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Nick Srnicek

Plattform-Kapitalismus

Aus dem Englischen
von Ursel Schäfer

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

© der E-Book-Ausgabe 2018 by Hamburger Edition

© der deutschen Ausgabe 2018 by Hamburger Edition

© der Originalausgabe 2017 by Nick Srnicek

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras

Inhalt

Einführung

IDer lange Niedergang

Das Ende der Nachkriegsausnahme

Die Dotcom-Blase wächst und platzt

Die Krise des Jahres 2008

Schlussfolgerung

IIPlattform-Kapitalismus

Werbeplattformen

Cloud-Plattformen

Industrieplattformen

Produktplattformen

Schlanke Plattformen

Schlussfolgerung

IIIGroße Plattform-Kriege

Tendenzen

Herausforderungen

Zukunftsperspektiven

Dank

Literaturverzeichnis

Zum Autor

Einführung

Wir hören heute immer wieder, dass wir in einer Zeit des tiefgreifenden Wandels leben. Begriffe wie Sharing Economy, Gig-Ökonomie und Vierte industrielle Revolution schwirren herum, zusammen mit verführerischen Bildern von Unternehmer_innengeist und viel beschworener Flexibilität. Als Arbeitnehmer_innen sollen wir von den Zwängen des stetigen Aufstiegs befreit werden und die Chance bekommen, unseren eigenen Weg zu gehen, Waren und Dienstleistungen zu verkaufen, die wir gerne anbieten möchten. Als Konsument_innen stehen wir vor einem Füllhorn von On-Demand-Dienstleistungen und dem Versprechen, dass miteinander vernetzte Geräte sich um all unsere Wünsche kümmern werden. Das Buch »Plattform-Kapitalismus« handelt von diesem aktuellen Augenblick in unserer Geschichte und seinen Avataren bei den neuen Technologien: Plattformen, Big Data, additive Fertigung, fortgeschrittene Robotertechnik, Maschinenlernen und das Internet der Dinge.

Es ist nicht das erste Buch über diese Themen, aber es nimmt einen anderen Blickwinkel ein als bislang üblich. Bisher konzentriert sich ein Teil der Literatur auf die politische Seite der neuen Technologien, legt einen Schwerpunkt auf Datenschutz und staatliche Überwachung, aber lässt die wirtschaftlichen Fragen rund um Besitz und Profitabilität außer Acht. Ein anderer Teil untersucht Konzerne als Verkörperungen bestimmter Ideen und Werte und kritisiert sie, weil sie nicht human handeln – aber der ökonomische Kontext und die Zwänge des kapitalistischen Systems kommen darin zu kurz.1 Wieder andere Wissenschaftler_innen untersuchen die neuen ökonomischen Trends, aber beschreiben sie losgelöst von ihrer Geschichte als Phänomene sui generis. Sie fragen nicht, warum wir heute diese Form von Wirtschaft haben, und sie erkennen nicht, inwiefern die Wirtschaft von heute eine Antwort auf die Probleme von gestern darstellt. Schließlich handeln zahlreiche Analysen davon, wie schlecht die Smart Economy für Arbeitnehmer_innen ist und welchen Wandel die digitale Arbeit für die Beziehung zwischen Arbeitnehmer_innen und Kapital bedeutet. Aber sie befassen sich nicht mit breiteren ökonomischen Trends und dem Wettbewerb innerhalb des Kapitalismus.2

Das vorliegende Buch möchte diese Perspektiven um eine Wirtschaftsgeschichte des Kapitalismus und der digitalen Technologie ergänzen. Dabei berücksichtigt es die Vielfalt ökonomischer Formen und die kompetitiven Spannungen, die zur heutigen Wirtschaft dazugehören. Die schlichte Behauptung dieses Buchs lautet, dass wir eine Menge über große Technologie-Firmen lernen können, wenn wir sie als wirtschaftliche Akteurinnen in einer kapitalistischen Produktion begreifen. Das bedeutet, dass wir sie nicht als kulturelle Akteurinnen ansehen, die sich von den Wertvorstellungen der kalifornischen Ideologie leiten lassen, oder als politische Akteurinnen, die nach Macht streben. Vielmehr müssen sie nach Gewinn streben, um die Konkurrenz abzuwehren. Das setzt Erwartungen, was passieren könnte und wahrscheinlich passieren wird, enge Grenzen. Vor allem verlangt der Kapitalismus, dass Unternehmen dauernd nach neuen Wegen zu Profiten, neuen Märkten, neuen Waren und neuen Formen der Ressourcennutzung suchen. Manchen mag diese Konzentration auf das Kapital statt auf die Arbeit als Vulgärökonomie erscheinen. Aber in einer Welt, in der die Arbeiterbewegung deutlich an Einfluss verloren hat, weil das Kapital die maßgebliche treibende Kraft ist, spiegelt das nur die Realität wider.

Wohin richten wir also unser Augenmerk, wenn wir die Auswirkungen der digitalen Technik auf den Kapitalismus untersuchen wollen? Wir könnten uns dem Technologiesektor zuwenden,3 aber genau genommen ist dieser Sektor ein ziemlich kleiner Teil der Wirtschaft. In den Vereinigten Staaten trägt er gegenwärtig rund 6,8 Prozent zum Mehrwert privater Unternehmen bei und beschäftigt etwa 2,5 Prozent der Arbeitnehmer_innen.4 Zum Vergleich: Viermal so viele Menschen arbeiten in den deindustrialisierten Vereinigten Staaten in der industriellen Produktion. Im Vereinigten Königreich sind fast dreimal so viele Menschen in der Produktion tätig wie im Technologiesektor.5 Das hängt zum Teil damit zusammen, dass Technologiefirmen in der Regel klein sind. Google hat rund 60000 direkte Angestellte, Facebook 12000; Whats-App hingegen hatte 55, als es für 19 Milliarden Dollar an Facebook verkauft wurde, und Instagram hatte 13, als es für 1 Milliarde Dollar übernommen wurde. Im Jahr 1962 hatten die größten Unternehmen sehr viel mehr Mitarbeiter_innen: AT&T hatte 564000 Beschäftigte, Exxon 150000 und GM 605000.6 Wenn wir über die Digitalwirtschaft sprechen, sollten wir deshalb im Hinterkopf behalten, dass sie mehr ist als der Technologiesektor in der klassischen Definition.

In einer ersten Annäherung können wir sagen, dass mit Digitalwirtschaft die Unternehmen gemeint sind, die bei ihren Geschäftsmodellen zunehmend auf Informationstechnologie, Daten und das Internet setzen. Dieser Bereich geht quer durch alle traditionellen Sektoren – einschließlich Produktion, Dienstleistungen, Verkehr, Bergbau und Telekommunikation – und wird für die heutige Wirtschaft immer wichtiger. So gesehen ist die Digitalwirtschaft sehr viel bedeutender, als die Analyse ausschließlich dieses Sektors vielleicht vermuten lässt. Erstens erscheint sie als das dynamischste Feld der heutigen Wirtschaft – ein Bereich, in dem es anscheinend dauernd Neuerungen gibt und der das Wirtschaftswachstum vorantreibt. Die Digitalwirtschaft wirkt wie die Vorreiterin in einem ansonsten eher stagnierenden ökonomischen Umfeld. Zweitens wird die digitale Technologie zunehmend systemrelevant, ganz ähnlich wie der Finanzsektor. Weil die Infrastruktur der Digitalwirtschaft die zeitgenössische Wirtschaft immer mehr durchdringt, hätte ihr Zusammenbruch wirtschaftlich verheerende Folgen. Schließlich wird die Digitalwirtschaft wegen ihrer Dynamik als Ideal dargestellt, das den heutigen Kapitalismus insgesamt legitimieren kann. Die Digitalwirtschaft wird zu einem hegemonialen Modell: Städte müssen smart werden, Unternehmen müssen disruptiv sein, Arbeitnehmer_innen müssen flexibel sein und Staaten schlank und intelligent. In diesem Umfeld können all jene, die hart arbeiten, von den Veränderungen profitieren und gewinnen. Zumindest erzählt man uns das.

Die These dieses Buchs lautet, wegen der seit Langem sinkenden Profitabilität der Produktion habe sich der Kapitalismus den Daten zugewandt, als Möglichkeit, wirtschaftliches Wachstum und Vitalität angesichts eines lahmenden Produktionssektors zu erhalten. Im 21. Jahrhundert, vor dem Hintergrund der Veränderungen bei den digitalen Technologien, sind Daten für die Unternehmen und ihre Beziehungen zu den Arbeitnehmer_innen, Kund_innen und anderen Kapitalist_innen immer wichtiger geworden. Die Plattform ist als neues Geschäftsmodell aufgetaucht. Damit können immense Mengen von Daten gewonnen und kontrolliert werden, und diese Wende brachte den Aufstieg großer Monopolunternehmen. Heute wird der Kapitalismus in den Ländern mit hohen und mittleren Nationaleinkommen zunehmend von solchen Firmen dominiert, und die in diesem Buch skizzierte Dynamik spricht dafür, dass der Trend sich fortsetzen wird. Ziel dieses Buches ist es, die Plattformen in den Kontext der allgemeinen Wirtschaftsgeschichte einzuordnen, sie als Mittel zu verstehen, um Gewinne zu machen, und einige Tendenzen zu beschreiben, die sie hervorbringen.

Zum Teil ist das Buch eine Synthese vorhandener Forschungen. Die Diskussion in Kapitel 1 sollte Wirtschaftshistoriker_innen vertraut sein. Es geht darin um die verschiedenen Krisen, die die Grundlagen für unsere heutige Wirtschaft in der Ära nach 2008 gelegt haben. Die neuen Technologien werden als Ergebnis tiefer liegender kapitalistischer Tendenzen in die geschichtliche Entwicklung eingeordnet; dabei wird gezeigt, wie sie in das System von Ausbeutung, Exklusion und Wettbewerb hineinverwoben sind. Das Material in Kapitel 2 sollte all jenen, die technologische Entwicklungen verfolgen, ebenfalls gut bekannt sein. In vielerlei Hinsicht ist das Kapitel ein Versuch, die verschiedenen Diskussionen in diesem Bereich zu ordnen. Es liefert einen Überblick über die Entstehung von Plattformen und ihre unterschiedlichen Erscheinungsformen. Kapitel 3 hingegen wird hoffentlich allen etwas Neues präsentieren. Auf der Grundlage der ersten beiden Kapitel versucht es, einige wahrscheinliche Entwicklungslinien aufzuzeigen und mit einigen breiten Pinselstrichen die Zukunft des Plattform-Kapitalismus darzustellen. Solche Ausblicke in die Zukunft sind für jedes politische Projekt von entscheidender Bedeutung. Wie wir die Vergangenheit und die Zukunft konzeptualisieren ist wichtig dafür, wie wir heute strategisch denken und welche politische Taktik wir entwickeln, um die Gesellschaft zu verändern. Es ist, kurz gesagt, ein Unterschied, ob neue Technologien für uns ein neues Akkumulationsregime eröffnen oder ältere Regimes fortsetzen. Dies wirkt sich wiederum darauf aus, wie wahrscheinlich eine Krise ist, und auf die Wahrnehmung, woher die Krise kommen könnte; und es hat Folgen dafür, wie wir uns die Zukunft der Arbeit im Kapitalismus vorstellen. In diesem Buch wird weiter argumentiert, dass die scheinbare Neuartigkeit der Situation langfristige Tendenzen verschleiert, aber auch, dass heute tatsächlich wichtige Veränderungen festzustellen sind, die die Linke im 21. Jahrhundert erfassen muss. Unsere Situation in einem größeren Zusammenhang zu verstehen ist der erste Schritt, um Strategien zu entwickeln, wie wir sie verändern können.

1Morozov, »The Taming of Tech Criticism«.

2Huws, Labor in the Global Digital Economy.

3Da der Begriff »Technologiesektor« so häufig ohne weitere Klarstellung verwendet wird, definieren wir ihn hier anhand der Begrifflichkeit des North American Industry Classification System (NAICS) und seiner Codes. Demnach zählen zum Technologiesektor Computer und Fertigung elektronischer Produkte (334), Telekommunikation (517), Datenverarbeitung, Datenspeicherung und verwandte Dienstleistungen (518), andere Informationsdienstleistungen (519) sowie Computersystem-Design und verwandte Dienstleistungen (5415).

4Klein, »The US Tech Sector is Really Small«.

5Office for National Statistics, »Employment by Industry: EMP13«.

6Davis, »Capital Markets and Job Creation in the 21st Century«, S. 7.

IDer lange Niedergang

Um unsere gegenwärtige Situation zu verstehen, müssen wir uns anschauen, was sie mit der Vergangenheit verbindet. Phänomene, die radikal neu erscheinen, können sich bei historischer Betrachtung als schlichte Kontinuitäten entpuppen. In diesem Kapitel argumentiere ich, dass vor allem drei Augenblicke in der relativ jüngsten Geschichte des Kapitalismus für die heutige Situation relevant sind: die Reaktion auf den Abschwung in den 1970er Jahren, das wirtschaftliche Auf und Ab in den 1990er Jahren und die Reaktion auf die Krise des Jahres 2008. Diese drei Augenblicke bereiteten die Bühne für die neue Digitalwirtschaft und prägten die Art und Weise, wie sie sich entwickelte. Das alles muss erst in den Kontext unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems insgesamt und der Regeln und Zwänge eingeordnet werden, die es Unternehmen und Arbeitnehmer_innen auferlegt. Einerseits ist der Kapitalismus ein unglaublich flexibles System, aber er hat auch bestimmte invariable Merkmale, die in jeder historischen Phase als generelle Parameter wirken. Um die Ursachen, die Dynamik und die Folgen der heutigen Situation zu verstehen, müssen wir zuerst begreifen, wie der Kapitalismus funktioniert.

Als einzige Produktionsweise bis heute ist der Kapitalismus enorm erfolgreich darin, die Produktivität zu steigern.7 Das ist die entscheidende Dynamik, sie bringt die einmalige Fähigkeit der kapitalistischen Volkswirtschaften zum Ausdruck, mit hohem Tempo zu wachsen und den Lebensstandard zu erhöhen. Was macht den Kapitalismus so anders?8 Die Besonderheit ist nicht durch psychologische Mechanismen zu erklären, etwa dass wir zu einem bestimmten Zeitpunkt kollektiv beschlossen hätten, gieriger zu werden oder effizienter bei der Produktion als unsere Vorfahren. Das Produktivitätswachstum im Kapitalismus lässt sich vielmehr durch eine Veränderung in den sozialen Beziehungen, insbesondere den Eigentumsverhältnissen, erklären. In den vorkapitalistischen Gesellschaften hatten die Produzierenden direkten Zugang zu ihren Subsistenzmitteln: Land für Ackerbau und Viehzucht und zum Wohnen. Unter diesen Bedingungen hing das Überleben nicht systematisch davon ab, wie effizient jemand produzierte. Die Launen der Natur konnten bedeuten, dass eine Feldfrucht in einem Jahr nicht gut wuchs, aber das waren zufällige Einschränkungen und nicht systemische. Jeder Mensch musste einfach so viel arbeiten, wie nötig war, um die für das Überleben erforderlichen Ressourcen zu bekommen. Im Kapitalismus änderte sich das. Die wirtschaftlichen Akteur_innen waren nun getrennt von den Subsistenzmitteln, und für die Beschaffung der Güter, die sie zum Überleben brauchten, mussten sie sich an den Markt wenden. Märkte gab es zwar schon seit Jahrtausenden, aber im Kapitalismus erlebten die wirtschaftlichen Akteur_innen erstmals eine generalisierte Abhängigkeit vom Markt. Dementsprechend richteten sie die Produktion am Markt aus: Man musste Waren verkaufen, um das Geld für den Kauf der lebensnotwendigen Dinge zu bekommen. Aber weil nun sehr viele Menschen auf den Markt drängten, sahen sich die Produzierenden Wettbewerbsdruck ausgesetzt. War das, was sie verkaufen wollten, zu teuer, brach ihr Geschäftsmodell rasch zusammen. So führte die generalisierte Abhängigkeit vom Markt zu einem systemischen Zwang, die Produktionskosten im Verhältnis zu den Preisen zu reduzieren. Das lässt sich auf verschiedenen Wegen erreichen; die wichtigsten waren die Anwendung effizienter Technologien und Techniken im Arbeitsprozess, Spezialisierung und die Sabotage von Konkurrent_innen. Das Verhalten im Wettbewerb führte wiederum zu bestimmten mittelfristigen Tendenzen des Kapitalismus: Die Preise sanken parallel zu den Kosten, die Gewinne glichen sich über unterschiedliche Branchen hinweg tendenziell an, und unendliches Wachstum etablierte sich als die letztendliche Logik des Kapitalismus. Die Logik der Akkumulation wurde zu einem impliziten, selbstverständlichen Element jeder Geschäftsentscheidung: wer eingestellt wurde, wo investiert wurde, was gebaut und produziert wurde, an wen verkauft werden sollte und so weiter.

Zu den wichtigsten Konsequenzen dieses schematischen Modells des Kapitalismus gehört, dass es permanenten technologischen Wandel erfordert. Das Bemühen, die Kosten zu senken, Konkurrenz aus dem Feld zu schlagen, die Arbeitnehmer_innen zu kontrollieren, die Umschlagszeiten zu verkürzen und Marktanteile zu erobern, ist für die Kapitalist_innen der Anreiz, den Arbeitsprozess beständig umzugestalten. Das ist die Quelle der enormen Dynamik des Kapitalismus. Die Kapitalist_innen wollen die Arbeitsproduktivität stetig steigern und sich gegenseitig darin übertreffen, effizient Gewinne zu erwirtschaften. Aber auch die Technologie ist zentral wichtig für den Kapitalismus, aus anderen Gründen, die wir später im Einzelnen untersuchen werden. Sie wurde oft dazu genutzt, Arbeitnehmer_innen auf wenig anspruchsvolle Tätigkeiten zu verweisen und die Macht der qualifizierten Arbeitskräfte auszuhöhlen (allerdings gibt es auch gegenläufige Tendenzen zur Vermittlung zusätzlicher Qualifikationen).9 Die Technologien, die zum Verlust von Qualifikationen führen, machen es möglich, die qualifizierten Arbeitskräfte durch billigere und willigere zu ersetzen. Außerdem liegt die Denkarbeit dann weniger bei den Beschäftigten in den Fabriken, sondern wird verstärkt auf das Management übertragen. Motiviert sind diese technischen Veränderungen jedoch durch Konkurrenz und Kampf – sowohl zwischen Klassen in ihrem Bemühen, auf Kosten der jeweils anderen Stärke zu gewinnen, als auch zwischen Kapitalist_innen in ihrem Bemühen, die Produktionskosten unter den gesellschaftlichen Durchschnitt zu senken. Vor allem die letztere Dynamik spielt eine Schlüsselrolle bei den Veränderungen, um die es in diesem Buch geht. Aber bevor wir die Digitalwirtschaft verstehen, müssen wir in eine frühere Zeit zurückblicken.

Das Ende der Nachkriegsausnahme

Für viele Menschen ist unübersehbar, dass wir in einer Zeit leben, die immer noch darum ringt, mit dem Bruch des Nachkriegskonsenses zurechtzukommen. Thomas Piketty argumentiert, dass die Ungleichheit nach dem Zweiten Weltkrieg abgenommen habe, sei eine Ausnahme von der allgemeinen Regel des Kapitalismus gewesen; Robert Gordon sieht das starke Produktivitätswachstum Mitte des 20. Jahrhunderts als Ausnahme von der historischen Norm; und zahlreiche linke Denker_innen sagen seit Langem, die Nachkriegszeit sei eine nicht nachhaltig gute Phase für den Kapitalismus gewesen.10 Die außergewöhnliche Konstellation – die sich grob definieren lässt als integrierter Liberalismus auf internationaler Ebene, als sozialdemokratischer Konsens auf nationaler Ebene und als Fordismus auf ökonomischer Ebene – ist seit den 1970er Jahren im Zerfall begriffen.

Wie sah es in der Nachkriegszeit in den einkommensstarken Volkswirtschaften aus? Für unsere Zwecke sind zwei Aspekte entscheidend (die allerdings nicht das ganze Bild abdecken): das Geschäftsmodell und die Art der Beschäftigung. Nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs dominierte weltweit das amerikanische Produktionsmodell. Typisch dafür waren große Fabriken mit fordistischer Organisation, das Muster gab die Autoindustrie ab. Diese Fabriken waren für Massenproduktion ausgelegt, Managementkontrolle von oben nach unten, und nach dem Prinzip »für alle Fälle« gab es eine Reserve an Arbeitskräften und Material, falls die Nachfrage plötzlich steigen sollte. Der Arbeitsprozess war tayloristisch organisiert, das heißt, Aufgaben wurden auf kleine Arbeitsschritte heruntergebrochen, die wenig Qualifikation erforderten, und dann auf die effizienteste Weise reorganisiert, und in großen Fabriken arbeiteten sehr viele Beschäftigte gemeinsam. Damit entstanden die Massenarbeiter_innen, die aus der Erfahrung, dass ihre Kolleg_innen unter den gleichen Bedingungen arbeiteten, eine kollektive Identität entwickelten. Die Arbeiter_innen wurden zu dieser Zeit durch Gewerkschaften vertreten, die für ein Gleichgewicht gegenüber dem Kapital sorgten und radikalere Aktionen verhinderten.11 Durch Tarifverhandlungen erreichten die Arbeitnehmer_innen, dass Löhne in einem gesunden Tempo stiegen, sie wurden zunehmend nach Branchen zusammengefasst, mit relativ sicheren Arbeitsplätzen, hohen Löhnen und festen Rentenansprüchen. Unterdessen sorgte der Wohlfahrtsstaat für all jene, die außerhalb des Arbeitsmarkts standen.

Die amerikanische Produktion profitierte davon, dass der Krieg ihre schärfste Konkurrenz ausgeschaltet hatte, und entwickelte sich in der Nachkriegszeit zu einem Schwergewicht.12 Doch Japan und Deutschland verfügten über komparative Vorteile – in erster Linie relativ niedrige Arbeitskosten, qualifizierte Arbeitskräfte, günstige Wechselkurse und, im Fall Japans, sehr hilfreiche institutionelle Verbindungen zwischen Regierung, Banken und wichtigen Firmen. Zudem legte die amerikanische Marshallplan-Hilfe das Fundament für die Ausweitung der Exporte und immer mehr Investitionen in diesen Ländern. In den 1950er und 1960er Jahren wuchsen die deutsche und die japanische Industrie hinsichtlich Produktionsmengen und Produktivität massiv. Vor allem aber nahmen japanische und deutsche Firmen ihren amerikanischen Pendants Marktanteile ab, als sich der Weltmarkt entwickelte und die globale Nachfrage stieg. Auf einmal gab es unzählige Werke, die für den Weltmarkt produzierten. In der Folge erreichte die Industrie weltweit Überkapazitäten und Überproduktion, und das übte Druck auf die Preise der produzierten Waren aus. Mitte der 1960er Jahren unterboten japanische und deutsche Produzierende die Preise ihrer amerikanischen Konkurrenz, und die amerikanischen produzierenden Unternehmen gerieten in eine Profitabilitätskrise. Die hohen Fixkosten in den Vereinigten Staaten ließen sich einfach nicht mehr halten, wenn man die Preise der Konkurrenz schlagen wollte. Durch eine Reihe von Wechselkursanpassungen wurde die Profitabilitätskrise schließlich auf Japan und Deutschland verschoben, und die weltweite Krise der 1970er Jahre nahm ihren Anfang.

Angesichts rückläufiger Profitabilität bemühten sich die Produktionsstätten, ihre Geschäftsmodelle zu erneuern. Als Erstes schauten sie sich ihre erfolgreichen Konkurrenz an und bauten ihre Unternehmen nach deren Vorbild um. Bald ersetzte das japanische Toyota-Modell das amerikanische fordistische Modell.13