Die Chronik der Dämonenfürsten

Teil 2

Die Herrschaft der

Dämonenfürsten

 

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Urban Dark Fantasy Roman von

Monika Grasl

 

 

Alle Rechte vorbehalten.

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Die Namen und Handlungen sind frei erfunden.

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sind zufällig.

 

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Erste Auflage 2017

© Monika Grasl

© Coverbild: Fotolia MamabaB

Covergestaltung: Verlag der Schatten

© Engelsflügel: Fotolia Sushi, © Schwerter: Fotolia Elnur

© Symbol Ose, Karte: VdS

© Fotos: Depositphotos maxxyustas (Karte), Fotolia Alfonsodetomas (Kanal), Chorazin (Torbogen, Ruinen zwischen Bäumen, Wald und Skelette), isoga (Waggon), hwitte (Ruinen), sonne_fleckl (Fackel), storm (Pegasus)

© Monika Grasl (Foto Autorenvorstellung)

Lektorat: Verlag der Schatten

© Verlag der Schatten, D-74594 Kressberg-Mariäkappel

ISBN: 978-3-946381-31-0

 

 

 

 

 

 

Man schreibt das Jahr 3500. Die freien Menschen leben verborgen im Untergrund. Die Großfürsten der Hölle halten die Städte besetzt und einen Teil der Menschheit als Sklaven.

 

Da erhebt sich ein Mann namens Salomo und krönt sich zum König. Er will der Herrschaft der Großfürsten ein Ende setzen.

 

Wird das Leben unter Salomo aber tatsächlich besser sein?

 

 

 

 

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Inhalt

 

Prolog

Salomo

Decarabia

Didi

Seere

Erik

Salomo

Decarabia

Perla

Didi

Bael

Ryan

Bael

Salomo

Decarabia

Perla

Myrthia

Salomo

Bael

Chris

Decarabia

Seere

Salomo

Didi

Ryan

Furfur

Kira

Didi

Bael

Salomo

Ryan

Decarabia

Salomo

Perla

Seere

Decarabia

Epilog

Autorenvorstellung

Vorschau

 

 

 

 

Sieh einem Großfürsten niemals in die Augen, es sei denn, deiner Seele verlangt es nach dem Tod.

 

Gesetz der Großfürsten

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Prolog

 

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3500 n. Chr.

 

 

Der Mond stand als volle Scheibe am Firmament. Ein eisiger Wind strich über die Gestalt hinweg, während sie die Augen geschlossen hielt. Irgendwo in der Ferne waren Stimmen zu vernehmen. Gesprächsfetzen, die sie vielleicht etwas angingen … oder auch nicht. Es würde sich früh genug herausstellen.

Vergiss meinen Namen nicht und behalte mich in Erinnerung. Es war ein Satz, der Vincent heute noch durch den Kopf ging. Niedergeschrieben von der einzigen Person, die ihm bedeutend mehr als nur Nerven gekostet hatte. Konnte man einer Toten aber einen Vorwurf machen? Die aufkommenden Zweifel diesbezüglich sagten genug aus. Man konnte es nicht, und im Prinzip war die Lage, in welcher er sich befand, einzig ihm selbst geschuldet. Sich dies vor Augen zu führen, stand gegenwärtig jedoch nicht an oberster Stelle. Die Zeit dafür würde sicherlich kommen – bloß nicht heute.

Heute zählte einzig der Umstand, dass die Dämonenfürsten auf der Erde herumwanderten. Sie hielten Städte besetzt, versklavten die Menschheit … Manche stellten sich mit besagten Sklaven sogar gut. Eine durchweg groteske Vorstellung. Irgendwie erheiterte es ihn jedoch. Immerhin zeigte es deutlich, welche Versager die Engel und Gott doch waren. Die hatten in all den Jahrtausenden nicht fertiggebracht, was die Dämonenfürsten nun ihr Eigen nannten: Eine Herrschaft, die so schnell nicht enden würde.

Wie sehr Gabriel wohl gerade auf seinem Stuhl rotierte, wenn er auf die Erde hinabblickte? Und was hielt Gott davon? Allzu viel konnte ihm an einer Herrschaft nicht mehr liegen, sonst hätte er seine Engel nach Jahrzehnten des Kampfes gegen die Dämonenfürsten nicht geschlossen in den Himmel zurückbeordert. … Alle? Okay, man musste schon bei der Wahrheit bleiben. Alle, bis auf die Engel des Todes. Die hatten für den Herrn ja nie gezählt.

»Was du wohl gerade machst Michael?«, murmelte Vincent zum Mond hoch. »Wahrscheinlich sitzt du auf irgendeiner beschissenen Wolke, siehst zu, wie wir anderen uns hier den Arsch aufreißen, und lachst dir dabei ins Fäustchen. Ist dir jedenfalls zuzutrauen.« Einen missmutigen Tonfall konnte er dabei nicht unterdrücken. Ihm war klar, dass der Hass noch lange nicht überwunden war und dass dieses Gefühl sogar irgendwann die Oberhand erlangen würde. Allein schon deshalb, weil Erzengel Michael als Erster dem Ruf des Himmels zurück in die Heimat gefolgt war. Er hatte die anderen Engel einfach rücksichtslos zurückgelassen. Schutzlos, führungslos … Und Vincent war mitten unter ihnen gewesen, als Baels Dämonen in Breslau eingefallen waren.

An das Gemetzel entsann er sich auch nach all den Jahren noch. Manchmal, wenn er die Augen schloss, hörte er die Schreie der Sterbenden und den Klang von Waffen, die aufeinandertrafen. Dass ihm überhaupt die Flucht gelungen war, glich einem Wunder. Ähnlich verhielt es sich mit seinem Überleben. Jemals wieder einen Atemzug zu tätigen, das hätte er nicht erwartet. Auch hätte er nicht für möglich gehalten, wer zu seinen Rettern zählte.

Vincent warf einen flüchtigen Blick in Richtung der lärmenden Stimmen, die aus dem Gebäude in seinem Rücken drangen. Mit der Gesellschaft wollte er sich gegenwärtig aber nicht abgeben. Vermutlich lag das daran, dass sein Ego diesbezüglich noch immer einen Knacks besaß. Konnte schon sein, dass die indianische Schönheit namens Naomi damals recht gehabt hatte. Er besaß ein Ego, welches einem Engel des Todes kaum zustand, und er lebte dies voll aus.

»Vincent!«

Der Ruf drang deutlich an seine Ohren, dennoch meldete er sich nicht. Er wollte allein hier auf dem umgeworfenen Baumstamm sitzen und die kalte Nachtluft auf sich wirken lassen. Bedauerlicherweise schien der Anführer der Truppe das anders zu sehen. Keine zwei Herzschläge vergingen, ehe erneut sein Name gerufen wurde.

»Vincent!«

Es klang deutlich ungeduldiger und bedeutend näher. Im nächsten Moment spürte er einen Schlag auf dem Rücken und nahm wahr, wie sich jemand neben ihn setzte. Der Wind erfasste dabei eine der braunen Haarsträhnen des Mannes. Die spielende Bewegung veranlasste Vincent dazu, in die hellen Augen zu blicken.

»Wir werden bald aufbrechen – getrennt. Ich habe noch etwas zu erledigen, bevor ich wieder auf euch treffe. Mach mir in der Zeit meiner Abwesenheit keine Schande. Euer Kommen ist angekündigt und wird so schon für genug Unruhe sorgen.«

Teilnahmslos blickte Vincent wieder nach vorn. Sollte ihm recht sein, wenn der Kerl nicht mit ihnen aufbrach. Abgesehen davon ahnte er, was der Mann noch zu erledigen hatte.

»Du wirst mir nie dankbar sein, oder?«

 

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Salomo

 

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Hell schien der Mond vom Nachthimmel herab. Aus der Ferne drang der Laut eines Wolfs an Salomo Kaines Ohren. Seine dunkelbraunen Augen starrten auf die Flammen vor sich. Gelegentlich schluckte er den aufsteigenden Kloß in seinem Hals hinunter. Er brachte es nicht fertig, seinen Blick von dem toten Körper abzuwenden. Gleichzeitig versuchte er, seine Gefühle vor der Priesterin zu verschließen. Es gelang ihm nicht. Vielmehr stieg eine nie da gewesene Wut in Salomo empor.

»Ein herber Verlust hat unsere Gemeinschaft geschwächt«, hörte er Didi sagen. »Kimi war noch zu jung, um diese Welt zu verlassen. Trotzdem haben ihn die Dämonen geholt. Unsere Wut bringt Kimi aber auch nicht wieder zurück. Und unser Hass auf diese Wesen schmälert nicht die Trauer seiner Familie. Wir stehen füreinander ein. Jeder von uns. Und wenn einer stirbt, ist es, als würden wir alle in den Tod gehen.«

Zustimmendes Gemurmel machte sich breit. Salomo Kaine sah zu den Eltern des toten Jungen. Die Hände des Vaters waren zu Fäusten geballt, aber kein Muskel regte sich in seinem Gesicht. Selbst die Frau wirkte unbeteiligt. Als wäre es nicht ihr Sohn, der gerade den Flammen übergeben wurde.

Deutlich fühlte Salomo Didis Blicke auf sich. Doch er konnte ihr jetzt keine Beachtung schenken. Er hätte in den vertrauten braunen Augen nur die gleiche Abneigung ausgemacht, wie sie jeder im Moment nach außen trug.

»Jemand sollte etwas gegen diese Monster unternehmen«, drang es an seine Ohren.

Salomo vermied es, den Kopf zur Seite zu drehen. Wer gesprochen hatte, wusste er auch so. Es war einer der Männer, die sich in der Bar der Priesterin betranken und bei Kerzenschein tollkühne Pläne schmiedeten, welche sowieso nie in die Tat umgesetzt würden. »Ja«, murmelte Salomo. »Jemand sollte sie aufhalten. Aber wer? Du etwa, Karim? Oder sonst einer von euch Trunkenbolden? Ihr sitzt bei eurem Schnaps und eurem Brot und glaubt zu wissen, was für die Menschen gut ist. Ich sage, ihr seid nichts als Feiglinge. Versteckt euch hinter den Rücken eurer Frauen, wenn es sein muss, und …«

»Salomo!«, fiel ihm Didi ins Wort. »Nicht hier und nicht jetzt.«

Er zögerte, blieb jedoch still. Sie hatte recht. Es war nicht der passende Zeitpunkt, um sich zu streiten. In dieser Hinsicht war Didi mit ihren vierzig Jahren noch vom alten Schlag. Die Toten wurden geehrt, bis sie von den Flammen verzehrt waren, danach konnte man sich zanken.

Ihr Einwand brachte Salomo dazu, sie anzusehen. Didi war großgewachsen, was unüblich für die heutige Zeit war. Das rotblonde Haar wurde von zwei Metallspangen nur schlecht an seinem Platz gehalten. Immerhin hing ihr eine dicke Strähne über das linke Auge. Eventuell sollte sie auch die Narbe verdecken, die sich quer über diese Stelle zog.

Das Knistern des Holzes war der einzige Laut, der die Stille noch durchschnitt. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, bis Didi sich abwandte. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, schritt sie an der Familie vorbei und machte sich zu dem verborgenen Eingang auf. Salomo verlor keine Zeit und folgte ihr.

»Du bist ein verdammter Narr«, murrte Didi unvermittelt.

Salomo fühlte sich überrumpelt, verstand jedoch, warum sie es sagte. Er war gerade einmal fünf Jahre älter. Trotzdem hatte er sich eben benommen wie ein dummer Junge. »Irgendwer muss sie wachrütteln«, hielt er gleichgültig dagegen.

»Für dich mag Mitgefühl oder auch Nächstenliebe Verschwendung sein, aber für diese Menschen ist es lebensnotwendig. Es ist alles, was sie haben. Das kannst du ihnen nicht zum Vorwurf machen.«

Salomo schloss zu ihr auf, während er erwiderte: »Das tu ich auch nicht. Ich halte es Männern wie Karim vor. Er ist kein Knabe mehr und braucht keine großen Reden zu schwingen. Sie sind ohnehin unnötig. Jeder weiß das.«

Sie hatten den verborgenen Eingang beinahe erreicht, als Salomo die Frau am Arm packte. Schwungvoll wirbelte er sie zu sich herum und sah ihr finster in die Augen.

Jeder andere Mensch hätte nun nachgegeben und den Blick gesenkt, aber nicht Didi. Sie starrte ihm offen entgegen mit wutverzerrter Miene.

»Wir hatten eine Vereinbarung. Du kümmerst dich um die Versorgung, den Rest erledigen meine Männer und ich.«

Die Priesterin versuchte seinen Arm abzuschütteln, und sie zischte: »Du und deine Männer, ihr seid für Kimis Tod verantwortlich. Kannst du damit leben, Salomo? Kannst du noch in den Spiegel sehen, ohne dass dir schlecht wird?«

»Ja.« Es war ein einfaches Wort und zudem keine Lüge. Salomo verspürte wirklich keine Reue. Niemand hatte Kimi dazu gezwungen, die Stadt auszukundschaften. Der Knabe hatte sich freiwillig gemeldet, und jeder wusste, welche Gefahren dort lauerten.

»Du bist ein Monster, Salomo. Ein Mensch ohne Gewissen, aber vielleicht sind wir bereits alle so«, gestand Didi ein.

»Manche von uns brauchen einfach länger, bis sie diesen Umstand erkennen.« Damit ließ er sie stehen und betrat den Abwassertunnel. Ein Blick über seine Schulter hinweg zeigte ihm, dass Kimis Leiche längst verbrannt war, dennoch standen seine Eltern weiterhin vor dem funkensprühenden Holzhaufen. Ihnen würde nicht einmal die Asche bleiben, jetzt wo Sturm aufkam. Es war ein Anblick, welchen Salomo nicht länger ertrug. Immerhin war der Junge ein weiteres Opfer, seit Salomo die Kundschafter regelmäßig ausschickte – noch dazu eines, das gar nicht notwendig gewesen wäre, hätten sich Männer wie Karim dafür gemeldet. Aber solche Leute zogen es vor, in der Sicherheit auszuharren. Das war es, was Salomo wütend stimmte. Dass richtige Männer fehlten! Dass er gezwungen war, Kinder in den Tod zu schicken!

Keinem seiner Leute konnte er das erzählen. Schließlich war er Salomo. Ein Krieger, der stets wusste, was als Nächstes zu unternehmen war.

 

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Mit ausgreifenden Schritten ging er den Tunnel entlang. Dabei fragte er sich nicht zum ersten Mal, wie es so weit hatte kommen können. Eine logische Antwort gab es nicht. Irgendwann war den restlichen Großfürsten der Hölle einfach das gelungen, vor dem sich die Menschheit so lange gefürchtet hatte. Sie waren aus ihrem Gefängnis ausgebrochen. Und nun, im Jahr dreitausendfünfhundert nach Christus, terrorisierten sie die Welt bereits seit eintausend Jahren.

Salomo war so in seine Gedanken vertieft, dass ihm entging, wie sich jemand aus dem Schatten eines Tunnelgangs löste. Erst das Geräusch von Stiefeln, die auf Wasser trafen, ließ ihn reagieren. Seine Hand umschloss das Messer und zog es bereits aus dem Gürtel, als er Kevin Ritt erkannte, der soeben eine Fackel entzündete. Schweigend durchschritten sie die Dunkelheit. Einzig Kevins Fackel bot einen schwachen Lichtschein.

»Es waren wohl nicht viele da oben«, brach der schließlich das Schweigen.

»Nein. Es war ja auch verrückt, ihn zu verbrennen. Aber Didi bestand darauf. Als ob ein Grab mehr oder weniger so viel Unterschied machen würde.«

Im Fackelschein konnte er ein Grinsen auf Kevins Gesicht ausmachen, ehe dieser erwiderte: »Jetzt sei mal nicht so großspurig, Salomo. Du hättest nicht anders gehandelt, um den Dämonen zu zeigen, dass wir vor ihnen keine Angst haben. Willst du ihr es wirklich zum Vorwurf machen?«

»Nein, allerdings wäre ich mit weit mehr Leuten da hinauf.«

»Didi ist Didi. Sie kann sich allein helfen. … Übrigens will Adam dich sehen.«

»Heute nicht mehr. Adam wird sich gedulden müssen. Außer er ist darauf aus, dass ich ihm die Zähne ausschlage.«

»Du machst dir doch keine Vorwürfe wegen des Knaben? Er wusste um die Gefahr. Du hast ihn nicht gezwungen, und jedem, der das Gegenteil behauptet, haue ich die Zähne ein.«

»Das ist es nicht. Ich frage mich aber, wie es den Sklaven geht. Heute kam eine Nachricht aus den Wäldern nahe Paris. Angeblich haben einige Familien ihre Kinder freiwillig den Großfürsten überlassen, weil sie nicht wissen, wie sie all die Mäuler stopfen sollen.«

»Das wird hier nicht passieren. Wir sind keine verweichlichten Hosenscheißer, die vor ein paar Fürsten zu Kreuze kriechen«, murrte Kevin.

»Mag sein. Aber ich will nicht, dass unsere Leute irgendwann genauso handeln. Noch sind wir in der Lage, alle zu versorgen, aber was geschieht, wenn wir es nicht mehr können? Das macht mir Sorgen. Adam gibt mir darauf nie Antwort. Darum will ich ihn heute nicht sehen.«

»Erinnerst du dich noch daran, was uns die Alten früher erzählten?«, fragte Kevin. »Was uns Didi erzählte? Sie hat das Ende ihrer Familie miterlebt, musste zusehen, wie alle abgeschlachtet wurden, weil sie sich gegen ihren Herrn auflehnten. Ich sage dir, auch unter den Sklaven gibt es welche, die frei sein wollen. Und für die müssen wir weiterkämpfen.«

»Du vergisst dabei nur eines: Damals waren wir mehr«, hielt Salomo dagegen.

»Blödsinn. Das ist gerade einmal zweiunddreißig Jahre her. Schön, wir mögen Einbußen hingenommen haben, aber das mussten die Großfürsten auch – vor allem Bael. Er wird genauso wenig aufgeben wie wir. Und das sollte uns als Anreiz genügen. Außerdem solltest du nicht vergessen, dass einige von diesen Arschlöchern da drin dir etwas schuldig sind«, sagte Kevin und blickte den Tunnel entlang.

Der junge Mann hatte durchaus recht. Salomo konnte es nicht abstreiten. Männer wie Adam verdankten ihm ihr Leben. Aber es machte gelegentlich den Eindruck, als wären sie damit nicht glücklich.

Es war erstaunlich, wie schnell die Strecke zurückgelegt werden konnte, wenn man sich unterhielt. Nur mehr ein paar Meter waren zu überwinden, ehe sie aus dem Abwasserrohr klettern und eine Treppe empor mussten.

Die Tür am Ende der Stiege schwang auf, und der Lärm von Stimmen empfing sie. Der Anblick glich einem Bienenstock. Überall eilten Leute umher – die einen lachend, andere mit finsterer Miene und bewaffnet. Jederzeit konnte ein Angriff der Großfürsten bevorstehen, doch bis zum heutigen Tag hatten sie ihre Untergrundbewegung nicht ausgemacht. Und wenn es nach Salomo ging, sollte das auch so bleiben.

Er drehte sich noch einmal zu Kevin um und sagte: »Für heute haben wir darüber genug geredet. Lass uns abwarten, wie es weitergeht. Erst einmal müssen wir Ersatz für Kimi finden. Schaust du dich um?«

»Du weißt, dass die Leute nicht begeistert sind, wenn ich durch die Gegend laufe und ihre Kinder begutachte.«

»Wir müssen alle Opfer bringen. Das schließt jene, die bei uns Zuflucht suchen, nicht aus.« Damit ließ Salomo Kevin stehen, betrat seinem U-Bahn-Waggon und schob die Tür hinter sich zu. Dabei blieb ihm nicht verborgen, wie sich Adams Körper aus den Schatten der einstigen Überwachungszentrale löste. Doch der Gelehrte war klug genug, sich fernzuhalten. Morgen wäre noch genügend Zeit, um zu reden.

Mit einem geradezu erleichterten Seufzen trat Salomo an die Wasserschale heran und sah in den Spiegel darüber. Er fühlte sich alt, müde und mit der Situation überfordert. Immerhin lastete auf ihm der Tod eines Kindes. Aber das würde er niemals zugeben.

Er fuhr sich mit einem nassen Tuch über den kahlen Schädel. Zeitgleich besah er sich die Narben, die sich darauf befanden. Die meisten hatte er im Kampf gegen die Dämonen eingesteckt – mit Ausnahme einer einzigen. Die war von seiner toten Schwester. Aber jetzt war nicht die Zeit, an sie zu denken. In seinen Träumen würde sie früh genug auftauchen. Dann müsste er ihren Tod noch einmal sehen und erneut mitverfolgen, wie sich seine Hände um ihren zarten Hals legten, wie sie dabei nach einem Krug griff und ihm diesen auf den Kopf schlug. Das hatte ihn jedoch nicht von seinem Unterfangen abbringen können. Und das alles, um sie davor zu bewahren, elendig zu verhungern.

Es war das erste und zugleich letzte Mal gewesen, dass sich Salomo selbst die Hände schmutzig gemacht hatte. Seit dieser Handlung schob er solcherlei Aufgaben seinen Leuten zu. Dabei konnte er von Glück reden, dass er jedem von ihnen auf die ein oder andere Weise das Leben gerettet hatte. »Es ist alles nicht so einfach, wie man glauben möchte. Viel zu kompliziert und anstrengend«, murmelte er sich selbst zu.

»Da hast du wohl recht«, ertönte es hinter ihm.

Über den Spiegel betrachtete er die Frau, die zu ihm gesprochen hatte. Ihren Namen kannte er noch immer nicht, obwohl sie bereits seit einigen Wochen mit ihm das Bett teilte.

Mit einem anerkennenden Grinsen drehte er sich zu ihr um, als sie den Mantel abstreifte. Darunter kam ein eng geschnürtes Mieder zum Vorschein, welches ihre Vorzüge deutlich hervorhob – abgesehen von dem knappen Rock. Überraschenderweise war sie barfuß. »Hätte nicht gedacht, dass du heute vorbeikommst.«

Sie legte den Kopf schief und lächelte ihm zu. »Ich auch nicht, aber Ritt sagte, du könntest Gesellschaft gebrauchen.«

»Mein Bett wartet schon auf dich.«

»Dann sollten wir es doch lieber nicht enttäuschen.«

Die Frau überwand die Distanz zwischen ihnen und streifte sich dabei die restliche Kleidung vom Körper. Salomo konnte keineswegs abstreiten, dass ihm dieser Anblick gefiel. Vielmehr tat er es ihr nach, ehe sie ihre Lippen auf seine presste.

Es war wie jedes Mal. Salomo musste die Oberhand behalten, und die Frau ließ ihm diese. Zugleich gingen ihm jedoch unzählige Dinge im Kopf herum. Die Frage, wie es weitergehen sollte, war dabei die eindringlichste.

Salomo ließ sich nicht viel Zeit mit ihr. Als er fertig war und er sich dem Buch neben dem Bett zuwandte, lag die Frau noch keuchend neben ihm.

Er schlug die dunkle Hand beiseite, als sie ihn erneut Berühren wollte. »Jetzt nicht. Verschwinde!«

»Aber …«

»Ich sagte, du sollst verschwinden. Ich habe noch zu tun.«

Schnaubend stieg die Frau aus dem Bett. »Arschloch!«,

presste sie hörbar zwischen den Zähnen hervor.

Es zauberte ein Lächeln auf Salomos Gesicht. Er mochte ein Arsch sein. Aber vielleicht schon morgen würde er der wohl bekannteste Arsch sein. Er konnte gut damit leben, wenn ihn eine Frau verachtete. Sie würde sowieso zurückkommen – das taten sie alle. Die einen früher, die anderen später.

 

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Decarabia

 

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Aus der Ferne besah sich der Marquis unter den Dämonenfürsten das eigenartige Treiben. Warum die Menschen ihre Toten verbrannten, war ihm noch immer unklar. Schließlich war es ein aberwitziger Glaube, dass ihre Toten dann nicht in die Legionen der Großfürsten aufgenommen würden. Es waren gerade diese Seelen, welche sich hervordrängten. Für ihn stellte diese Beobachtung eine Qual dar. Immerhin war er als Mensch nur selten unterwegs. Doch als Seestern oder Pentagramm wäre er hier fehl am Platze gewesen.

Ein süffisantes Lächeln huschte über seine Lippen, als er den kahl geschorenen Mann reden hörte. Er schien der einzig Vernünftige unter all den Leuten zu sein – allerdings auch die größte Gefahr.

Der Marquis wendete sein Pferd und ritt gemächlich durch den Wald. Eigentlich hätte er nach dem Eingang zum Untergrundstützpunkt der Widerständler Ausschau halten sollen, aber diese Information würde Bael bedeutend mehr beeindrucken. Zumindest hoffte er es, denn der König war nur schwer zufriedenzustellen.

Der Mond wanderte mit Decarabia den Weg entlang, als er die Ausläufer der Stadt Breslau erreichte. Viel war von diesem Ort nicht geblieben. Nur ein paar Häuser und eine Kirche. Kaum der rechte Ort für einen der Könige der Hölle. Bael aber war bescheiden. Er verzichtete auf Prunk und Pomp.

 

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Decarabia schwang sich vom Pferd und warf einem der Sklaven die Zügel zu. Er liebte es, Macht über andere zu haben. Gerade deswegen sah er seiner baldigen Abreise nach Paris mit einem gewissen Hochgefühl entgegen.

Mit großen Schritten betrat er Baels Haus. Ohne auf die untergebenen Menschen zu achten, betrat er den Raum, in welchem der König auf einem Stuhl weilte.

Bael besaß den Körper einer Spinne gepaart mit den Köpfen einer Kröte, eines Menschen und einer Katze. Die Krone saß auf dem mittleren Haupt. Seine Haltung zeigte Autorität und Würde. Keiner der Großfürsten käme auf den Gedanken, dies zu hinterfragen, und die Sklaven vergötterten ihn überraschenderweise.

»Decarabia«, ertönte es heiser. »Ihr seid bereits zurück? Habt Ihr den Eingang gefunden?«

Der Marquis verneigte sich elegant, ehe er erwiderte: »Nein, mein König. Ich wurde jedoch Zeuge einer Unterhaltung unter den Widerständlern.«

»Widerständler! … Ich habe Euch bereits gesagt, wie sehr mir dieses Wort missfällt. Widerständler kämpfen für etwas. Diese kleinen Maden haben längst aufgegeben. Was sollte an ihren Gesprächen wichtiger sein als an Eurer Aufgabe?«

Decarabia leckte sich über die Lippen, bevor er antwortete: »Einer von ihnen sprach davon, dass sie sich gegen uns behaupten müssten. Es scheint, als würden sie in den Krieg ziehen wollen.«

»Habt Ihr dafür auch Beweise? Oder ist es rein das, was Euch der Wind zugetragen hat, Decarabia?«

Unruhe stieg im Marquis hoch. Wenn Bael seinen Namen mehr als ein Mal aussprach, bedeutete das nichts Gutes. Da er dem König keine sinnvolle Antwort geben konnte, schwieg er.

Das veranlasste Bael dazu, von seinem Stuhl zu klettern. »Ich schließe aus dieser Stille, dass Ihr es nicht wisst. Kann es sein, dass sie Euch entdeckt haben und darum so sprachen?«

Decarabia senkte den Blick, als er murmelte: »Ich glaube nicht, mein König. Aber …«

»Ich will nichts hören!«

Selbst jetzt wurde Bael nicht wirklich laut. Seine heisere Stimme kratzte nur in den Ohren des Marquis. Es genügte jedoch, um ihn in die Knie zu zwingen und seine Gestalt als Pentagramm anzunehmen. Das sicherste Zeichen, dass er sich den Launen des Königs unterwarf.

»Ich sollte Euch vernichten«, zischte Bael zornig. »Ihr hattet eine einfache Aufgabe, und selbst dieser konntet Ihr nicht nachkommen. Was sollte mich dazu veranlassen, Euch lebend gehen zu lassen?«

»Bitte, mein König, ich habe doch nur angenommen …«

Bael unterbrach ihn mit einer abwehrenden Handbewegung und trippelte über den Steinboden hinweg auf ihn zu. Eine nachdenkliche Miene war auf seinem Menschenkopf auszumachen. »Ihr wisst nicht zufällig die Namen dieser Menschen?«

»Ich konnte nur einen vernehmen. Er nennt sich … Salomo«, flüsterte der Marquis.

Der Katzenkopf gab ein Fauchen von sich, während die Spinnenbeine weiter auf Decarabia zumarschierten. Angst ergriff von ihm Besitz.

»Salomo? Seid Ihr sicher?«, hakte Bael nach.

»Ja, mein König. Ich würde Euch niemals enttäuschen. Wenn Ihr mir gestattet, mich noch einmal auf den Weg zu machen, dann verspreche ich Euch, dass ich bereits bei Sonnenaufgang den Eingang des Menschenverstecks gefunden habe. Ich schwöre Euch, meine dreißig dämonischen Legionen warten nur darauf, von Euch in die Schlacht geführt zu werden. Und ich selbst bin bereit …«

»Schweigt endlich, Decarabia. Ihr brecht noch heute auf, aber nicht, um diesen Mann zu finden. Ihr reitet nach Wien. Berichtet dort von Großfürst Naberius und Präsident Glasya-Labolas, davon, wie sich die Menschen ihnen freiwillig angeschlossen haben. Es muss uns auch in anderen Städten gelingen. Je weniger sich auf der Seite dieser … Gegner befinden, umso besser ist es für uns.«

»Wie Ihr befehlt, mein König.«

Decarabia nahm seine Seesterngestalt an und wandte sich bereits zum Gehen, als Bael flüsterte: »Enttäuscht mich nicht, Marquis. Es wäre traurig, Eure Leiche alsbald aufzufinden. Übrigens werdet Ihr in Wien bleiben. Das Leben dort wird Euch gewiss genauso erfreuen wie jenes in Paris.«

Decarabia musste an sich halten, um keinen Wutanfall zu bekommen. Er kannte Wien, und er mochte die Stadt genauso wenig wie den dortigen Regenten, Graf Furfur. Die eigentümliche Engelsgestalt des Grafen war eine Beleidigung. Dass er nun für diesen den Handlanger spielen sollte, war unter seiner Würde. Decarabia blieb jedoch nichts weiter übrig. Deshalb verbeugte er sich untertänig vor seinem König, bevor er den Raum verließ. Zugleich sandte er eine stumme Verwünschung nach Wien aus, und er hoffte, dass der Graf ihn nicht wirklich bei sich behalten würde.

 

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Didi

 

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Bei Didi kam es selten vor, dass sie sich außerhalb ihrer Bar und abseits der Totenweihen mit den Menschen befasste. Dies hing zum einen damit zusammen, dass sie generell eine Einzelkämpferin war. Der zweite und für sie weit bedeutendere Grund war die einfache Tatsache, dass sie sich selbst mehr vertraute als ihrer Umgebung. Skeptisch besah sich Didi deshalb den kleinen Glasraum. Einst diente er als Kontrollzentrum für die Überwachung der U-Bahn, jetzt lebte Adam darin. Der Mann bezeichnete sich selbst als den Gelehrten unter ihnen. Und wenn Didi ehrlich war, musste sie ihm zustimmen. Schließlich wusste niemand so gut über die Geschichte der Welt Bescheid als er. Aber leider war Adam kein Kämpfer. »Darf ich erfahren, warum ich hier bin?«, fragte sie seufzend.

Adam, der an einem Tisch saß und las, wandte sich von der Buchseite ab, blickte sie an und murmelte: »Salomo muss endlich einsehen, wie wenig Erfolg er mit seinen Handlungen hat. Diese Erkundungsgänge müssen eingestellt werden. Sie gefährden das Leben unserer Leute.«

»Wenn man dich so reden hört, könnte man annehmen, du bist für die Großfürsten«, warf sie ihm vor.

»Ich bin für die Menschen, die unter seinem Wahnsinn leiden müssen. Warst du es nicht, die ihm gleich danach gesagt hat, dass es unverantwortlich war? Ich halte mit meiner Meinung eben nicht hinter dem Berg. Wozu auch? Wenn es nach Salomo ginge, befänden wir uns längst in einem blutigen Kampf.«

»Wer sagt dir, dass wir es nicht bereits sind, Adam?«, ertönte Salomos Stimme von der Tür her.

Didi konnte sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen, als Adam erschrocken zusammenfuhr. Der Gelehrte hatte Salomos Auftauchen nicht mitbekommen. Didi war jedoch davon überzeugt, dass er seine Worte keineswegs anders gewählt hätte.

»Wenn wir es wären, würden wohl mehr Eltern vor meiner Tür stehen, um sich zu beklagen!«, fuhr Adam den Mann an.

Es verblüffte Didi, wie emotional der Gelehrte sein konnte. War er doch sonst für seine ruhige und besonnene Art bekannt. »Ich denke, wir sollten darüber reden, warum wir hier sind, oder?«, kam sie einem aufkommenden Streit zuvor.

Salomo nickte abgehackt, ehe er sich auf einen freien Stuhl fallen ließ. Dabei legte er die Füße auf den Tisch, was von Adam mit einem hörbaren Schnauben quittiert wurde. Didi bemerkte unterdessen das Buch, welches Salomo bei sich behielt. Es musste äußerst wichtig für ihn sein, wenn er es nicht aus der Hand legte.

»Wir müssen über die Ausgaben sprechen«, begann Adam ohne Einleitung. »Die Lebensmittel werden knapper. Wenn wir genauso haushalten wie im letzten Jahr, kommen wir gerade über den Winter. Allerdings ist die Versorgung der Kranken und Alten kaum gewährleistet.«

»Dann schicken wir eben Boten zu den anderen im Untergrund. Wir haben oft genug einer der Gruppen ausgeholfen, also ist es nur gerecht, wenn sie uns jetzt genauso entgegenkommen«, sagte Salomo gelangweilt.

»Ich denke, du verstehst nicht. Uns wird keiner helfen. Nicht einmal wenn die Gruppen wollten. Allen fehlt es selbst am Nötigsten. Und da spreche ich noch nicht mal von Medikamenten. Ich rede hier von Getreide und Fleisch. Warum glaubst du, haben sich die Leute in Paris dazu entschlossen, ihre Kinder den Großfürsten zu überlassen?«

Salomo nahm mit einer wutverzerrten Miene die Füße vom Tisch, während er erwiderte: »Du wirst unsere Leute nicht mit diesen Feiglingen vergleichen! Wir sind besser dran. Wir können unsere Kinder ernähren, und bevor …«

»Bevor was, Salomo? Paris hat das einzig Richtige getan.«

Didi verfolgte mit zunehmender Besorgnis, wie Salomo die Hände zu Fäusten ballte. Nicht mehr lange und Adam würden einige Zähne fehlen. Doch sie konnte die Worte des Gelehrten kaum entkräften. Paris mochte feige gehandelt haben, aber es stimmte, deren Kinder würden den Winter überleben. »Salomo …«

Der Mann unterbrach sie mit einem einzigen Blick, wandte sich Adam zu und sagte: »Für solche Worte und diesen unterschwelligen Vorschlag sollte man dich in die Wildnis schicken. Vielleicht würden sich die Dämonen deiner sogar annehmen. Ich hingegen ziehe es vor, einen anderen Weg zu gehen als den der Arschkriecherei.«

»Und der wäre?« Adam zeigte sich wenig beeindruckt.

Salomo gab ihm keine Antwort, stattdessen warf er das fünf Finger dicke Buch auf den Tisch. Worum genau es sich dabei handelte, wusste Didi nicht. Adam hingegen schien es zu kennen, da seine blauen Augen abwechselnd zwischen dem Buchtitel und Salomo hin und her flogen.

»Was willst du damit sagen?«, fragte der Gelehrte leise.

»Du bist der Mann des Wissens, also sag du es mir.«

»Es beweist nichts.«

»Ach nein? Mein Name, meine Fähigkeit, die Menschen zu einen … Ich habe diese Untergrundbewegung aufgebaut. Ohne mich würde ein Großteil noch immer für die Dämonen Sklavenarbeit verrichten. Und soweit ich mich entsinne, zähltest du ebenfalls zu diesen, nicht wahr, Adam?«

Die Miene des Gelehrten verfinsterte sich aufs Neue. Didi hingegen konnte nur ahnen, worauf dieses Gespräch hinauslief. Und die Entwicklung veranlasste sie dazu, sich zum ersten Mal zu fragen, was so schlecht daran sein sollte.

»Wir haben das bereits diskutiert. Jeder weiß, wie wenig die Menschen von so etwas halten. Und es gibt keine Beweise. Ein Name sagt zu wenig über eine Abstammung aus. Außerdem …«

»Nicht wenn ein Gelehrter es bezeugt«, unterbrach Salomo den Mann.

Adam wandte sich so abrupt ab, dass seine schulterlangen Haare wie eine Peitsche durch die Luft knallten.

Da Didi nach wie vor nicht sicher war, ob sie die Zusammenhänge richtig verstand, fragte sie: »Was würde es für uns bedeuten?«

»Wir wären eine Einheit. Die Menschen hätten jemand, zu dem sie aufblicken könnten und …«

»… einen den sie verurteilen würden, sobald es nicht nach ihren Wünschen läuft«, kam der Gelehrte Salomo zuvor.

»Nur wenn man es dumm anstellt.«

»Es kann gar nicht klug sein! Sonst wäre dieses System nicht bereits vor vielen Jahren den Bach runtergegangen. Die Leute sind stets nur im ersten Augenblick glücklich. Nämlich solange sie jemand haben, der glaubt, alles zu wissen. Sobald die ersten falschen Entscheidungen getroffen sind, ist es damit vorbei.«

Didi war wenig überzeugt von Adams Ansichten. Es mochte stimmen, allerdings waren Salomos Entscheidungen bisher nicht besser oder schlechter gewesen als von jedem anderen. »Und wer sollte dieses Amt als Anführer übernehmen?«, wollte sie wissen.

Adams Augen hingen an dem Buch, während Salomo schwieg. Es war eine bedrückende Stille, welche auf Didi befremdlich wirkte.

»Sag es ihr, na los!«, forderte Adam.

Salomos dunkle Augen durchbohrten sie förmlich, als er entgegnete: »Ich natürlich! Wer sollte es deiner Ansicht nach sonst sein?«

»Du?«, fragte sie zweifelnd nach.

»Selbstverständlich! Aber ich wäre kein einfacher Anführer. Meine Stellung müsste die eines Königs sein. Ein König unter den Menschen. Wenn die Großfürsten Könige besitzen, warum nicht auch wir?«

»Bist du verrückt geworden?«

»Was soll diese dumme Frage? Ich bin der geborene König. Immerhin entstamme ich der Blutlinie Salomons. Somit steht es mir zu, König zu sein.«

»Es steht dir zu? Du bist ein verdammter Idiot. Du hast Kimi auf dem Gewissen, und jetzt willst du König spielen?«, fuhr Didi ihn erbost an.

»Ich will es nicht spielen, ich bin es. Und wenn dir das nicht passt, dann …«

»Du bist doch nicht mal in der Lage, mit Adam und mir ein Gespräch zu führen. Wie kannst du glauben, es mit einem Großfürsten zu können?« Sie wollte es nicht glauben. Salomo war nicht nur wahnsinnig, er war auch noch naiv. Allein seine impulsive Art würde jede Verhandlung zum Scheitern verurteilen. Aber davon müsste ihn erst einmal einer überzeugen. Und Didi ahnte bereits, dass er auf sie nicht hören würde. Vielleicht konnte sein Freund Alex etwas ausrichten. Doch selbst das war ungewiss.

»Wer sagt, dass ich so was vorhabe?«

»Du dämlicher Idiot führst uns noch in den Tod! Jeder gute König muss verhandeln können. Glaubst du etwa, Bael hätte sich sonst so lange unter den Großfürsten bewährt? Er ist der treueste Handlanger Luzifers. Er verfügt über genügend Entscheidungsgewalt. Aber deshalb droht er einem nicht ständig!«, warf Adam ihm vor.

Salomos Faust traf dermaßen schnell Adams Gesicht, dass diesem nicht mal Zeit blieb zu reagieren. Vielmehr war er im nächsten Moment damit beschäftigt, sich die Hand auf den Mund zu pressen. Dabei entging Didi keineswegs, wie der Gelehrte sie Hilfe suchend anblickte. Aber sie war keinesfalls bereit, ihn zu unterstützen. Nicht weil er unrecht hatte, sondern weil es nur wenige Menschen gab, die Salomo einen Idioten nennen durften. Und Adam zählte eben nicht dazu.

Salomo atmete hörbar ein und aus, bevor er murmelte: »Du magst recht haben, Adam. Aber wenn du so überzeugt bist, ist es am besten, du packst deine Sachen und verschwindest zu Bael, wo er dir doch so sympathisch zu sein scheint.«

Didi trat einen Schritt auf ihn zu und sagte: »Salomo, ich bin mir sicher, er hat es nicht so gemeint. Aber Tatsache ist, du bist ein impulsiver Mensch. Was, wenn die Leute genauso auf deine Selbsternennung reagieren? Sie werden Beweise verlangen. Das ist unumgänglich. Zuerst muss diese Linie wirklich, und damit meine ich wirklich zu einhundert Prozent, bestätigt sein. Sonst kannst du dich gleich selbst in der Wildnis aussetzen.«

»Außerdem ändert es nichts an der derzeitigen Lage«, nuschelte Adam.

Didi sah den Gelehrten von der Seite an. Blut floss zwischen seinen Fingern hervor. Es lief auch über sein Kinn hinweg und beschmutzte das ohnehin fleckige Hemd. Wahrscheinlich hatte Adam der Schlag mehr als nur eine aufgeplatzte Lippe beschert. Vielleicht hatte er sogar einige Zähne eingebüßt. Er besaß jedoch so viel Gelassenheit, diese nicht vor Salomo auf den Boden zu spucken.

»Es mag unsere Lage jetzt nicht verändern. Aber wenn wir erst mal erklärt haben, dass ich der alleinige Herrscher über alle Menschen bin, dann …«

»Du meinst über unsere Gruppe«, korrigierte Didi ihn.

Als hätte sie ihn gerade geschlagen, sah Salomo sie fassungslos an. »Wozu sollte ich nur über unsere Gruppe walten wollen?«, brüskierte er sich. »Ich rede hier von der gesamten Menschheit. Uns, den Sklaven und auch allen anderen.«

»Größenwahnsinn«, hörte sie Adam wispern.

Salomo konnte nicht so schnell reagieren, wie Didi seine erneut zur Faust geballte Hand packte. Gleichzeitig schüttelte sie entschieden den Kopf. »Du solltest gehen«, sagte sie an Salomo gewandt.

»Warum? Ich habe ihm damals sein wertloses Leben gerettet. Jetzt verlange ich einen Gefallen, und er ist nicht bereit, ihn mir zu erweisen!«

»Geh jetzt!«, wiederholte sie ihre Forderung.

Salomo stand auf, riss sich aus ihrem festen Griff los und beugte sich zu Adam herab. »Du bist ein Feigling und ein Narr. Heute hattest du Glück, aber beim nächsten Mal ist vermutlich keiner zur Stelle, der dir dein wertloses Leben rettet.«

Die Tür fiel überlaut ins Schloss, als Salomo den Raum verließ. Es war der Moment, in welchem Adams angespannte Haltung in sich zusammenfiel. Das war eben der Unterschied zwischen einem Krieger und einem Gelehrten.

Didi beobachtete, wie Adam nach einem sauberen Tuch griff. Er spuckte einige Male hinein, wobei deutlich der blutige Speichel auszumachen war. Sie hörte es auch leise klackern. Also hatte die Aktion den Gelehrten tatsächlich einige Zähne gekostet. »Du hättest besser den Mund gehalten, Adam. Von jetzt an wird er jedes deiner Worte und jede deiner Handlungen hinterfragen.«

»Das mag sein. Aber ich bin keiner seiner Laufburschen. Ich habe ihm gesagt, was es zu sagen gab. Alles Weitere liegt nicht mehr in meiner Hand.«

Didi schüttelte erneut den Kopf. Ihr war noch nie ein Mensch untergekommen, der so dumm sein konnte – seiner Intelligenz zum Trotz. Aber vielleicht war es auch das Alter. Siebenundzwanzig war einfach zu jung, ganz gleich ob man einer der Wenigen in der Gruppe war, der lesen und schreiben konnte. »Mach noch einmal so einen Scheiß, und Salomo wird dich dafür töten.«

»Er unterscheidet sich im Augenblick überhaupt nicht von den Dämonenfürsten«, nuschelte Adam, griff nach einem alten Handspiegel und hantierte an einem lockeren Zahn.

»Junge, du schaufelst dir noch dein eigenes Grab.« Sie konnte dabei ein schiefes Grinsen nur schwer verbergen. Es war deutlich, dass er sich von seinen Ansichten niemals abbringen lassen würde.

Adam reagierte nicht darauf, obwohl er im Spiegel ihr Gesicht sehen konnte. Ein wehmütiger Ausdruck lag in seinen Augen, doch Didi erlag diesem nicht. So groß ihr Bedürfnis nach menschlicher Nähe auch sein mochte, mit Adam würde sie niemals etwas anfangen. Abgesehen von der Tatsache, dass sie in Adam mehr einen jüngeren Bruder sah, interessierte er sich sowieso nicht für sie – für keine Frau, um genau zu sein. Adam bevorzugte die Gesellschaft von Männern. Ein Umstand, den Didi bereits vor langer Zeit erkannt hatte, über den sie jedoch niemals urteilen würde. »Ich muss los. Kommst du allein zurecht?«

»Was glaubst du denn, Didi? Dass Salomo mit seinen Leuten draußen wartet, bis du verschwunden bist? So dumm ist er nicht. Er braucht mich noch«, erwiderte Adam patzig.

»Ja, das ist es, was mir Sorgen macht. Noch braucht er dich, aber irgendwann wird er dich los sein wollen.«

»Soll er, wenn’s ihn glücklich macht.«

Didi strich sich die Haarsträhne, die ihre Narbe verdecken sollte, zur Seite und stieß hörbar die Luft aus. Es hatte keinen Sinn, weiter mit Adam zu reden, darum verließ sie den gläsernen Raum und lenkte ihre Schritte nach Osten. Sie hielt auf einen ausgebrannten Waggon zu, in welchem sich ihre Bar befand. Man hatte eben aus der Not eine Tugend und aus den Waggons Behausungen gemacht. Didi war damit nicht unglücklich. Es war hier immerhin besser als in der Baracke in Präsident Marbas’ Stadt, in welcher sie geboren und aufgewachsen war.

 

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Bis heute konnte sie nicht sagen, warum gerade ihr die Ehre der Priesterin zuteilgeworden war. Schließlich hatte sie nicht mehr als andere Leute in diesem Krieg verloren, und erst recht war sie kein gläubiger Mensch. Am besten war es ohnehin, einzig auf sich selbst zu vertrauen.

Sie schob die Waggontür auf und betrat den dunstigen Raum. Schwere Rauchwogen hingen in der Luft. Gestern war sie das erste Mal seit Wochen wieder oben gewesen, und die Zeit hatte sie keine Sekunde genießen können. Jetzt wünschte sie sich nichts mehr als die saubere Luft zurück. Aber es war zu gefährlich bei Tag an die Oberfläche zu treten – stellte es doch bereits des Nachts ein Risiko dar.

»Na endlich! Wo hast du so lange gesteckt?«, schallte es Didi entgegen.

Sie musste ein Grinsen unterdrücken, als sie Greg Scoutes ausmachte. Wie jeden Tag saß er auf einem der Barhocker und lehnte mit verschränkten Armen auf der Theke.

»Hast dir ja lange Zeit gelassen. Wie war das Treffen zwischen Salomo und Adam? Haben sie sich geeinigt?«

Didi nahm ihren Platz hinter der Bar ein und holte eine Schnapsflasche hervor. Sie schenkte Greg davon ein, bevor sie direkt die Lippen ansetzte und einen Schluck nahm.

»So beschissen also«, beantwortete der Mann seine eigene Frage.

»Schlimmer. Adam hat ein paar Zähne eingebüßt, weil er sein Maul nicht halten konnte.«

»Wenigstens muss er sich keine Gedanken mehr machen, ob er Harrys Haferschleim kaut oder gleich schluckt«, scherzte Greg unbeholfen.

Didi schmunzelte. »Ja, diese Entscheidung ist ihm eindeutig abgenommen worden.«

»Was hat unseren friedliebenden Gelehrten so aufgeregt, dass er Salomo dazu brachte?«

Sie gab dem Mann keine Antwort darauf. Vielmehr besah sie seine Gestalt. Für fünfunddreißig wirkte Scoutes alles andere als jung. Die braunen Augen lagen tief in den Höhlen. Zudem wies sein blondes Haar an den Schläfen bereits ein deutliches Grau auf, und die sonnengebräunte Haut hob ihn vom überwiegenden Teil der Bewohner auffällig ab.

»Keine Antwort? War es so ein Scheiß?«, fragte Greg nach.

»Kann ich dir nicht sagen.«

»Kannst du nicht oder willst du nicht, Didi? Du weißt doch, ich verrate niemand irgendwas. Außer es ist wichtig für das Wohl aller.«

Greg hatte recht. Müsste Didi ihn beschreiben, käme er dem, was sie Familie nannte, wohl am nächsten. Er war der einzige vertrauenswürdige Mensch im Untergrund. Nur ihm hatte Didi vor Jahren erzählt, was mit ihrer Familie geschehen war. Wie die Dämonen über sie hergefallen waren, über ihre Brüder und Schwestern. Wie man ihre Mutter vergewaltigt und ihrem Vater den Bauch aufgeschlitzt hatte. Trotzdem konnte sie ihm das heutige Gespräch nicht anvertrauen. Nicht solange Adam keine Beweise in den Händen hielt. Außerdem wäre es besser, Salomo sagte es den Leuten selbst.

»Na gut, wenn du nicht darüber reden kannst oder willst, schenk wenigstens nach.«

Sie kam seinem Wunsch nur zu gern nach, und es brachte Didi auf den Gedanken, dass er von morgens bis spät nachts hier saß, obwohl er einer der besten Kundschafter der Gruppe war. Seit einem Monat verließ er ihre Bar jedoch nur, um seinen Rausch auszuschlafen – und manchmal nicht mal dafür. Dann ließ sie ihn einfach liegen, wo er gerade umfiel. »Warum bist du hier, Greg? Ich meine, warum sitzt du in meiner Bar und bist nicht da oben? Du solltest neue Kundschafter ausbilden. Was ist vor einem Monat geschehen?«, fragte sie leise.

Er gab ihr darauf, wie so oft, keine Antwort. Vielmehr stieß Greg hörbar den Atem aus und sah in sein Glas, ehe er einen großen Schluck daraus nahm. »Frag nicht, Didi. Ich habe es bei deiner Geschichte genauso gehalten. Außerdem ist jeder ein Idiot, der glaubt, da oben etwas ausrichten zu können.«

»Was, wenn Salomo zu einem erneuten Schlag gegen die Großfürsten ausholen will? Er muss doch erfahren, was los ist«, hielt sie dagegen.

»Das weiß er. Jeder in diesem verdreckten Untergrund kennt die Antwort. Es gibt niemand, der Kimis Leiche nicht gesehen hätte. Und keiner braucht sagen, er wäre nicht wenigstens ein Mal oben dabei gewesen. Die Kinder mögen die Einzigen sein, die das behaupten dürfen. Aber selbst denen machen wir mit Geschichten über Legionen von Dämonen Angst, wenn sie ihren Haferschleim nicht aufessen wollen.«

Didi neigte sich vor und flüsterte: »Sag es mir, Greg. Ich muss es einfach wissen.«