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MARTIN ROTH

WIDERREDE!

Eine Familie
diskutiert über
Populismus, Werte
und politisches
Engagement

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INHALT

WIDERREDE.!

Vorwort von André Wilkens

WARUM DIESES BUCH JETZT!

Einführung

MARTIN ROTH

Deshalb muss ich reden

WER WIR SIND

REDEN WIR ÜBER DIE WELT

REDEN WIR ÜBER EUROPA

REDEN WIR ÜBER DEUTSCHLAND

REDEN WIR ÜBER UNS

MARTIN ROTH IM GESPRÄCH MIT JOHANNA HENKEL-WAIDHOFER

»Kein Verpissertum zulassen!«

WIE ES WEITERGEHT

Nachwort

IMPRESSUM

WIDERREDE.!

VORWORT VON ANDRÉ WILKENS

Wir leben in interessanten Zeiten. Ein ungeheuerlicher Trump regiert Amerika, der Westen schafft sich ab, China wird zur Hoffnung der Liberalen, Russland ist der neue Chaos Computer Club der Welt, Europa erholt sich langsam von seiner Midlife Crisis, England reicht trotzdem die Scheidung ein und Digital stellt uns die Sinnfrage. Siebzig Jahre nach dem Ende der Nazizeit ist Deutschland der Leuchtturm des liberalen Westens und seine Kanzlerin die mächtigste Frau der Welt. Lügen heissen neuerdings nicht mehr Lügen, sondern postfaktisch. George Orwell lässt grüßen. Wer Postfaktisches weiter Lügen nennt, outet sich als liberaler Kosmopolit, also irgendwie von gestern. Bob Dylans Lieder sind Nobel-Literatur, David Bowie wird bald heilig gesprochen und der Papst ist Weltrevolutionär.

Ich habe Martin Roth in China kennengelernt. Er hat dort eine fulminante Ausstellung zur „Kunst der Aufklärung“ kuratiert. Ausgerechnet am Platz des Himmlischen Friedens. Seitdem geht mir die Aufklärung nicht mehr aus dem Sinn. Das ist eine Bewegung, die uns hunderte Jahre beeinflusst hat, eine Bewegung, die sich durch Wissenschaft, Kunst, Philosophie, Technik, Kultur, Ökonomie, Politik zieht. Die scheinbar eine unumkehrbare Richtung für unsere Gesellschaft vorgab, immer voran, immer noch ein bisschen besser, immer aufgeklärter und selbstbestimmter. Quasi bis ans Ende der Geschichte. Schon in Peking habe ich gesehen, dass es eine Utopie ist, die auch viel Dystopie geschaffen hat. Und heute sind die Zeiten so, dass man sich manchmal fragt, ob die Zeit der Aufklärung vielleicht zu Ende geht, ob wir eine Anti-Aufklärung erleben, eine Neuzeit der Zaren, Despoten, Oligarchen und Demagogen.

Wie wird man in fünf oder zwanzig oder gar in hundert Jahren auf diese Zeiten zurückblicken? Auf Zeiten, in denen Entwicklungen ihren Anfang oder ihr Ende fanden? Auf einen Ausrutscher der Geschichte oder auf eine Wendezeit? Auf jeden Fall werden es interessante Zeiten gewesen sein. In mancher Hinsicht fantastische.

Später wird man Geschichten erzählen über diese Zeiten. Manche Geschichten werden wahr sein, manche werden später entstehen. Interessanter sind natürlich die, die wie in diesem Buche in Echtzeit aufgeschrieben wurden, privat und politisch. Man wird versuchen zu verstehen, wie denn das alles passieren konnte, was Leute gedacht haben, was sie gemacht haben oder auch nicht. Und wenn sie nichts gemacht haben, woran es gelegen hat. Man wird versuchen, den Verlauf der großen Geschichte zu konstruieren aus den vielen kleinen Geschichten.

An dem, was wir jetzt tun, wird sich entscheiden, wie wir auf diese Zeiten zurückblicken werden. Welcher Brexit wird es sein? Ein Brexit, der Europa und Britannien radikalisiert, oder eine Scheidung unter Erwachsenen, die trotzdem weiter europäische Freunde bleiben? Ein Amerika, das zur real gefährlichen Trump Show wird, oder ein Amerika, das Trump als tragikomische Anekdote wegsteckt? Ein Europa, das sich von Wahl zu Wahl re-nationalisiert, oder ein Europa, das sich auf seine Gründungsidee besinnt, zusammenrückt und zur stabilisierenden Weltmacht wird? Ein Deutschland, das seine Geschichte einholt, oder ein Deutschland, das der Welt zeigt, wie man aus seiner Geschichte lernen kann? Eine Welt, die sich den Lügen ergibt, oder eine Welt, die die Lust auf die Wahrheit wieder kultiviert, digital und analog?

Welche Zeiten es sein werden, hängt von uns allen ab. Wir sind ja nicht einfach Statisten. Wir können was tun. Wir können uns nicht einschüchtern lassen von religiösen Terroristen und rechten Extremisten, wir können aus unseren Filterblasen ausbrechen, wählen gehen, Lügen weiter Lügen nennen, Bürgerinitiativen gründen, wir können Menschen in Not helfen, unseren Job machen, nicht nur auf Facebook Freunde sein, Kinder zu guten Menschen erziehen, die Wahrheit suchen, miteinander streiten und die Welt immer noch ein bisschen besser machen.

Dieses Buch von Martin Roth und seinen Kindern wird man lesen müssen, um die heutigen Zeiten besser verstehen und einordnen zu können. Man sollte es aber jetzt schon lesen und sich dabei fragen, was man denn gerade selbst macht, um diesen Zeiten Sinn zu geben.

André Wilkens
Juli 2017

»Welche Zeiten es sein werden, hängt von uns allen ab. Wir sind ja nicht einfach Statisten. Wir können was tun.«

André Wilkens

André Wilkens

ist Politikwissenschaftler, Mitbegründer und geschäftsführender Vorstand der Initiative Offene Gesellschaft.

WARUM DIESES BUCH JETZT?

EINFÜHRUNG

Martin Roth ist ein Weltbürger mit schwäbischen Wurzeln, anerkannt, vernetzt, erfolgreich rund um den ganzen Globus. Dennoch versteht er die Welt nicht mehr, weil westliche Werte weggeschwemmt werden, weil Europa aus den Fugen zu geraten droht, weil Ratlosigkeit sich festfrisst. Wann, wenn nicht jetzt: Mit seinen drei erwachsenen Kindern will er Menschen ermutigen, sich an einen Tisch zu setzen, zu reden über Erlebtes und Versäumtes, über Politik, Staat und Gesellschaft. Und dies nicht nur, um Vergangenes debattierend aufzuarbeiten und sich gegenseitig zu stärken, sondern auch um gemeinsam aufzubegehren. Damit nächste Generationen die Altvorderen nicht fragen müssen, was sie eigentlich getan haben gegen den neuen Populismus, gegen Hetze, Häme und den Versuch, das Rad der Entwicklung zurückzudrehen.

Martin Roth ist Jahrgang 1955. Er und seine Kinder Clara, Roman und Mascha verstehen sich als Mutmacher, wollen andere Familien und Freundeskreise zu dringend nötigen Diskussionen und Klärungsversuchen animieren. Über die weltweite Verantwortung, die Lehren gerade aus der deutschen Vergangenheit, den Zustand unseres Gemeinwesens, über Lüge und Wahrheit, aber auch über Überforderung und die schmerzliche Einsicht, dass es so viele große Themen gibt und wichtige Fragen, die zu kompliziert sind für rasche und erst recht für einfache Antworten.

„Widerrede“ ist ein persönliches Plädoyer für eine neue Offenheit und dafür, die Politik wieder an den Familientisch zurückzuholen.

Juli 2017

MARTIN ROTH

DESHALB MUSS ICH REDEN

Sie werden sich fragen, warum ich meine Stimme erhebe, warum ich Familien aufrütteln will über die Generationen hinweg. Und warum ich der Meinung bin, dass das Politische, die Wertedebatten und der ehrliche Gedankenaustausch über die gesellschaftspolitischen Weichen, die richtig oder falsch gestellt werden können, unseren Alltag wieder viel mehr durchdringen müssen. Ich bin überzeugter Europäer. Das hat natürlich auch mit meinem Alter zu tun. Als Deutscher des Jahrgangs 1955 habe ich mir schon als junger Mensch eine andere oder besser: eine zweite sehr starke Identität gesucht. Zuerst war ich Europäer, dann Deutscher. Schon viele Monate vor der finalen Brexit-Entscheidung war mir klar, dass die von Propaganda durchdrungene und verdorbene Diskussion um den Brexit nicht zu vereinbaren ist mit meiner europäischen Identität.

Die Art und Weise des Austritts, wie da mit welchen Lügen und welcher Polemik agiert wurde, gerade von Wendehälsen wie Boris Johnson – das alles war übel und tragisch zugleich. Diese grandiose und ansteckende Dynamik, die von der Welthauptstadt London ausgeht, verliert zwar nicht die Anziehungskraft, auch nicht die Strahlkraft für die Avantgarde. Aber sie basiert mehr und mehr auf einem unseriösen politischen Fundament. Für mich war London immer eine Stadt, die funktioniert hat: aufregend, lebendig, kosmopolitisch. Und ich habe immer das Gefühl gehabt, dass dann, wenn London funktioniert, es Hoffnung gibt auch für andere Metropolen. Wenn so viele Menschen aus so vielen Ländern relativ friedlich zusammenleben und zugleich diese Stadt mit diesem Tempo leben und produktiv sein kann, dann ist das übertragbar.

Stattdessen hat eine schwer verständliche Aggressivität das Referendum bestimmt, die es – wir müssen ehrlich sein, wenn wir etwas ändern wollen – nicht nur in Großbritannien gibt. Wir erleben sie in Bayern, in Sachsen, nicht nur bei der AfD, bei den Rechtspopulisten und Europa-Gegnern in den Niederlanden, in Frankreich, Österreich, Polen und Ungarn. Bildung zählt viel zu wenig, Ernsthaftigkeit nicht, Expertentum nicht, Fakten werden einfach weggewischt, Halbwahrheiten und Lügen haben Konjunktur. Leute wie Nigel Farage klagen, wie schlimm bei uns alles ist, zugleich sterben im Mittelmeer Menschen zu Tausenden. Wohin sind wir gekommen, wenn die Maßstäbe derart verrutschen!

Direkt vor unseren Augen baut sich ein extrem rechtslastiges Europa auf. Und damit passiert etwas – zum ersten Mal in meinem Leben auf diese Weise –, was ich überhaupt nicht nachvollziehen kann. Mit einer Geschwindigkeit, dass ich mir die Frage stellen muss: Möglicherweise haben wir, die Europäer mit Herz und Hirn, die einen Kontinent in Frieden für unsere Kinder und Enkelkinder gestalten wollten, plötzlich den Sinn für die Realität verloren. Wo sind unsere christlichen Werte? Die Nächstenliebe? Begriffe wie Freiheit, Toleranz und Solidarität sind mir heilig. Heilig ist ein großes Wort, aber es geht auch um viel. Ich will nicht akzeptieren, dass Menschen wie Marine Le Pen die künftige Tonlage bestimmen, dass Nationalisten wieder hoffähig sind. Die Rhetorik in England war so kriegerisch, dass sich jedem vernünftigen Menschen Parallelen zu unserer Geschichte aufdrängen müssen, an die 1920er, 1930er Jahre. Haben da nicht auch viele Menschen gedacht und gesagt: Was da passiert, ist nicht gut, aber so schlimm wird es schon nicht kommen?

»Begriffe wie Freiheit, Toleranz und Solidarität sind mir heilig.«

Ich habe vor langer Zeit eine Doktorarbeit über die Kulturpolitik der 1920er und 30er Jahre geschrieben. Die unendlich vielen Zeitungsartikel aus den 20er Jahren sind mir immer in Erinnerung geblieben: Dort hatte ich genau das gelesen, was ich in den Brexit-Wochen und bei der Wahl vom Juni 2017 in London erlebte: Stimmung gegen irgendetwas machen, vorpreschen, sich dann dafür entschuldigen, aber andere gehen im Windschatten hinterher, legen eins drauf. So schaukelt sich die Stimmung hoch, irgendwann ist die Entwicklung nicht mehr zu stoppen. Wir wissen, wie das ausging. Natürlich sind das riskante Vergleiche. Aber wer aufrütteln will, muss die vornehme Zurückhaltung aufgeben können. Nur: Wo war die große Aufregung im Herbst 2015, als in Dresden auf der Pegida-Demonstration die Galgen-Attrappen für Angela Merkel und Sigmar Gabriel hochgehalten wurden? Dieses Schweigen macht mich fertig.