu lesen, was Mrs. Roover gesammelt hatte.

Estelle Wiggins. Sechzehn Jahre alt.

Es gab keine Fotografie, nur eine grobe Beschreibung.

Blondes Haar, blaugraue Augen. Ein Meter siebenundfünfzig. Erwürgt. Seil oder Tuch. Gefunden am 29. Juli. Themse. Battersea Park.

Aus einem Zeitungsartikel erfuhr Celeste, dass ihre Eltern sie in ihrem Zimmer gewähnt hatten. Aber irgendwann in der Nacht musste sie sich hinausgeschlichen haben. Es gab keine Spuren eines Einbruchs, nichts, was auf eine Entführung hingedeutet hätte.

Wohin Estelle gegangen war oder ob sie jemanden hatte treffen wollen, verriet der Text nicht.

Die Notizen füllten nicht einmal eine Seite und Celeste fragte sich, wo sie ansetzen sollte. Mit Dorothea konnte sie nicht sprechen, wenn nicht einmal ihre Tante den Mut aufgebracht hatte, ihr von Estelles Tod zu erzählen. Hinter ihr hörte sie ein Geräusch, das sie zwang, sich hastig umzudrehen.

Fast hatte sie das Mädchen erwartet, wie es ihr über die Schulter sah. Aber sie war allein. Vielleicht war nur jemand an ihrer Kabinentür vorbei gegangen. Dennoch, sie wollte kein Risiko eingehen. Sie schob die Papiere hastig in den Umschlag zurück und versteckte ihn zusammen mit den anderen beiden Kuverts im doppelten Boden ihrer Reisetruhe.

Sie stand auf und ging zum Waschtisch. Um ihre Müdigkeit zu bekämpfen, gab sie Wasser in eine Waschschüssel, tauchte die Hände hinein und wusch sich das Gesicht. Als sie wieder aufsah, blickte sie in den goldumrahmten Spiegel an der Wand. Kleine Tropfen rannen ihre Nase entlang und glänzten auf der feinen Zeichnung ihrer Wangenknochen. Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, ging sie zum Bett und setzte sich auf den Rand. Ihr Blick fiel auf eine kleine Fotografie, die auf einer Konsole an der Wand stand. Das Bild steckte in einem Rahmen aus dunklem Holz. Das Papier war rissig und an den Rändern schon etwas verblichen. Eine Erinnerung an zu Hause. Celeste nahm es in den Schoss und betrachtete es.

Da war ihr Vater, in seinem Lieblingssessel sitzend. Das Haar sauber gescheitelt, der Anzug wie eine Uniform und die künstliche Hand auf seinem Knie. Ihre Mutter stand hinter ihm. Ihr teures Kleid und die noch kostspieligeren Perlen um ihren Hals und an den Ohren konnten nicht darüber hinweg täuschen, dass sie unglücklich war. Ihr Lächeln war ebenso künstlich wie die Hand ihres Mannes.

Nur ihr Bruder, der auf seinem Schaukelpferd saß, lachte herzlich und ehrlich. Celeste selbst stand neben ihm, ein pausbackiges Kind im Rüschenkleid, das ihrem erwachsenen Ich nun aus großen Augen entgegensah. Ob Mom und Dad manchmal an mich denken? Ob sie sich Sorgen machen, fragte sie sich im Stillen. Doch die stummen Gesichter gaben ihr keine Antwort.

Mit einem Seufzer stellte sie die Fotografie zurück und legte sich ins Bett.

Durch die angelehnte Tür konnte sie Dorothea im Schlaf weinen hören. Wieso hatte das Mädchen nur solch panische Angst, nach Hause zurückzukehren?

image

4. September 1877
London
Kurz nach Mitternacht

Die Straßen in Lambeth lagen still und verlassen da. Der Regen, der seit den Abendstunden über London niederging, hatte die Menschen in die Häuser getrieben. Nur die armen Teufel, die sich keine Unterkunft leisten konnten, kauerten unter tropfenden Vordächern oder in abbruchreifen Ruinen, die weder Türen noch Fenster besaßen. Die Dunkelheit hatte schon vor Stunden einen trüben Tag abgelöst.

In einer schmalen Gasse, in der sich Abfall stapelte, balgten sich ein paar Ratten um die Kadaver zweier Katzen, denen irgendjemand das Fell abgezogen hatte.

Im verwahrlosten Hinterhof eines Gerbers bellte ein Hund.

All das kümmerte Madame Yin nicht, die, wie jeden Tag, den gleichen Weg ging.

Obwohl sie schon seit über zwanzig Jahren in London lebte, kannte niemand ihren richtigen Namen, und ebenso rätselhaft wie ihr Name war auch ihre Herkunft. Ihre mandelförmigen Augen ließen keinen Zweifel daran, dass sie aus Asien stammte, doch sie sprach ein so gutes Englisch, dass viele vermuteten, sie lebte schon immer hier. Die Jahre auf der Straße, die langen Nächte und vielen Liebhaber hatten Spuren auf ihrem einst zarten Gesicht hinterlassen. Ihre Lippen waren schmal, aber auffallend rot geschminkt. Tiefe Falten zeichneten ihr Gesicht von der Nase bis hinunter zu den Mundwinkeln. Ihre Haut wirkte blass, im Licht der matten Gaslaternen sogar kränklich gelb. Sie humpelte – ein Überbleibsel aus der Zeit, als sie noch als einfache Straßenhure ihren Lebensunterhalt verdienen musste und ein Freier sie fast totgeprügelt hatte.

Die Straße war ihr Lehrmeister gewesen. Erwarte nichts und erhoffe nichts, niemand wird dir etwas schenken. Du musst es dir selbst nehmen. Nach diesem Credo lebte sie, und nach diesem Credo handelte sie. Und nun gehörten ihr drei Opiumhöhlen und zwei Bordelle, was ihr ein beträchtliches Einkommen einbrachte, sowie den Respekt der Männer und Frauen, die ihr Geld ebenfalls im Schatten verdienten.

Ihre Häuser liefen so gut, dass sie sich die edelsten Kleider hätte leisten können, aber darauf verzichtete sie ebenso wie auf einen Leibwächter oder auf eine Kutsche, die sie trocken durch den Regen gebracht hätte. Um ihre Etablissements zu besuchen und nach dem Rechten zu sehen, ging sie, wie früher, zu Fuß. Nur einen Schirm gegen den Regen und einen Stock als Gehhilfe gestattete sie sich als Luxus, denn neben ihrem lahmen Bein bereitete ihr bei nassem Wetter auch ihr Rücken Kummer. Sie bog gerade in die Newcomen Street ein, als der Regen nachließ. Die Luft roch frisch und klar, der Regen hatte seinen Dienst getan und den fauligen Gestank nach Armut und Hoffnungslosigkeit fortgewaschen. Madame Yin blieb einen Moment lang stehen und nahm einen tiefen Atemzug. Sie konnte ihr Zuhause schon am Ende der Straße sehen. Die obere Etage lag im Dunkeln, dort wohnte sie. Aus der unteren Etage, über deren Eingang ein roter Holzdrache hing und wo tiefrote Lichter in den Fenstern brannten, konnte sie leises Flötenspiel und Lachen hören.

Sie hatte also noch Gäste, wie sie ihre opiumsüchtige Kundschaft gerne nannte. Dabei machte sie keinen Unterschied, ob jemand von hohem Stand war oder tagsüber in den Werften schuftete. Ob Mann, ob Frau, alt oder jung – Hauptsache, sie konnten die drei Schillinge aufbringen, die sie für die Jagd nach dem Drachen bezahlen mussten.

Aus dem Schatten trat eine Gestalt an sie heran, die einen Strauß Blumen in der Hand hielt. Es war ein Mann mit Mantel und Zylinder.

„Verzeihen Sie. Madame Yin?“, fragte er mit sanfter Stimme.

Sie nickte höflich. „Kann ich etwas für Sie tun, mein Freund?“

Er sagte nichts, sondern reichte ihr lediglich mit gesenktem Kopf die Blumen. Es waren rote Rosen. Madame Yin nahm sie und roch daran. „Das ist aber reizend von Ihnen“, sagte sie und schenkte ihm ein seltenes Lächeln. „Haben Sie vielen Dank. Möchten Sie mich ein Stück begleiten?“

Er hob den Kopf. Seine Augen funkelten. „Nein, Madame. Das möchte ich nicht.“ Unvermittelt stürzte sich der Mann auf sie.

Der Blumenstrauß fiel zu Boden. Er zertrat ihn.

Rosenblätter rissen ab und schwammen den Rinnstein entlang, tanzten und drehten sich auf dem Wasser. Ein Reigen, den auch Madame Yin tanzte. Sie wand sich, kämpfte, wollte fliehen, um Hilfe schreien, aber er hielt sie am Hals gepackt, drückte zu und presste ihr ein Tuch auf Mund und Nase. Sie roch und schmeckte Alkohol. Ihr wurde schwindelig. Ihre Gegenwehr erlahmte. Dann wurde es dunkel.

image

7. September 1877
Die Themse
Früher Morgen

Die Princess of the Thames war ein altersschwacher, rostiger Kahn, der nach Öl, Kohle, Ruß und Müll stank. Tuckernd spie der Motor schwarze Rauchwolken in den Himmel. Ein Geruch, der auch den beiden Männern anhaftete, die auf der Princess ihre Arbeit taten.

Sie waren Watermen und fischten den Müll aus der Themse, den andere hinein warfen. Ihre Aufgabe nahmen sie mit Humor und einer Flasche Gin, die sie schon zur Hälfte geleert hatten. Dabei hatte Big Ben erst neun Mal geschlagen. Die reich geschmückte Fassade des Parlaments erhob sich links von ihnen, aus einem Schleier von Rauch und Nebel.

Der Jüngere der beiden wischte sich mit dem dreckstarrenden Ärmel über die Nase, während er mit der Hakenstange nach einem Leinensack stocherte, der Steuerbord am Boot vorbei trieb.

Er hoffte auf einen guten Fang. Hin und wieder fanden sie tatsächlich etwas, das sich zu Geld machen ließ.

„Bei den dick'n Titten meiner Schwesser. Das sieht mir nach 'nem guten Fang aus!“, rief der Mann seinem Kameraden zu, der am Ruder stand und das Boot ruhig im Wasser hielt. Der streckte den Hals und grinste dreckig. „Deine Schwester hat sogar verdammt dicke Titten, und weich sind die auch noch.“

Der andere winkte ab, aber der Mann am Ruder war noch nicht fertig. „Hey, Potts. Egal, was es is'. Wir machen halbe-halbe. Is' klar, nich'?“

„Ja is' klar, Dorsey, sicher. Verflixt un' Teufelsauge, verdammtes … Dreck …“ Ihm rutschte der Sack nun schon zum zweiten Mal vom Haken. Erst beim dritten Mal schaffte er es, den schweren Leinensack aus dem Wasser zu ziehen.

„Der is' verflucht drecksschwer. Dors! Wenn du artig bis', geb' ich heut' einen aus!“

Sein schwerfälliger Geist gaukelte Potts alle möglichen Kostbarkeiten vor, die sich gleich auf Deck ergießen würden. Mit seinem Messer schlitzte er den Sack auf und kippte ihn aus. „Verfluchte Scheiße“, schrie er auf und prallte zurück. Träume von reicher Beute zerplatzten wie Seifenblasen.

Was da nass, aufgequollen und von Maden zerfressen vor ihm lag, war … Potts wandte sich ab, ehe er Genaueres erkennen konnte. „Dreck, Dreck, Dreck!“

„Was is'n? Machst'n für'n Geschrei?“ Dorsey kam um die Kajüte herum. Die Princess schaukelte nur noch träge auf den Wellen.

Er stieß mit Potts zusammen und beide setzten sich auf den Hosenboden.

„Da, da …“ , stammelte Potts kreideweiß.

„Du dämlicher Bastard“, fuhr er ihn an. „Das is' nur 'n verreckter Hund.“

„Echt?“

„Klar, was has'n du geglaubt?“

Potts druckste herum.

„Etwa'n Krepierten? Is' doch viel zu klein. Ney, ney. Da scheißt du dir in die Hose. Hab' schon welche gefunden. Total aufgeduns'n. Das Maul aufgeriss'n. Ich sag dir, die Seelen von denen, die sin' immer noch hier. Geh'n nich' weg. Manche machen auch Geräusche. Roorgs. Aaach“, machte Dorsey und sein Kumpel schlug ihm gegen die Schulter.

„Blöder Scheißer.“

Dorsey lachte sich kaputt, während Potts alles dafür tat, den Gin in seinen Eingeweiden zu behalten.

„Hier, mach's weg.“ Dorsey warf ihm eine Schaufel zu. „Schmeiß es über Bord, soll'n sich annere die Finger dreckig mach'n.“

Er ging zurück und gab wieder Geschwindigkeit auf den Motor der Princess.

Die Schiffsschraube wirbelte Blasen auf, nur um sofort darauf mit einem hässlichen Knacken den Dienst zu versagen. Ein paar Ventile pfiffen so laut, dass die herumfliegenden Möwen in lautes Zetern ausbrachen. Öl spritzte aus reißenden Schläuchen.

Mit der Faust schlug Dorsey auf das Steuerrad. „Was'n nu wieder?“, fluchte er lauthals und stoppte die Maschine.

Sofort war Potts zur Stelle.

„Hast du den scheiß Köter weggemacht?“, blaffte Dorsey.

„Noch nich'. Was 'n los?“

„Wir ham' was mit der Schraube aufgegabelt.“

Beide beugten sich über die Heckreling und sahen aufs Wasser. Dann starrten sie sich gegenseitig an. Sie mussten schlucken, bis Potts nach der Flasche Gin griff, einen tiefen Schluck nahm und sie dann an Dorsey weiterreichte, der sie ohne abzusetzen leer trank, sich dann über den Mund wischte und aufs Wasser zeigte. „Das da, das is'n Krepierter. Los, hol die Haken.“

„Den will'se doch wohl nich' an Bord holen?“ Potts spürte, wie ihm der Gin brennend wieder die Speiseröhre hinaufkletterte. Er schaffte es gerade noch an die Reling. Dann übergab er sich.

„Hör auf mit'm Quatsch. Komm und hilf mir.“

„Lass 'n im Wasser.“

„Geht nich'. Hängt inner Schraube fest. Und … hey. Vielleicht hat sie was dabei. Außerdem is' es unsere Menschenpflicht.“

„Häh?“

„Nächstenliebe oder wie die Scheiße heißt. Und jetz' wisch dir's Maul ab und hol die scheiß Stangen.“

Potts stapfte davon, während Dorsey auf den schwimmenden Leichnam starrte, der ihm nur seine Rückseite zeigte. Langes schwarzes Haar. Ein Kleid, das im Wasser trieb wie eine übergroße tote Qualle. Es konnte nur eine Frau sein.

Mit den Hakenstangen unter dem Arm kehrte Potts zu ihm zurück und zusammen begannen sie nach der Toten zu stochern, bis sich die Haken in dem Kleid verfingen. Sie zogen sie an die Bordwand und endlich bekam Dorsey sie mit den Händen zu packen. „Ich hab 'se!“, rief er. „Pack mit an!“

„Was soll ich? Hol's der Teufel! Nein!“ Potts sah ihn erschrocken an.

„Mach schon, du feiger Hosenscheißer! Die Jungs im Salt 'n'Fish werd'n dir ein' ausgeben, wenn du's erzählst. Deine erste Krepierte. Jetzt pack schon mit an. Sie haut mir ab.“

Freie Drinks? Das überzeugte Potts sofort und er griff beherzt zu. Er bekam die Tote am Arm zu fassen. Das Fleisch fühlte sich weich und klamm an.

Sie schafften es, sie zur Hälfte aus dem Wasser zu ziehen, dann hing sie fest. „Ihr verfluchtes Bein“, keuchte Dorsey. „Es hängt inner Schraube fest. Los noch mal. Mit … aller … Kraft.“

Beide stemmten die Füße gegen die Reling und plötzlich gab der Widerstand nach und die beiden Männer stürzten zusammen mit der Leiche auf Deck.

Potts kroch hektisch unter der Toten hervor. Sein Gesicht war vor Ekel verzerrt. Auf der Stelle springend, als hätte er sich die Füße verbrannt, wischte er sich das stinkende Themsewasser aus dem Gesicht. „Die … die Drecksschlampe hat mich angefasst.“ Schon wandelte sich seine Gesichtsfarbe in ein blässliches Grün.

Im Gegensatz zu ihm blieb Dorsey gefasst. Er stand auf, richtete seine speckige Jacke und schob sich die Mütze in den Nacken. Sein Blick hing an der Leiche. Deren Augen waren weit aufgerissen und starrten bleich in den Himmel. „Sieht aus wie 'n toter Fisch. Stinkt auch genauso.“

Ihr Bein war unterhalb des Knies abgerissen. Entweder hing der Rest noch in der Schraube fest oder trieb nun die Themse hinunter Richtung Küste.

Dann durchsuchte er die Tote nach etwas von Wert, fand aber nichts. Auf einmal stutzte er. Etwas hing der Toten aus dem Mund. „Was 'n das?“, murmelte er und fasste mit spitzen Fingern zu. Es war ein Stück Stoff, gelb und mit einem Rosenmuster, sauber zusammengefaltet und mit einer dünnen Schnur verknotet. Neugierig öffnete er es. Darin war eine blonde Haarlocke, ebenso säuberlich zu einer Schleife verknotet.

Er kratzte sich am Kopf, aber auch Nachdenken brachte keine Lösung. Also steckte er das Päckchen ein und brachte wieder Dampf auf den Kessel.

Die Princess steuerte in Richtung der Piers, die flussabwärts von Westminster Bridge lagen. Dorsey bekreuzigte sich.

„Was mach'n wir denn jetz'?“ Potts war beängstigend ruhig geworden.

„Was schon? Wir hol 'n die Copper.“

image

Südlich von Westminster Bridge
Zur Mittagsstunde

Drei Stunden später hatte die Nachricht von der Toten in der Themse die Runde gemacht. Die Polizei hatte Pier 14 abgesperrt, an dessen Ende die Princess vertäut lag. Inzwischen war eine große Menschenmenge zusammengekommen, die neugierig Richtung Fluss starrte. Eine Hansom-Kutsche hatte am Ende der Straße gehalten und ein Mann war ausgestiegen. Er war hochgewachsen, breitschultrig, mit schwarzem Haar, welches er seitlich gescheitelt trug. Die energisch zusammen gepressten Lippen beschattete ein Oberlippenbart. Er sah zum Himmel. Nieselregen flirrte durch die Luft und tauchte die Silhouette Londons in einen trüben Schleier. Den Kragen hochgeschlagen und die Hände tief in den Taschen seines Mantels vergraben bahnte er sich einen Weg durch die Menge, die gaffend die Köpfe in die Höhe reckten oder auf Fässern, Karren und Mauern hockten, um besser sehen zu können.

„Sie können hier nicht durch“, sagte einer der Bobbys, die den Durchgang versperrten. Der Custodian-Helm, der die Nummer seines Reviers auf einer Plakette trug, drückte ihm auf die Augenbrauen. Sein blauer Mantel glänzte vor Nässe.

„Inspector Robert Edwards“, sagte der Mann und fügte bedeutungsschwer hinzu: „Scotland Yard.“ Er zeigte seinen Ausweis.

„Verzeihung, Sir. Ich wusste ja nicht …“

„Schon gut, Constable. Machen Sie weiter.“ Edwards betrat den Pier und ging zum Boot.

An Bord konnte er zwei Beamte ausmachen. Einer von ihnen wandte ihm zwar den Rücken zu, doch seine affektierten Gesten, mit denen er seine Monologe gerne unterstrich, waren unverkennbar: Inspector Kippwell von der L-Division. Auf seinem Kopf thronte ein schwarzer Bowler, der ihm das Aussehen einer Kanonenkugel verlieh.

Edwards konnte diesen blasierten Affen nicht ausstehen, der zwei Jahre lang sein Ausbilder gewesen war. Schon fragte er sich, warum ihn Chief Inspector DeFries überhaupt herbestellt hatte.

„Guten Tag, Gentlemen“, sagte er und zwang sich, freundlich zu bleiben.

Kippwell schien wie vom Donner gerührt. Einen Moment lang suchte er nach Worten, dann zuckten seine Mundwinkel. „Edwards. Was wollen Sie denn hier?“

„Wollte mir mal die Füße vertreten und sehen, was Sie so treiben.“

„Ich brauche Sie nicht. Gehen Sie.“

Edwards grinste herausfordernd. „Ist wirklich zu dumm, was, alter Knabe?“

„Was zum Teufel meinen Sie?“

„Nun, dass die Leute immer sterben, wenn Sie gerade Dienst haben. Wo Sie doch bequem vor dem Ofen sitzen könnten, um ihre Pfeife zu rauchen.“

Kippwell erstarrte. „Gibt es nicht irgendwo eine Prügelei, die Ihre Anwesenheit erfordert?“

„Nein, momentan nicht. Es sei denn, Sie wollen eine mit mir anfangen.“

„Verschwinden Sie. Scotland Yard ist hier überflüssig.“

„Das sieht der Chief Inspector wohl anders.“

„Ich bin der leitende Beamte“, schnappte Kippwell, missgünstig sein Revier bewachend.

„Sie können ihn ja selber fragen, alter Knabe. Er will herkommen. Solange werde ich Ihrem messerscharfen Verstand bei der Arbeit zusehen.“

Kippwell pustete eine Rauchwolke in die Luft und glich dabei einem Drachen, der seinem nächsten Opfer giftigen Odem entgegen spie. Es bereitete Edwards eine diebische Freude zu sehen, wie er seinen ehemaligen Vorgesetzten aus der Fassung brachte. Dann erstarrte er, als er einen Blick auf das Gesicht der Toten erhaschen konnte. Sofort schob er Kippwell beiseite, um neben ihr niederzuknien.

„Kennen Sie die Frau?“, fragte der Sergeant, der bis dahin schweigend daneben gestanden hatte.

„Würde mich nicht wundern, wenn er so eine abgetakelte Schabracke kennen würde.“

„Halten Sie den Mund, Kippwell“, schnaubte Edwards. Für ihn war der Blick in das Gesicht der Toten wie ein Blick in die Vergangenheit. Damals, als er noch als Constable Dienst in Whitechapel getan hatte. Er schloss ihr die Augen. „Das ist Madame Yin.“ Ein seltsames Gefühl der Verbundenheit überkam ihn.

„Und wer soll das sein?“, knurrte Kippwell.

„Sie war eine der wichtigsten Frauen in Lambeth und Whitechapel. Opium, Huren, Glücksspiel. Sie hatte überall ihre Finger drin. Sollten Sie Ihr Klientel nicht etwas besser kennen, Kippwell?“

„Ersparen Sie mir Ihre verfluchte Klugscheißerei und hauen Sie endlich ab. Sie stören mich.“

„Wobei? Beim Rauchen?“

„Jetzt hab ich aber genug von Ihnen. Runter vom Schiff.“

Edwards sah auf Kippwells geballte Fäuste. „Versuchen Sie es doch. Den ersten Schlag gestatte ich Ihnen.“

„Gentlemen, sollten wir uns angesicht der Toten nicht ein wenig beherrschen?“ Die Worte des Sergeant fielen wie Blei auf Deck.

Kippwell nagte an seiner Pfeife wie ein Hund an seinem Knochen.

„Ihr Sergeant hat recht, aber an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.“ Edwards hatte Mühe sich zu beherrschen. Er sah wieder zu der Toten. „Armes Ding.“

„Armes Ding?“, höhnte Kippwell. „Dass ich nicht lache. Wie sie selbst gerade sagten, war sie ja wohl eine Kriminelle. Dass sie tot ist, bedeutet nur eine weniger, um die wir uns Sorgen machen müssen.“

„So sehen Sie das also? Und was ist mit dem Schwein, das sie umgebracht hat? Der hat der Stadt dann wohl einen Gefallen getan?“

Zwei Kutschen hielten am Pier und zogen die Aufmerksamkeit aller auf sich, ehe der Streit erneut aufflammen konnte.

Doktor Noah Aeglewood, der Polizeiarzt des Yard, und Chief Inspector Hendrik DeFries stiegen aus.