Himmelsfluch

Jenseits des Kreises

Band 1

Kristina Licht

Der Zorn der Götter haftet an unseren Fersen, folgt uns in alle Ecken dieser Welt, deren Bewohner nur das Trugbild eines Lebens führen. Wir haben den ewigen Kreis durchbrochen; ist der Grund für ihren Hass, dass wir ihnen nicht mehr gehorchen? Dass wir kein Spielzeug ihres Himmels bleiben wollen?

- aus dem Schwarzen Buch der Verfluchten -

September 2007

Die Luft war stickig und trocken. Meine nackten Oberschenkel klebten aneinander, winzige, helle Punkte tanzten auf ihnen, die das dreckige Fenster durch die Sonne auf meine Haut spiegelte. Die Hitze war drückend, die Klimaanlage im Bus anscheinend kaputt.

Ich wandte meinen Kopf zur Glasscheibe und erkannte dahinter die hohen, heruntergekommenen Häuser wieder, die mein Heimatviertel bildeten. Es kam mir vor, als würde ich sie nachts häufiger sehen als tagsüber. Heute stach mir die vom Schmutz geschwärzte Fassade und das grüne, schimmelig aussehende Moos besonders ins Auge. Ich verzog angewidert das Gesicht und die rot geschminkten Lippen meines Spiegelbildes taten es mir gleich.

Mein Finger drückte auf den gelben Knopf und ich stand auf. Nicht nur meine Oberschenkel waren offenbar zusammengeklebt, auch der Stoff meiner knappen Jeansshorts haftete unangenehm an meiner Haut.

Während der Bus langsamer wurde und sich der Haltestelle näherte, erblickte ich durch die Fenster einen Jungen am Bordstein. Ich hatte ihn schon ein paar Mal in den letzten Monaten gesehen und wie die Male zuvor überkam mich ein seltsames Gefühl bei seinem Anblick, als müsste ich ihn von irgendwoher kennen. Ein seltsames Gefühl von Vertrautsein. Eine Art Déjà-vu. Ob er wohl ein alter Grundschulfreund war? Jemand aus dem Schwimmverein? Oder hatte ich ihn erst vor kurzem in irgendeiner Bar kennengelernt? Auf einer Party gesehen, doch wegen des reichlich geflossenen Alkohols wieder vergessen?

Der Junge schaute mich auch heute an. Seine Augen waren blau. Er sah jünger aus als ich. Und mein Herzschlag beschleunigte sich.

Als die Türen des Busses sich öffneten, sprang ich raus, während er weiter vorn den Bus betrat. Ich konnte nicht anders, als noch einmal zurückzublicken und zu beobachten, wie er sich durch die Reihen der Sitze manövrierte und mich dabei nicht aus den Augen ließ. Irgendetwas sagte mir, dass er das Gleiche spürte wie ich.

Oder weshalb sonst starrten wir uns bei jedem flüchtigen Treffen so an, als wären wir zwei für immer verlassen geglaubte Menschen, die einander wiederfanden? Weshalb sonst fühle es sich intimer an, ihn anzusehen, als mit wem anders zu schlafen?

Meine Beine setzten sich in Bewegung und ich löste meinen Blick von dem sich entfernenden Bus. Aus den Augenwinkeln stach mir etwas Blaues entgegen und ich blieb stehen. Ein Schülerausweis lag am Boden, verloren auf dem trockenen Asphalt. Mit laut pochendem Herzen bückte ich mich und streckte meine Hand danach aus.

Als ich ihn öffnete, erblickte ich das Gesicht des Jungen.

Falk Reuer war sein Name.

5 Jahre später

»Du kommst dann morgen zum freien Training, oder?«, rief Mia mir zu und stieg bereits in den Wagen ihres Freundes. Sie hatte die Tür zugeschlagen, bevor sie meine Erwiderung hörte, doch wir trainierten bereits so lange gemeinsam, dass die Antwort immer dieselbe war.

Ich winkte ihr zu und setzte mein mechanisches Lächeln auf, als der silberne Audi an mir vorbeifuhr. Sobald der Wagen um die nächste Straßenecke gebogen war, verblasste es. Meine Hände griffen nach der Kapuze meiner schwarzen Sweatjacke und zogen sie über meine noch feuchten Haare.

Die untergehende Sonne tunkte den Himmel in ein tiefes Blutrot, auf das ich zwischen den Hochhäusern immer wieder einen Blick erhaschen konnte. Der Herbst hatte die Tage kürzer werden lassen und die Abende kühler.

Gedankenverloren schob ich meine Hände in die Taschen meiner Jacke und vergrub die Hälfte meines Gesichtes in dem weichen Schal. Mir war zwar immer noch furchtbar heiß vom Sport und der anschließenden warmen Dusche, doch diese Bewegung hatte für mich immer etwas Vertrautes und Sicheres. Ich liebte es, mein Kinn in den leichten Stoff zu schmiegen, erinnerte mich dadurch an frühe Kindheitstage zurück, an denen ich mich mit meiner Mutter unter eine Decke gekuschelt und heißen Kakao getrunken hatte. Ihre Wärme neben meinem kleinen Körper, die Decke, die uns beiden gleichermaßen Geborgenheit gespendet hatte.

Ein Auto fuhr rauschend an mir vorbei und spritzte den Regen vom Nachmittag auf. Ich versuchte vergeblich den kleinen Tropfen auszuweichen, störte mich aber nicht daran, als sie mich trotzdem erwischten. Die Ruhe, die ich nach dem Training immer verspürte, war ein Segen. Nur beim Taekwondo und kurz danach fühlte ich diese Ausgeglichenheit in meinem Inneren. Zu oft war ich sonst genervt von den Menschen um mich herum und meinen eigenen Gedanken. Zu gestresst davon, mein Leben so auf die Reihe zu bekommen, wie mein Vater es akzeptierte. Zu unruhig von den vielen Momenten, die mir eisige Schauer über den Rücken jagten. Das Gefühl, verfolgt zu werden, saß in letzter Zeit zu oft in meinem Nacken.

Ich erreichte die Bushaltestelle und erkannte erst ein paar Sekunden später die Person, die bereits auf der Holzbank saß. Er schaute auf seinen iPod und hatte Musikstöpsel in den Ohren, weshalb ich mich dazu entschied, ein paar Schritte von ihm entfernt stehen zu bleiben. Ich hatte sowieso keine Lust, mich mit ihm zu unterhalten. Und vielleicht verbarg meine ins Gesicht gezogene Kapuze zu viel von mir, als dass er mich erkennen würde.

Doch ich hatte Pech. Mein Kommilitone schaute auf und zog sich mit einem Grinsen die Stöpsel aus den Ohren. »Hey, Kiara«, sagte er. Im Gegensatz zu sonst trug er keine Brille.

»Hallo Falk«, grüßte ich murmelnd zurück und nickte ihm höflich zu. Wir studierten gemeinsam Philosophie - eine andere Gemeinsamkeit hatte ich zwischen uns jedoch nie entdeckt. Außer, dass wir uns zu häufig an Bushaltestellen trafen. Ich erinnerte mich noch schwach an meine ersten Begegnungen mit ihm, wusste noch, dass er mich in irgendeiner Weise fasziniert hatte und ich vor etlichen Jahren ein wenig für ihn geschwärmt hatte. Doch dieses Gefühl hatte schnell nachgelassen, als ich mich mit anderen Jungen getroffen hatte. Vielen Jungen. Hübschen Männern.

Falks blaue Augen hatten da nicht mehr mithalten können und bis zu unserem Studium hatten wir auch nie ein Wort miteinander gesprochen.

»Auf dem Weg nach Hause?«, fragte Falk und schien mich in ein Gespräch verwickeln zu wollen. Hatte er in den ganzen Monaten an der Uni etwa nichts gelernt?

Ich nickte nur und deutete auf meine Sporttasche, um seiner nächsten Frage zuvorzukommen.

»Welche Sportart?«

Na super. »Taekwondo«, antwortete ich und kehrte ihm den Rücken zu, um auf den Fahrplan zu schauen. Natürlich wusste ich, wann der Bus kam, aber vielleicht würde Falk dieses Zeichen ja verstehen.

Tat er nicht, oder wollte er nicht - so genau konnte ich es bei diesem Typen nicht sagen.

»Wow, ist ja cool. Wusste ich noch gar nicht.«

Gequält schloss ich für einen Moment meine Augen, dann antwortete ich mit einem honigsüßen Lächeln: »Du weißt vieles nicht von mir.«

Als ich wieder zu ihm hinüber sah, grinste er. Und obwohl man Falk nie als Schönheit bezeichnen würde, verursachte das Grübchen über seinem rechten Mundwinkel ein schwindelerregendes Gefühl in meinem Magen. Ich scannte ihn automatisch nach Muskeln ab, suchte nach dem Funkeln in seinen Augen, als wolle mein Körper ihn als nächstes Opfer betrachten. War zu gewöhnt an meine Zeit als Jägerin. Die ewige Jagd nach dem Vielversprechenden.

Ich schüttelte meine Gedanken ab und presste entschlossen meine Lippen zusammen. Diese Zeiten waren schon lange vorbei und Männer wie Falk passten sowieso nicht in mein Beuteschema.

»Wo ist deine Brille?«, fragte ich ihn stattdessen. Lag es an ihrem Fehlen, dass er so anders auf mich wirkte?

Er winkte die Frage mit einer abfälligen Handbewegung ab. »Trag‘ jetzt Kontaktlinsen.«

»Aha.«

»Kiara …«, meinte er dann langsam und ich zog fragend meine Augenbraue hoch. »Das hört sich jetzt doof an, aber wir müssen bis morgen doch diese Hausarbeit abgeben und ich wollte fragen, ob du noch einmal über meine drüber lesen könntest ...?«

In meiner Vorstellung schlug ich mittlerweile meinen Kopf gegen die Eisenstange der Haltestelle. Sehe ich so aus, als wäre ich eine hilfsbereite Kommilitonin? »Hast du sie dabei?«, fragte ich stattdessen. Der liebe Falk würde es bestimmt nicht verstehen, wenn ich meine Stirn tatsächlich gegen das Metall donnern würde. Außerdem war ich ihm etwas schuldig, weil ich vor ein paar Tagen eine Seminaraufgabe bei ihm abgeschrieben hatte.

»Nein«, er lachte, als sei dies eine dumme Frage gewesen. »Wäre aber cool, wenn du morgen Vormittag bei mir vorbeischauen könntest.«

Das ist nicht sein Ernst. Ich blinzelte ihn stumm an und fragte mich, wieso der Bus noch nicht da war.

»Bitte?« Er grinste und ich hätte schwören können, dass in seinen Augen mehr lag als unschuldige Hilflosigkeit. Kurz runzelte ich die Stirn. Was sollte das hier? Falk war doch sonst nicht so aufdringlich. Das war mit ziemlicher Sicherheit das längste Gespräch, was ich je mit ihm geführt hatte.

»Nein, tut mir leid«, sagte ich, ließ ihn aber voller Absicht den Sarkasmus aus meiner Stimme heraushören.

Das dumpfe Grollen des heranfahrenden Busses brachte dann endlich die Erlösung. Zumindest vorerst. Als ich einstieg, schlich sich in mir nämlich der Gedanke ein, dass Falk sich neben mich setzen könnte. Und um dies zu verhindern, tat ich etwas, das ich sonst nie tat: Ich setzte mich, obwohl noch andere Plätze frei waren, neben die erstbeste Person, die ich entdeckte.

Im Normalfall mied ich die Nähe anderer Menschen – außer beim Sex, den ich aber schon viel zu lange nicht mehr hatte -, doch heute war sie mir willkommener als Falks Nähe.

Als ich Platz nahm, starrte ich erst meinen Kommilitonen an und fürchtete, den Triumph in meinem Blick nicht verschleiern zu können. Mit einem nicht zu definierenden Gesichtsausdruck ging Falk an mir vorbei, dann erst riskierte ich einen winzigen Blick nach rechts zu meinem Sitznachbarn.

Wumm. Mein Herz donnerte gegen meine Rippen.

Das war der Typ von Mann, der in mein Beuteschema passte.

Früheres Beuteschema, verbesserte ich innerlich. Er schaute mich aus seinen dunklen Augen an, schmunzelte einen schnellen, lauten Herzschlag lang, dann drehte er sein markantes Gesicht dem Fenster zu.

Mit erhitzten Wangen wandte ich mich von ihm ab und wollte mich auf andere Gedanken bringen. Ich schaute mich also im Bus um und suchte nach Falk.

Erschrocken riss ich meine Augen auf, als ich ihn auf dem Platz hinter mir erblickte.

»Was guckst du denn so?«, fragte er lachend.

Ich schnaubte. »Hoffentlich hast du dich nicht hier hingesetzt, um mich zu überreden, mich morgen mit dir zu treffen!«

Er zuckte mit den Schultern. »Wenn du nicht willst, kann ich dich ja nicht zwingen.« Plötzlich blickte er rechts an mir vorbei und ein grimmiger Ausdruck trat in seine blauen Augen. Auch ich wandte mich um und sah den Mann neben mir an, der jedoch immer noch das Gesicht von mir abgewandt hatte.

»Genau«, antwortete ich schnell an Falk gerichtet und setzte mich dann wieder gerade hin. Ich nahm mir vor, für den Rest der Fahrt weder nach rechts noch nach hinten zu schauen. Stattdessen spielte ich mit dem Riemen meiner Sporttasche und heftete meinen Blick auf den roten Schriftzug, der die nächste Station verkündete. Da ich nur drei Haltestellen fahren musste, wurde meine Willenskraft auf eine nicht allzu große Probe gestellt.

»Nächster Halt, Uferstraße«, erklang die blecherne Ansage und ich stand auf, konnte und wollte das drängende Gefühl in meiner Brust jedoch nicht länger ignorieren. Ich blickte also ganz schnell noch einmal hinter mich, bevor ich auf die Tür zusteuerte, wollte nicht gehen, ohne das Bild dieses wunderschönen fremden Mannes ein letztes Mal in mich aufzunehmen. Wenn ich mich schon von solchen Männern fernhalten sollte, dann konnte ich zumindest nachts von ihnen träumen.

Zu meiner Überraschung trafen sich unsere Blicke. Mit einem verschlossenen Gesichtsausdruck sah der gutaussehende Fremde mich an, bis mich die kühle Abendluft erlöste.

Ein leises Klacken hallte durch den Hausflur und ich drückte die Tür zu meiner kleinen Studentenwohnung auf. Dunkelheit war das Einzige, das mich hier empfing, und ich war froh darüber.

Es hatte mal eine Zeit gegeben, in der ich mir die Wohnung mit einer anderen Studentin geteilt hatte, doch wie sehr ich mich auch zusammengerissen hatte, kam ich auf dem engen Raum nicht länger als zehn Minuten mit einem anderen Menschen klar. Ich brauchte Ruhe, wenn ich nach Hause kam, und kein hektisches, gestresstes Problem auf zwei Beinen, das immer meinen Rat hören wollte oder noch besser meine Probleme.

Mit langsamen, schlurfenden Schritten bewegte ich mich durch den Flur, knipste im Vorbeigehen das Licht an und ließ die Tasche von meinen Schultern gleiten. Vor dem Fenster in der »Wohnküche« - wie ich sie nannte - blieb ich stehen und starrte einige Sekunden lang reglos auf das spiegelnde Glas. Meine Probleme, wen gingen sie schon etwas an?

Mein Gesicht wirkte fahl in der Fensterscheibe, umrahmt von der schwarzen Kapuze meiner Sweatjacke. Die Farben im Hintergrund wirkten seltsam verzerrt. Es war mir schon von Kind auf unangenehm gewesen, nachts in einem erleuchteten Zimmer vor einem Fenster zu stehen, zu wissen, dass da draußen alles sein konnte, man aber nichts sah außer sich selbst. Als würde die Dunkelheit immer gewinnen, denn in ihr war man sicher. Man war unsichtbar.

Wieso ich trotzdem so viel Zeit damit verbrachte, nachts am Fenster zu stehen, konnte ich mir nicht erklären. Vielleicht war dies eines meiner Probleme. Ein Mädchen, mit dem ich früher befreundet gewesen war, hatte sich als Therapeutin aufgespielt und mir gesagt, dass mich dieses Angstgefühl faszinierte, genauso wie die Gefahr. Wie das pure, wilde Adrenalin in meinen Adern.

Dieses einsame, trostlose Stehen vor dem Fenster, in dem ich mich spiegelte, war wohl als Nachklang übrig geblieben. Das Echo meiner suchenden Seele.

Genervt wandte ich mich ab und schälte mich aus der Sweatjacke, während ich mein Schlafzimmer betrat. Ich kickte meine Vans vor die Couch, bevor ich mich rücklings darauf fallen ließ und an die modrige Zimmerdecke starrte, durch die sich feine Risse zogen.

Nachdem ich am nächsten Morgen den Brief an meinen Vater bei der Post abgegeben hatte, nahm ich mir die Zeit, in den hektischen Massen der Stadt unterzutauchen. In Läden ging ich nicht, da ich ohnehin nicht das Geld besaß, mir etwas zu kaufen. Selbst für eine Studentin und Wochenend-Kellnerin war ich erstaunlich arm. Ich hatte noch nie gut mit Geld umgehen können, hatte es zum Fenster hinausgeworfen, wie mein Vater stets sagte, sobald ich welches auf der Hand hatte. In den letzten anderthalb Jahren, in denen ich allein wohnte, zu studieren begonnen hatte und anfing, mein Leben zu ordnen, hatte ich versucht, mich zu bessern, doch ich hatte nie genug Geld besessen, um einen Erfolg zu beweisen.

Ich kickte eine leere Coladose über den Fußweg, als mein nächster Tritt zu heftig ausfiel und die Dose gegen das Jeansbein eines Passanten schlug, der in meine Richtung ging.

»Oh«, entfuhr es mir und ich schaute hoch, um mich zu entschuldigen, musste jedoch schlucken, als ich den Mann erkannte, der vor mir zum Stehen kam. Abschätzend starrte er auf die Blechbüchse zu seinen Füßen.

»Tut mir leid«, sagte ich schnell und biss mir auf die Unterlippe. Verdammt, was war los mit mir? So unsicher war ich doch sonst auch nie. Komm, sag etwas Lustiges, Kiara. Oder etwas Geistreiches. Oder lächle zumindest verführerisch.

Der Mann sah mich endlich an. Sein Blick verriet mir, dass auch er mich erkannte. Als ich für einen kurzen Augenblick etwas Feindseliges in seinen Augen aufblitzen sah, setzte mein Herz einen Schlag aus. Doch dann grinste der Typ schief und ich hätte schwören können, dass er wusste, was er mir damit antat.

»Hallo. Kiara, richtig?«, fragte er mit einer dunklen Stimme. Ruhig, ohne einen Funken Freundlichkeit. Männer, die mir gefielen, waren selten freundlich.

Ein Prickeln fuhr über meine Haut, während sich Aufregung in meinem Magen breit machte. »Woher kennen Sie meinen Namen?«, fragte ich perplex, wie gebannt von seinem Anblick.

»Der Blonde im Bus hat dich so genannt«, antwortete er.

Seine Augen waren von einem dunklen Braun und glänzten in der morgendlichen Sonne. Ich nickte, ohne über seine Antwort nachzudenken. Konnte mich nicht von ihm losreißen. Jedes Detail in seinem Gesicht erkundete ich, von den dunklen Haaren, die ihm in die Stirn fielen, und der großen, geraden Nase über seine markanten Wangenknochen und die schwarzen, kurzen Bartstoppeln; blieb mit meinen Gedanken schließlich an seinen vollen Lippen hängen. Ich stand auf volle Lippen. Seine bewegten sich und weiße, perfekte Zähne tauchten kurz auf, verschwanden wieder, tauchten auf. Erst als sein Mund geschlossen blieb, realisierte ich, dass er mich gerade etwas gefragt hatte.

»Wie bitte?« Ich blinzelte, um meine Gedanken wieder zu ordnen, und schob meine fehlende Konzentration auf mangelnden Schlaf.

Anstatt seine Frage zu wiederholen, kam der Fremde plötzlich näher. All die Personen um mich herum waren schlagartig vergessen. Sie hätten mich anrempeln können und ich wäre dankbar gewesen, ihm in die Arme zu fallen.

Reiß dich zusammen, Kiara. Doch es war hoffnungslos.

»Ich suche jemanden, der für mich arbeitet«, sagte der Mann und kam mir mit seinem Gesicht näher.

Näher.

Näher.

Sein Blick heftete sich ebenfalls auf meine Lippen und mir war vollkommen egal, dass ich diesen Mann überhaupt nicht kannte. Ich wusste nicht, wie er hieß, wer er war und weshalb er überhaupt mit mir sprach. Aber von mir aus konnte er mich gerne hier und jetzt küssen. Das Blut rauschte schwindelerregend schnell durch meinen Körper, viel länger würde ich es nicht aushalten können. Es war zu verlockend – er war zu verlockend. Ich wollte mich fallenlassen. Scheiß auf die Konsequenzen. Der verdrängte Schrei bahnte sich stumm seinen Weg nach draußen, kämpfte sich pulsierend an die Oberfläche. Der Ruf nach Leidenschaft.

»Worum ... geht es denn?«, wollte ich mit heiserer Stimme wissen. »Ein bisschen Geld habe ich nötig.« Meine Antwort klang seltsamer als gewollt. Ihn bloß anzusehen, reichte anscheinend, um mein Gehirn lahmzulegen. Fern lag jeglicher Gedanke, wie eigenartig es war, von einem fremden Mann mitten in der Stadt auf einen Job angesprochen zu werden. Derart nah vor ihm zu stehen …

»Und ich habe ein bisschen viel Geld übrig. Für ein so hübsches Mädchen wie dich.«

Nanu, er will mich doch nicht etwa dafür bezahlen, dass ich mit ihm schlafe?, schoss es mir durch den Kopf. Seine Wortwahl irritierte mich, sein angedeutetes Angebot überraschte mich. Andere Mädchen würden erschrocken zurückschrecken, ich hingegen wollte auch ohne Bezahlung mit ihm schlafen. Ich hatte schon schlimmere Sachen getan.

»Wofür wollen Sie mich denn bezahlen?«, fragte ich leise. Aus Angst, ein zu lautes Geräusch würde die Anziehung zerstören, die von ihm ausging.

»Dein Blut«, raunte er. Die Worte flossen durch mich hindurch wie kochendes Wasser.

Die Anziehung war zerstört. Ich runzelte die Stirn über diese ungewöhnliche Antwort, die mich aus meinen verkorksten Fantasien riss.

»Wie bitte?«, fragte ich und lehnte mich ein Stück zurück. Hatte ich gehofft, ihn grinsen zu sehen? Es als Scherz abzutun?

»Du hast mich schon verstanden«, sagte er dann. »Hundert Milliliter Blut für hundert Euro. Beim ersten Mal kriegst du eine Prämie von zweihundert.« Er schmunzelte, eine verzerrte Grimasse auf seinem soeben noch perfekten Gesicht.

Mein Herz raste, wusste nicht, was es davon halten sollte. Seine Worte wirkten fehl am Platz, so absurd in der Situation. Wer fragte einen mitten auf der Straße nach seinem Blut und bot einem dafür so viel Geld an?

Und ich hatte mich ihm beinahe wie eine Prostituierte an den Hals geworfen.

Der Mann trat einen Schritt zurück und hielt mir eine Visitenkarte unter die Nase. Obwohl ich sie nicht nehmen wollte, streckten meine Finger sich danach aus.

»Ruf mich an, Kiara. Es ist leichtes Geld.«

Ich hielt die Luft an, wollte meinen Kopf schütteln, doch er bewegte sich nicht.

»Das Angebot steht bis heute Abend«, sagt er, dann drehte er sich um und ging.

Einige Sekunden lang konnte ich mich nicht rühren. Stand einfach so da, mitten in der Einkaufsstraße mit dieser lächerlichen, schwarzen Visitenkarte in der Hand und dem komischen Gefühl in meinem Magen.

Mit zusammengepressten Lippen musterte ich den roten Schriftzug, der mir seinen Namen verriet. Ewan Everett.

Das war doch niemals sein richtiger Name, oder? Unter diesen zwei Worten stand in weißen kleinen Buchstaben seine Adresse und Telefonnummer.

Wütend starrte ich die Karte an, unsicher darüber, ob ich sie einfach zerknüllen und wegwerfen sollte. Unsicher darüber, weshalb ich überhaupt wütend war. Ich fand ihn heiß und er wollte statt meinem Körper mein Blut. Na und? Das sollte mich nicht so aufregen. Ich würde natürlich nicht anrufen und damit hätte sich die Sache erledigt. Verrückte gab es überall auf dieser Welt. Ich könnte so tun, als sei ich diesem Prachtexemplar von Mann nie begegnet. Wie hatte sich dieser Mr. Everett das überhaupt vorgestellt? Sollte ich ihm mein Blut in Beuteln abfüllen? Was wollte er damit? Wenn er Blutspender für Krankenhäuser suchte, hätte er das doch anders formuliert, oder? Und warum dachte ich darüber nach, wenn ich ohnehin schon beschlossen hatte, ihn nicht anzurufen?

Mein Blick fiel auf einen Mülleimer ein paar Meter weiter und ich löste mich aus meiner Starre, setzte gerade zum ersten Schritt an, als sich eine Hand auf meine Schulter legte.

Erschrocken wirbelte ich herum.

»Falk?«, rief ich überrascht und funkelte ihn alles andere als freundlich an. Was tat er hier? Und was fiel ihm ein, mich so zu erschrecken? Schnell stopfte ich die Visitenkarte in meine Jeanstasche.

»Hey, Kiara.« Er grinste mich doof an und schob die Hände in die Taschen seiner Jacke. Sein Grinsen konnte er sich sparen.

»Was willst du?«, wollte ich wissen. Es reichte, dass ich mich gestern länger als zwei Minuten mit ihm unterhalten hatte – er brauchte nicht auf die Idee zu kommen, dass wir das jetzt jedes Mal wiederholten, wenn wir uns trafen.

Falk runzelte die Stirn. »Ist alles okay mit dir?«

Was sollte denn diese Frage? »Ja. Und selbst wenn nicht, hat es dich nicht zu interessieren«, sagte ich und drehte mich von ihm weg, um weiter zu gehen. Das taten wir auch sonst immer: aneinander vorübergehen wie Fremde. Wir waren nicht mehr als Fremde. Warum schien Falk gerade jetzt etwas daran ändern zu wollen?

Er lief neben mir her. »Wieso bist du so unfreundlich? Habe ich dir etwas getan?«

Oh Gott, oh Gott, oh Gott. »Falk bitte ... ich bin nicht in Stimmung. Wir sehen uns doch eh nachher an der Uni. Das reicht doch, findest du nicht?« Ich warf ihm einen kurzen Blick zu, doch er starrte mit zusammengekniffen Lippen geradeaus. Als er nicht antwortete, seufzte ich.

»Okay, hab’s verstanden«, sagte er schließlich und bog ohne Vorwarnung nach rechts ab. Ließ mich meinen Weg allein durch die Straße ziehen – so wie ich es wollte. Doch wieso waren meine Beine plötzlich so schwer wie Blei und wollten nicht weitergehen? Wieso hatte ich dieses drückende Gefühl in meiner Brust? Ich verkniff es mir zwar, ihm schuldbewusst nachzuschauen, trotzdem hatte ich ein schlechtes Gewissen. Es lag nie in meiner Absicht, andere Menschen zu verletzen. Sie interessierten mich nur nicht. Es war immer dasselbe. Immer das gleiche oberflächliche Getue, dasselbe sich wiederholende Schema von Kennenlernen und Auseinandergehen.

Ich brauchte das nicht mehr.

Ich habe nicht geahnt, aus wie vielen Blickwinkeln man einen Menschen betrachten kann. Auf welche unterschiedlichen Weisen ich dich betrachten kann. Es ist unheimlich, manchmal lustig, aber die meiste Zeit ist es traurig. Diese Augen zeigen mir, wie blind ich gewesen bin. Wie viel ich nie gesehen habe.

Aber weißt du, was all diese Blickwinkel auf dich gemeinsam haben?

Ich verrate es dir nicht. Noch nicht.

- aus den Briefen eines Gejagten -

Meine Hausarbeit über die Vorstellungen des Lebens nach dem Tod wanderte aus meinen Fingern in die Hände unseres jungen Professors. Ich hatte lange an der Arbeit gesessen und der Blick, den ich meinem Dozenten unwillkürlich zuwarf, besagte, dass er lieber von meiner Arbeit genauso überzeugt sein sollte wie ich. Kein betörendes, nettes Lächeln von mir wie von meinen Kommilitoninnen. Einige von ihnen hatten mir bereits gesagt, dass meine Blicke nicht die nettesten waren. Die meisten fürchteten sich derart davor, dass es schon beinahe Spaß machte. Ich tat es nicht absichtlich, um andere einzuschüchtern, aber ich würde mir auch nicht die Mühe geben, mir meinen »Killer-Blick« - wie ihn eine Studentin mal genannt hatte - abzugewöhnen. So war er doch manchmal ganz praktisch.

Als ich aus dem Hörsaal trat, lief ich direkt in die Arme von Rachel und ihrer Clique. Man hätte meinen können, dass man für diese pubertierenden Zusammenschlüsse zu reif an der Uni war, doch ich wurde jedes Mal aufs Neue eines Besseren belehrt.

»Hey, Kiara«, flötete Rachel betont freundlich, als wären wir beste Freundinnen. Tatsache war, dass wir erst einmal mehrere Stunden am Stück zusammen verbracht hatten – und das war, als ich ihr bei einer Party vor anderthalb Jahren eine Flasche Wodka über den Schädel gezogen hatte und wir beide ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Seitdem kam es mir so vor, als würde sie mir aus dem Weg gehen.

»Ich schmeiße am Wochenende eine Party zu meinem Geburtstag und ich wollte fragen, ob du auch kommst«, sagte sie unerwarteterweise und hielt mir eine Einladungskarte hin. Wie reizend. Ich konnte nicht verhindern, meine Augenbrauen hochzuziehen, als ich das Foto von ihr betrachtete, auf dem sie mir zuckersüß entgegenlächelte.

»Oh, das tut mir jetzt wirklich leid«, fing ich an und bemühte mich um einen betroffenen Ausdruck, »aber ich habe leider bereits etwas vor. Ich weiß, ich werde euch auf der Party bestimmt fehlen.«

Eine Freundin von Rachel, die jedoch keins von meinen Fächern studierte und deren Namen ich deshalb noch nicht einmal wusste, warf mir einen vernichtenden Blick zu. Fast hätte ich gelacht. Warum luden sie mich denn auch ein?

»Oh, Falk hatte schon gesagt, dass du absagen würdest«, beteuerte die Blondine und ihre blauen Augen fixierten mich aufmerksam. »Vielleicht überlegst du es dir noch anders, wenn er auch kommt?«

Perplex blinzelte ich sie an. Das wurde selbst mir langsam zu lächerlich. Mit einem genervten Stöhnen drückte ich Rachel ihre Einladungskarte gegen die Brust und marschierte an den vier aufgetakelten Mädchen vorbei.

Das Hallen meiner Schritte wurde für einen kurzen Moment von einem aufgebrachten Knurren hinter mir begleitet. Ich grinste. Meine Mundwinkel senkten sich jedoch, als ich Falk am Ende des Flurs stehen sah. Seine Miene war merkwürdig ernst und viel zu düster für seinen Honigkuchenpferd-Charme.

Sobald unsere Blicke sich trafen, wandte er sich von mir ab und verschwand hinter der nächsten Ecke, was mir nur recht war. Nach unserem Zusammentreffen heute Morgen wollte ich ihm am liebsten gar nicht mehr über den Weg laufen.

Heute Morgen. Mist, jetzt konnte ich nicht anders, als wieder über den seltsamen Typen nachzudenken, auf dessen Stirn man geradewegs ‚GEFAHR‘ tätowieren sollte. Obwohl mich das wahrscheinlich noch mehr angezogen hätte, als es ohnehin schon der Fall war. Ich war eindeutig ein hoffnungsloses Exemplar von Mensch. Weshalb sonst hatte ich seine Visitenkarte immer noch nicht weggeworfen? Stattdessen brannte sie gerade wie Feuer in der Tasche meiner Jeans. Sie brannte wie eine Sünde.

Nachdem ich zu Hause noch einiges für Kunstgeschichte getan und mich dann in meinem Nachschlagewerk für Kunst-Epochen in dem Kapitel über byzantinische Kunst verloren hatte, war es bereits später Abend. Selbst wenn ich gewollt hätte, würde ich es nun nicht mehr zum freien Training schaffen. Irgendwie war mir heute auch nicht danach, ich wollte nicht mehr das Haus verlassen, wie lächerlich das auch klang, aber in dem dämmrigen Licht meiner Schreibtischlampe an meinem Arbeitsplatz fühlte ich mich in Sicherheit. Wovor, wusste ich nicht.

Ich nahm mein altes Handy, das griffbereit auf meinem Schreibtisch lag, und schrieb Mia eine kurze SMS, damit sie nicht auf mich wartete. Als ich aufstand, um mir aus der Küche etwas zu trinken zu holen, klopfte es an der Tür. Das laute Pochen ließ mich zusammenzucken und ich blickte auf halbem Weg erstarrt auf das dunkle Holz der Wohnungstür.

Wer konnte das sein? Kurz schoss mir wieder das Bild von dem geheimnisvollen Ewan durch den Kopf, doch dann ermahnte ich mich selbst. Er wusste noch nicht einmal, wo ich wohnte.

»Kiara, bist du da?«, rief die raue Stimme meines Vermieters, der unter mir wohnte. Verdammt. Der Wievielte war heute? Hatte ich tatsächlich wieder vergessen, die Miete zu bezahlen?

Ich hastete zur Tür und öffnete mit einem schuldbewussten Gesichtsausdruck. »Guten Abend, Herr Frisch«, grüßte ich und versuchte dem beleibten Mann an seiner Miene abzulesen, wie wütend er war. Bei einer Skala von eins bis zehn war es nur eine gut erträgliche sieben.

»Du bist eine Woche im Verzug, meine Liebe«, brummte er und verschränkte die Arme vor seinem Bierbauch. »Ich hab‘ auf deinen Wunsch hin von dem Lastschriftverfahren abgesehen, aber nur, weil du so ein nettes Mädchen bist. Das heißt jedoch nicht, dass du nicht an den Anfang des Monats gebunden bist wie die anderen Mieter.«

Ich rümpfte meine Nase. Mir war es immer lieber gewesen, bar zu bezahlen, weil mein Konto nichts zu bieten hatte, was abgezogen werden konnte. Und ich konnte es mir nicht erlauben, es zu überziehen. Doch im Endeffekt änderte es nichts. Ich hatte das Geld nicht. Nicht auf dem Konto und nicht in meinem Portmonee. Dabei waren es nur läppische 250 Euro im Monat. Fünfzig hatte ich noch von meinem letzten Gehalt vom Kellnern, aber der Rest ...

»Ich gebe Ihnen das Geld morgen, versprochen«, murmelte ich. Mist, ich würde wieder meinen Vater fragen müssen. Ich hasste es, ihn um etwas zu bitten. Er hatte mir noch nie etwas abgeschlagen und ich wusste, dass er mich in seiner Weise auch unterstützen wollte, doch seit Mutter nicht mehr da war, war unsere Beziehung immer wieder auf die Probe gestellt worden. Hauptsächlich von mir. Ich hatte alles kaputt gemacht – und würde ihm nie mehr reuelos unter die Augen treten können.

Als ich mich wenige Augenblicke später von Herr Frisch verabschiedet hatte, war ich nur noch wütend. Voller Zorn knallte ich die Tür des Kühlschranks zu, sodass ein Klirren durch den Raum hallte, und setzte dann die kühle Wasserflasche an meine Lippen. Die Flüssigkeit rann beruhigend meinen Rachen hinunter, doch der Griff um die Flasche wurde umso erbitterter. Wieder in meinem Zimmer wusste ich, welche Möglichkeit ich noch hatte. Ich stellte mein Getränk auf dem Tisch ab und ging zielstrebig auf mein Bett zu, während ich die pechschwarze Karte aus meiner Hosentasche zog. Voller Entschlossenheit griff ich nach dem Telefon und starrte die weißen Ziffern an.

Ruf mich an, Kiara. Es ist leichtes Geld.

Seine Stimme war so deutlich, so präsent in meinem Kopf, dass er auch genauso gut neben mir hätte stehen können. Ich versuchte, mich an unser ganzes Gespräch zu erinnern, doch die Sätze davor gingen in meiner eigenen Hitze unter, da er durch seine verdammte Nähe alles durcheinandergebracht hatte. Wie lautete sein genaues Angebot? Er wollte mein Blut. Aber es schien mir, als hätte ich irgendeinen Teil seines Vorschlags überhört. Wie wollte er es? Und warum?

Ruf an, dann wirst du es erfahren, sagte meine innere Stimme. Ich schürzte meine Lippen und starrte so intensiv auf den Hörer in meiner Hand, als würden sich die Tasten allein durch meine Willenskraft drücken. Was konnte schon passieren, wenn ich anrief und fragte? Nichts. Er würde mir eine Antwort geben, die mir entweder gefiel oder nicht.

Meine Hände schwitzten und ich wischte sie an meiner Bettdecke ab. Ich schaute auf die Uhr, die auf dem Display des Telefons angezeigt wurde. Schon nach acht.

Wenn ich das Geld haben wollte, lohnte es sich nicht, es länger hinauszuschieben. Ich hatte schon einmal Blut abgenommen bekommen, so schlimm war das nicht. Weder fürchtete ich mich vor Spritzen noch wurde mir beim Anblick der roten Flüssigkeit übel. Wie seltsam und ... speziell sein Vorschlag auch geklungen hatte, man durfte Menschen nicht ihre Arbeitgeberschaft abstreiten, nur weil sie wahnsinnig waren.

Endlich überzeugt schaffte ich es, meine Finger dazu zu bringen, die sechs Ziffern einzutippen und den Hörer ans Ohr zu halten. Zu spät fiel mir auf, dass ich mir keine Worte zurechtgelegt hatte.

Bereits nach dem zweiten Freizeichen wurde abgenommen.

»Ich wusste, du würdest anrufen«, sagte seine Stimme. Sie klang noch tiefer als im echten Leben und ein warmer Schauer lief mir den Rücken hinunter. Was sollte ich bloß sagen? Woher wusste er überhaupt, dass ich es war, die anrief?

»Hallo, Ewan«, sagte ich, bemüht um Gleichgültigkeit in meiner Stimme, obwohl mich allein der Geschmack seines Namens auf meiner Zunge aus der Ruhe brachte. Mein Mund formte ihn so ungewöhnlich steif, dass ich hoffte, er bemerkte das nicht. »Ich hätte eigentlich noch einige Fragen, bevor ich zusage.«

Stille. Ich lauschte gespannt, während sich in mir alles verkrampfte. Beinahe erwartete ich, dass er schlicht und einfach auflegte.

»Na, dann stell sie doch«, sagte er schließlich und ich spürte die Hitze mein Gesicht aufsteigen. Ich war kein Mensch, der schnell errötete, doch durch irgendetwas an seiner Art fühlte ich mich klein und dumm. Ein beschissenes Gefühl, das normalerweise Grund genug sein sollte, um mich von ihm fernzuhalten.

»Na, wie wäre es, wenn du mir ein bisschen genauer erzählst, was du von mir verlangst?«, antwortete ich etwas aggressiver als gewollt. »Was willst du überhaupt mit dem Blut anfangen? Hast du eine private Blutbank zuhause?« Die Worte sprudelten einfach aus mir heraus, angefacht von meiner angestauten Wut. Ich wollte noch mehr in den Hörer rufen, doch ich konnte mich gerade rechtzeitig zusammenreißen. Schließlich wollte ich nicht, dass er mich für die Wahnsinnige hielt und mir das Angebot wieder entzog.

Ein leises Räuspern erreichte mich und ich presste den Hörer so fest an mein Ohr, dass es weh tat. »Wenn ich dir den genauen Ablauf schildere, wirst du ablehnen«, sagte er dann.

»Nein«, antwortete ich zu entschlossen. Doch das war mir egal. Mittlerweile war ich mir sicher, dass ich sein Angebot annehmen würde. Plötzlich erschienen mir hundert Milliliter Blut für hundert Euro nicht mehr beunruhigend, sondern attraktiv.

»Okay, dann hör zu.« Seine Stimme wurde leiser und ich hielt instinktiv den Atem an. »Ich werde deine Kehle leicht anschneiden und das Blut von deinem Hals lecken. Es kosten, Woche für Woche. Schluck für Schluck.«

Sobald sein letztes Wort verklungen war, entwich mir die angehaltene Luft mit einem zischenden Geräusch. Mein Verstand sagte mir, dass ich jetzt auflegen sollte, doch der ganze Rest von mir stellte sich seine Lippen an meiner Halsbeuge vor. Das mit dem Blut verdrängte ich, stattdessen malte ich mir aus, wie sein warmer Atem meine Haut streifte. Mein Körper sehnte sich bereits nach ihm, obwohl er immer noch ein Fremder war. Oder gerade weil er ein Fremder war.

Ein gefährlicher, wahnsinniger Fremder, der gerade davon gesprochen hat, dein Blut zu trinken, ermahnte ich mich selbst.

Doch mein Verstand hatte in diesem Kampf keine Chance. Ich hatte bereits verloren, als er im Bus seinen Blick auf mich gerichtet hatte und mich mit seinen dunklen Augen eingefangen, meine Seele für sich beansprucht hatte. Ich wollte ihn wiedersehen.

»Wann und wo?«, krächzte ich. Mein Mund war ganz trocken.

Ich hörte ihn lachen. Ein leiser, gedämpfter Laut. Und irgendetwas in mir fühlte sich auf den Arm genommen. Als würde dieser Mann mit mir spielen, weil er ganz genau wusste, wie ich auf ihn reagierte. Aber er konnte das doch unmöglich wissen, oder? Konnte nicht wissen, wie schwach mich derartig unmoralische Angebote machten, obwohl ich stets nichts anderes versuchte, als stark zu sein.

»Heute Nacht. Zwölf Uhr, an der angegebenen Adresse.«

Er legte auf und das Tuten war das Einzige, was mein Schlucken begleitete. Ausgenommen von der Stimme in meinem Kopf, die ein Echo seiner Worte bildete. Wiederkehrend, hallend, flüsternd. Ich werde deine Kehle leicht anschneiden und das Blut von deinem Hals lecken. Es kosten, Woche für Woche. Schluck für Schluck.

Mit zitternder Hand knallte ich das Telefon auf die Ladestation, ein durchdringendes Piepen fuhr daraufhin durch den Raum. Für was hielt der Mann sich? Er gehörte bestimmt einer Sekte von Möchtegern-Blutsaugern an. Ich war keine dieser Frauen, die Vampire in Literatur und Filmen hypte. Doch wieso um Himmels willen hatte ich dann zugestimmt?

Es war elf Uhr dreißig, als ich einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel warf. Meine dunkelbraunen Haare flossen links und rechts glatt an meinem Gesicht herunter. Ein Lidstrich über meinem Wimpernkranz und schwarze Klamotten. Nur meine Augen blitzten in einem Silbergrau. Ein letzter Blick auf mein Handy, dann trat ich aus der Wohnung. Vorab hatte Google mir errechnet, dass ich mit meinem Fahrrad bis zu seinem Haus nur fünfzehn Minuten brauchte. Ich war noch nie so spät nachts mit meinem Fahrrad unterwegs gewesen, aber der Nachtexpress kam nur einmal die Stunde und würde mir trotzdem noch einen Fußweg von rund zwanzig Minuten auferlegen.

Ich war bereits die ersten Stufen hinuntergestiegen und zog den Reißverschluss meiner Lederjacke zu, als mir auffiel, dass das Licht im Treppenhaus schon brannte, als ich die Wohnungstür geöffnet hatte. Mit gerunzelter Stirn blieb ich einen Moment stehen und lauschte. War noch jemand im Flur und hatte den Bewegungssensor vor mir ausgelöst?

Von weiter unten hörte ich tatsächlich ein Klappern und leises Scheppern. Mein Herzschlag beschleunigte sich und ich musste meine Beine zwingen, sich weiter zu bewegen. Nur ein Nachbar, der einen kleinen Mitternachtsspaziergang unternimmt, sagte ich mir und ging weiter. Das Hallen meiner Schritte übertönte in dem leeren und heruntergekommenen Treppenhaus alle anderen Geräusche und so hatte ich meine Angst schon beinahe vergessen, als ich mich auf den letzten Stufen befand. Kurz bevor ich die Eingangstür im Blickfeld hatte, hörte ich, wie diese geöffnet wurde. Ein Windstoß fuhr tosend durch den Flur und eine Sekunde später ertönte ein dumpfes Knallen. Die Tür war ins Schloss gefallen.

Ich übersprang die letzte Stufe und hechtete so schnell in den Fahrradkeller, dass ich beinahe über meine eigenen Füße stolperte. Atemlos stand ich einen Herzschlag lang wie angewurzelt da und erfasste die Szenerie so schnell, dass ich mit den Gedanken kaum hinterherkam. Auch hier brannte Licht. Und mein Fahrrad lag mitten auf dem Boden – die Reifen zerfetzt. Nicht nur zerstochen, sondern regelrecht auseinandergerissen.

Beim nächsten Herzschlag befand ich mich bereits draußen, blickte nach links und rechts in die Dunkelheit und sah mehrere Meter entfernt tatsächlich jemanden die Straße entlanggehen.

»Hey!«, schrie ich und rannte los.

Die schemenhafte Gestalt blieb stehen, blickte sich zu mir um, dann fing auch sie an zu rennen.

Wut strömte durch meine Adern, trieb meine Beine zu einem rasenden Tempo an. Ich war schon immer eine gute Läuferin gewesen und ich ließ es nicht zu, dass mich Leute an der Nase herumführten.

Je näher ich dem Flüchtenden kam, desto mehr konnte ich über ihn sagen. Er war männlich, groß, schlank – und extrem sportlich, da er langsam aber sicher unseren Abstand wieder vergrößerte. Keuchend musste ich einsehen, dass ich ihn nicht mehr einholen konnte, da ich meine ganze Kraft in die ersten paar Meter gesteckt hatte. Mein Verstand redete meinen Beinen ein, aufgeben zu dürfen, bis sie schließlich, schwer wie Blei, langsamer wurden.

Zornig blickte ich dem Schatten hinterher, bis er um die nächste Ecke verschwunden war. Es war dumm, aber irgendetwas an seiner Gestalt kam mir bekannt vor. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich schwören können, dass sich Falk perfekt in diese Silhouette einordnen ließ. Doch das war absurd. Wieso sollte er meine Fahrradreifen zerfetzen?

Mein Atem rasselte und bildete weiße Wölkchen in der düsteren Nacht. Toll, und jetzt? Ich hielt mir die Seiten und blickte mich um, damit ich einschätzen konnte, wie weit ich gerannt war. Nicht weit, das war gut. Vielleicht könnte ich es noch rechtzeitig zu dem Treffen schaffen. Ich holte mein Handy aus der Jackentasche: 11:34 Uhr. Zu Fuß würde es zu Mister Möchtegern-Vampir eine gute halbe Stunde dauern und kurz überlegte ich, ob ich nicht doch wieder nach Hause gehen sollte. Wer hatte mein Fahrrad ausgerechnet in dieser Nacht demoliert? War dies vielleicht ein Zeichen? Dass ich nicht gehen sollte?

Ich hatte schon immer gern an irgendein Schicksal glauben wollen. Besonders in meiner Schulzeit hatte ich ständig das Gefühl gehabt, an meinem Leben nichts mehr ändern zu können. Es nahm seinen Lauf und ich war der unbeteiligte Beobachter, der sich mit der Geschichte abfinden musste.

»Was willst du denn mit deinem Leben anfangen, Kiara?!«, hatte mein Vater gebrüllt. Verzweiflung hatte sein rotes Gesicht befleckt. Er starrte mich aus braunen Augen hilflos an, sie sagten mir, dass er mich bereits aufgegeben hatte, doch das war mir egal.

»Weißt du, manchmal habe ich das Gefühl, dass mein Leben schon gelebt ist«, erwiderte ich ruhig und spielte am Träger meiner Tasche herum. Er hatte mich an der Haustür abgefangen. »Und damit meine ich nicht die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft. Als stünde schon alles fest.« Als wäre mein Handeln ein bloßes Nachahmen. Ja, das traf es sehr gut. Ich erwartete nicht, dass er mich verstand. Vielleicht war es meinem betrunkenen, verrauchten Gehirn auch gar nicht mehr möglich, sinnvolle Gedanken zu produzieren. Doch ich fand meine Worte sehr sinnvoll. Vielleicht war es das Klügste, was ich je gesagt hatte.

Mein Vater sah es anders. »Du hast immer eine Wahl! Immer, Kiara!«

Meine Lippen kniffen sich wütend zusammen. Ich hasste es, wenn er mich anschrie. Früher hatte er das nie getan.

Der Kreis ist nicht vollkommen und wir sind der Beweis. Sie hatten gehofft, dass wir Seelen es nie erfahren. Nie sehen, wie sie uns gefangen halten, verbannt und verdammt. Für die meisten mag es in Ordnung sein, doch wir geben das Wissen darum nicht wieder her. Hüten es wie den magischen Schatz, der Einen zum Tode verdammt.

- aus dem Schwarzen Buch der Verfluchten -

»Du springst jetzt!«, rief er wütend zu ihr hinauf.

Paige schluckte und schaute in die Tiefe.

»Das sind keine drei Meter, also stell dich nicht so an.« So langsam wurde er sauer, das hörte sie ihm an, aber sie konnte sich trotzdem nicht überwinden. Der Wind peitschte ihr ins Gesicht und sie rückte mit ihrem Zeigefinger ihre Brille zurecht.

»Paige ... ich bin wirklich, wirklich kein geduldiger Mensch«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen.

Er hatte Recht, aber was tat sie hier? Sie war nur eine wissbegierige Studentin, die sich lieber hinter Büchern verkroch, als durch die Stadt zu rennen, von Dach zu Dach zu springen und sich hinter Mülltonnen zu verstecken. Doch das würde sie erwarten, wenn sie sich für das Leben auf der Flucht entschied.

»Hätte ich dich Ewan nicht anbieten sollen?«, fragte Milan. »Es gibt dutzende Menschen, die sich für diese Chance die Köpfe einschlagen würden. Du solltest dich geehrt fühlen.«

»Tue ich doch …«, flüsterte sie, kaum lauter als zu sich selbst, und obwohl er sich mehrere Meter – sie glaubte nicht, dass es nur drei waren – unter ihr befand, wusste sie, dass er sie trotzdem verstanden hatte. Er hörte jeden einzelnen ihrer Atemzüge und das Schlagen ihres Herzens. Ein beunruhigendes Gefühl, doch daran hatte sie sich gewöhnen müssen.

Es war meine eigene Entscheidung, rief sie sich selbst in Erinnerung, schloss die Augen und sprang. Sie hatte nicht einmal mehr die Zeit, sich ins Gedächtnis zu rufen, was bei der Landung wichtig war, da prallte sie bereits auf dem Erdboden auf. Ihre Füße knickten unter ihrem Gewicht ein und sie stürzte auf die Knie. Der Schmerz fuhr augenblicklich von ihrem Bein bis zu ihrem Kopf. Ihre Handflächen stießen auf kleine Steinchen, die sich in ihre Haut bohrten. Doch sie verzog keine Miene. Mit einem wachsamen Blick zu Milan erhob sie sich und strich den Schmutz von ihrer Jeans.

»Und? War es so schlimm?«, fragte er in einem abschätzigen Tonfall. Es war klar gewesen, dass er keine Heulsusen mochte. Er hatte für den Job zwei tapfere und entschlossene Menschen gebraucht. Die Momente von Schwäche eben auf dem Dach waren Paige plötzlich furchtbar unangenehm.

»Mein Bein tut weh«, murmelte sie als Antwort. Solche Sprünge waren nichts für ihren zierlichen Körper, doch das hätte sie sich überlegen müssen, bevor sie unbedingt an der Seite eines Verfluchten kämpfen wollte. Bevor sie unbedingt die Welt verändern wollte ... Das System kennen wollte …

»Du musst mehr Spannung halten. Ich kann dir nicht versprechen, dass unser Training innerhalb der nächsten Woche große Früchte tragen wird, was deine Muskeln und Kraft betrifft, aber da wir nicht mehr Zeit haben und Ewan ausdrücklich eine Frau wollte ... Wird er sich hiermit zufriedengeben müssen.«

Wütend über Milans Worte kniff Paige ihre Lippen zusammen. Sie war nichts, womit man sich zufriedengeben musste, weil man gerade nichts Besseres hatte ... Und was sollte seine Betonung auf ‚Frau‘ bitteschön bedeuten? Die Verfluchten brauchten Menschen im sterblichen Kreislauf, die sie unterstützten, im Verborgenen hielten und vielleicht manchmal mit Blut aushalfen. Aber Paige hatte nicht vor, mehr von ihrem Körper zu geben als dieses rote Lebenselixier. Bei der Vorstellung daran, was man eventuell noch von ihr erwartete, stieg Hitze in ihre Wangen. Wer war dieser Ewan überhaupt?

»Hast du noch was vor oder kann ich duschen gehen?«, fauchte sie, um ihre Gedanken zu verdrängen. Ihr barscher Tonfall war nicht beabsichtigt und als Milan verächtlich die Augenbrauen hob, war sie kurz davor, sich dafür zu entschuldigen. Aber sie verkniff es sich aus Trotz und bekam ihre Strafe: »Schnall deine Uhr um. Ich will drei große Runden in zwanzig Minuten sehen.«

Nachdem Paige sich geduscht und wieder frisch angekleidet hatte, war es bereits Abend. Sie stand in dem Zimmer, das Milan ihr in seinem Anwesen zur Verfügung gestellt hatte, und betrachtete sich in dem hohen Spiegel. Die meisten blauen Flecken und Aufschürfungen vom zweiten Trainingstag waren zwar durch ihre schwarze Strumpfhose und den knielangen Rock verdeckt, doch die Ärmel der braunen Bluse waren nicht lang genug, um die Wunden an ihren Unterarmen zu verbergen.