Ein guter Mensch ist schwer zu finden

Die Großmutter wollte nicht nach Florida. Sie wollte ein paar Verwandte im östlichen Tennessee besuchen und ergriff jede Gelegenheit, um Bailey umzustimmen. Bailey war der Sohn, bei dem sie wohnte, ihr einziger Junge. Er saß auf der Stuhlkante am Tisch und beugte sich über den orangefarbenen Sportteil des Journal. »Schau doch mal her, Bailey«, sagte sie, »sieh dir das an und lies«, und sie stand da, die eine Hand auf ihre magere Hüfte gestützt, und mit der anderen wedelte sie ihm mit ihrem Teil der Zeitung vor der Glatze herum. »Dieser Kerl da, der sich selber Outlaw nennt, ist aus dem Zuchthaus ausgebrochen und in Richtung Florida unterwegs, und hier steht, was er den ganzen Leuten angetan hat. Lies es einfach mal. Ich würde mit meinen Kindern nirgends hinfahren, wo sich so ein Krimineller frei herumtreibt. Ich könnt das nicht vor meinem Gewissen verantworten.«

Bailey hob nicht die Augen von seiner Lektüre, also drehte sie sich schnell um und wandte sich an die Mutter der Kinder, eine junge Frau in langen Hosen, deren Gesicht so rund und harmlos wie ein Kohlkopf war; sie hatte ein grünes Kopftuch umgebunden, von dem oben zwei Zipfel abstanden wie Hasenohren. Sie saß auf dem Sofa und fütterte das Baby mit Aprikosen aus einem Glas. »Die Kinder waren schon mal in Florida«, sagt die alte Dame. »Ihr solltet sie zur Abwechslung mal irgendwo anders hin mitnehmen, damit sie verschiedene Teile der Welt sehen und ihren Horizont erweitern. Sie sind noch nie in Ost-Tennessee gewesen.«

Die Mutter der Kinder schien sie nicht zu hören, aber der achtjährige Junge, John Wesley, ein stämmiges Kind mit Brille, sagte: »Wenn du nicht nach Florida willst, warum bleibst denn dann nicht daheim?« Er und das kleine Mädchen, June Star, saßen auf dem Fußboden und lasen die Comicseiten.

»Sie würd nicht daheimbleiben, auch wenn sie dafür einen Tag lang Königin wär«, sagte June Star, ohne den blonden Kopf zu heben.

»Ja, und was würdet ihr machen, wenn dieser Bursche, dieser Outlaw, euch schnappen würde?«, fragte die Großmutter.

»Ich tät ihm eine schmieren«, sagte John Wesley.

»Die bleibt nicht mal für ne Million Mäuse daheim«, sagte June Star. »Hat Angst, sie könnt was verpassen. Sie muss überall dabei sein, wo wir hingehn.«

»In Ordnung, mein Fräulein«, sagte die Großmutter. »Denk nur dran, wenn ich dir das nächste Mal wieder Locken machen soll.«

June Star sagte, ihr Haar sei von Natur aus lockig.

Am nächsten Morgen war die Großmutter die Erste, die abfahrbereit im Wagen saß. Sie hatte ihren großen schwarzen Koffer, der wie der Kopf eines Nilpferds aussah, in einer Ecke verstaut, und darunter hatte sie den Korb mit Pitty Sing, ihrem Kater, versteckt. Sie wollte das Tier nicht drei Tage allein im Haus lassen, denn es würde sie zu sehr vermissen, und sie fürchtete, es könnte zufällig einen der Gasbrenner streifen und ersticken. Ihr Sohn Bailey mochte es nicht, wenn man mit einer Katze in einem Motel ankam.

Sie saß mitten auf dem Rücksitz, rechts und links von ihr John Wesley und June Star. Bailey und die Mutter der Kinder mit dem Baby saßen vorn, und sie verließen Atlanta um acht Uhr fünfundvierzig mit 55890 Meilen auf dem Tacho. Die Großmutter notierte den Stand, weil sie meinte, es sei interessant, bei der Rückkehr sagen zu können, wie viele Meilen sie gefahren waren. Sie brauchten zwanzig Minuten, bis sie am Stadtrand waren.

Die alte Dame machte es sich bequem, zog die weißen Baumwollhandschuhe aus und legte sie zusammen mit ihrer Handtasche hinten auf die Ablage. Die Mutter der Kinder trug noch immer ihre Hose und das grüne Tuch um den Kopf, aber die Großmutter trug einen marineblauen Strohhut mit einem Bund weißer Veilchen auf der Krempe und ein marineblaues Kleid, bedruckt mit weißen Pünktchen. Kragen und Manschetten waren aus weißem, mit Spitzen besetztem Organdy, und an den Ausschnitt hatte sie sich einen Strauß aus violetten Stoffveilchen gesteckt, der ein Duftkissen enthielt. Sollten sie verunglücken, würde jeder, der sie tot auf der Landstraße liegen sah, sofort wissen, dass sie eine Dame war.

Sie sagte, sie hätten heute bestimmt ein gutes Ausflugswetter, nicht zu heiß und nicht zu kalt, und sie erinnerte Bailey daran, dass die Höchstgeschwindigkeit fünfundfünfzig Meilen in der Stunde betrug und die Streifenpolizisten sich hinter Reklameschildern und kleinen Baumgruppen versteckten und hinter einem herjagten, noch bevor man abbremsen konnte. Sie wies auf Sehenswürdigkeiten hin: auf Stone Mountain; auf den blauen Granit, den man manchmal zu beiden Seiten der Straße sehen konnte; auf die hellviolett gestreiften, leuchtend roten Lehmböschungen und auf die verschiedenen Sorten von Getreide, das in grünen Spitzenmustern den Boden bedeckte. Die Bäume glänzten silbrig weiß im Sonnenlicht, und noch der unscheinbarste Baum funkelte. Die Kinder lasen Comichefte, und ihre Mutter war wieder eingeschlafen.

»Fahren wir schnell durch Georgia, damit wirs nicht so lang sehn müssen«, sagte John Wesley.

»Wenn ich ein kleiner Junge wäre«, sagte die Großmutter, »dann würde ich nicht so von meinem Heimatstaat reden. Tennessee hat Berge, und Georgia hat Hügel.«

»Tennessee ist bloß ne Müllhalde für Hinterwäldler«, sagte John Wesley, »und Georgia ist genauso ein blöder Staat.«

»Du sagst es«, pflichtete June Star ihm bei.

»Zu meiner Zeit«, sagte die Großmutter und faltete ihre dünnen, stark geäderten Hände, »hatten Kinder mehr Respekt vor ihrem Heimatstaat und vor ihren Eltern und vor allem Übrigen. Damals wussten die Leute, was sich gehört. Oh, schaut mal, das niedliche kleine Negerlein!«, sagte sie und zeigte auf ein Negerkind, das an der Tür einer Hütte stand. »Gäb das jetzt nicht ein gutes Bild?«, fragte sie, und alle drehten sich um und sahen durchs Rückfenster auf den kleinen Neger. Er winkte ihnen zu.

»Er hatte gar keine Hose an«, sagte June Star.

»Wahrscheinlich hat er keine«, erklärte die Großmutter. »Kleine Nigger auf dem Land haben nicht so Sachen wie wir. Wenn ich malen könnt, würd ich so was malen«, sagte sie.

Die Kinder tauschten ihre Comichefte aus.

Die Großmutter bot an, das Baby zu halten, und die Mutter der Kinder reichte es ihr über die Lehne nach hinten. Sie setzte es auf ihre Knie, ließ es reiten und erzählte ihm von den Dingen, an denen sie vorbeikamen. Sie rollte die Augen und schnitt Gesichter und stupste mit ihrem ledrigen mageren Kopf leicht gegen das weiche Kindergesicht. Manchmal lächelte es sie vage an. Sie fuhren an einem großen Baumwollfeld vorbei, in dem eingezäunt fünf oder sechs Gräber lagen, wie eine kleine Insel. »Seht doch den Friedhof!«, sagte die Großmutter und deutete hinüber. »Das war früher das Familiengrab. Es gehörte zur Plantage.«

»Wo ist die Plantage?«, fragte John Wesley.

»Vom Winde verweht«, sagte die Großmutter. »Ha, ha!«

Als die Kinder alle mitgebrachten Comichefte ausgelesen hatten, packten sie ihren Proviant aus. Die Großmutter aß ein Sandwich mit Erdnussbutter und eine Olive, und sie ließ nicht zu, dass die Kinder ihre leere Schachtel und die Papierservietten aus dem Fenster warfen. Als es für sie nichts mehr zu tun gab, spielten sie ein Spiel, bei dem sie sich eine Wolke aussuchten und die beiden anderen raten ließen, woran ihre Form erinnerte. John Wesley wählte eine, die wie eine Kuh aussah, und June Star erriet es, und John Wesley sagte, nein, ein Auto, und June Star sagte, er habe gemogelt, und sie gerieten sich über die Großmutter hinweg in die Haare.

Die Großmutter sagte, sie würde ihnen eine Geschichte erzählen, wenn sie sich ruhig verhielten. Beim Geschichtenerzählen rollte sie immer die Augen, wackelte mit dem Kopf und wurde sehr dramatisch. Sie erzählte, als sie noch ein junges Fräulein gewesen sei, habe ihr einmal ein Mr. Edgar Atkins Teagarden aus Jasper in Georgia den Hof gemacht. Sie sagte, er habe sehr gut ausgesehen und sei ein Gentleman gewesen und habe ihr jeden Samstagnachmittag eine Wassermelone gebracht, in die er seine Initialen geschnitzt hatte, also E.A.T. Und eines Samstags, sagte sie, brachte Mr. Teagarden die Wassermelone vorbei, aber niemand war zu Hause, und er legte sie auf der Vorderveranda ab und fuhr mit seinem Einspänner nach Jasper zurück, aber sie bekam nie ihre Wassermelone, sagte sie, weil ein Niggerjunge sie aß, als er die Initialen gesehen hatte: E.A.T.! Diese Geschichte reizte John Wesley so zum Lachen, dass er gar nicht aufhören konnte zu kichern, aber June Star fand sie überhaupt nicht komisch. Sie sagte, sie würde keinen Mann bloß deshalb heiraten, weil er ihr jeden Samstag eine Wassermelone bringe. Die Großmutter sagte, sie hätte gut daran getan, Mr. Teagarden zu heiraten, weil er ein Gentleman gewesen sei und Coca-Cola-Aktien gekauft habe, gleich nachdem sie zum ersten Mal ausgegeben worden seien, und dass er erst vor ein paar Jahren als sehr wohlhabender Mann gestorben sei.

Am Tower machten sie halt wegen der gegrillten Sandwiches. Der Tower war Tankstelle und Tanzdiele in einem, teils aus Stuck und teils aus Holz, und lag in einer Lichtung außerhalb von Timothy. Er gehörte einem dicken Mann namens Red Sammy Butts, und am Gebäude waren Schilder, und an der Straße verkündeten meilenweit in beiden Richtungen weitere Plakate: »PROBIERT RED SAMMYS BERÜHMTES BARBECUE! NICHTS GEHT ÜBER RED SAMMYS BERÜHMTEN GRILL! RED SAM! DER DICKE BURSCHE MIT DEM LUSTIGEN LACHEN! EIN KRIEGSVETERAN! RED SAMMY IST FÜR EUCH DA!«

Red Sammy lag vor dem Tower auf dem Erdboden mit dem Kopf unter einem Lastwagen, während ein grauer, etwa einen Fuß großer Affe, der an einem kleinen Zedrachbaum angekettet war, in seiner Nähe zeterte. Sobald der Affe die Kinder aus dem Wagen springen und auf sich zulaufen sah, flüchtete er sich in den Baum und kletterte auf den höchsten Ast.

Das Innere des Tower war ein langer dunkler Raum mit einer Theke an dem einen Ende und Tischen am anderen, und in der Mitte war die Tanzfläche. Sie nahmen an einem Holztisch neben dem Musikautomaten Platz, und Red Sams Frau, eine große, braungebrannte Frau, deren Haar und Augen heller waren als ihre Haut, kam und nahm ihre Bestellung auf. Die Mutter der Kinder steckte ein Zehncentstück in den Automaten und spielte den Tennessee-Walzer, und die Großmutter sagte, bei der Melodie bekomme sie immer Lust zu tanzen. Sie fragte Bailey, ob er tanzen wolle, aber er sah sie nur grimmig an. Er hatte kein so sonniges Gemüt wie sie, und Ausflüge machten ihn nervös. Die braunen Augen der Großmutter strahlten. Sie wiegte den Kopf im Takt und tat, als tanzte sie auf ihrem Stuhl. June Star wollte ein Stück, zu dem sie steppen konnte, und so warf die Mutter der Kinder noch eine Münze ein und spielte ein schnelles Stück, und June Star ging auf die Tanzfläche und tanzte ihre Stepptanz-Nummer.

»Ist sie nicht süß?«, sagte Red Sams Frau und lehnte sich über die Theke. »Willst du nicht dableiben und mein kleines Mädchen sein?«

»Nein, ganz bestimmt nicht«, sagte June Star. »Nicht für ne Million Mäuse möcht ich in soner Bruchbude wohnen!«, und damit rannte sie zurück an den Tisch.

»Ist sie nicht süß?«, wiederholte die Frau und verzog höflich den Mund.

»Schämst du dich gar nicht?«, zischte die Großmutter.

Red Sam kam herein und sagte zu seiner Frau, sie solle nicht länger an der Theke herumlungern, sondern sich mit der Bestellung beeilen. Seine Kakihose reichte bis knapp unter die Hüftknochen, und sein Bauch hing wie ein Mehlsack darüber und schwabbelte unter seinem Hemd hin und her. Er kam näher und setzte sich an einen Nachbartisch, wobei er einen Laut zwischen Seufzer und Jodler von sich gab. »Man hat keine Chance«, sagte er. »Einfach keine Chance«, und er wischte sich das verschwitzte rote Gesicht mit einem grauen Taschentuch ab. »Heutzutage weiß man nicht mehr, wem man trauen kann«, sagte er. »Oder etwa nicht?«

»Die Leute sind auf jeden Fall nicht mehr so nett wie früher«, erklärte die Großmutter.

»Zwei Kerle sind letzte Woche vorbeigekommen«, sagte Red Sammy, »in nem Chrysler. Es war ne alte Karre, aber sie lief noch gut, und diese Jungs sahen für mich auch okay aus. Sagten, sie arbeiten in der Mühle, und wissen Sie, was? Hab ich für ihr Benzin etwa kassiert? Warum hab ich das bloß gemacht?«

»Weil Sie ein guter Mensch sind!«, sagte die Großmutter spontan.

»Ja, Ma’am, da könnten Sie recht haben«, sagte Red Sam, als hätte ihn die Antwort überrascht.

Seine Frau brachte das bestellte Essen; sie trug alle fünf Teller auf einmal ohne ein Tablett, zwei in jeder Hand, und einen balancierte sie auf dem Arm. »Keiner Menschenseele auf Gottes Erdboden kann man noch trauen«, sagte sie. »Und da kann ich niemand ausnehmen, niemand nicht«, wiederholte sie mit einem Blick auf Red Sammy.

»Haben Sie von dem Verbrecher gelesen, dem Outlaw, der ausgebrochen ist?«, fragte die Großmutter.

»Es würd mich kein bisschen wundern, wenn er den Laden hier überfallen tät«, sagte die Frau. »Wenn er davon hört, täts mich überhaupt nicht wundern, wenn er hier aufkreuzt. Wenn er hört, es sind auch nur zwei Cent in der Kasse, würds mich nicht die Spur wundern, wenn er –«

»Das reicht«, sagte Red Sam. »Bring jetzt den Leuten ihre Colas«, und die Frau zog ab, um die restlichen Sachen zu bringen.

»Ein guter Mensch ist schwer zu finden«, sagte Red Sammy. »Alles wird schlimmer. Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, da konnte man aus dem Haus gehen, ohne die Fliegentür zu verriegeln. Aber das ist vorbei.«

Er und die Großmutter unterhielten sich über die guten alten Zeiten. Die alte Dame sagte, ihrer Meinung nach sei allein Europa schuld an den jetzigen Verhältnissen. Sie sagte, so, wie Europa sich aufführe, könnte man denken, wir seien aus Geld gemacht, und Red Sam sagte, es sei zwecklos, darüber zu reden, sie habe vollkommen recht. Die Kinder rannten in das weiße Sonnenlicht hinaus und beobachteten den Affen in dem filigranen Zedrachbaum. Er war damit beschäftigt, sich zu flöhen, und zerknackte jeden einzelnen Floh zwischen den Zähnen, als wäre es ein Leckerbissen.

Dann fuhren sie weiter, in den heißen Nachmittag hinein. Die Großmutter döste immer wieder ein und wachte alle paar Minuten von ihrem eigenen Schnarchen auf. Hinter Toomsboro wachte sie auf, und ihr fiel eine alte Plantage ein, die sie in dieser Gegend einmal besucht hatte, als sie noch eine junge Dame gewesen war. Sie sagte, das Haus habe an der Fassade sechs weiße Säulen gehabt und eine Eichenallee habe bis zum Haus geführt, und rechts und links von der Haustür hätten zwei kleine hölzerne Lauben gestanden, und da konnte man sich mit seinem Verehrer nach einem Spaziergang durch den Garten niederlassen. Sie erinnerte sich noch genau, wo man abbiegen musste, wenn man dort hinwollte. Sie wusste, Bailey würde keine Zeit verlieren wollen, bloß um sich ein altes Haus anzusehen, aber je länger sie darüber sprach, desto mehr wünschte sie sich, es noch einmal wiederzusehen und festzustellen, ob die kleinen Zwillingslauben noch existierten. »Es gab einen Geheimschrank in dem Haus«, sagte sie listig, was nicht stimmte, doch sie wünschte, es wäre wahr, »und man hat sich erzählt, dass dort das ganze Familiensilber versteckt worden ist, als Sherman hier durchkam, aber es ist nie gefunden worden …«

»He!«, sagte John Wesley. »Gehn wir doch nachsehn! Wir findens bestimmt! Wir klopfen die ganze Holztäfelung ab und findens! Wer wohnt jetzt da? Wo biegt man ab? He, Pop, können wir nicht dort abbiegen?«

»Wir haben noch nie ein Haus mit einem Geheimschrank gesehn!«, kreischte June Star. »Fahrn wir doch zu dem Haus mit dem Geheimschrank! He, Pop, können wir nicht zu dem Haus mit dem Geheimschrank fahrn?«

»Es ist nicht weit von hier, das weiß ich«, sagte die Großmutter. »Man braucht nicht mehr als zwanzig Minuten.«

Bailey schaute ungerührt geradeaus. Sein Unterkiefer war so hart wie ein Hufeisen. »Nein«, sagte er.

Die Kinder fingen an zu johlen und zu krakeelen, sie wollten das Haus mit dem Geheimschrank sehen. John Wesley stieß mit dem Fuß gegen die Lehne des Fahrersitzes, und June Star hing über der Schulter ihrer Mutter und jammerte ihr verzweifelt ins Ohr, nie dürften sie sich amüsieren, nicht einmal in den Ferien, und nie dürften sie machen, was sie gern machen wollten. Das Baby fing an zu plärren, und John Wesley stieß so heftig gegen die Lehne des Vordersitzes, dass sein Vater die Stöße in den Nieren spürte.

»In Gottes Namen«, schrie er, fuhr den Wagen an den Straßenrand und hielt an. »Wollt ihr mal alle den Mund halten? Wollt ihr mal alle nur für eine Sekunde den Mund halten? Wenn ihr nicht aufhört, fahren wir überhaupt nirgendshin.«

»Es wäre sehr lehrreich für sie«, murmelte die Großmutter.

»In Gottes Namen«, sagte Bailey, »aber damit das klar ist: Das ist das einzige Mal, dass wir wegen so was haltmachen. Nur dieses eine Mal.«

»Die Staubstraße, die man nehmen muss, liegt etwa eine Meile hinter uns«, wies ihn die Großmutter an. »Ich hab sie bemerkt, als wir vorbeigefahren sind.«

»Eine Staubstraße«, stöhnte Bailey.

Als sie gewendet hatten und auf die Abzweigung zusteuerten, fielen der Großmutter noch andere Einzelheiten über das Haus ein, das schöne Oberlicht über der Eingangstür und der Kronleuchter in der Diele. John Wesley sagte, der Geheimschrank sei wahrscheinlich im Kamin.

»Ihr könnt nicht ins Haus rein«, sagte Bailey. »Ihr wisst doch gar nicht, wer dort jetzt wohnt.«

»Solange ihr mit den Leuten vor dem Haus redet, lauf ich hinten rum und steig durch ein Fenster ein«, schlug John Wesley vor.

»Wir bleiben alle im Wagen«, sagte seine Mutter.

Sie bogen in die Staubstraße ein, und der Wagen rumpelte in einer rötlichen Staubwolke vorwärts. Die Großmutter erinnerte an die Zeiten, als es noch keine asphaltierten Straßen gab und dreißig Meilen eine Tagesreise bedeuteten. Die Staubstraße führte durch hügeliges Gelände, und es gab abrupt auftauchende ausgewaschene Rillen und scharfe Kurven an gefährlichen Böschungen. Mitunter waren sie oben auf einem Hügel und blickten ringsum meilenweit über blaue Baumgipfel, und im nächsten Moment passierten sie eine rote Senke mit staubbedeckten Bäumen, die auf sie hinabsahen.

»Wenn jetzt nicht bald dieses Haus auftaucht«, sagte Bailey, »mache ich kehrt.«

Die Straße sah aus, als hätte sie seit Monaten niemand mehr befahren.

»Es ist nicht mehr sehr weit«, sagte die Großmutter, und noch indem sie es sagte, kam ihr ein schrecklicher Gedanke. Er war so peinlich, dass ihr Gesicht rot anlief, die Augen sich weiteten und die Füße zuckten, sodass ihr Koffer umfiel. Im selben Moment flog das Zeitungspapier, das sie über den Korb darunter gebreitet hatte, mit einem Fauchen in die Höhe, und Pitty Sing, der Kater, sprang auf Baileys Schulter.

Die Kinder fielen auf den Boden, ihre Mutter, die das Baby umklammert hielt, wurde aus der Tür und auf die Erde geschleudert, und die alte Dame kippte auf den Vordersitz. Der Wagen überschlug sich und landete mit der rechten Seite nach oben in einem Graben neben der Straße. Bailey blieb auf dem Fahrersitz, und der Kater – grau gestreift mit breitem weißem Gesicht und orangefarbener Nase – klammerte sich an seinen Hals wie eine Raupe.

Sobald die Kinder merkten, dass sie Arme und Beine bewegen konnten, krochen sie aus dem Wagen und schrien: »Wir haben einen Unfall gehabt!« Die Großmutter lag zusammengekrümmt unter dem Armaturenbrett und hoffte, sie habe sich verletzt, damit Bailey seine Wut nicht sofort an ihr auslassen würde. Der schreckliche Gedanke, der ihr vor dem Unfall gekommen war, war die Erkenntnis, dass sich das Haus, an das sie sich so lebhaft erinnerte, nicht in Georgia befand, sondern in Tennessee.

Bailey zerrte den Kater mit beiden Händen von seinem Hals und schleuderte ihn aus dem Fenster gegen den Stamm einer Kiefer. Dann stieg er aus dem Wagen und sah sich nach der Mutter der Kinder um. Sie saß am Rand des ausgewaschenen roten Grabens und hielt das schreiende Baby, doch sie hatte nur eine Schnittwunde im Gesicht und eine gebrochene Schulter. »Wir haben einen Unfall gehabt!«, schrien die Kinder, außer sich vor Begeisterung.

»Aber niemand ist tot«, sagte June Star enttäuscht, als die Großmutter aus dem Wagen humpelte; ihr Hut war immer noch an ihrem Haar befestigt, nur die abgerissene vordere Krempe stand keck in die Höhe und der Veilchenstrauß hing seitlich herunter. Bis auf die Kinder ließen sich alle im Graben nieder, um sich von dem Schock zu erholen. Sie zitterten am ganzen Leib.

»Vielleicht kommt ein Auto vorbei«, sagte die Mutter der Kinder mit heiserer Stimme.

»Ich glaube, ich habe eine innere Verletzung«, sagte die Großmutter und drückte eine Hand gegen die Seite, aber keiner antwortete ihr. Bailey klapperte mit den Zähnen. Er trug ein gelbes Sporthemd mit einem Muster aus leuchtend blauen Papageien, und sein Gesicht war so gelb wie das Hemd. Die Großmutter beschloss, nicht zu erwähnen, dass sich das Haus in Tennessee befand.

Die Straße lag etwa drei Meter über ihnen, und sie konnten nur die Gipfel der Bäume auf der anderen Straßenseite sehen. Hinter dem Graben, in dem sie saßen, waren noch mehr Wälder, hoch und dunkel und tief. Nach kurzer Zeit sahen sie in einiger Entfernung auf der Kuppe eines Hügels einen Wagen, der langsam näher kam, als ob die Insassen sie beobachteten. Die Großmutter stand auf und wedelte dramatisch mit beiden Armen, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der Wagen kam immer noch langsam näher, verschwand hinter einer Biegung und tauchte wieder auf, noch langsamer, auf dem höchsten Punkt des Hügels, über den sie gerade gekommen waren. Es war ein großes, schwarzes, ramponiertes Auto, das aussah wie ein Leichenwagen. Drei Männer saßen darin.

Direkt über ihnen hielt es an, und eine ganze Weile blickte der Fahrer unbewegt und ausdruckslos zu ihnen hinunter, ohne ein einziges Wort zu sagen. Dann wandte er den Kopf und murmelte den beiden anderen etwas zu, und sie stiegen aus. Der eine war ein feister Junge in schwarzer Hose und rotem Sweatshirt, auf das vorn ein silberner Hengst aufgeprägt war. Er stellte sich rechts von ihnen an den Graben und glotzte sie mit halb offenem Mund an, das Gesicht zu einem vagen Grinsen verzogen. Der andere trug eine Kakihose, eine grau gestreifte Jacke und einen grauen Hut, den er so tief in die Stirn gezogen hatte, dass sein Gesicht weitgehend verdeckt war. Er bewegte sich langsam auf die linke Seite. Keiner sagte ein Wort.

Der Fahrer stieg aus dem Wagen, stellte sich daneben und sah zu ihnen hinunter. Er war älter als die beiden anderen. Sein Haar war schon leicht ergraut, und er trug eine Brille mit silberner Fassung, was ihn gebildet aussehen ließ. Er hatte ein langes, faltiges Gesicht und trug weder Hemd noch Unterhemd. Er hatte Bluejeans an, die ihm zu eng waren, und hielt in der Hand einen schwarzen Hut und eine Pistole. Auch die beiden jüngeren Typen hatten Pistolen.

»Wir haben einen Unfall gehabt«, schrien die Kinder.

Die Großmutter hatte das seltsame Gefühl, der bebrillte Mann sei jemand, den sie kenne. Sein Gesicht war ihr so vertraut, als hätte sie ihn ihr Leben lang gekannt, aber sie konnte sich nicht darauf besinnen, wer er war. Er entfernte sich vom Wagen und stieg langsam die Böschung hinunter, wobei er seine Füße vorsichtig aufsetzte, um nicht auszurutschen. Er trug braun weiße Schuhe und keine Socken, und seine Knöchel waren rot und dünn. »Guten Tag«, sagte er. »Wie ich sehe, hats euch ein bisschen durchgerüttelt.«

»Wir haben uns zweimal überschlagen!«, bekräftigte die Großmutter.

»Einmal«, korrigierte er sie. »Wir haben gesehn, wies passiert ist. Schau mal nach, ob die Karre noch läuft, Hiram«, sagte er gelassen zu dem Jungen mit dem grauen Hut.

»Für was haben Sie die Knarre?«, fragte John Wesley. »Was wolln Sie mit der Knarre machen?«

»Lady«, sagte der Mann zur Mutter der Kinder, »würde es Ihnen was ausmachen, den Kindern zu sagen, sie sollen sich neben Sie setzen? Kinder machen mich nervös. Ich möchte, dass Sie sich alle miteinander dort hinsetzen, wo Sie jetzt sind.«

»Wieso erzähln Sie uns, was wir tun sollen?«, fragte June Star.

Der Wald hinter ihnen klaffte wie ein dunkles offenes Maul.

»Kommt her«, sagte die Mutter.

»Hören Sie«, begann plötzlich Bailey, »wir sind in einer misslichen Lage. Wir sind –«

Die Großmutter stieß einen Schrei aus. Sie rappelte sich hoch und sah den Mann mit großen Augen an. »Sie sind der Outlaw!«, sagte sie. »Ich hab Sie gleich erkannt!«

»Jawohl, Ma’am«, sagte der Mann und lächelte leicht, als schmeichelte ihm das fast gegen seinen Willen, »aber es wäre besser für Sie alle gewesen, Lady, wenn Sie mich nicht erkannt hätten.«

Bailey drehte seinen Kopf heftig zur Seite und sagte etwas zu seiner Mutter, was sogar die Kinder schockierte. Die alte Dame begann zu weinen, und der Outlaw wurde rot. »Lady«, sagte er, »regen Sie sich nicht auf. Manchmal sagt der Mensch Sachen, die er gar nicht so meint. Ich glaub nicht, dass er das einklich hat sagen wollen.«

»Sie würden doch eine Dame nicht erschießen, nicht wahr«, sagte die Großmutter und holte ein sauberes Taschentuch unter ihrer Manschette hervor, mit dem sie sich die Augen betupfte.

Der Outlaw stocherte mit seiner Schuhspitze in der Erde, machte ein kleines Loch und scharrte es dann wieder zu. »Ich würds ungern tun«, sagte er.

»Hören Sie«, rief die Großmutter mit fast überschnappender Stimme, »ich weiß, dass Sie ein guter Mensch sind. Sie sehen kein bisschen so aus, als ob Sie aus einer ordinären Familie stammen. Sie kommen ganz bestimmt aus einem guten Elternhaus!«

»Ja, Ma’am«, sagte er, »meine Eltern sind die besten Menschen auf der Welt.« Wenn er lächelte, zeigte er eine Reihe kräftiger weißer Zähne. »Eine bessre Frau als meine Mutter gibts auf der ganzen Welt nicht, und mein Daddy hatte ein Herz aus purem Gold«, sagte er. Der Junge mit dem roten Sweatshirt war zu ihnen herübergekommen und stand da, die Pistole an der Hüfte. Der Outlaw hockte sich auf den Boden. »Pass auf die Kinder auf, Bobby Lee«, sagte er, »du weißt, sie machen mich nervös.« Er sah die sechs an, die zusammengekauert vor ihm saßen, und er wirkte betreten, als fiele ihm nichts ein, was er noch sagen könnte. »Keine Wolke am Himmel«, bemerkte er und sah nach oben. »Seh keine Sonne nicht, seh aber auch keine Wolke.«

»Ja, es ist ein wunderschöner Tag«, sagte die Großmutter. »Hören Sie«, fuhr sie fort, »Sie sollten sich nicht Outlaw nennen, ich weiß nämlich, dass Sie im Grunde Ihres Herzens ein guter Mensch sind. Ich brauch Sie nur ansehn, und ich weiß es.«

»Still jetzt!«, schrie Bailey. »Still! Haltet alle die Klappe und lasst mich machen!« Er kauerte sich nieder wie ein Läufer in Startposition, aber er rührte sich nicht von der Stelle.

»Vielen Dank für das Komplement«, sagte der Outlaw und zeichnete mit dem Griff seiner Pistole einen kleinen Kreis in die Erde.

»Es wird ne halbe Stunde dauern, bis der Wagen wieder in Ordnung ist«, rief Hiram und schaute über die aufgeklappte Kühlerhaube.

»Also, dann übernimmst du mit Bobby Lee erst einmal ihn und den kleinen Jungen und gehst mit ihnen nach drüben«, sagte der Outlaw und deutete auf Bailey und John Wesley. »Die Jungs wolln Sie was fragen«, sagte er zu Bailey. »Würden Sie bitte mit ihnen in den Wald rübergehn?«

»Aber hören Sie doch«, begann Bailey, »wir sind hier in einer ganz misslichen Lage! Niemand weiß, was los ist«, und die Stimme versagte ihm. Seine Augen waren so intensiv blau wie die Papageien auf seinem Hemd, und er rührte sich nicht.

Die Großmutter griff sich an den Kopf, um die Krempe ihres Huts zu richten, als wollte sie ihrem Sohn in den Wald folgen, doch auf einmal hatte sie das Ding in der Hand. Sie stand da und starrte es an, und dann ließ sie es zu Boden fallen. Hiram zog Bailey am Arm hoch, als würde er einem alten Mann beim Aufstehen helfen. John Wesley ergriff die Hand seines Vaters, und Bobby Lee ging hinter ihnen her. Sie gingen auf den Wald zu, und als sie den dunklen Waldrand erreicht hatten, drehte Bailey sich um, stützte sich gegen einen grauen nackten Kiefernstamm und rief: »Ich bin gleich wieder da, Mama, wart auf mich!«

»Komm sofort zurück!«, schrie seine Mutter mit gellender Stimme, aber sie verschwanden alle im Wald.

»Bailey, mein Junge!«, rief die Großmutter in melodramatischem Ton, merkte dann aber, dass sie den Outlaw ansah, der vor ihr auf dem Boden hockte. »Ich weiß einfach, dass Sie ein guter Mensch sind«, sagte sie verzweifelt. »Sie sind kein bisschen ordinär!«

»Nein, Ma’am, ich bin kein guter Mensch«, sagte der Outlaw nach einer Weile, als hätte er über ihre Äußerung ernsthaft nachgedacht, »aber ich bin auch nicht der schlechteste von der Welt. Mein Daddy hat immer gesagt, ich bin von ner anderen Rasse als meine Geschwister. Da gibts nämlich solche, hat Daddy gesagt, die leben einfach in den Tag hinein und stellen sich keine Fragen, und dann gibts andre, die wollen wissen, warum es so ist, und der Junge hier gehört zu der Sorte. Der will alles wissen!« Er setzte seinen schwarzen Hut auf, und plötzlich schaute er hoch und dann in die Ferne, tief in den Wald, und wirkte wieder betreten. »Tut mir leid, dass ich vor den Damen ohne Hemd dastehe«, sagte er und zog leicht die Schultern hoch. »Wir haben die Klamotten vergraben, die wir anhatten, als wir abgehauen sind, und jetzt müssen wir so zurechtkommen, bis wir was Bessres auftreiben. Die hier haben wir uns von Leuten geliehen, die wir getroffen haben«, erklärte er.

»Das macht doch überhaupt nichts«, sagte die Großmutter. »Vielleicht hat Bailey noch ein frisches Hemd in seinem Koffer.«

»Ich schau gleich selber nach«, sagte der Outlaw.

»Wo bringen Sie ihn hin?«, schrie die Mutter der Kinder.

»Daddy war selber ein Schlaumeier«, sagte der Outlaw, »dem hat man nichts anhängen können. Hat aber nie Ärger mit den Behörden gehabt. Kannte einfach die Tricks, um mit ihnen klarzukommen.«

»Auch Sie könnten ehrlich sein, wenn Sie es nur versuchen wollten«, sagte die Großmutter. »Stellen Sie sich vor, wie wunderbar es wäre, wenn Sie sich irgendwo niederlassen würden und ein schönes Leben hätten und nicht dauernd daran denken müssten, dass jemand hinter Ihnen her ist.«

Der Outlaw stocherte immer noch mit seinem Pistolengriff in der Erde herum, als dächte er darüber nach. »Ja, Ma’am, irgendwer ist immer hinter einem her«, murmelte er.

Die Großmutter bemerkte, wie seine knochigen Schulterblätter direkt unterhalb seines Huts hervorstanden, denn sie war aufgestanden und sah auf ihn hinunter. »Beten Sie jemals?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. Alles, was sie sah, war der schwarze Hut, der zwischen den Schulterblättern hin und her wackelte. »Nein, Ma’am«, sagte er.

Aus dem Wald hörte man einen Pistolenschuss, gleich darauf einen zweiten. Dann Stille. Die alte Dame wandte abrupt den Kopf. Sie konnte hören, wie der Wind durch die Gipfel der Bäume strich; es klang wie ein tiefes, zufriedenes Atemholen. »Bailey, mein Junge!«, rief sie.

»Ich war mal ne Zeit lang Gospelsänger«, sagte der Outlaw. »Bin schon so ziemlich alles gewesen. War in der Armee, zu Land und zu Wasser, im Inland und im Ausland, war zweimal verheiratet, war Bestatter, war bei der Eisenbahn, hab Mutter Erde umgepflügt, war in nem Tornado, hab mal gesehn, wie ein Mensch bei lebendigem Leib verbrannt ist.« Und er sah zur Mutter der Kinder und zu dem kleinen Mädchen hoch, die dicht beieinandersaßen, mit weißem Gesicht und glasigen Augen. »Ich hab sogar mal gesehn, wie man ne Frau ausgepeitscht hat«, sagte er.

»Beten Sie«, fing die Großmutter wieder an, »beten, beten –«

»Soweit ich weiß, bin ich nie ein böser Junge gewesen«, sagte der Outlaw fast träumerisch, »aber irgendwann hab ich mal was Falsches gemacht und bin im Zuchthaus gelandet. Da war ich lebendig begraben.« Und er sah hoch und erzwang mit seinem starren Blick ihre Aufmerksamkeit.

»Damals hätten Sie anfangen sollen zu beten«, sagte sie. »Was haben Sie denn angestellt, dass man Sie das erste Mal ins Zuchthaus gesteckt hat?«

»Dreh ich mich nach rechts, ist da ne Wand«, sagte der Outlaw und schaute wieder hoch in den wolkenlosen Himmel. »Dreh ich mich nach links, ist da ne Wand. Seh ich nach oben, ist da die Decke, seh ich nach unten, ist da der Fußboden. Ich hab vergessen, was ich gemacht hab, Lady. Ich hab gesessen und gesessen und hab versucht, mich zu erinnern, was ich denn bloß gemacht hab, und es ist mir bis zum heutigen Tag nicht eingefallen. Ab und zu denk ich, es fällt mir wieder ein, aber es ist mir nie eingefallen.«

»Vielleicht hat man Sie aus Versehen eingesperrt«, sagte die alte Dame vorsichtig.

»Nein, Ma’am«, sagte er. »Es war kein Versehen. Sie hatten meine Papiere.«

»Sie müssen etwas gestohlen haben«, sagte sie.

Der Outlaw grinste ein wenig. »Kein Mensch hatte was, was ich hätt haben wollen«, sagte er. »Ein Kopfdoktor im Zuchthaus hat behauptet, ich hätt meinen Daddy umgebracht, aber ich weiß, das war ne Lüge. Mein Daddy ist neunzehnneunzehn an der Grippe gestorben, und damit hab ich überhaupt nix zu tun gehabt. Man hat ihn auf dem Friedhof der Baptisten von Mount Hopewell begraben, und Sie können hingehn und selber nachsehn.«

»Wenn Sie beten würden«, sagte die alte Dame, »würde Jesus Ihnen helfen.«

»Stimmt«, sagte der Outlaw.

»Warum beten Sie dann nicht?«, fragte sie und erbebte plötzlich vor Freude.

»Ich will keine Hilfe«, sagte er, »ich komm gut allein klar.«

Bobby Lee und Hiram kamen aus dem Wald zurückgeschlendert. Bobby Lee zog ein gelbes Hemd mit leuchtend blauem Papageienmuster hinter sich her.

»Wirf mir das Hemd rüber, Bobby Lee«, sagte der Outlaw. Das Hemd flog zu ihm rüber und landete auf seiner Schulter, und er zog es an. Die Großmutter konnte nicht sagen, woran das Hemd sie erinnerte. »Nein, Lady«, sagte der Outlaw, während er das Hemd zuknöpfte, »ich hab herausgefunden, dass es nicht auf das Verbrechen ankommt. Man kann das eine tun oder das andere, einen Mann umbringen oder einen Reifen von seinem Wagen mitgehn lassen, das ist ganz egal, weil früher oder später vergisst man, was man gemacht hat, und wird einfach dafür bestraft.«

Die Mutter der Kinder hatte angefangen, Würgelaute von sich zu geben, als bekäme sie keine Luft. »Lady«, fragte der Outlaw, »möchten Sie und das kleine Mädchen nicht mit Bobby Lee und Hiram zu Ihrem Mann rübergehn?«

»Ja danke«, sagte die Mutter mit schwacher Stimme. Ihr linker Arm pendelte hilflos nach unten, und mit dem andern hielt sie das Baby, das eingeschlafen war. »Hilf der Lady mal hoch, Hiram«, sagte der Outlaw, als sie sich bemühte, aus dem Graben herauszuklettern, »und Bobby Lee, du nimmst das kleine Mädchen an die Hand.«

»Ich will nicht seine Hand halten«, sagte June Star. »Er hat was von einem Schwein.«

Der feiste Junge wurde rot und lachte und packte sie am Arm und zerrte sie hinein in den Wald, Hiram und der Mutter hinterher.

Als sie mit dem Outlaw allein war, merkte die Großmutter, dass sie ihre Stimme verloren hatte. Am Himmel war nicht eine einzige Wolke und auch keine Sonne. Um sie herum war nichts als Wald. Sie wollte ihm sagen, er müsse beten. Sie öffnete und schloss ein paarmal den Mund, bevor sie einen Laut herausbrachte. Schließlich wurde ihr bewusst, dass sie »Jesus, Jesus« sagte, womit sie meinte, Jesus wird Ihnen helfen, aber so, wie sie es sagte, klang es wie ein Fluch.

»Ja, Ma’am«, sagte der Outlaw, als würde er ihr zustimmen. »Jesus hat alles durcheinandergebracht. Bei Ihm wars der gleiche Fall wie bei mir, bloß dass er kein Verbrechen begangen hat, und in meinem Fall konnten sie beweisen, dass ich eins begangen hab, weil sie die Papiere hatten. Allerdings«, sagte er, »haben sie mir meine Papiere nie gezeigt. Darum unterschreib ich jetzt immer selber. Vor langer Zeit hab ich mir gesagt, lern deine Unterschrift schreiben und unterschreib alles, was du machst, und heb dir ne Kopie davon auf. Dann weißt du, was du gemacht hast, und kannst das Verbrechen mit der Strafe vergleichen und siehst, ob beides zusammenpasst, und am Ende hast du was in der Hand, mit dem du beweisen kannst, dass man dich schlecht behandelt hat. Ich nenn mich den Outlaw«, sagte er, »weil ich außerhalb vom Gesetz steh.«

Vom Wald her kam ein durchdringender Schrei und gleich darauf der Knall einer Pistole. »Halten Sies für richtig, Lady, dass der eine ganz furchtbar bestraft wird und der andere überhaupt nicht?«

»Jesus!«, rief die alte Dame. »Sie sind aus einem anständigen Elternhaus! Ich weiß, Sie würden keine Dame erschießen! Ich weiß, Sie kommen aus einer guten Familie! Beten Sie! Jesus, Sie sollten keine Dame erschießen! Ich geb Ihnen auch mein ganzes Geld!«

»Lady«, sagte der Outlaw und sah weit über sie hinweg in den Wald, »noch nie hat ne Leiche dem Leichenbestatter Trinkgeld gegeben.«

Zwei weitere Pistolenschüsse ertönten, und die Großmutter hob den Kopf wie eine verschrumpelte alte Truthenne, die nach Wasser kräht, und rief: »Bailey, mein Junge, Bailey, mein Junge!«, als bräche ihr das Herz.

»Jesus war der Einzige, der die Toten auferweckt hat«, fuhr der Outlaw fort, »und Er hätts nicht tun sollen. Er hat alles durcheinandergebracht. Wenn er getan hat, was er behauptet hat, dann bleibt einem nix andres übrig, als dass man alles fortwirft und ihm folgt, und wenn ers nicht getan hat, dann bleibt einem nix andres übrig, als dass man die paar Minuten, die einem bleiben, genießt, so gut man kann – nämlich man bringt jemand um oder zündet sein Haus an oder tut ihm sonst was Gemeines an; es gibt kein andres Vergnügen, als wenn man was Gemeines tut«, sagte er, und jetzt knurrte er fast.

»Vielleicht hat Er die Toten gar nicht auferweckt«, murmelte die alte Dame, die nicht mehr wusste, was sie sagte, und ihr wurde so schwindlig, dass sie mit verrenkten Beinen in den Graben rutschte.

»Ich bin nicht dabei gewesen, deshalb kann ich nicht sagen, Er hats nicht getan«, sagte der Outlaw. »Ich wollt, ich wär dabei gewesen«, sagte er und schlug mit der Faust auf den Boden. »Es ist nicht recht, dass ich nicht dabei gewesen bin, weil, wenn ich dabei gewesen wär, dann wüsste ichs. Hören Sie, Lady«, sagte er mit hoher Stimme, »wär ich dabei gewesen, dann hätt ichs gewusst und wär nicht so, wie ich jetzt bin.« Es klang, als würde seine Stimme gleich brechen, und die Großmutter kam für einen Augenblick zu sich. Dicht vor ihrem Gesicht sah sie das des Mannes, verzerrt, als wäre er den Tränen nahe, und sie murmelte: »Nicht doch, du bist doch eins von meinen Babys. Du bist eins von meinen eigenen Kindern!« Sie streckte die Hand aus und berührte ihn an der Schulter. Der Outlaw zuckte zurück wie von einer Schlange gebissen und schoss ihr dreimal in die Brust. Dann legte er seine Pistole auf den Boden, nahm seine Brille ab und begann sie zu putzen.

Hiram und Bobby Lee kamen aus dem Wald zurück und stellten sich an den Rand des Grabens. Sie sahen auf die Großmutter hinunter, die in einer Blutlache halb saß und halb lag, die Beine wie ein Kind unter sich gekreuzt und das Gesicht lächelnd zum wolkenlosen Himmel erhoben.

Ohne seine Brille waren die Augen des Outlaws rot gerändert und blass und wirkten wehrlos. »Schafft sie weg und werft sie dorthin, wo ihr die andern hingeworfen habt«, sagte er und hob den Kater hoch, der sich an seinem Bein rieb.

»Die konnte vielleicht reden, wie?«, sagte Bobby Lee und rutschte mit einem Jauchzer in den Graben.

»Sie wär ne gute Frau gewesen«, sagte der Outlaw, »wenn jemand da gewesen wär, der sie in jeder Minute ihres Lebens erschossen hätte.«

»Das wär lustig gewesen«, sagte Bobby Lee.

»Halt die Schnauze, Bobby Lee«, sagte der Outlaw. »Es gibt kein echtes Vergnügen im Leben.«

Eine späte Feindbegegnung

General Sash war einhundertvier Jahre alt. Er lebte bei seiner Enkelin, Sally Poker Sash, die zweiundsechzig Jahre alt war und jeden Abend auf Knien betete, er möge noch bis zu ihrem College-Abschluss am Leben bleiben. Der General scherte sich den Teufel um ihren Abschluss, doch er zweifelte nicht daran, dass er ihn noch erleben würde. Zu leben war für ihn so sehr zur Gewohnheit geworden, dass er sich einen anderen Zustand nicht vorstellen konnte. Eine Abschlussfeier entsprach nicht gerade seiner Vorstellung von vergnüglicher Unterhaltung, auch dann nicht, wenn man, wie sie sagte, damit rechnen konnte, dass er in seiner Uniform auf der Bühne sitzen würde. Sie sagte, es werde einen großen Festzug von Lehrern und Studenten im Talar geben, aber nichts, was es mit ihm in seiner Uniform aufnehmen könnte. Aber das wusste er schließlich, auch ohne dass sie es ihm sagte, und was den verdammten Festzug betraf, so konnte der ruhig zur Hölle und zurück marschieren, es würde ihn nicht aus der Ruhe bringen. Ihm gefielen Paraden mit Umzugswagen voller Miss Americas und Miss Daytona Beaches und Miss Queen Cotton Products. Mit Festzügen konnte er nichts anfangen, und ein Festzug mit lauter Lehrern war aus seiner Sicht etwa so tödlich wie der Styx. Trotzdem war er bereit, in seiner Uniform auf der Bühne zu sitzen, sodass ihn jedermann sehen konnte.

Sally Poker war sich nicht so sicher wie er, dass er noch bis zu ihrer Abschlussfeier leben würde. Er hatte sich in den letzten fünf Jahren nicht merklich verändert, aber sie hatte das Gefühl, dass sie um ihren Triumph betrogen werden könnte, weil ihr das schon so oft passiert war. In den letzten zwanzig Jahren hatte sie alljährlich an den Sommerkursen teilgenommen, denn zu Beginn ihrer Lehrtätigkeit hatte es so etwas wie akademische Grade noch nicht gegeben. Damals, erklärte sie, sei alles normal gewesen, aber nichts war mehr normal, seit sie sechzehn war, und in den vergangenen zwanzig Sommern musste sie, statt sich zu erholen, in der Gluthitze immer einen Koffer ins staatliche Lehrerseminar schleppen. Und wenn sie auch nach ihrer Rückkehr im Herbst immer ganz genau so unterrichtete, wie nicht zu unterrichten man ihr beigebracht hatte, so war das nur eine unzulängliche Rache, die ihren Gerechtigkeitssinn nicht befriedigte. Sie wollte den General an ihrer Abschlussfeier dabeihaben, weil sie zeigen wollte, wofür sie stand, oder, wie sie es ausdrückte, was ihr »familiärer Hintergrund« war, den die anderen nicht hatten. Diese anderen waren niemand Bestimmtes. Es waren einfach all die Emporkömmlinge, die die Welt auf den Kopf gestellt und jede anständige Lebensform aus dem Gleichgewicht gebracht hatten.

Sie hatte vor, im August auf diesem Podium zu stehen, hinter ihr auf der Bühne der General in seinem Rollstuhl, und sie hatte vor, erhobenen Hauptes dazustehen, so, als würde sie sagen: »Schaut ihn an! Schaut ihn euch an! Das ist mein Verwandter, ihr Emporkömmlinge! Dieser stattliche, rechtschaffene alte Mann, der die alten Traditionen vertritt! Würde! Ehre! Tapferkeit! Schaut ihn an!« Eines Nachts rief sie im Schlaf: »Schaut ihn an! Schaut ihn an!«, und als sie den Kopf zur Seite drehte, sah sie ihn hinter sich in seinem Rollstuhl sitzen mit einem schrecklichen Ausdruck im Gesicht und aller Kleider ledig bis auf den Generalshut, und sie war aufgewacht und hatte nicht gewagt, noch einmal einzuschlafen in jener Nacht.

Der General hingegen hätte nicht im Traum daran gedacht, an ihrer Abschlussfeier teilzunehmen, hätte sie nicht versprochen, dafür zu sorgen, dass er auf der Bühne saß. Er liebte es, auf einer Bühne zu sitzen. Er hielt sich noch immer für einen sehr ansehnlichen Mann. Als er noch hatte stehen können, war er nicht viel mehr als einen Meter sechzig groß gewesen, ein rassiger kleiner Kampfhahn. Er hatte weißes Haar, das ihm hinten bis zu den Schultern reichte, und er wollte kein Gebiss tragen, weil er meinte, sein Profil sei markanter ohne Zähne. Wenn er seine Galauniform trug, dann konnte nichts und niemand es mit ihm aufnehmen, das wusste er.

Es war nicht die gleiche Uniform, die er im Bürgerkrieg getragen hatte. Genau genommen war er in jenem Krieg gar kein General gewesen. Vermutlich Infanterist; er erinnerte sich nicht mehr, was er gewesen war; eigentlich erinnerte er sich überhaupt nicht mehr an jenen Krieg. Es war wie mit seinen Füßen, die nun verkümmert herabhingen, ohne Gefühl und mit einer blaugrauen Wolldecke zugedeckt, die Sally Poker gehäkelt hatte, als sie noch ein kleines Mädchen war. Er erinnerte sich nicht mehr an den Spanisch-Amerikanischen Krieg, in dem er einen Sohn verloren hatte; er erinnerte sich nicht einmal mehr an den Sohn. Mit Geschichte konnte er nichts anfangen, weil er nicht damit rechnete, ihr jemals wieder zu begegnen. Für ihn hatte Geschichte mit Festzügen zu tun und Leben mit Paraden, und er mochte Paraden. Die Leute fragten ihn immer, ob er sich an dies oder jenes erinnere – ein öder schwarzer Aufzug von Fragen nach der Vergangenheit. Nur ein einziges Ereignis in der Vergangenheit war überhaupt für ihn von Bedeutung, und von dem erzählte er gern: Das war, als er vor zwölf Jahren die Generalsuniform bekommen und an der Premiere teilgenommen hatte.

»Ich war damals bei dieser Premjere in Atlanta«, pflegte er Besuchern zu erzählen, die auf seiner vorderen Veranda saßen. »Unter lauter schönen Mädels. Daran war überhaupt nichts Provinzjelles. Gar nichts Provinzjelles. Hört zu. Es war ein absolut nationales Ereignis, und ich war dabei – oben auf der Bühne. Da waren keine Landeier dabei. Jeder musste zehn Dollar zahlen, um reinzukommen, und einen Smoking anziehen. Ich hab diese Uniform getragen. Ein bildschönes Mädel hatte sie mir am Nachmittag in einem Hotelzimmer übergeben.«

»Das war in einer Suite in dem Hotel, und ich war auch dabei, Papa«, sagte Sally Poker dann immer und zwinkerte den Besuchern zu. »Du warst nie allein mit irgendeiner jungen Dame in einem Hotelzimmer.«

»Und wenn, ich hätt schon gewusst, was tun«, erwiderte dann der alte General pfiffig, und die Besucher schütteten sich aus vor Lachen. »Das war ein Mädel aus Hollywood, Kalifornien, und sie war nicht beim Kintopp. Die haben dort so viele schöne Mädels, die sie nicht brauchen, sie nennen sie Statistinnen, und sie müssen bloß den Leuten Sachen übergeben und sich knipsen lassen. Sie haben mich mit ihr geknipst. Nein, es waren zwei. Eine auf jeder Seite und ich in der Mitte mit meinen Armen um die Taille von jeder von ihnen, und ihre Taille war kein bisschen breiter als ein halber Dollar.«

Und dann unterbrach ihn Sally Poker wieder. »Das war Mr. Govisky, der dir die Uniform gegeben hat, Papa, und mir hat er das allerfeinste Anstecksträußchen geschenkt. Ich wünschte wirklich, Sie hätten es gesehen. Es war aus Blütenblättern von Gladiolen gemacht, die man golden angemalt und so zusammengesteckt hatte, dass sie aussahen wie eine Rose. Es war ganz reizend. Ich wollte, Sie hätten es gesehen. Es war –«

»Es war so groß wie ihr Kopf«, knurrte der General. »Wie gesagt, sie verpassen mir diese Uniform und geben mir den Säbel, und sie sagen: ›Also, General, wir wollen jetzt aber nicht, dass Sie gegen uns in den Krieg ziehen. Wir wollen nur, dass Sie schnurstracks auf diese Bühne marschieren, wenn man Sie heute Abend vorstellt, und ein paar Fragen beantworten. Glauben Sie, Sie können das?‹ ›Und ob ich das kann!‹, sage ich. ›Hören Sie mal, ich hab schon Dinger gemacht, da waren Sie noch gar nicht auf der Welt‹, und sie haben gebrüllt vor Lachen.«

»Er war der Hit der ganzen Show«, pflegte Sally Poker dann zu sagen, aber sie erinnerte sich nicht besonders gern an diese Premiere wegen dem, was dabei mit ihren Schuhen passiert war. Sie hatte für diesen Anlass ein neues Kleid gekauft – ein langes, schwarzes Abendkleid aus Seidenkrepp mit einer Gürtelschnalle aus Strass und einem Bolero – und dazu ein Paar Silberschühchen, weil sie mit ihm auf die Bühne sollte und aufpassen, dass er nicht hinfiel. Alles war für sie organisiert worden. Eine echte Limousine holte sie zehn Minuten vor acht ab und brachte sie zum Theater. Sie fuhr genau zur richtigen Zeit unter der Markise vor, gleich nach den großen Stars und dem Direktor und dem Autor und dem Gouverneur und dem Bürgermeister und einigen weniger wichtigen Stars. Die Polizei regelte den Verkehr, damit es zu keinem Stau kam, und da waren Seile, um die Leute fernzuhalten, die keinen Zutritt hatten. Alle Leute, die nicht hineindurften, schauten zu, wie sie aus der Limousine stiegen und in den Schein der Lampen traten. Dann schritten sie durch das rotgoldene Foyer, und eine Platzanweiserin mit einer Mütze in den Farben der Konföderierten und kurzem Röckchen führte sie zu ihren reservierten Sitzen. Das Publikum war bereits da, und eine Gruppe der Vereinigten Töchter der Konföderation begann Beifall zu klatschen, als sie den General in seiner Uniform sahen, und daraufhin fingen alle anderen auch an zu klatschen. Einige weitere Prominente folgten hinter ihnen, und dann wurden die Türen geschlossen und die Lichter gelöscht.