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WILLIAM VOLTZ

 

 

 

DER

RETTUNGSPLAN

 

Erzählungen

 

 

 

 

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WING Publishing

Inhalt

 

Über den Autor

Vorwort

Der Rettungsplan

Totenwache

Pionierkomplex

Urlaub auf Morgunguma

Der Dolmetscher

Das zweite Ich

Mr. Peter

Die Schwelle

Lagerfeuer

Postskriptum

Die andere Welt

Der Tod bringt den Beweis

 

Über den Autor

 

William Voltz wurde am 28.Januar 1938 in Offenbach geboren. Er interessierte sich bereits in früher Jugend für Science Fiction, wurde Mitglied im SFCD und war Mitbegründer des SF-Clubs STELLARIS in Frankfurt.

William Voltz begann mit dem Schreiben von Kurzgeschichten und auch ein Buch mit dem Titel STERNENKÄMPFER wurde veröffentlicht. Für seine Stories, die sich großer Beliebtheit erfreuten, bekam er im Jahr 1961 den »Besten Fan-Autor Preis«.

Sein Engagement ebnete ihm 1962 den Weg ins damals noch junge und kleine PERRY RHODAN - Team.

Bis zu seinem viel zu frühen Tod am 24. März 1984 schrieb der Autor nicht nur für diese und andere Serien, sondern veröffentlichte auch Serien unabhängige Romane und Kurzgeschichten.

Bookwire gab uns die Möglichkeit, diese William Voltz Veröffentlichungen als e-books anzubieten.

Vorwort

 

Wie sehr man nach fünfundzwanzig Jahren schriftstellerischer Tätigkeit den Überblick über die eigene Produktion verliert, mögen Sie daran erkennen, dass ich dachte, meine gesammelten Stories in insgesamt drei Bänden dieser Reihe vorstellen zu können – weit gefehlt. Nach Sichtung des gesamten Materials stellte sich heraus, dass es einen vierten Band geben wird, und je nachdem, ob Sie ein Anhänger oder ein Kritiker meiner Arbeiten sind, können Sie nun in Jubel ausbrechen oder in Niedergeschlagenheit verfallen.

Die in diesem Band enthaltenen Kurzgeschichten sind (sowohl was das Datum ihres Entstehens, als auch ihre ursprüngliche Bestimmung angeht) recht unterschiedlicher Herkunft. »Der Rettungsplan« z.B., den ich aus verschiedenen Gründen für meine beste SF-Story halte, wurde für eine Jubiläumsausgabe von TRANSGALAXIS geschrieben. Er ist die »jüngste« Geschichte in dieser dritten Sammlung. »Totenwache« und »Das zweite Ich« erschienen zunächst in Kurzform in TRANSGALAXIS, bevor ich sie für TERRA später umschrieb. In diesem dritten Band meiner gesammelten Kurzgeschichten sind einige Short-Stories enthalten, die man schon fast als Kuriositäten bezeichnen könnte. Sie entstanden zwischen meinem fünfzehnten und achtzehnten Lebensjahr. Bei ihrer Lektüre sollte man vielleicht bedenken, wie wenig verbreitet Science Fiction zu dieser Zeit in Deutschland war. Einige dieser Stories erschienen später in TRANSGALAXIS, andere in der von Heinz Bingenheimer herausgegebenen Anthologie »Lockende Zukunft«, in der z.B. auch Wolfgang Jeschke, Jay Grams und Jürgen Duensing vertreten waren und die als erste Storysammlung dieser Art überhaupt im Jahre 1957 bei den Lesern großes Interesse weckte.

Diese frühen Stories sind: »Mr. Peter« – »Die Schwelle« – »Lagerfeuer« – »Postskriptum« – »Die andere Welt« und »der Tod bringt den Beweis«. »Die andere Welt« ist die erste SF-Kurzgeschichte, die ich je geschrieben habe; danach sollte man sie (ebenso wie die anderen ihres Jahrgangs) beurteilen.

Alle anderen in diesem dritten Sammelband aufgenommenen Geschichten erschienen zuerst in TERRA.

Bei der Arbeit der Zusammenstellung für einen solchen Sammelband befasst man sich zwangsläufig mit allen möglichen Dingen – vor allem stößt man dabei auf die Namen einiger weniger Pioniere, die Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre die Wege für SF in Deutschland ebneten: Heinz Bingenheimer, Kurt Bernhardt, G. M. Schelwokat. Ihnen (und den hier nicht genannten, die auch ihren Teil dazu beitrugen) ist dieser dritte Sammelband gewidmet.

 

Heusenstamm, Januar 1981

William Voltz

Der Rettungsplan

 

Damals ...

 

Als Varsalax-Pher, Außensinn im Organ-Kausalbereich »Peripherie«, begriff, dass eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes drohte, stoppte er seinen Kontrollfluss und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die Seinsballung.

Im gleichen Augenblick erkannte er, dass die Bedrohung nicht von außen kam, sondern aus der Seinsballung selbst.

Varsalax-Pher, eine variable Kette kausaler Moleküle (nur Innensinne, die in unmittelbarer Nähe der Seinsballung arbeiteten, besaßen eine akausale Komponente), erlitt einen Schock und war eine Zeitlang unfähig, irgendetwas zu tun.

Daran gewöhnt, die Außenwelt nach Gefahren abzusuchen, hatte er sich überhaupt nicht vorstellen können, dass er in der Lage war, Katastrophensignale aus der Seinsballung zu registrieren.

Varsalax-Pher unterdrückte die in ihm aufsteigende Panik, denn wenn er ihr nachgab, war alles verloren. Er brauchte nur die in seiner Nähe arbeitenden Außensinne zu beobachten, um zu wissen, dass sie nichts von allem bemerkt hatten. Durch einen unerklärlichen Zufall hatte nur er das aus dem Zentrum kommende Katastrophensignal empfangen. Während er über seine nächsten Schritte nachdachte, wurde er sich seiner unlösbar erscheinenden Aufgabe bewusst. Wenn er das Schlimmste verhindern wollte, blieb ihm nicht viel Zeit. Andererseits musste er mit äußerster Behutsamkeit vorgehen. Wenn er wilden Alarm schlug, würden die Innensinne ihn einfach aus dem Arbeitsprozess im Bereich der »Peripherie« herausnehmen.

Varsalax-Pher glitt bis zum Rand seines Ereignishorizonts und wartete, dass ein anderer Außensinn in seiner unmittelbaren Nähe vorbeikommen würde. Er war so angespannt, dass er Mühe hatte, seinen Körper unter Kontrolle zu halten. Wenn er nicht aufpasste, leitete er eine spontane Umstrukturierung ein. Dann würde er einige Zeit außer Gefecht gesetzt sein, viel zu lange, um noch irgendetwas zu unternehmen. Jede Faser seines Körpers vibrierte, obwohl er die Gedanken an das drohende Ende gewaltsam zurückdrängte.

Zu seiner Enttäuschung schwebte Narsan-Khal vorbei, eine träge Kurzkette. Außensinne wie Narsan-Khal waren lediglich dazu da, gravitationale Schwankungen im Bereich »Peripherie« zu registrieren, entsprechend gering war ihre Intelligenz. Aber Varsalax-Pher hatte keine andere Wahl.

»Warte!«, dachte er eindringlich.

Narsan-Khal hielt überrascht inne, wahrscheinlich geschah es zum ersten Mal, dass er Konversationskontakt zu einem komplizierten Außensinn wie Varsalax-Pher bekam.

Hoffentlich ist er nicht eitel und fühlt sich geschmeichelt!, überlegte Varsalax-Pher verbissen, denn er war auf die Hilfe eines nüchtern denkenden Außensinns angewiesen.

»Konzentriere dich auf die Seinsballung!«, befahl Varsalax-Pher.

»Auf die Seinsballung?«, echote Narsan-Khal überrascht. »Aber das gehört nicht zu meinen Aufgaben. Ich habe lediglich ...«

»Ich weiß, was du zu tun hast«, unterbrach ihn Varsalax-Pher heftig. »Tu jetzt, was ich von dir verlange.«

Narsan-Khal begann sich zu konzentrieren, und daran, dass er plötzlich heftig zu zittern begann, erkannte Varsalax-Pher, dass der Kurzkettige die Bedrohung registrierte.

»Da ist irgendetwas nicht in Ordnung«, dachte Narsan-Khal bestürzt. »Und die Bedrohung kommt von innen.« Ein Impuls des Misstrauens erreichte Varsalax-Pher. »Wie konntest du das registrieren?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Varsalax-Pher. »Darauf kommt es jetzt auch nicht an. Es ist wichtig, dass wir irgendetwas tun.«

»Aber das gehört nicht zu unseren Aufgaben«, dachte Narsan-Khal verzweifelt. Er war überfordert, aber darauf konnte Varsalax-Pher keine Rücksicht nehmen. Unter Umständen dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis der nächste Außensinn vorbeikam, dann war das Unheil nicht mehr aufzuhalten.

»Es ist die Arbeit der Innensinne, die Seinsballung zu überwachen«, fuhr Narsan-Khal fort.

»Das ist richtig«, stimmte Varsalax-Pher mit erzwungener Ruhe zu. »Aber sie haben noch nicht bemerkt, was im Gange ist. Wir müssen sie darauf aufmerksam machen.«

Narsan-Khal bildete eine winzige Extremität und deutete damit auf die verschwommene Grenze des Ereignishorizonts.

»Das ist unmöglich, keiner von uns kann in den Organ-Akausalbereich ›Mitte‹ eindringen.« Seine Gedanken gerieten ins Stocken. Schließlich fügte er hinzu: »Es sei denn, um den Preis der eigenen Auflösung.«

»Ja«, dachte Varsalax-Pher trocken.

Narsan-Khal zog sich von ihm zurück, und für einen Augenblick befürchtete Varsalax-Pher, der andere könnte davongleiten. Doch der Druck der drohenden Katastrophe war einfach zu stark, auch ein Außensinn mit einem so niedrigen Intellekt wie Narsan-Khal begriff, dass es keine Möglichkeit zum Entkommen gab. In einem solchen Fall stellte auch der dümmste und egoistischste Außensinn die eigenen Ansprüche hinter das Gemeinwohl zurück.

Ohne die Seinsballung im Zentrum konnten auch die Außensinne nicht existieren.

»Du wirst über den Ereignishorizont gleiten«, erriet Narsan-Khal.

Unter anderen Umständen wäre Varsalax-Pher über soviel Naivität sicher belustigt gewesen, jetzt empfand er darüber nur Ärger.

»Natürlich nicht«, gab er zurück. »Wäre das meine Absicht gewesen, hätte ich sie längst verwirklicht. Ich muss in der ›Peripherie‹ bleiben und helfen, die Rettungsmaßnahmen zu organisieren.«

»Du glaubst, dass ... dass ich nach ›Mitte‹ überwechseln soll?«

»Jeder von uns geht früher oder später in der Seinsballung auf. Was macht es da für einen Unterschied, ob du bereits jetzt überwechselst.«

»Nein!«, protestierte Narsan-Khal heftig. »Der Unterschied liegt darin, ob ich im Verlauf eines organischen Prozesses überwechsle oder es aus eigenem Antrieb zu einem falschen Zeitpunkt tue. Nur im ersten Fall wird eine Reinkarnation garantiert.«

Varsalax-Pher beobachtete ihn und dachte mitleidig: »Du Narr! Wenn die Seinsballung zerstört wird, hast du keine Chance mehr auf eine Reinkarnation.«

»Du hast recht«, dachte der Kurzkettige niedergeschlagen.

»Du hast keine Zeit zu verlieren!«, drängte Varsalax-Pher.

»Was ist überhaupt geschehen?«, wollte Narsan-Khal wissen.

»Das können wir von der ›Peripherie‹ aus nicht erkennen, aber ich befürchte, dass die Seinsballung explodieren wird. Sie hat irgendetwas in sich aufgenommen, was sie nicht verarbeiten kann. Wahrscheinlich haben die Innensinne einen Fehler begangen und eine ungereinigte Kausalkette durchgelassen.«

In der Ferne glitt ein großer Außensinn vorbei, aber er war zu weit entfernt, um die beiden anderen zu bemerken, außerdem war er ganz auf seine Aufgaben konzentriert.

»Gibt es überhaupt eine Möglichkeit zur Rettung?«, fragte Narsan-Khal.

Darauf wusste Varsalax-Pher keine Antwort. Er verstand zu wenig von den Dingen, die sich jenseits des Ereignishorizonts abspielten. Schon die Ereignisse im Bereich »Mitte« waren für einen Außensinn nicht zu begreifen. Wie sollte er dann darüber befinden, was im Zentrum geschah?

»Du musst jetzt aufbrechen«, dachte er sanft.

Narsan-Khal schwankte hin und her. Wahrscheinlich suchte er verzweifelt nach einem Vorwand, um den entscheidenden Schritt aufschieben zu können.

Dann gab er sich einen Ruck. Er bot einen seltsamen Anblick, wie er langsam auf den Ereignishorizont zuglitt. Unmittelbar an der Grenze begann sein Körper sich aufzublähen, es war ein Effekt, wie er immer ausgelöst wurde, wenn jemand in zwei Zustandsebenen gleichzeitig existierte. Es dauerte nicht lange, dann war Narsan-Khal verschwunden.

Vom Standpunkt der Außensinne im Bereich »Peripherie« war Narsan-Khal beim Augenblick des Überwechselns gestorben. Im Bereich »Mitte« jedoch würden die Innensinne seine unverhoffte Ankunft registrieren und der Sache nachgehen.

Vielleicht, dachte Varsalax-Pher, reichte die Zeit noch, um einen Rettungsplan aufzustellen.

 

Die ganze Zeit über hatte Maouden gewusst, dass irgendetwas passieren würde. Es war ein Wissen, das er mit allen anderen Innensinnen teilte, ohne dass einer von ihnen in der Lage gewesen wäre, die immer heftiger werdenden Bedenken zu artikulieren. Störungen, die von der »Peripherie« ausgingen, ließen sich niemals vorhersagen. Die Innensinne waren darauf angewiesen, aufnahmefähige Berichte zu erhalten. Diesmal jedoch blieb alles ruhig, so dass Maouden sich die Frage stellte, ob er und die anderen nicht einer trügerischen Vorahnung aufgesessen waren.

Während er noch darüber nachdachte, brach unmittelbar vor ihm eine kurze Kausalkette völlig unerwartet durch den Ereignishorizont und löste sich innerhalb kurzer Zeit in einem chaotischen Wirbel auf.

Maouden ging der entstandenen Spur nach, ohne sich lange Gedanken darüber zu machen, warum sich der Zwischenfall ausgerechnet in seinem Bezirk ereignet hatte. Abgenutzte Außensinne kamen häufig hierher zurück, aber niemals ohne vorherige Ankündigung. Trotzdem überzeugte sich Maouden, ob seine Raum-Zeit-Linie frei von jeder Ankündigung war, denn er konnte nicht ausschließen, dass er im Gefühl der allgemeinen Unsicherheit einen Fehler begangen und etwas übersehen hatte. Es gab jedoch keinen Hinweis, dass zu diesem Zeitpunkt jemand überwechseln sollte.

Maouden fragte sich, was einen Außensinn veranlassen konnte, von der »Peripherie« in die »Mitte« überzuwechseln, ohne dass dazu ein zwingender Grund vorlag.

Während Maouden, der in seiner äußeren Struktur einer verknoteten Flasche glich, den Spuren folgte, fand er heraus, dass der hereingekommene Außensinn als Narsan-Khal gravitationale Schwankungen beobachtet hatte. Das Erscheinen des Außensinns erschien völlig unmotiviert, daher konnte es unter Umständen als Warnung verstanden werden. In der Regel hatten die Außensinne keine Schwierigkeiten, wenn es darum ging, Botschaften für die Innensinne umzusetzen.

Wenn ihnen das diesmal nicht gelungen war und sie sich zu einem derart verzweifelten Schritt entschlossen hatten, konnte das nur bedeuten, dass sie die Informationen nicht in den Griff bekamen.

Maouden zog sich unwillkürlich zusammen. Entsetzen begann sich in ihm auszubreiten.

Die Außensinne mussten eine Gefahr entdeckt haben, die nicht von außen kam!

Da in der »Mitte« alles in Ordnung war, konnte das nur bedeuten, dass mit der Seinsballung irgendetwas nicht stimmte. Maouden wusste, dass es im Zentrum eine Komponente gab, die streng kausal war und sich daher einer Beurteilung durch die Innensinne entzog. Dort musste eine gefährliche Entwicklung im Gang sein.

Maouden verließ die Spur, denn er wusste, dass es keinen Sinn hatte, ihr noch länger zu folgen.

Er musste die anderen warnen, damit sie überlegen konnten, wie man die Seinsballung auf die drohende Gefahr aufmerksam machen konnte.

Als er sich zurücksinken ließ, um sich auf den gesamten Bereich »Mitte« zu konzentrieren, erfolgte der Alarm. Obwohl ihn die von der Seinsballung ausgehenden Impulse erschütterten, spürte Maouden doch Erleichterung, denn er fühlte sich von einer unerträglichen Verantwortung befreit.

Die Innensinne versammelten sich.

»Eine Katastrophe bahnt sich an«, teilte ihnen Grauson, ihr Anführer, mit. »Die Seinsballung droht zu explodieren.«

In einer schrecklichen Vision sah Maouden sich davonwirbeln, über die zerbrechenden Ereignishorizonte hinaus zunächst in den Bereich »Peripherie« und dann in die Raum-Zeitlosigkeit.

»Wir müssen es verhindern!«, dachten sie alle mit großer Intensität.

Als sie jedoch ihren Kontakt mit der Seinsballung intensivierten, mussten sie erfahren, dass das Zentrum bereits jede Hoffnung auf Rettung aufgegeben hatte. Der Prozess der Vernichtung war nicht mehr aufzuhalten – und dabei stand nicht einmal fest, was ihn ausgelöst hatte.

Maouden bewunderte Grauson, der auch jetzt nicht die Übersicht verlor. Seiner Haltung war es wahrscheinlich zu verdanken, dass die Innensinne nicht in wilder Flucht davonstoben. Der Anführer der Innensinne war ein Symbol der Unzerstörbarkeit, vielleicht deshalb, weil er als einziger schon in direktem Kontakt zur Seinsballung gestanden hatte.

»Wir und unsere Vorgänger haben immer geglaubt, innerhalb eines unveränderlichen Systems zu leben«, dachte er versonnen. »Es stellt sich nun heraus, dass dies ein Trugschluss ist. Die Explosion dieses Systems lässt sich nicht mehr verhindern, soviel ist gewiss. Aber das sollte uns nicht entmutigen.«

Maouden fragte sich, worauf Grauson hinaus wollte. Er hatte fast den Eindruck, dass der Anführer auf diese Situation vorbereitet war.

War es möglich, dass die Seinsballung das drohende Unheil vorausgesehen und bestimmte Maßnahmen ergriffen hatte?

»Und was sollen wir deiner Ansicht nach tun?«, erkundigte sich ein Innensinn namens Louser. »Du hast selbst gesagt, dass die Explosion nicht aufzuhalten ist. Sollen wir einen Rettungsplan ausarbeiten, um uns etwas vorzumachen?«

Grauson antwortete: »Wir könnten einen Rettungsplan für die Zeit nach der Explosion ausarbeiten.«

In die entstehende Gedankenstille hinein schob Maouden die Frage: »Was soll nach der Explosion noch sein? Alles, was ist, wird in Raum-Zeitlosigkeit versickern.«

»Wir haben eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was geschehen wird«, erläuterte Grauson. »Es wird eine unvorstellbare Hitzeentwicklung geben. Alles wird sich in so kleine Teilchen auflösen, dass wir uns davon keine Vorstellung machen können. Trotzdem könnte in dieser Auflösung bereits der Keim eines Neubeginns liegen.«

»Wie sollen wir das verstehen?«, fragte einer der Innensinne.

»Die Seinsballung muss im Augenblick der Explosion ihr unvergleichliches Wissen preisgeben. Jeder von uns muss es in sich aufnehmen, gleichgültig, ob er in der ›Peripherie‹, in der ›Mitte‹ oder im Zentrum arbeitet.«

»Welchen Sinn hätte das?«, erkundigte sich Maouden.

»Die Seinsballung würde in jedem Fragment von uns fortleben«, dachte Grauson. »In jedem Partikel würde etwas von der Seinsballung erhalten bleiben.«

Maouden war enttäuscht. Er hatte geglaubt, Grauson könnte ihnen in der Stunde höchster Not mehr bieten als eine reine Philosophie. Welchen Sinn sollte Wissen ohne Bewusstsein haben? Maouden versuchte sich vorzustellen, wie die Überreste des Systems nach der gewaltigen Explosion innerhalb der Raum-Zeitlosigkeit auseinanderstrebten. Grausons Theorie wäre nur sinnvoll erschienen, wenn man davon hätte ausgehen können, dass die davonfliegenden Teilchen sich wieder vereinigen würden. Das war jedoch völlig unwahrscheinlich.

»Wir werden der Seinsballung unseren Rettungsplan vortragen«, schlug Grauson vor.

Maouden argwöhnte, dass dies bereits geschehen war. Grausons Überlegungen waren lediglich Formsache. Für Maouden war es eine unerträgliche Zurücksetzung, als er begriff, dass Grauson eine viel engere Beziehung zur Seinsballung hatte als alle anderen Innensinne.

»Wir müssen die Außensinne in unsere Absichten einweihen«, fuhr Grauson fort. »Sie werden ebenfalls Informationsträger sein.«

In einem Anflug grimmigen Humors fügte er hinzu: »Als Teilchen werden wir uns kaum noch voneinander unterscheiden.«

Was ist dieser Grauson eigentlich?, überlegte Maouden. Ein Fatalist?

Der Anführer gab ihnen noch ein paar Anweisungen, dann glitten sie wieder auseinander, und jeder von ihnen ging seiner Arbeit nach, als wäre nichts geschehen.

Maouden versuchte sich vorzustellen, was nun im Zentrum vorging. Obwohl er sich unbewusst ein paar Mal in ihr aufgehalten und seine Reinkarnation vorbereitet hatte, konnte er sich kein Bild von ihr machen. Zweifellos war sie nicht mit den Außen- oder Innensinnen zu vergleichen. Sie besaß weder Ereignishorizonte noch kausale oder akausale Ketten. Sie war ein Klumpen unbegreiflicher Existenz, nicht greif- und nicht sichtbar. Vielleicht war sie auch nur die Summe von ihnen allen.

War es überhaupt möglich, dass sie ihr Wissen im Augenblick des Untergangs an alle Bereiche des Systems weitergab?

Maouden eilte seiner Raum-Zeitlinie entlang, wie er es immer getan hatte.

Manchmal war er sich der Widersprüchlichkeit seiner eigenen Existenz bewusst. Dann dachte er, dass alles nur Illusion war.

Dies war so ein Augenblick.

 

Die Stille, die vor der Explosion eintrat, war unbeschreiblich. Im Bewusstsein der unmittelbar bevorstehenden Katastrophe stellten die Sinne im Organ-Kausalbereich »Peripherie« als erste ihre Tätigkeit ein. Wie gelähmt verharrten sie auf den gerade eingenommenen Plätzen, ohne sich noch um die Ereignisse, die von außerhalb auf das System einwirkten, zu kümmern.

Varsalax-Pher, der sich nahe eines Ereignishorizonts niedergelassen hatte, empfand seinen Zustand als eine besondere Form der Agonie. Wenn ein unvorhersehbares Wunder das Unheil im letzten Augenblick abgewendet hätte, wäre keiner der Außensinne in der Lage gewesen, die Arbeit wieder aufzunehmen.

Dieses eigenartige Verhalten griff auf die Innensinne im Organ-Akausalbereich »Mitte« über, und Maouden, der von der persönlichen Existenz eines Varsalax-Pher nicht einmal wusste, fühlte nicht viel anders als dieser.

Wahrscheinlich war es der einzige positive Aspekt dieser Tragödie, dass die Existenzformen in den verschiedenen Bereichen des Systems sich angesichts des Endes ziemlich ähnlich waren.

Die Stille griff weiter um sich, erfasste die Seinsballung und wurde damit beherrschend.

Doch fast gleichzeitig mit der Explosion brach ein stummer Gedankenschrei aus der Seinsballung, sprengte die Ereignishorizonte und überflutete die erstarrten Sinne in den Bereichen außerhalb des Zentrums.

Für den kostbaren Augenblick einer Nanosekunde fühlten sich die Außen- und Innensinne eins mit der Seinsballung und sogen begierig alles in sich auf, was vom Zentrum ausging.

Menschliche Begriffe reichen nicht aus, um das Ausmaß der Explosion auch nur annähernd zu beschreiben.

Das System zerbarst.

Bei einer Temperatur von einhundert Millionen Grad Kelvin prallten die Teilchen, die man als die Überreste des Systems ansehen konnte, immer und immer wieder zusammen, obwohl sie sich blitzschnell ausdehnten und voneinander entfernten.

In der Raum-Zeitlosigkeit entstand eine undefinierbare Mischung aus Materie und Strahlung, die nach wenigen Minuten bereits einen kugelförmigen Bezirk von vier Lichtjahren Durchmesser einnahm.

Einem imaginären Beobachter wäre angesichts dieses vollkommenen Chaos der Rettungsplan des Innensinns Grauson wie pure Blasphemie erschienen.

 

 

Heute ...

 

Caroun befand sich auf dem Weg über die Außenhülle zum Heck des kleinen Raumschiffs, als er plötzlich einen Stoß erhielt. Die Trosse, an der er hing, löste sich aus der Verankerung, und Caroun wurde vom Schiff weg in den Weltraum davongewirbelt. Sekundenlang war er so sehr mit der Stabilisierung seines Körpers beschäftigt, dass ihm erst gar nicht in den Sinn kam, dass dieser Zwischenfall seinen Tod einleiten würde. Von der COOL WATER sah er nur einen silbernen Streifen, denn das Schiff befand sich zwischen ihm und dem Planeten, »hinter« dem gerade die Sonne aufging.

Instinktiv griff Caroun nach dem Futteral am Arbeitsgürtel, eine mechanische Bewegung, die ihm in Fleisch und Blut übergegangen war. Doch die Rückstoßpistole klebte irgendwo an der Außenhülle der COOL WATER.

»Ben!«, sagte Caroun.

»Ich höre«, meldete sich Ben Donert, der im Innern der COOL WATER saß und die Kontrollinstrumente beobachtete.

»Ich bin nicht mehr auf dem Schiff«, sagte Caroun. »Irgendetwas hat mich weggestoßen.«

»Und die Trosse? Kannst du dich nicht beiziehen?«

»Die Trosse hat sich gelöst, Ben.«

»Dann musst du die Rückstoßpistole benutzen! Sei aber vorsichtig, dass du nicht am Schiff vorbeifliegst und zu nahe an den Planeten kommst.«