Iwan Sergejewitsch Turgenew

Klara Militsch: Historischer Roman

 
 
 
 
 
 
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2017 OK Publishing

 
ISBN 978-80-272-3955-9

IX

Inhaltsverzeichnis


Er hoffte gar nicht, ihn zu treffen, traf ihn aber doch. Kupfer war tatsächlich einige Zeit verreist gewesen, aber schon seit acht Tagen zurückgekehrt und hatte sogar die Absicht gehabt, Aratow aufzusuchen. Er empfing ihn wie immer freundlich und begann ihm etwas zu erklären. Aratow unterbrach ihn aber ungeduldig mit der Frage: »Hast du es gelesen? Ist es wahr?«

»Was ist wahr?« fragte Kupfer verdutzt.

»Das von Klara Militsch?«

Kupfers Gesicht drückte Bedauern aus. »Ja, mein Lieber, es ist wahr: Sie hat sich vergiftet! Wie schrecklich!«

»Hast du es auch in der Zeitung gelesen?« fragte Aratow nach einer Pause. »Oder warst du vielleicht selbst in Kasan?«

»Ich war in Kasan. Die Fürstin und ich hatten sie hingebracht. Sie ging dort zur Bühne und hatte großen Erfolg. Ich war aber noch vor der Katastrophe abgereist –; Ich war in Jaroslawl.«

»In Jaroslawl?«

»Ja. Ich hatte die Fürstin dorthin begleitet. Sie hat sich jetzt in Jaroslawl niedergelassen.«

»Du hast aber doch zuverlässige Nachrichten?«

»Die zuverlässigsten, aus erster Hand! Ich habe ja in Kasan ihre Familie kennengelernt. Aber mir scheint, mein Lieber, daß dich diese Nachricht sehr aufgeregt hat? Und doch glaube ich, Klara hätte dir damals gar nicht gefallen –; Mit Unrecht! Sie war ein herrliches Mädchen, aber eigensinnig! Ein Tollkopf! Ihr Tod hat mir großen Schmerz bereitet!«

Aratow sagte kein Wort und ließ sich in einen Stuhl sinken. Etwas später bat er Kupfer, ihm zu erzählen.

»Was denn?« fragte Kupfer.

»Ja, alles –;« antwortete Aratow unsicher. »Zum Beispiel von ihrer Familie –; und vom übrigen. Alles, was du weißt!«

»Interessiert es dich denn? Gerne!«

Und Kupfer, dem man den Schmerz um Klara gar nicht ansehen konnte, begann zu erzählen.

Aratow erfuhr von ihm, daß Klara Militsch mit ihrem richtigen Namen Katerina Milowidow hieß; daß ihr verstorbener Vater etatsmäßiger Zeichenlehrer zu Kasan gewesen war, schlechte Porträts und Bilder gemalt und im Rufe eines Trunkenbolds und Haustyrannen gestanden hatte; dabei sei er ein gebildeter Mensch gewesen! (Kupfer lächelte selbstzufrieden über das von ihm eben erfundene Wortspiel.) Daß dieser Vater eine Witwe und eine Tochter hinterlassen hatte: Die erstere sei vom Kaufmannsstand, ein furchtbar dummes Frauenzimmer, wie einer Komödie Ostrowskijs entnommen, die Tochter aber, viel älter als Klara und ihr nicht im geringsten ähnlich, ein sehr kluges, doch etwas gar zu ekstatisches, krankes, wunderbares und außerordentlich gebildetes Mädchen. Daß die beiden – die Witwe und die Tochter – in recht anständigen Verhältnissen in einem hübschen Häuschen, das aus dem Erlös für jene schlechten Bilder gekauft worden ist, leben; daß Klara oder Katja (nenne sie, wie du willst) schon als Kind erstaunliche Begabung gezeigt, sich aber durch einen ungestümen, launischen Charakter ausgezeichnet und sich ewig mit dem Vater herumgeschlagen habe; da sie eine angeborene Begabung fürs Theater gehabt habe, sei sie in ihrem sechzehnten Lebensjahr mit einer Schauspielerin aus dem Elternhause durchgebrannt.

»Mit einem Schauspieler?« unterbrach ihn Aratow.

»Nein, nicht mit einem Schauspieler, sondern mit einer Schauspielerin, an der sie sehr hing –; Diese Schauspielerin wurde von einem reichen, sehr alten Herrn protegiert, der sie nur aus dem Grunde nicht heiratete, weil er schon anderweitig verheiratet war. Ich glaube übrigens, daß auch die Schauspielerin einen Mann hatte.«

Kupfer teilte Aratow ferner mit, daß Klara schon vor ihrem Auftreten in Moskau auf verschiedenen Provinzbühnen gespielt und gesungen hatte; daß sie, nachdem sie ihre Freundin, die Schauspielerin, verloren (ihr Mäzen war entweder gestorben oder hatte sich mit seiner Frau versöhnt – Kupfer wußte es nicht mehr genau), mit der Fürstin, dieser Frau mit dem goldenen Herzen, bekannt geworden war, »die du, mein Freund Jakow Andrejitsch, nicht nach Gebühr zu schätzen wußtest«; daß sie schließlich ein ihr angebotenes Engagement nach Kasan angenommen, obwohl sie vorher behauptet hatte, Moskau niemals verlassen zu wollen.

»Wie die Kasaner sie liebgewonnen haben, ist einfach nicht zu sagen! Bei jeder Vorstellung Blumen und Geschenke! Blumen und Geschenke! Ein Getreidehändler, der reichste Mann im Gouvernement, hat ihr sogar einmal ein goldenes Tintenfaß überreicht!« – Kupfer erzählte das alles sehr lebhaft, ohne übrigens besondere Empfindsamkeit zu zeigen und seine Rede immer mit Fragen wie: »Warum interessiert dich das?« »Was brauchst du das zu wissen?« unterbrechend, während Aratow ihm mit verzehrender Spannung zuhörte und immer mehr Einzelheiten forderte. Als Kupfer endlich alles, was er wußte, berichtet hatte, verstummte er und belohnte sich für seine Mühe mit einer Zigarre.

»Und warum hat sie sich vergiftet?« fragte Aratow. »In der Zeitung hieß es –;«

Kupfer warf beide Arme empor. »Ja, das kann ich wirklich nicht sagen. Ich weiß es nicht. Was in der Zeitung steht, ist Unsinn. Klaras Lebenswandel war tadellos –; sie hatte gar keine Liebesaffären –; Wie käme sie auch dazu mit ihrem Stolz?! Stolz war sie wie der Satan und unzugänglich! Ein Tollkopf! Hart wie Stein! Du kannst es mir glauben: Ich kannte sie doch gewiß gut, habe aber niemals Tränen in ihren Augen gesehen!«

Ich habe aber welche gesehen, dachte Aratow.

»Aber in der letzten Zeit«, fuhr Kupfer fort, »hatte ich an ihr eine große Veränderung wahrgenommen: Sie war auf einmal so trübsinnig und schweigsam geworden, stundenlang konnte man von ihr kein Wort zu hören bekommen. Wie oft habe ich sie gefragt: ›Hat Sie vielleicht jemand beleidigt, Katerina Ssemjonowna?‹ Ich kannte ja ihren Charakter: Sie konnte keine Beleidigung ertragen! Sie schweigt aber, und es ist aus ihr nichts herauszubekommen. Selbst die Erfolge auf der Bühne machten ihr keine Freude mehr; die Blumen regnen auf sie nur so nieder, und sie lächelt nicht einmal! Das goldene Tintenfaß sah sie nur einmal an und stellte es gleich weg. Sie beklagte sich, daß noch niemand für sie die richtige Rolle, wie sie sie verstehe, geschrieben hätte. Das Singen gab sie aber ganz auf. Ich muß es dir beichten, mein Lieber! Ich hatte ihr damals erzählt, daß du an ihrem Gesang die Schule vermißtest. Und doch ist es ganz unbegreiflich, warum sie sich vergiftet hat! Und wie sie sich vergiftet hat!«

»In welcher Rolle hatte sie den größten Erfolg?« Aratow wollte eigentlich fragen, in welcher Rolle sie zum letzten Male aufgetreten war, fragte aber aus irgendeinem Grunde etwas ganz anderes.

»Wenn ich nicht irre, in Ostrowskijs ›Grunja‹. Ich muß es aber noch einmal sagen: gar keine Liebesaffären! Urteile doch selbst. Sie lebte im Hause ihrer Mutter –; Du kennst wohl solche Kaufmannshäuser: In jeder Ecke hängt ein Heiligenbild mit einem brennenden Lämpchen davor, die Luft ist zum Sterben dumpf, ein widerlicher, säuerlicher Geruch in allen Zimmern, im Salon stehen längs der Wände Stühle und sonst keine Möbel, und auf allen Fensterbänken Geranien; und wenn ein Gast ins Haus kommt, fängt die Hausfrau zu stöhnen an, wie wenn ein Feind sie überfallen hätte. Wie kann man da an irgendwelche Liebesaffären denken? Es kam vor, daß man selbst mich nicht einließ. Ihre Dienstmagd, ein kräftiges Frauenzimmer in rotem Sarafan mit Hängebrüsten, tritt mir im Vorzimmer in den Weg und knurrt: ›Wo wollen Sie hin?‹ – Nein, ich kann unmöglich begreifen, warum sie sich vergiftet hat. Das Leben machte ihr offenbar keine Freude mehr!« Kupfer schloß mit dieser philosophischen Betrachtung seinen Bericht.

Aratow saß mit gesenktem Kopf. »Kannst du mir vielleicht die Adresse des Hauses in Kasan geben?« sagte er nach einer Pause.

»Gewiß, was brauchst du sie? Willst du vielleicht hinschreiben?«

»Vielleicht.«

»Wie du willst. Die Alte wird dir aber nicht antworten, weil sie weder zu lesen noch zu schreiben versteht. Höchstens die Schwester –; Ja, die Schwester ist ein ungewöhnlich kluges Mädchen! Aber ich muß doch über dich staunen, mein Bester: früher diese Gleichgültigkeit, und jetzt dieses Interesse! Das kommt alles von deiner einsamen Lebensweise!«

Aratow entgegnete nichts auf diese Bemerkung, schrieb sich die Kasaner Adresse auf und ging.

Als er vorhin zu Kupfer fuhr, drückte sein Gesicht Erregung, Erstaunen und Erwartung aus. Jetzt ging er mit gleichmäßigen Schritten, die Augen gesenkt, den Hut tief in die Stirn gedrückt, nach Hause. Fast jeder Vorbeigehende sah ihm mit forschenden Blicken nach. Er gab aber auf die Vorbeigehenden nicht acht: ganz anders als damals auf dem Boulevard.

»Unselige Klara! Wahnsinnige Klara!« klang es in seiner Seele.

XVIII

Inhaltsverzeichnis


Als Platonida Iwanowna am nächsten Morgen zu ihm hereinkam, war er noch immer im gleichen Zustand. Seine Schwäche war nicht vergangen, und er zog es vor, im Bett zu bleiben. Seine Blässe machte Platonida Iwanowna besondere Angst.

Gott, was ist denn das? fragte sie sich. Er hat keinen Tropfen Blut im Gesicht, will die Bouillon nicht mal versuchen, liegt da und lächelt und behauptet dabei, daß ihm nichts fehle!

Er wies auch das Frühstück zurück.

»Was hast du denn, Jascha?« fragte sie ihn. »Willst du denn den ganzen Tag so liegen?«

»Warum auch nicht?« antwortete Aratow freundlich.

Auch dieser freundliche Ton gefiel Platonida Iwanowna nicht. Aratow hatte das Aussehen eines Menschen, der ein großes, für ihn sehr angenehmes Geheimnis erfahren hat, das er eifersüchtig für sich bewahrt. Er wartete auf die Nacht weniger mit Ungeduld als mit Neugier.

Was kommt nun weiter? fragte er sich. Was kann noch kommen?

Er staunte nicht mehr. Er zweifelte nicht mehr, daß er mit Klara verkehrte; er zweifelte auch nicht mehr, daß sie einander liebten. Was kann aber aus einer solchen Liebe herauskommen? Er erinnerte sich jenes Kusses, und ein wunderbarer Wonneschauer durchlief alle seine Glieder.

Einen solchen Kuß tauschten wohl Romeo und Julia aus! dachte er sich. Das nächste Mal werde ich mich aber besser beherrschen. Ich werde sie besitzen. Sie wird mit einem Kranz kleiner Rosen auf den schwarzen Locken kommen …

Und weiter? Wir können doch nicht zusammenleben! Also muß ich wohl sterben, um mit ihr zusammen zu sein? Kam sie vielleicht deswegen her, um mich so zu nehmen?

»Was ist denn dabei? Warum soll ich auch nicht sterben? Den Tod fürchte ich jetzt gar nicht. Er kann mich doch nicht vernichten! Im Gegenteil, nur so und dort werde ich glücklich sein – wie ich im Leben niemals glücklich war und wie sie es auch niemals war. Wir sind ja beide unberührt! Oh, dieser Kuß!«

Platonida Iwanowna kam jeden Augenblick zu ihm herein; sie quälte ihn nicht mit Fragen, sondern sah ihn nur an, flüsterte, seufzte und ging wieder hinaus. Nun wies er auch das Mittagessen zurück. Das war schon höchst bedenklich. Die Alte wandte sich daher an ihren Bekannten, den Revierarzt, dem sie nur aus dem Grunde vertraute, weil er nicht trank und eine Deutsche zur Frau hatte. Aratow wunderte sich, als sie ihn zu ihm brachte; Platonida Iwanowna bat aber ihren Jascha so inständig, Paramon Paramonytsch (so hieß der Arzt) zu erlauben, ihn zu untersuchen – und wenn auch nur ihr zuliebe! –, daß Aratow einwilligte. Paramon Paramonytsch befühlte seinen Puls, ließ sich die Zunge zeigen, stellte einige Fragen und erklärte schließlich, daß er ihn auskultieren müsse. Aratow war so friedfertig gestimmt, daß er auch dies erlaubte. Der Arzt entblößte behutsam seine Brust, beklopfte sie vorsichtig, behorchte sie, murmelte etwas, verschrieb Tropfen und eine Mixtur und riet ihm, vor allen Dingen möglichst Ruhe zu bewahren und alle Aufregungen von sich fernzuhalten.