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Christian Günther | Werner Reichel (Hg.)

POPULISMUS

Das unerhörte Volk
und seine Feinde

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Inhalt

Christian Günther

Vorwort: „Vox Populi, vox Rindvieh!“

Nicolaus Fest

Demokratie braucht Populismus

Andreas Unterberger

Überlebenskampf der Machtelite

Michael Ley

Der Sündenbock - Zur Dialektik politischer Denunziation

Martin Lichtmesz

Feinde des Volkes, Feinde der Demokratie? Notizen zu Jan-Werner Müllers Essay „Was ist Populismus?“

Marcus Franz

Lasst euch von den Linken nicht beschwatzen

Klaus Kelle

Wie der Staat linkspopulistische Netzwerke in Deutschland großzügig alimentiert

Vera Lengsfeld

Populismus von links: Der verlogene Antifaschismus

Werner Reichel

Am Scheiterhaufen der politisch-korrekten Inquisition

Andreas Tögel

Linke Moralisten, rechte Hetzer - Gesinnung versus Verantwortung

Michael Hörl

Das System Kreisky oder Wie man Wahlen demokratisch kauft

Magdalena Strobl

Kampfbegriff Populismus? Von der medialen Konstruktion und Inszenierung eines Wortes im veröffentlichten Diskurs

Autoren

Impressum

Christian Günther

Vorwort: „Vox Populi, vox Rindvieh!“

Von dieser dem Reichstagsabgeordneten Elard von Oldenburg-Januschau zugeschriebenen Aussage machen linksintellektuelle Eliten aus Politik und Medien seit einigen Jahren immer offener, ja fast schon in schamloser Art und Weise Gebrauch. Zwar wird selten die klare Aussage „Volkes Stimme ist gleich des Rindvieh Stimme“ getroffen, aber in verklausulierter Form laufen viele Aussagen, Artikel, Stellungnahmen und Kommentare zu nicht genehmen Volksentscheiden darauf hinaus. So etwa die Kommentare linker Politiker und Journalisten zum BREXIT, zum Schweizer Volksentscheid über Minarette, die Entscheidung der Niederländer zum Vertrag mit der Ukraine und vor allem Stellungnahmen zur Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten.

Das stimmberechtigte Volk jenseits und diesseits des Atlantik probt zunehmend gegen die vom Mainstream medial vorgefertigten Meinungen den Aufstand, trifft seine Entscheidungen autarker und selbstbewusster als noch vor zwanzig oder dreißig Jahren. Dies ist für bestimmte Funktionseliten zum massiven Problem geworden, zumal damit offensichtlich deren übergeordnete Agenda beeinträchtigt wird. Direkte Volksentscheide sind in einer funktionierenden Demokratie nicht in diesem Ausmaß lenkbar, wie etwa der „gewählte“ Abgeordnete. Der Journalist Jakob Augstein fasst dies in einem seiner Spiegel-Kommentare offen und ohne jede Scheu zusammen: „Aus gutem Grund gibt es Parlamente. Sie schützen die Demokratie vor dem Volk und das Volk vor sich selbst. Denn beim Volk, das ist eine paradoxe Wahrheit, ist die Demokratie nicht gut aufgehoben. Volkes Stimme und Fortschritt – das geht nicht gut zusammen. Die Schweizer wollten keine Minarette, die Hamburger keine Gemeinschaftsschulen und die Niederländer jetzt keinen Vertrag mit der Ukraine. Vernünftig war das alles nicht - und fortschrittlich erst recht nicht.“

Demokratieverständnis, Vernunft und Fortschrittsfähigkeit spricht er dem Wahlvolk ab. Zwar erkennt er, wie widersinnig seine Ansicht eigentlich ist, nennt er diese doch eine paradoxe Wahrheit, aber für ihn bleibt es eben eine „Wahrheit“, eine „Tatsache“, die nicht weiter hinterfragt werden muss, weil er weiß, was Demokratie ist und wie sie zu funktionieren hat. Falls jemand Unpassender diese seine Spielregeln trotzdem erfolgreich zur Anwendung bringen will, hat er auch gleich die passende Antwort parat: „Und manchmal sind die Leute, die nach mehr Demokratie rufen, dieselben, die sie in Wahrheit zerstören wollen.“

Um dieser von Augstein & Co so gefürchteten „demokratiefeindlichen“ Entwicklung, nämlich dem Volk eine Stimme verleihen zu wollen, auch ein entsprechendes, wissenschaftlich klingendes Etikett zu verpassen, wurde von den linken Funktionseliten der Begriff Populismus erfunden.

Die nachfolgenden Beiträge der Autoren dieses Bandes kreisen um diesen Begriff, machen ihn in seiner Vielschichtigkeit fest und fördern zum Teil auch Erstaunliches zu Tage.

Die Anwendung des so genannten Populismus wurde vom medialen und politischen Mainstream vor allem rechten bzw. rechtskonservativen Strömungen „unterstellt“ und mit einem negativen Konnotat versehen. Dies ist umso bemerkenswerter, als doch die europäischen Urväter des Populismus allesamt Sozialisten waren: Olaf Palme, Bruno Kreisky, Willi Brandt, Helmuth Schmidt, François Mitterrand, Politiker, die sehr bewusst und erfolgreich die „Stimme des Volkes“ (er)hörten. In Österreich erhielt der Begriff Populismus vor allem im Zusammenhang mit den Wahlerfolgen des FPÖ-Politikers Jörg Haider Ende der 1980er Jahre in den Medien seine durchwegs negative Bedeutung. Trotzdem oder vielleicht auch deswegen beschränkte der Mainstream seine malivolente Beschreibung des Erfolgs von scheinbaren Außenseitern nicht auf die politische Rechte. Auch die Linke, in Deutschland vor allem Gregor Gysi und Sarah Wagenknecht, erhalten schon mal das Stigma Populist, wenn sie sich zu sehr vom Mainstream wegbewegen und etwas an- und aussprechen, was auch in der Bevölkerung schon lange laut gedacht wird. Damit verliert der Kampfbegriff Populismus für die Funktionseliten natürlich an Schlagkraft und für deren Gegner an Einschüchterungspotential. Wurde 2007 der damalige Landeshauptmann von Kärnten, Jörg Haider, für seine publikumswirksame Verteilung des „Haider-Hunderters“ zum Teuerungsausgleich für Mindestpensionisten von der roten Opposition noch massiv gescholten, so scheut sich diese heute nicht, es dem Altmeister des Populismus gleichzutun.

Populismus als Kampfbegriff will nicht mehr so wirklich als Keule gegen die Rechte wirken, zumal sich viele aus den eigenen (linken) Reihen ebenso erfolgreich dieses Mittels bedienen. So etwa der nach dem längsten Wahlkampf in der Geschichte der Zweiten Republik mit massiver Unterstützung aller steuergestützten Mainstream-Medien, öffentlichen und offiziellen Stellen nun endlich zum österreichischen Bundespräsidenten gekürte Alexander Van der Bellen. Wenn der prononcierte Waffengegner und ehemalige Bundessprecher der Grünen noch 1998 deutlich formulierte, dass ein generelles Verbot privater Faustfeuerwaffen auch eines der vorrangigen parlamentarischen Ziele der Grünen im neuen Jahr bleibt, nun 2016 während seines Präsidentschaftswahlkampfes zum Jagd- und Waffenversteher mutiert, dann hat Populismus als politischer Kampfbegriff wohl verspielt.

Bleibt abzuwarten, ob nun neue Diffamierungsstrategien von Funktionseliten erdacht werden, um den direkten Zugang zur Bevölkerung weiter zu diskreditieren, oder ob Trump‘sche Stimmen für die forgotten people Einzug in das Politverständnis halten. Denn der künftige politische Diskurs wird sich vor allem um die Frage der Authentizität drehen. Was ist wahrhaftig, was ist geschönt oder gar gelogen, und welchem Politiker kann ich seine Beteuerungen glauben? Einen Vorgeschmack auf die Intensität, mit der diese Auseinandersetzung geführt werden wird, erleben wir derzeit bereits in Deutschland. Im Sog des Wahlsiegs von Donald Trump zerbricht sich die Linke fieberhaft den Kopf, wie sie das ihrem Zugriff entglittene Medium Internet wieder unter Kontrolle bringen kann. Wurde Barack Obamas erster Sieg noch als Sieg der neuen Medien gefeiert, als Beweis dafür, dass mit Involvement through Empowerment eine neue Art des politischen Zugangs zum Wähler gefunden werden konnte, so wird der Wahlsieg Trumps mit der Behauptung der Einflussnahme durch russische Hacker und/oder so genannte Trolls bzw. Bots diskreditiert und mit dem Verdacht des Wahlbetrugs belegt. Das bis zu Trumps Wahlsieg vor allem unter Linken so gefeierte und als besonders demokratisch apostrophierte Medium ist mit Trump nun zur Bedrohung der freien Welt erklärt worden. Eine solche Gefahr bedarf natürlich der Eindämmung und Kontrolle. Unter dem Aufhänger, Fake News bekämpfen zu wollen, werden von den USA ausgehend so genannte „Zentralen für Information, Analyse und Reaktion“ gefordert. Die deutsche Bundesregierung springt wie immer brav auf den US-Zug auf, und SPD-Justizminister Heiko Maas fordert gleich mal fünf Jahre Haft für Falschmeldungen im Netz, CDU-Innenminister Thomas de Maizière will gar eine Abwehrzentrale für Falschmeldungen im Kanzleramt aufbauen. Der Spiegel nennt unverblümt die wahren Beweggründe der Merkel-Regierung: „Der Wahlkampf von Donald Trump in den USA wirkte wie ein Weckruf für die Berliner Politik. Kann es sein, dass eine russische Desinformationskampagne im Internet den republikanischen Präsidentschaftskandidaten ins Weiße Haus getragen hat? Seitdem treibt Bundesregierung und die Parteien die Frage um, ob Falschmeldungen auch die im nächsten Jahr anstehenden Wahlen in Deutschland manipulieren könnten.“ Die Angst vor der unkontrollierbaren Meinungsäußerung geht bei den Eliten um.

Sind Funktionseliten und Mainstreammedien seit Beginn der europäischen Flüchtlingskrise dem Vorwurf der „Lüge“ bzw. „Lügenpresse“ ausgesetzt und standen diesem Phänomen bis dato hilflos gegenüber, da sich via Social Media eine zweite Öffentlichkeit etabliert hat, so schlägt das Imperium nun massiv zurück. Von der etwas abgenützten Diffamierungsstrategie mittels Populismusvorwurf ausgehend, findet ein Qualitätssprung statt: Die Einrichtung einer Behörde, die quasi per Bescheid zwischen wahrem und falschem Inhalt unterscheidet, verbindliche Regeln für die Handhabung von Informationen erstellt und gegebenenfalls bei Zuwiderhandeln strafrechtliche Sanktionen einleitet. Das ist nichts anderes als die Einrichtung einer Zensurbehörde.

Angesichts dieser grotesken und einer Demokratie unwürdigen Entwicklung gemahnen einen die Worte von Johann Nestroy an eine längst vergessen geglaubte Vergangenheit:

„Wir haben sogar Gedankenfreiheit g’habt, insofern wir die Gedanken bei uns behalten haben. Es war nämlich für die Gedanken eine Art Hundsverordnung. Man hat’s haben dürfen, aber am Schnürl führen! - Wie man’s loslassen hat, haben´s einem´s erschlagen. Mit einem Wort, wir haben eine Menge Freiheiten gehabt, aber von Freiheit keine Spur.“

(Johann Nestroy: „Freiheit in Krähwinkel. Posse mit Gesang in zwei Abteilungen und drei Akten“; uraufgeführt von Juli bis Oktober 1848, bis zur Einnahme Wiens durch die Regierungstruppen)

Nicolaus Fest

Demokratie braucht Populismus

Was verbindet Margaret Thatcher, Ronald Reagan, Gerhard Schröder, Hugo Chavez, Viktor Orbán und den früheren argentinischen Präsidenten Juan Perón? Sie alle wurden des Populismus geziehen, sind mithin, nimmt man die Etikettierung ernst, geistige Cousins von FPÖ, AfD oder Occupy. Schon diese Aufstellung zeigt die Konturlosigkeit des Begriffs. Es handelt sich um eine Denunziationsvokabel, die linke Politiker so trifft wie konservative, offen anti-demokratische Bewegungen wie radikaldemokratische Parteien.

Und es ist der Populismus – wie auch die Klage über ihn – ein immer wiederkehrendes Thema. Schon in den 1970er Jahren befand ein Sammelband, ein neues Gespenst gehe um in Europa, 1985 widmete sich unter gleicher Überschrift ein Essay in der Zeitschrift Merkur demselben Phänomen. Nun ist die Diskussion erneut entflammt. Offenkundig gilt: Wann immer sich Eliten der Kritik der ‚Straße’ gegenübersehen, sei es in Fragen von Schulgesetzen, Atomkraft, Euro oder Einwanderung, ist der Vorwurf populistischer, also einer irgendwie unverantwortlich-simplifizierender Stimmungsmache gegen die gewählten Volksvertreter nicht weit. Das gilt sogar über Demokratien hinaus: Auch die Dissidenten des Ostblocks wurden als Populisten bezeichnet, und ihre Kritik an den herrschenden Verhältnissen beruhte tatsächlich auf einem klassisch populistischen Topos: Dass sie ‚das Volk’ seien, dass die Elite abgewirtschaftet habe – nicht nur ökonomisch, sondern vor allem moralisch. Wenn ein Vorwurf zum unverzichtbaren Bestand des Populismus gehört, dann der der Korruption und Vetternwirtschaft innerhalb der Elite.

Aber sind Dissidenten deshalb auch Populisten? Folgt man Jan-Werner Müller, Professor in Princeton, ist das nicht Fall. In einer jüngst veröffentlichten Studie betrachtet er nur solche Bewegungen als populistisch, die drei Merkmale aufweisen: Sie müssen sich gegen das Establishment richten, ihre Legitimation aus dem angeblichen Volkswillen ziehen und zudem anti-pluralistisch sein, also den alleinigen Anspruch auf Vertretung erheben. Nicht „Wir sind das Volk“ sei der Schlachtruf der Populisten, sondern „Nur wir sind das Volk“!

Legt man diese Kriterien an, verringert sich die eingangs genannte Liste erheblich. Mangels anti-pluralistischer Tendenzen fallen Thatcher, Reagan und Schröder ebenso heraus wie FPÖ und AfD, wohl auch Peròn. Übrig bleiben Orbán und Chavez, dazu Occupy. Generell dürften linke Bewegungen aufgrund ihres anti-elitären Anspruchs auf Volks- und Arbeiternähe anfälliger für populistische Versuchungen sein als konservative.

Müllers Definition und Eingrenzung des Populismus macht den Begriff wissenschaftlich nutzbar, schränkt ihn aber auch ein. Populistisch sind nach seiner Ansicht ausschließlich anti-demokratische Bewegungen. Das mag man so sehen, wirkt aber etwas willkürlich. Vor allem beschädigt die Definition solche radikal-demokratischen Erscheinungen, welche den Begriff positiv für sich vereinnahmen, weil sie gerade für den Erhalt der Demokratie und gegen post-demokratisches Durchregieren eintreten. Mit seiner durchgehend negativen Definition von ‚Populismus’ setzt Müller solche Gruppierungen ebenso herab wie das in jedem Populismus enthaltene demokratische Korrektiv. „Demokratie ist letztlich immer eine populistische Veranstaltung, weil sie das letzte Wort dem Volk erteilt, nicht seinen Vertretern“, meint Konrad Adam, einer der AfD-Gründer. Und auch Lincolns berühmte Formulierung einer „Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk“ ist durchaus als populistischer Legitimationsappell zu lesen. Braucht also, nach einer bekannten Formulierung des Bremer Politologen Lothar Probst, Demokratie Populismus?

Dafür spricht viel. Denn Populismus ist keineswegs nur die Wut der Abgehängten und Ahnungslosen, im Gegenteil. Viel häufiger speist sich die Empörung angeblicher Populisten gerade auch aus ihrem Fachwissen: Aus der besseren Ortskenntnis, der langjährigen Erfahrung, dem Wissen um die Wirklichkeit jenseits des grünen Tisches der Politik. Tatsächlich ist es dieser Sinn für Realitäten, der als populistisch diskreditierte Gruppierungen oft erst hervorbringt, nämlich als Reaktion auf die Zumutungen ideologischer Gesellschaftsexperimente: So verhinderten in Hamburg Angehörige der bildungsbewussten Mittelschicht ein Schulgesetz, das die Leistungsstandards deutlich absenken wollte; ähnliche Konflikte gibt es derzeit in Baden-Württemberg und Hessen um den Versuch einer ideologisch gewünschten Frühsexualisierung von Kindern. Und auch der Kampf gegen den Euro hat in den meisten Ländern seine Anhänger vor allem in der gehobenen, oft akademischen Mittelschicht. Dass dennoch all diese Proteste nichts anderes sind als simplifizie-rend-populistische Appelle, gilt ihren Gegnern als ausgemacht.

Doch richtet sich das Aufbegehren nicht nur gegen Projekte; auch der politischen Kultur als solcher gilt das Unbehagen. Blickt man auf die Geschichte von FPÖ, AfD, der italienischen M5S oder anderer erfolgreicher Popularparteien, entzündet sich deren Protest auch immer an einem zentralen Manko des Parteienstaates: Den durch Landes- oder Bundeslisten gesicherten personellen Kontinuitäten. Dass die Führungsoffiziere der Parteien selbst nach krachenden Wahlniederlagen in aller Regel den Kurs weiterbestimmen, ist mit dem Gedanken der Demokratie schwer vereinbar. Denn Demokratie bedeutet weniger ‚Wählen’ als ‚Abwählen’. Nur die Abwahl der politisch Verantwortlichen schafft politische Kontrolle. Wo diese nicht mehr gegeben ist, weil das verantwortliche Personal unabhängig vom Wahlausgang weiterhin das Sagen hat, verliert auch der urdemokratische Wahlakt seine Funktion. Dass „die da oben ohnehin machen, was sie wollen“, ist nicht ohne Grund die Standardformel populistischen Aufbegehrens. Und auch die verbreitete Ablehnung der EU resultiert wesentlich aus dem Gefühl, dass mit Brüsseler Hilfe schädliche Kontinuitäten erhalten bleiben: Selbst wer in der Heimat scheitert, wen das Volk aus jeder politischen Verantwortung entfernt sehen möchte, kann oft in Brüssel sein Wirken fortsetzen, und mit nicht weniger verheerendem Einfluss. Das ist nicht nur ein Ausdruck für die Verachtung des Wählers; es ist, weil der demokratische Mechanismus der Beseitigung schlechter Politiker qua Wahlentscheidung ausgehebelt wird, ein offen anti-demokratischer Akt.

Insofern lässt sich das Aufkommen populistischer Bewegungen auch ganz anders deuten, als Müller es tut: Weniger als Aufstand gegen politische Vielfalt, sondern als ein moralisch grundiertes Aufbegehren gegen die anti-demokratische Parteien-Demokratie, gegen Spezlwirtschaft und gegen den fachlichen Dilettantismus. Dass er es besser wisse und könne als der, der ihn regiert, gehört zu den Grundüberzeugungen jedes Populisten; es ist die Spiegelung des urdemokratischen Prinzips von One man, one vote. Erst die Gleichheit des Stimmgewichts schafft diesen Anspruch.

Und dieser Anspruch schickt sich an, die Demokratien zu verändern. Denn die Denunziation populistischer Forderungen als grundsätzlich unterkomplex verkennt die entscheidende Frage: Ob die Demokratie in der heutigen Zeit nicht geradezu populistische Korrektive verlangt. Solange die Staatsaufgaben im wesentlichen in der Außenpolitik, im Straßenbau und in der inneren Sicherheit gesehen wurden, mag die repräsentative Honoratiorenverfassung ein funktionsfähiges Politikmodell gewesen sein; heute hingegen sind selbst die gewaltigen Stäbe, die wissenschaftlichen Dienste des Bundestages oder die zahllosen Beratergremien kaum in der Lage, irgendein Gesetz zu formulieren, das nicht alsbald Änderungen verlangt. Der schwierige Spagat zwischen Einzelfallgerechtigkeit und allgemeiner Geltung lässt sich immer seltener vollständig vorhersehen. Und auch bei vielen anderen Entscheidungen ist die Politik heute überfordert.

Diese Überforderung trifft auf einen immer höheren Akademisierungsgrad in der Bevölkerung. Immer mehr Leute sind in der Lage, auf ihrem Gebiet die Arbeit der Politik zu bewerten, und auch deren Defizite. Gleichzeitig verleihen die Sozialen Medien den Betroffenen Stimme und Organisationsmöglichkeiten. Ob Flughafenbau, Atomkraft, Euro, Einwanderung: Die Leute reden mit – und eben häufig mit mehr Kenntnis als ihre parlamentarischen Vertreter, die nicht selten über Partei- oder Gewerkschaftsarbeit in den Bundestag gelangten. Ihnen sind Landwirte, Statistiker, Architekten, Fachanwälte, Ärzte oder Naturwissenschaftler im Wissen oft weit voraus – weil sie nicht nur die jeweilige Ausbildung haben, sondern auch Erfahrung. Und umso entgeisterter stehen sie, ob nun berechtigt oder nicht, vor der Ahnungslosigkeit ihrer Vertreter in Fachfragen.

Insofern ist das, was heute Populismus genannt wird, eine fast notwendige Folge von Egalität, Akademisierung und Sozialen Medien. Und deutlich wird auch, dass von Politikverdrossenheit keine Rede sein kann; selten waren die Leute politisch so engagiert wie heute. Selbst Diffamierung und soziale Ausgrenzung schreckt viele nicht ab, sich angeblich populistischen Bewegungen anzuschließen. Die gab es im Übrigen schon im alten Rom. Aber erst jetzt dürften sie zu einem ständigen Begleiter der Politik werden. Wie sie darauf reagiert, wird die Zukunft der Länder prägen.

Denn sicher ist: Das Aufkommen populistischer Bewegungen ist immer auch ein Ausdruck hoher Frustration. Man ist mit seinem Begehr nicht gehört worden, fühlt sich vernachlässigt, übergangen, marginalisiert. Das tut keiner Demokratie gut, und die in allen europäischen Ländern sinkende Wahlbeteiligung, die erst mit der Gründung populistischer Parteien ein Ende fand, ist ein klares Zeichen für eine Krise der repräsentativen Demokratie. „Das Volk wählt und stirbt für vier Jahre ab“, meinte einst der Verfassungsrechtler Smend mit Blick auf das deutsche Wahlrecht; tatsächlich wacht es auch nach dieser Zeit immer häufiger nicht mehr auf. Der Wähler bleibt der Urne fern, der Schneewittchen-Zauber versagt. Bei der letzten Hamburger Landtagswahl gaben in einem Ortsteil nur noch 25 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Selbst wer davon ein Drittel der Voten erhält, kann sich kaum legitimiert fühlen. Die Abwendung des Wählers, ein Phänomen vieler repräsentativer Demokratien, vor allem aber des Parteienstaates, stellt letztlich die Demokratie selbst in Frage.

Wer dies nicht will, aber auch die strukturelle Potenz des Populismus erkennt, muss daher die beiden Hauptursachen bekämpfen: Den Unmut über falsche personelle Kontinuitäten wie auch über sachwidrige Politik. Das eine bekommt man in den Griff, indem man den Einfluss der Listenplätze verringert. Denkbar wäre hier, das Verhältnis von Direkt- und Zweitstimmenmandaten eindeutig zugunsten ersterer zu verschieben. Oder man begrenzt mit Mitteln der Aleatorik die Aussichten der Listenkandidaten. Das würde zudem auch den Einfluss außerparlamentarischer Interessensgruppen deutlich einschränken: Wer nicht sicher sein kann, dass er nicht nach dem Zufallsprinzip von der Liste fliegt, ist auch kein verlässlicher Gesprächspartner für Lobbyisten.

Dem zweiten populistischen Movens, nämlich der Verärgerung über dilettantische, weil sachwidrige Politik, ließe sich durch direktdemokratische Elemente begegnen. Hierdurch würde das außerhalb der Parlamente und ihrer Beraterstäbe vorhandene, also gleichsam ‚im Volk’ versammelte Fachwissen nutzbar. Die hiergegen von Vertretern der etablierten Parteien erhobenen Vorbehalte leiden immer am selben Widerspruch: Dass der Wähler zwar ausreichend intelligent und informiert sein soll, um bestimmte Parteien zu wählen, nicht aber für die Entscheidung über konkrete Projekte. Zudem lassen sich etwaige demophobische Befürchtungen durch entsprechende verfassungsgerichtliche Vorprüfungen beseitigen. Wer schließlich die überlange Liste falscher Weichenstellungen betrachtet, die von Volksvertretern über die Jahre durchgesetzt wurden, kann kaum behaupten, dass die repräsentative Demokratie ein Garant für sachliche Richtigkeit ist. Vielmehr sollte man das, was man Politikern zugesteht, auch dem Volk zugutehalten: Dass Irren menschlich ist, und auch politische Entscheidungen zuweilen von der Zukunft widerlegt werden.

Psychologisch haben direktdemokratische Elemente in jedem Fall gewaltige Vorteile: Sie binden die Menschen in die politische Entscheidung ein, machen sie mitverantwortlich. Das sorgt nicht nur für eine höhere Identifikation mit dem Gemeinwesen, sondern auch für größeres politisches Bewusstsein: Was schadet meinem Land, was nutzt ihm? Außerdem muss sich, wer mitentscheidet, diese Entscheidung später auch anrechnen lassen. Der Verweis auf die ‚unfähigen Politiker’ erledigt sich dann von selbst.

Anders als viele Beobachter meinen, ist das Aufkommen populistischer Bewegungen kein Zeichen einer demokratischen Krise, eines Aufstands der Abgehängten und Pluralitätsfeinde. Vielmehr ist meist das Gegenteil richtig: Populistische Vereinigungen sind in aller Regel gerade Ausdruck für die ungebrochene Attraktivität der Demokratie – wie auch für den Mut ihrer Verteidiger. Dass in Zeiten Sozialer Medien und hoher Akademisierung die Regierten ein Mitspracherecht bei fundamentalen politischen Entscheidungen verlangen, und zwar nicht nur alle paar Jahre hinsichtlich ihrer Repräsentanten, wird sich kaum zurückdrehen lassen. Insofern werden populistische, volksdemokratische Einflüsse eher zunehmen. Wer sie nicht über Referenden unmittelbar in den politischen Entscheidungsprozess einbindet, wird auch künftig mit dem Aufkommen neuer Parteien rechnen müssen. Dann wird das Gespenst des Populismus auch weiterhin alle Jahre in Europa umgehen.

Andreas Unterberger

Wie einst der Adel: Überlebenskampf der Machtelite

Politik und Medien, aber auch die sogenannten politischen Wissenschaften wimmeln seit jeher von Kampf-Vokabeln, die alle dieselbe Eigenschaft haben: Je näher man sie untersucht, umso vager und unschärfer werden sie. Sozial, liberal, demokratisch, konservativ, links, rechts, national, heimatverbunden, europäisch, internationalistisch, revolutionär, christlich, Recht-und-Ordnung-orientiert – fast unendlich lässt sich die Reihe dieser Kampfbegriffe fortsetzen. Jeder von ihnen trägt einmal eine positive, einmal eine negative Konnotation. Bei jedem dieser Begriffe gibt es fast so viele gefühlte Bedeutungen und formulierte Definitionen wie Menschen, die sie verwenden. Je nachdem, ob man sich selbst beschreibt oder politisch-ideologische Gegner.

Ganz besonders stark ist dieses Phänomen bei dem im neuen Jahrtausend im Politjargon populär gewordenen Begriff „populistisch“ zu beobachten. Seine Verwendung ist aber auch ganz ohne denunziatorische Absicht deswegen so häufig und notwendig geworden, weil man eine Sammelbezeichnung für eine Tsunami-Welle an neuen, sich in manchen – nicht allen – Inhalten ähnelnden Bewegungen, Politikern und Parteien rechts der Mitte gebraucht hat. Diese neuen Parteien haben sich selbst freilich die unterschiedlichsten Bezeichnungen gegeben, in denen allerdings nie das Wort „populistisch“ vorkommt.

Dieser Tsunami hat das lange versteinerte Parteiensystem kräftig aufgemischt. Dieses hat zwar verzweifelt versucht, Elemente des Populismus zumindest teilweise aufzusaugen. Keine der traditionellen Parteien ist aber den belastenden Rucksack der eigenen Vergangenheit losgeworden.

Zu diesem traditionellen Parteiensystem gehören im Wesentlichen:

• Christdemokratisch-konservativ-bürgerlich-bäuerliche Parteien (wobei in manchen Ländern dieses Lager aus mehreren Parteien besteht, die sich jeweils ein einzelnes dieser Adjektiva als Parteislogan herausgegriffen haben),

• Sozialdemokratisch-sozialistische Parteien, die in der amerikanischen Sprache verwirrenderweise auch oft als „liberal“ bezeichnet werden, was aber fast das Gegenteil des europäischen Begriffs „liberal“ bedeutet (in einzelnen Ländern, etwa Griechenland, gibt es auch im sozialistischen Lager konkurrierende Parteien),

• Grüne Parteien, die meist nur in den germanischen Ländern wirklich Fuß fassen konnten, hingegen in den slawischen und romanischen Völkern kaum Bedeutung haben (und mancherorts ebenfalls in getrennte Linien zerfallen: bürgerlich-ökologisch vs. links-alternativ),

• Kommunistische Parteien, die im Westen fast nur in Italien, Frankreich und Graz zeitweise eine gewisse Größe erreicht haben, die aber im Osten in der unmittelbaren Nachkriegszeit zumindest in einem Land (Tschechoslowakei) trotz ihres total undemokratischen Charakters auch auf mehr oder weniger demokratischem Weg an die Macht gekommen sind,

• und liberale Parteien (die entweder wirtschaftsliberal oder linksliberal sind; beide Richtungen halten sich für die Hüter der wahren liberalen Linie).

Ansonsten hat es meist nur ethnisch-regionale und kurzlebige, durch die Persönlichkeit eines Parteiführers ganz subjektivistisch geprägte Parteien gegeben.

In dieses Schema hat man lange mehr oder weniger alle vorhandenen Parteien einordnen können, sobald sie eine gewisse Relevanz erreicht und die skurrile Aura von Hinterzimmer-Parteigründungen verlassen haben.

Die Rückkehr der Heimat

Die vor dem Krieg oft wichtige Unterscheidung, ob eine Partei national oder international orientiert ist, war hingegen lange völlig irrelevant geblieben. Nach dem Schock des Weltkriegs war es insbesondere in der deutschsprachigen Welt geradezu tabu, in der Kategorie „national“ auch nur zu denken. Doch das ist in der dritten Generation danach vorbei und beginnt sich auch dort wieder zu normalisieren. Dazu hat in allerjüngster Zeit insbesondere der neue US-Präsident beigetragen, der ganz stark nur die nationalen Interessen der USA betont, während frühere US-Präsidenten zumindest rhetorisch sehr internationalistisch geklungen haben.

Die intellektuelle Rückkehr der nationalen Identität selbst in Deutschland zeigt etwa ein Text1 von Deutschlands wahrscheinlich wichtigstem Philosophen, Peter Sloterdijk. Dieser prophezeit dem Nationalstaat mit durchaus erfreutem Unterton „ein langes Leben“. Der Nationalstaat sei das einzige politische Großgebilde, das bis zur Stunde halbwegs funktioniere.

Solche Gedanken waren noch bis zur Jahrtausendwende völlig tabu gewesen. Oder sie wurden aus Sorge, sonst sofort zum Außenseiter gestempelt zu werden, nicht öffentlich geäußert.

Es geht aber nicht nur um die Rückkehr der Heimat in der deutschsprachigen Welt. In fast allen europäischen Ländern haben sich seit den achtziger Jahren neue, ähnlich scheinende Parteien außerhalb des traditionellen Spektrums herausgebildet. In manchen Ländern geschah das früher (wie in Österreich durch den charismatischen, wenn auch mit – erst post mortem ganz offenkundig gewordener – krimineller Energie ausgestatteten Jörg Haider oder in der Schweiz durch die SVP von Christoph Blocher), in anderen später (wie in Deutschland durch die „Alternative für Deutschland“ als Massenreaktion auf die „Rettung“ verschuldeter Euro-Staaten und zugleich auf die Tatenlosigkeit der Politik angesichts der Völkerwanderung).

Die Gründe des populistischen Aufblühens

Sechs mehr oder weniger in allen Ländern nachweisbare Gründe waren für das Aufblühen dieser neuen Parteien ausschlaggebend:

1. Die traditionellen Parteien haben massive Zeichen des Verbrauchtseins, des Machtmissbrauchs und der Korruption gezeigt.

als alternativlos darstellt.