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Maurice Leblanc

Die Insel der dreißig Särge

Roman

Maurice Leblanc

Die Insel der dreißig Särge

Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Lothar Schmidt
EV: Th. Knaur Nachf., Berlin, 1927 (358 S.)
1. Auflage, ISBN 978-3-962813-77-2

null-papier.de/587

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Inhaltsverzeichnis

An­mer­kung des Ver­le­gers

Vor­spiel

I. Die ver­las­se­ne Hüt­te

II. An der Küs­te des Ozeans

III. Vors­kis Sohn

IV. Die ar­men Leu­te von Sa­rek

V. Vier Frau­en am Kreuz

VI. Al­les­gut

VII. François und Ste­phan

VIII. To­des­angst

IX. Die To­des­kam­mer

X. Die Flucht

XI. Die Got­tes­gei­ßel

XII. Der Weg nach Gol­ga­tha

XIII. Eli Eli Lama Sa­ba­tha­ni

XIV. Der alte Drui­de

XV. Der un­ter­ir­di­sche Op­fer­saal

XVI. Der Grab­stein der Kö­ni­ge von Böh­men

XVII. »Grau­sa­mer Fürst, ge­hor­sam dem Ge­schick«

XVIII. Der Got­tes­stein

Epi­log

Dan­ke

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Ihr
Jür­gen Schul­ze

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Anmerkung des Verlegers

Ich habe mir er­laubt, die in der ur­sprüng­li­chen Über­set­zung ein­ge­deutsch­ten Na­men (An­ton, Franz, Rein­hold etc.) durch die rich­ti­gen Na­men (An­to­i­ne, François, Éric etc.) der fran­zö­si­schen Ori­gi­nal­fas­sung zu er­set­zen.

Jür­gen Schul­ze, Neuss 2018

Vorspiel

In­fol­ge der Um­wäl­zun­gen, die der Krieg her­vor­ge­ru­fen hat, er­in­nert sich heu­te kaum noch je­mand des so­ge­nann­ten Her­ge­mont-Skan­dals.

Ru­fen wir uns kurz die Er­eig­nis­se von da­mals ins Ge­dächt­nis zu­rück.

Im Juli 1902 ging An­to­i­ne d’Her­ge­mont – des­sen Stu­di­en über die me­ga­li­thi­schen Denk­mä­ler der Bre­ta­gne sehr ge­schätzt sind – mit sei­ner Toch­ter Véro­ni­que im Pa­ri­ser Bois de Bou­lo­gne spa­zie­ren, als er von vier un­be­kann­ten In­di­vi­du­en an­ge­fal­len und mit ei­nem Stock­schlag ins Ge­sicht nie­der­ge­schla­gen wur­de.

Nach kur­z­em Kampf und ver­zwei­fel­tem Wi­der­stand wur­de Véro­ni­que, die schö­ne Véro­ni­que, wie sie von ih­ren Freun­den ge­nannt wur­de, fort­ge­schleppt und in ein Au­to­mo­bil ge­wor­fen, das Zeu­gen die­ses sich sehr schnell ab­spie­len­den Vor­gan­ges in der Rich­tung nach Saint-Cloud da­von­fah­ren sa­hen.

Eine Ent­füh­rung also. Am fol­gen­den Mor­gen wuss­te je­der, worum es sich han­del­te. Graf Ale­xis Vorski, ein jun­ger pol­ni­scher Edel­mann von ziem­lich schlech­tem Ruf, aber groß­ar­ti­gem Auf­tre­ten, noch dazu an­geb­lich von kö­nig­li­chem Blu­te, lieb­te Véro­ni­que d’Her­ge­mont und Véro­ni­que lieb­te ihn wie­der. Vom Va­ter ab­ge­wie­sen und so­gar ver­schie­dent­lich von ihm be­lei­digt, war er auf die­ses Aben­teu­er ver­fal­len, bei dem üb­ri­gens Véro­ni­que auch nicht im ge­rings­ten die Hand im Spie­le hat­te.

An­to­i­ne d’Her­ge­mont, der – wie ei­ni­ge Brie­fe, die in die Öf­fent­lich­keit ge­lang­ten, be­stä­tig­ten – gleich­zei­tig hef­tig und zu­rück­hal­tend war und der durch sei­ne wun­der­li­chen Lau­nen, sei­nen grau­sa­men Ego­is­mus und sei­nen schmut­zi­gen Geiz sei­ne Toch­ter über­aus un­glück­lich ge­macht hat­te, schwor jetzt vor al­ler Welt, dass er sich in der un­ver­söhn­lichs­ten Wei­se rä­chen wür­de.

Er gab sei­ne Ein­wil­li­gung zu der Hei­rat, die zwei Mo­na­te spä­ter in Niz­za statt­fand, aber schon im nächs­ten Jahr er­fuhr man eine Rei­he auf­se­hen­er­re­gen­der Neu­ig­kei­ten. Ge­treu sei­nem Ra­che­schwur, ent­führ­te Herr d’Her­ge­mont das Kind, das aus der Ehe sei­ner Toch­ter mit Vorski her­vor­ge­gan­gen war, und in Vil­le­fran­che ging er an Bord der klei­nen Lust­jacht, die er neu ge­kauft hat­te.

Das Meer war be­wegt. Un­weit der ita­lie­ni­schen Küs­te sank die Jacht; die vier Ma­tro­sen, die an Bord wa­ren, wur­den von ei­ner Bar­ke auf­ge­nom­men. Nach ih­rem Zeug­nis wa­ren Herr d’Her­ge­mont und das Kind in den Wel­len um­ge­kom­men.

Als Véro­ni­que den si­che­ren Be­weis ih­res To­des er­langt hat­te, zog sie sich in ein Kar­me­li­te­rin­nen-Klos­ter zu­rück.

Dies sind die Tat­sa­chen. Vier­zehn Jah­re spä­ter soll­ten sie die ent­setz­lichs­ten und au­ßer­ge­wöhn­lichs­ten Ge­scheh­nis­se nach sich zie­hen. Ge­scheh­nis­se, die, ob­wohl ver­schie­de­ne Ein­zel­hei­ten auf den ers­ten Blick er­dich­tet schei­nen, sich doch wirk­lich zu­ge­tra­gen ha­ben. Aber der Krieg hat un­ser Le­ben so aus der Bahn des Ge­wöhn­li­chen her­aus­ge­ris­sen, dass auch vom Krie­ge un­be­rühr­te Er­eig­nis­se wie die, die wir er­zäh­len wol­len, gleich­sam et­was Un­ge­wöhn­li­ches, Un­lo­gi­sches und mit­un­ter Selt­sa­mes be­kom­men ha­ben. Es be­darf der gan­zen blen­den­den Hel­lig­keit der Wahr­heit, um die­sen Er­eig­nis­sen den Stem­pel ei­ner Wirk­lich­keit auf­zu­drücken, die letz­ten En­des sehr ein­fach ist.

I. Die verlassene Hütte

Mit­ten im Her­zen der Bre­ta­gne liegt das ma­le­ri­sche Dörf­chen Faouët. Dort fuhr an ei­nem schö­nen Mai­mor­gen ein Wa­gen ein, des­sen In­sas­sin eine Dame von so großer Schön­heit und so voll­kom­me­ner An­mut war, dass auch die wei­te graue Rei­se­klei­dung und der dich­te Schlei­er, der das gan­ze Ge­sicht be­deck­te, die­sen Ein­druck nicht ver­wi­schen konn­te.

Die Dame früh­stück­te in al­ler Eile in dem bes­ten Gast­haus des Dor­fes. Ge­gen Mit­tag bat sie den Wirt, ih­ren Kof­fer auf­zu­be­wah­ren, ließ sich ei­ni­ge Aus­künf­te über die Ge­gend ge­ben und ging, nach­dem sie das Dorf durch­quert hat­te, auf die Fel­der hin­aus.

Bald zweig­ten von der Stra­ße zwei Wege ab, der eine führ­te nach Quim­per­lé, der an­de­re nach Quim­per. Sie wähl­te den letz­te­ren, stieg eine Tal­sen­kung hin­un­ter, dann wie­der hin­auf und be­merk­te zu ih­rer Rech­ten am An­fang ei­nes Feld­we­ges einen Weg­wei­ser mit der Auf­schrift: Lo­criff 3 km.

»Das ist der Ort«, sag­te sie.

Nach­dem sie ge­naue Um­schau ge­hal­ten hat­te, be­merk­te sie nichts von al­lem, wo­nach sie such­te. Hat­te sie die An­ga­ben, die man ihr ge­macht hat­te, falsch ver­stan­den?

Rings­um­her war nie­mand zu se­hen, kei­ne Men­schen­see­le so­weit der Blick auch über die bre­to­ni­sche Erde schweif­te, über die von Bäu­men ein­ge­fass­ten Wie­sen und die wel­li­gen Hü­gel. Un­weit des Dor­fes er­blick­te sie die von jun­gem Früh­lings­grün um­sproß­te Front ei­nes Sch­löss­chens, des­sen Fens­ter sämt­lich ge­schlos­sen wa­ren. Es schlug zwölf und das An­ge­lus­läu­ten zit­ter­te durch die Luft. Dann wie­der laut­lo­se Stil­le und tiefer Frie­de.

Die Dame setz­te sich auf eine frisch­ge­mäh­te Bö­schung und zog einen Brief aus ih­rer Ta­sche, des­sen zahl­rei­che Blät­ter sie ent­fal­te­te.

Die ers­te Sei­te zeig­te oben fol­gen­den Fir­men­auf­druck:

A­gen­tur Du­treil­lis
De­tek­tiv­bü­ro
Ver­trau­li­che Aus­kunft
Dis­kre­ti­on.

dann dar­un­ter fol­gen­de Adres­se:

»An Frau Véro­ni­que, Mo­de­haus, Be­sançon.«

Sie las:

Sehr ge­ehr­te gnä­di­ge Frau!

Sie ah­nen nicht, mit wel­chem Ver­gnü­gen ich mich des dop­pel­ten Auf­tra­ges ent­le­digt habe, den Sie mir mit Ihrem Geehr­ten vom Mai des Jah­res 1917 er­teilt ha­ben. Ich habe nie­mals ver­ges­sen, un­ter wel­chen Um­stän­den es mir mög­lich war, Ih­nen vor vier­zehn Jah­ren wirk­sa­me Diens­te zu leis­ten, ge­le­gent­lich der pein­li­chen Er­eig­nis­se, die so dunkle Schat­ten auf Ihr Da­sein war­fen. Ich war es in der Tat, dem es ge­lang, völ­li­ge Ge­wiss­heit über den Tod Ihres lie­ben und eh­ren­wer­ten Va­ters, des Herrn An­to­i­ne d’Her­ge­mont, und Ihres heiß­ge­lieb­ten Soh­nes François zu ver­schaf­fen. Das war der ers­te Sieg ei­ner Lauf­bahn, die noch an­de­re glän­zen­de Er­fol­ge zei­ti­gen soll­te.

Ich war es gleich­falls, ver­ges­sen Sie dies nicht, der auf Ihre Bit­te hin und in der Ein­sicht wie nütz­lich es sei, Sie dem Hass und – spre­chen wir es ru­hig aus – der Lie­be Ihres Gat­ten zu ent­zie­hen, die ers­ten Schrit­te ge­tan hat, um Ihren Ein­tritt in das Kar­me­li­te­rin­nen-Klos­ter zu er­mög­li­chen. End­lich war auch ich es, der, nach­dem Ihre Zu­rück­ge­zo­gen­heit im Klos­ter Ih­nen ge­zeigt hat­te, dass die­ses Le­ben der Fröm­mig­keit Ih­rer Na­tur wi­der­sprach, Ih­nen jene be­schei­de­ne Stel­lung als Mo­dis­tin in Be­sançon ver­schafft hat, fern von den Stät­ten, wo sich die Jah­re Ih­rer Kind­heit und die Wo­chen Ih­rer Ehe ab­ge­spielt hat­ten. Sie hat­ten Ge­schmack, hat­ten das Be­dürf­nis nach Ar­beit, um zu le­ben und zu ver­ges­sen. Es muss­te Ih­nen ge­lin­gen und es ist Ih­nen ge­lun­gen.

Kom­men wir zur Sa­che, zu der dop­pel­ten Tat­sa­che, die uns be­schäf­tigt.

Zu­nächst die ers­te Fra­ge.

Was ist im Stru­del der Er­eig­nis­se aus Ihrem Gat­ten, dem Herrn Ale­xis Vorski, nach sei­nen Pa­pie­ren Pole von Ge­burt, nach sei­nen Re­den Sohn ei­nes Kö­nigs, ge­wor­den? Ich wer­de mich kurz fas­sen. Po­li­tisch ver­däch­tigt, seit Be­ginn des Krie­ges in ei­nem Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger ge­fan­gen ge­hal­ten, ist Herr Vorski ei­nes Ta­ges ent­flo­hen, in die Schweiz ent­wi­chen und schließ­lich nach Frank­reich zu­rück­ge­kehrt. Hier wur­de er fest­ge­nom­men und der Spio­na­ge über­führt. Das To­des­ur­teil war un­ver­meid­lich. Er ent­wich zum zwei­ten Male. Sei­ne Spu­ren ver­lo­ren sich im Wal­de von Fon­tai­nebleau, wo er schließ­lich, man wuss­te nicht recht von wem, durch einen Dolch­stich er­mor­det wur­de.

Ich er­zäh­le Ih­nen dies ganz scho­nungs­los, gnä­di­ge Frau, weiß ich doch, wel­che Ver­ach­tung Sie für die­ses We­sen emp­fin­den, das Sie so ab­scheu­lich ver­ra­ten hat, und dann ist mir ja auch be­kannt, dass Sie aus den Zei­tun­gen schon die meis­ten von die­sen Tat­sa­chen wuss­ten, ohne dass Sie in­des­sen ihre ab­so­lu­te Zu­ver­läs­sig­keit hät­ten fest­stel­len kön­nen.

Doch die Be­wei­se sind da. Ich habe sie ge­se­hen. Es gibt kei­nen Zwei­fel mehr. Ale­xis Vorski ist in Fon­tai­nebleau be­gra­ben.

Im An­schlus­se an die­se Mit­tei­lung er­lau­be ich mir, Sie, gnä­di­ge Frau, auf die selt­sa­men Um­stän­de die­ses To­des auf­merk­sam zu ma­chen. Sie er­in­nern sich wohl noch der merk­wür­di­gen Pro­phe­zei­ung, von der Sie mir spra­chen und die Herrn Vorski be­traf. Herr Vorski, des­sen an­ge­bo­re­ne In­tel­li­genz und un­ge­wöhn­li­che Ener­gie durch Un­klar­heit und Hang zum Aber­glau­ben be­ein­träch­tigt wur­den und den Hal­lu­zi­na­tio­nen und Angst­zu­stän­de pei­nig­ten, war von die­ser Weis­sa­gung sehr be­un­ru­higt. Sie las­te­te auf sei­nem Le­ben – sie war ihm von ver­schie­de­nen Leu­ten ge­macht wor­den, die in ok­kul­ten Wis­sen­schaf­ten be­wan­dert wa­ren.

›Vorski, Sohn des Kö­nigs, du wirst von der Hand ei­nes Freun­des ster­ben und dei­ne Frau wird ans Kreuz ge­schla­gen wer­den.‹ Gnä­di­ge Frau, wäh­rend ich die­se letz­ten Wor­te schrei­be, la­che ich! Das ist denn doch eine Stra­fe, die ein we­nig au­ßer Mode ge­kom­men ist, und in Be­zug auf Ihre Per­son bin ich be­ru­higt! Aber, was den­ken Sie über den Dolch­stoß, den Herr Vorski nach den ge­heim­nis­vol­len Wei­sun­gen des Schick­sals be­kom­men hat?

Aber ge­nug von die­sen Be­trach­tun­gen. Es han­delt sich jetzt dar­um …

Véro­ni­que ließ einen Au­gen­blick den Brief in ih­ren Schoß sin­ken. Die an­ma­ßen­de Schreib­wei­se, die ver­trau­li­chen Scher­ze des Herrn Du­treil­lis ver­letz­ten ihr Zart­ge­fühl. Auch hielt das tra­gi­sche Schick­sal von Ale­xis Vorski sie im Bann. Ein Schau­er durch­lief sie bei der schreck­li­chen Erin­ne­rung an die­sen Men­schen. Sie fass­te sich und be­gann von neu­em zu le­sen.

Gnä­di­ge Frau, es han­delt sich nun­mehr um eine zwei­te Mis­si­on, die wich­ti­ge­re in Ihren Au­gen, da al­les üb­ri­ge nur noch der Ver­gan­gen­heit an­ge­hört.

Stel­len wir ein­mal die Tat­sa­chen fest. Es war vor drei Wo­chen, als Sie an ei­nem Don­ners­tag abends aus­nahms­wei­se die stren­ge Ein­för­mig­keit Ihres Da­seins un­ter­bra­chen und mit Ihren An­ge­stell­ten ins Kino gin­gen. Hier be­geg­ne­te Ih­nen et­was höchst Selt­sa­mes. Der Haupt­film, ›Die bre­to­ni­sche Le­gen­de‹ ge­nannt, stell­te im Ver­lauf ei­ner Wall­fahrt eine Sze­ne dar, die sich an ei­nem Wege vor ei­ner klei­nen ver­las­se­nen Hüt­te ab­spiel­te, die mit der Hand­lung durch­aus nichts zu tun hat­te. Die­se Hüt­te stand of­fen­bar rein zu­fäl­lig da, aber et­was wahr­haft Un­ge­wöhn­li­ches lenk­te Ihre Auf­merk­sam­keit auf sie. Auf den ge­teer­ten Bret­tern der al­ten Tür stan­den mit der Hand ge­schrie­ben fol­gen­de drei Buch­sta­ben: ›V. v. H.‹ und die­se drei Buch­sta­ben wa­ren ganz ein­fach die An­fangs­buch­sta­ben Ihres Mäd­chen­na­mens, wie Sie sie frü­her in Ihren Fa­mi­li­en­brie­fen ge­braucht hat­ten und wie Sie sie seit 14 Jah­ren nicht ein ein­zi­ges Mal mehr an­ge­wandt ha­ben! Véro­ni­que d’Her­ge­mont! Kein Irr­tum mög­lich. Zwei große Buch­sta­ben, ge­trennt durch das klei­ne v, und was noch be­son­ders auf­fäl­lig war, der Qu­er­strich des Buch­sta­bens H war un­ter­halb der drei Buch­sta­ben nach rück­wärts ge­zo­gen, gleich­sam einen Schnör­kel bil­dend, ge­nau so wie Sie es frü­her ge­tan ha­ben. Der Schre­cken über die­ses selt­sa­me Zu­sam­men­tref­fen ver­an­lass­te Sie, mei­ne Hil­fe in An­spruch zu neh­men. Sie war Ih­nen von vorn­her­ein si­cher, und Sie wuss­ten, dass sie wirk­sam sein wür­de.

Wie Sie wohl er­war­ten dürf­ten, bin ich zum Ziel ge­langt.

Mei­ner Ge­wohn­heit ge­mäß wer­de ich mich wei­ter kurz fas­sen.

Gnä­di­ge Frau, neh­men Sie in Pa­ris den Abend­zug, der Sie am fol­gen­den Mor­gen nach Quim­per­lé brin­gen wird. Von da mie­ten Sie einen Wa­gen bis nach Faouët. Dann ge­hen Sie zu Fuß auf der Stra­ße nach Quim­per wei­ter. Nach dem ers­ten Hü­gel, ein we­nig vor dem Feld­weg, der nach Lo­criff führt, steht auf ei­ner im Hal­brund von Bäu­men ein­ge­fass­ten An­hö­he die ver­las­se­ne Hüt­te, die jene In­schrift trägt. Nichts Be­mer­kens­wer­tes ist an ihr zu se­hen. Das In­ne­re ist nichts als ein lee­rer Raum. Ein ver­faul­tes Brett dient als Bank. Als Dach ein Rah­men aus Holz, durch den es hin­durch­reg­net. Ich wie­der­ho­le, es steht au­ßer Zwei­fel, dass nur der Zu­fall die­se Hüt­te in den Ge­sichts­kreis des auf­neh­men­den Ki­ne­ma­to­gra­fen ge­bracht hat. Ich will noch hin­zu­fü­gen, dass der Film ›Die bre­to­ni­sche Le­gen­de‹ im ver­flos­se­nen Sep­tem­ber auf­ge­nom­men wur­de, dass mit­hin die In­schrift also min­des­tens acht Mo­na­te zu­rück­da­tiert wer­den muss.

So­weit der Tat­be­stand, gnä­di­ge Frau. Mei­ne dop­pel­te Auf­ga­be ist be­en­det. Ich bin zu be­schei­den, um Ih­nen zu sa­gen, nach wel­chen An­stren­gun­gen und durch wel­che sinn­rei­che Mit­tel ich sie in so kur­z­er Zeit habe er­le­di­gen kön­nen. Sie wür­den sonst die Sum­me von 500 Frank, auf die ich das Ho­no­rar mei­ner Be­mü­hun­gen be­stimm­te, wirk­lich et­was lä­cher­lich fin­den. Ge­neh­mi­gen Sie, gnä­di­ge Frau …

Véro­ni­que fal­te­te den Brief wie­der zu­sam­men und über­ließ sich ei­ni­ge Mi­nu­ten dem Ein­druck, den die­se Lek­tü­re in ihr her­vor­ge­ru­fen hat­te. Ein sehr schmerz­haf­tes Ge­fühl war es, wie al­les, was ihr die gräss­li­chen Tage ih­rer Ehe in die Erin­ne­rung zu­rück­rief. Ein Ein­druck be­son­ders war in ihr eben­so wach ge­blie­ben wie am Tage, da sie, um sich ihm zu ent­zie­hen, in den Schat­ten ei­nes Klos­ters ver­schwun­den war. Es war das Ge­fühl, die Ge­wiss­heit so­gar, dass all ihr Un­glück, dass der Tod ih­res Va­ters, der Tod ih­res Soh­nes, al­les von der Schuld her­rühr­te, die sie durch ihre Lie­be zu Vorski auf sich ge­la­den hat­te. Ge­wiss, sie hat­te sich ge­gen die Lie­be die­ses Man­nes ge­wehrt, sie hat­te sich nur ge­zwun­gen zu der Hei­rat ent­schlos­sen, rein aus Verzweif­lung und um Herrn d’Her­ge­mont der Ra­che Vors­kis zu ent­zie­hen. Aber trotz al­le­dem hat­te sie ihn ge­liebt, die­sen Mann. Trotz al­le­dem war sie im An­fang er­bleicht un­ter sei­nem Blick und von al­lem, was ihr heu­te eine un­ver­zeih­li­che Feig­heit schi­en, blieb in ihr ein Ge­fühl der Reue, das die Zeit nicht ge­mil­dert hat­te.

»Vor­wärts«, mur­mel­te sie, »ge­nug ge­träumt, ich bin nicht hier­her ge­kom­men, um zu wei­nen.«

Die Neu­gier­de, die sie aus ih­rer Zu­rück­ge­zo­gen­heit in Be­sançon her­aus­ge­lockt hat­te, er­wach­te von neu­em, und – zum Han­deln ent­schlos­sen – stand sie auf.

»Ein we­nig vor dem Feld­weg, der nach Lo­criff führt, auf ei­ner im Hal­brund von Bäu­men ein­ge­fass­ten An­hö­he« be­sag­te der Brief des Herrn von Du­treil­lis. Sie war also schon an dem Ort vor­über. In großer Eile ging sie zu­rück und be­merk­te als­bald zu ih­rer Rech­ten die Baum­grup­pe, wel­che die Hüt­te ih­ren Bli­cken ent­zo­gen hat­te. Als sie nä­her hin­zu­kam, konn­te sie die Hüt­te se­hen.

Es war eine Art Schutz­hüt­te für einen Hir­ten oder einen Chaus­see-Ar­bei­ter, die un­ter dem Ein­fluss der Wit­te­rung schon bau­fäl­lig ge­wor­den war. Véro­ni­que trat nä­her und stell­te fest, dass die In­schrift, die durch Son­ne und Re­gen schon ge­lit­ten hat­te, weit we­ni­ger deut­lich zu se­hen war als auf dem Film; aber die drei Buch­sta­ben wa­ren gut zu er­ken­nen, eben­so der Schnör­kel. Und sie ent­deck­te so­gar dar­un­ter et­was, was Herr Du­treil­lis nicht fest­ge­stellt hat­te, näm­lich einen Pfeil und eine Num­mer, die Num­mer 9.

Ihre Er­re­gung wuchs. Ob­wohl man in kei­ner Wei­se ver­sucht hat­te, ihre Hand­schrift nach­zuah­men, war es doch die Un­ter­schrift ih­res Mäd­chen­na­mens. Wer hat­te hier in der Bre­ta­gne, wo sie nie­mals ge­we­sen war, auf ei­ner ver­las­se­nen Hüt­te die­se Buch­sta­ben an­brin­gen kön­nen?

Véro­ni­que kann­te auf der Welt kei­nen Men­schen, mehr. Durch eine Fol­ge von Um­stän­den war mit dem Tode al­ler de­rer, die sie ge­liebt und ge­kannt hat­te, ihre gan­ze Ver­gan­gen­heit ver­sun­ken. Wie war es also mög­lich, dass die Erin­ne­rung an ih­ren Na­mens­zug au­ßer in ihr und de­nen, die nicht mehr leb­ten, noch fort­be­stand? Und dann vor al­lem: was soll­te die­se In­schrift hier an die­sem Orte? Was be­deu­te­te sie?

Véro­ni­que ging um die Hüt­te her­um. We­der hier noch auf den Bäu­men rings­um fand sie ein an­de­res Zei­chen. Sie er­in­ner­te sich, dass Herr Du­treil­lis die Hüt­te ge­öff­net und auch im In­nern nichts ent­deckt hat­te. Trotz­dem woll­te sie sich selbst ver­ge­wis­sern, ob er sich nicht ge­täuscht habe.

Die Tür war durch einen ein­fa­chen höl­zer­nen Rie­gel ver­schlos­sen. Sie hob die­sen Rie­gel, und merk­wür­dig ge­nug, sie muss­te sich un­er­klär­li­cher­wei­se einen zwar nicht kör­per­li­chen, so doch see­li­schen Zwang an­tun und ihre gan­ze Wil­lens­kraft auf­wen­den, um die­sen Rie­gel zu he­ben. Es schi­en, als ob sie mit die­ser Be­we­gung in eine Welt von Ge­scheh­nis­sen und Tat­sa­chen ein­trä­te, vor der sie un­be­wusst zu­rück­schreck­te.

»Was soll das?« sag­te sie zu sich selbst, »was hält mich zu­rück?« und sie öff­ne­te has­tig. Ein Schrei des Ent­set­zens ent­fuhr ihr. In der Hüt­te lag der Leich­nam ei­nes Man­nes, und in dem glei­chen Au­gen­blick, wo sie den Leich­nam sah, be­merk­te sie auch das be­son­de­re Merk­mal die­ses To­ten: die eine Hand fehl­te.

Es war ein Greis, des­sen Bart fä­cher­ar­tig aus­ein­an­der­fiel und des­sen lan­ges wei­ßes Haar ihm bis zum Hal­se her­ab­hing. Die schwärz­li­chen Lip­pen, eine ge­wis­se fle­cki­ge Far­be der Haut brach­ten Véro­ni­que auf den Ge­dan­ken, dass er viel­leicht ver­gif­tet wor­den sei, denn sein Kör­per zeig­te kei­ne Spur ei­ner Ver­wun­dung, mit Aus­nah­me der klaf­fen­den Wun­de am Arm, ober­halb des Hand­ge­len­kes, die schon ei­ni­ge Tage alt sein moch­te. Sei­ne Klei­dung war die ei­nes bre­to­ni­schen Bau­ern, sau­ber, aber sehr ab­ge­tra­gen. Die Lei­che lag in sit­zen­der Stel­lung auf dem Bo­den, den Kopf an die Bank ge­lehnt und die Bei­ne ein­ge­zo­gen.

Alle die­se Fest­stel­lun­gen mach­te Véro­ni­que halb un­be­wusst. Erst spä­ter soll­ten sie ihr zum Be­wusst­sein kom­men, denn im Au­gen­blick blieb sie zit­ternd, mit star­rem Blick, wie an­ge­wur­zelt ste­hen und stam­mel­te:

»Ein Leich­nam, ein Leich­nam …«

Plötz­lich kam ihr der Ge­dan­ke, dass sie sich viel­leicht täu­sche, und dass die­ser Mann viel­leicht nicht tot sei. Als sie aber sei­ne Stir­ne be­rühr­te, er­schau­er­te sie bei der Berüh­rung die­ser eis­kal­ten Haut.

Die­se Be­we­gung riss sie aus ih­rer Starr­heit. Sie be­schloss zu han­deln, und da rings­um nie­mand zu se­hen war, woll­te sie nach Faouët zu­rück­keh­ren, um die Be­hör­de zu be­nach­rich­ti­gen. Vor­her aber be­trach­te­te sie sorg­fäl­tig den Leich­nam, um zu se­hen, ob nicht ein An­halts­punkt für sei­ne Iden­ti­tät zu fin­den wäre.

Die Ta­schen wa­ren leer. Wä­sche und Klei­der wa­ren nicht ge­zeich­net. Als sie aber, um ihre Nach­for­schun­gen aus­zu­füh­ren, den Leich­nam ein we­nig bei­sei­te schob, neig­te sich der Kopf nach vorn, der Ober­kör­per sank vorn über die Bei­ne, und der Raum un­ter der Bank wur­de sicht­bar.

Un­ter der Bank ent­deck­te sie ein zu­sam­men­ge­roll­tes Pa­pier mit ei­ner fast ver­wisch­ten Zeich­nung. Es war zer­knit­tert, gleich­sam mit Ge­walt zer­rie­ben und zu­sam­men­ge­dreht. Sie hob es auf und fal­te­te es aus­ein­an­der. Aber kaum hat­te sie dies ge­tan, als ihre Hän­de zu zit­tern be­gan­nen, und sie stam­mel­te: »O mein Gott … O mein Gott!« Mit al­ler Wil­lens­kraft woll­te sie sich zur Ruhe zwin­gen und mit Au­gen schau­en, die ru­hig prüf­ten, und mit ei­nem Ge­hirn ar­bei­ten, das die Din­ge er­fass­te.

Dies ge­lang ihr für höchs­tens ei­ni­ge Se­kun­den, aber wäh­rend die­ser Se­kun­den un­ter­schied sie durch einen im­mer dich­ter wer­den­den Ne­bel hin­durch, der ihr Auge zu ver­schlei­ern droh­te, eine rote Zeich­nung, die vier an vier Bäu­men ge­kreu­zig­te Frau­en dar­stell­te.

Und als ers­te sah sie auf die­ser Zeich­nung im Mit­tel­punkt des Bil­des eine ver­schlei­er­te, schon er­starr­te Ge­stalt, de­ren Züge trotz der ent­setz­li­chen Qua­len noch deut­lich zu er­ken­nen wa­ren. Die­se ge­kreu­zig­te Frau war sie selbst. Kein Zwei­fel, sie war es, sie selbst, Véro­ni­que d’Her­ge­mont. Auch be­fand sich ober­halb des Haup­tes, nach an­ti­kem Mus­ter, ein Schild mit ei­ner stark her­vor­tre­ten­den In­schrift.

Es war der Na­mens­zug: V. v. H. Véro­ni­que d’Her­ge­mont.

Ein krampf­ar­ti­ges Zit­tern durch­lief sie. Sie rich­te­te sich auf, tas­te­te schwin­delnd nach der Tür und sank ohn­mäch­tig in das Gras.

Véro­ni­que war eine ge­sun­de, große und kräf­ti­ge Frau von be­wun­derns­wer­tem Gleich­ge­wicht, de­ren see­li­sche Har­mo­nie nie­mals durch die Prü­fun­gen, die sie er­dul­det hat­te, er­schüt­tert wur­de. Es be­durf­te schon au­ßer­ge­wöhn­li­cher, un­vor­her­ge­se­he­ner Er­leb­nis­se, wie die­se im Ve­rein mit zwei im Zug ver­brach­ten Näch­ten, um ihre Ner­ven und ihre Wil­lens­kraft völ­lig zu er­schüt­tern.

Die­se Schwä­che dau­er­te üb­ri­gens nur zwei bis drei Mi­nu­ten, dann wur­den ihre Ge­dan­ken wie­der klar, und sie fand ih­ren Mut wie­der.

Sie er­hob sich, trat noch ein­mal in die Hüt­te, er­griff das Pa­pier und las es, wenn auch mit un­sag­ba­rer Her­zens­angst, so doch mit Au­gen, die ru­hig prüf­ten, und mit ei­nem Ge­hirn, das die Din­ge er­fass­te.

Zu­erst die Ein­zel­hei­ten, die un­be­deu­tend schie­nen oder de­ren Be­deu­tung ihr zu­nächst nicht klar ward. Links eine schma­le Spal­te von un­ge­fähr vier­zehn Zei­len, die kei­ne Wor­te ent­hiel­ten, son­dern nur aus Buch­sta­ben be­stan­den, aus im­mer glei­chen Stri­chen, die nur zum Aus­fül­len be­stimmt zu sein schie­nen.

An ver­schie­de­nen Stel­len wa­ren im­mer­hin ei­ni­ge Wor­te zu le­sen und Véro­ni­que ent­zif­fer­te:

»Vier Frau­en am Kreuz«

wei­ter un­ten:

»Drei­ßig Sär­ge«

und am Schluss eine gan­ze fol­gen­der­ma­ßen lau­ten­de Zei­le:

»Stein Got­tes, der Tod oder Le­ben gibt.«

Die­se gan­ze Spal­te war von zwei re­gel­mä­ßig ge­führ­ten Li­ni­en ein­ge­rahmt. Die eine mit ro­ter, die an­de­re mit schwar­zer Tin­te ge­zo­gen. Oben, gleich­falls rot, sah man eine Dar­stel­lung zwei­er von ei­nem Mis­pel­zweig um­schlun­ge­ner Si­cheln, und dar­un­ter den Schat­ten­riss ei­nes Sar­ges.

Der rech­te, bei wei­tem wich­tigs­te Teil des Bil­des war ganz aus­ge­füllt durch die blut­far­be­ne Zeich­nung, die der gan­zen Sei­te mit der da­ne­ben­ste­hen­den Er­klä­rung das Aus­se­hen ei­ner Buch­sei­te gab oder viel­mehr der Nach­ah­mung ei­ner Buch­sei­te – das Blatt sah aus wie das ei­nes großen mit Bil­der­schmuck ver­se­he­nen al­ter­tüm­li­chen Bu­ches – worin die Ge­gen­stän­de ein we­nig naiv, in völ­li­ger Un­kennt­nis der Ge­set­ze der Per­spek­ti­ve dar­ge­stellt sind.

Es wa­ren vier Frau­en an Kreu­zen. Drei von ih­nen füll­ten, im­mer klei­ner wer­dend, den Hin­ter­grund. Sie tru­gen bre­to­ni­sche Tracht und auf dem Kopf eine bre­to­ni­sche Hau­be von be­son­de­rer Art, die nur an be­stimm­ten Or­ten üb­lich war, mit brei­ter, schwar­zer, nach El­säs­ser Art ge­kno­te­ter Schlei­fe. In der Mit­te der Sei­te aber be­fand sich das Schreck­li­che, von dem Véro­ni­que ih­ren ent­setz­ten Blick nicht los­lö­sen konn­te: Das Haupt­kreuz, an dem rechts und links die Arme der Frau her­un­ter­hin­gen.

Hän­de und Füße wa­ren nicht durch Nä­gel ge­hal­ten, son­dern durch einen Strick, der bis zu den Schul­tern und bis hin­auf zur Ga­be­lung der Bei­ne reich­te. An Stel­le der bre­to­ni­schen Tracht trug die­ses Op­fer eine Art Schul­ter­tuch, das fast bis zur Erde reich­te und den durch die Mar­te­rung ab­ge­ma­ger­ten Kör­per noch ma­ge­rer er­schei­nen ließ.

Der Aus­druck des Ge­sich­tes war herz­zer­rei­ßend. Es war ein Aus­druck schmerz­li­cher Er­ge­ben­heit. Es war das Ge­sicht Véro­ni­ques, so wie sie sich er­in­ner­te, als Zwan­zig­jäh­ri­ge aus­ge­se­hen zu ha­ben, wenn sie in trü­ben Stun­den mit hoff­nungs­lo­sen Au­gen und trä­nen­über­strömt in den Spie­gel ge­se­hen hat­te.

Und da war auch die dich­te Flut ih­res Haa­res, das in gleich­mä­ßi­gen Wel­len bis auf den Gür­tel her­ab­fiel.

Und oben die In­schrift V. v. H.

Véro­ni­que blieb lan­ge in Nach­den­ken ver­sun­ken, sie be­frag­te ihre Ver­gan­gen­heit und ver­such­te in dem Dun­kel eine Ver­bin­dung her­zu­stel­len zwi­schen den Er­eig­nis­sen von jetzt und den Erin­ne­run­gen ih­rer Kind­heit; aber ihr Geist konn­te es zu kei­ner Klar­heit brin­gen. Die Wor­te, die sie las, die Zeich­nung, die sie sah, nichts von all­dem hat­te auch nur den ge­rings­ten Sinn für sie, nichts hät­te zu der kleins­ten Auf­klä­rung füh­ren kön­nen.

Meh­re­re Male prüf­te sie das Pa­pier, end­lich zer­riss sie es lang­sam in lau­ter klei­ne Stück­chen, die der Wind fort­trug. Als das letz­te Stück­chen da­von­flog, war ihr Ent­schluss ge­fasst. Sie schloss die Tür und ent­fern­te sich ei­ligst in der Rich­tung nach dem Dor­fe, um die­sem Ge­scheh­nis den ge­richt­li­chen Ab­schluss zu ge­ben, der im Au­gen­blick al­lein mög­lich war.

Als sie aber eine Stun­de spä­ter mit dem Bür­ger­meis­ter von Faouët, dem Feld­hü­ter und ei­ner An­zahl Neu­gie­ri­ger, die durch ihre Er­zäh­lung an­ge­lockt wa­ren, zu­rück­kam, war die Hüt­te leer.

Der Leich­nam war ver­schwun­den.

All dies war so son­der­bar und Véro­ni­que wuss­te wohl, dass es ihr in dem Wirr­warr ih­rer Ge­dan­ken un­mög­lich war, auf die Fra­gen, die man an sie rich­te­te, zu ant­wor­ten; eben­so­we­nig gab sie sich Mühe, den Zwei­fel, den man viel­leicht ge­gen ih­ren ge­sun­den Ver­stand heg­te, zu zer­streu­en. Sie mach­te kei­nen Ver­such, Miss­deu­tun­gen zu ver­mei­den. Der Wirt war auch da und so frag­te sie ihn, wel­ches das nächs­te Dorf sei, das auf dem Wege lie­ge, und ob sie auf die­se Wei­se an eine Bahn­sta­ti­on käme, die ihr die Rück­kehr nach Pa­ris er­mög­lich­te.

Sie merk­te sich die bei­den Na­men Scaër und Ros­por­den, be­stell­te einen Wa­gen, der mit ih­rem Kof­fer sie un­ter­wegs ein­ho­len soll­te, und ging.

Sie reis­te ab, so­zu­sa­gen ins Blaue hin­ein. Der Weg war lang. Mei­len und wie­der Mei­len, aber sie hat­te es so ei­lig, die­sen un­be­greif­li­chen Er­eig­nis­sen ein Ende zu ma­chen und wie­der Ruhe und Ver­ges­sen zu fin­den, dass sie mit großen Schrit­ten vor­wärts streb­te, ohne zu be­den­ken, dass die­se An­stren­gung über­flüs­sig war, da ja der Wa­gen ihr folg­te.

Sie stieg bergan, dann wie­der tal­wärts, und sie dach­te an nichts mehr. Sie wehr­te sich da­ge­gen, eine Lö­sung zu su­chen für all die Rät­sel, die sich ihr dar­bo­ten, und sie hat­te eine fürch­ter­li­che Angst vor die­ser ih­rer Ver­gan­gen­heit, die den Zeit­raum von ih­rer Ent­füh­rung durch Vorski bis zu dem Tode ih­res Va­ters und ih­res Kin­des um­fass­te …

An nichts wei­ter woll­te sie den­ken als an das ganz be­schei­de­ne Le­ben, das sie sich in Be­sançon ge­schaf­fen hat­te. Dort gab es kei­nen Kum­mer, kei­ne Träu­me, kei­ne Erin­ne­run­gen, und sie zwei­fel­te nicht dar­an, dass sie in­mit­ten ih­rer klei­nen täg­li­chen Ver­pflich­tun­gen, die sie in dem be­schei­de­nen, von ihr ge­wähl­ten Be­ruf ein­hüll­ten, die ver­las­se­ne Hüt­te, den ver­stüm­mel­ten Leich­nam, die ent­setz­li­che Zeich­nung und die ge­heim­nis­vol­le In­schrift ver­ges­sen wür­de.

Als sie aber noch vor dem Markt­fle­cken Scaër den Huf­schlag ei­nes Pfer­des hin­ter sich hör­te, sah sie an der Stel­le, wo die Land­stra­ße nach Ros­por­den ab­bog, ein al­tes Ge­mäu­er, das von ei­nem hal­b­ein­ge­stürz­ten Haus üb­rig­ge­blie­ben war.

Und auf die­ser Mau­er stand über ei­nem Pfeil und der Num­mer neun mit wei­ßer Krei­de jene schick­sals­schwe­re In­schrift: V. v. H.

II. An der Küste des Ozeans

Véro­ni­ques see­li­sche Ver­fas­sung schlug plötz­lich um. So sehr sie mit al­ler Ent­schie­den­heit vor der Ge­fahr zu­rück­wich, die ihr von ih­rer schlim­men Ver­gan­gen­heit her­zu­kom­men schi­en, so sehr war sie den­noch ent­schlos­sen, den furcht­ba­ren Weg, der sich vor ihr zeig­te, bis zu Ende zu ge­hen.

Die­ser Um­schwung rühr­te wohl da­her, dass plötz­lich et­was Licht in das Dun­kel zu drin­gen schi­en. Sie ver­stand plötz­lich, um was es sich han­del­te. Um eine ganz ein­fa­che Sa­che üb­ri­gens, dass näm­lich der Pfeil eine Rich­tung an­zeig­te, und dass die Num­mer Zehn die zehn­te ei­ner Rei­he und die Mar­kie­rung ei­ner Weg­stre­cke be­deu­ten muss­te.

War es ein Zei­chen, das je­mand ei­nem an­de­ren gab, um sei­ne Schrit­te zu len­ken? War hier­mit ein Fin­ger­zeig zur Lö­sung des Rät­sels ge­ge­ben, in­wie­fern die Un­ter­schrift aus ih­rer Mäd­chen­zeit mit all die­sen tra­gi­schen Um­stän­den ver­ket­tet war?

In die­sem Au­gen­blick er­reich­te sie der Wa­gen, der ihr von Faouët nach­ge­schickt war. Sie stieg ein und be­fahl dem Kut­scher, in lang­sa­mem Tem­po in der Rich­tung nach Ros­por­den zu fah­ren. Ge­gen Mit­tag lang­te sie dort an, und ihre Vorah­nun­gen hat­ten sie nicht ge­täuscht. Zwei­mal sah sie, je­des Mal, wenn ein Weg ab­zweig­te, ih­ren Na­mens­zug in Ver­bin­dung mit den Zah­len elf und zwölf.

Véro­ni­que ver­brach­te die Nacht in Ros­por­den, und gleich am fol­gen­den Mor­gen nahm sie ihre Nach­for­schun­gen wie­der auf.

Die Zahl zwölf, die sie auf ei­ner Kirch­hof­mau­er fand, führ­te sie auf die Stra­ße von Con­car­neau, die sie auch er­reich­te, ohne dass an­de­re In­schrif­ten zu fin­den ge­we­sen wä­ren.

Sie nahm also an, dass sie sich ge­täuscht habe, kehr­te um und ver­lor einen gan­zen Tag mit un­nüt­zem Su­chen.

Erst am fol­gen­den Tag wies ihr die stark ver­wit­ter­te Num­mer drei­zehn die Rich­tung nach Fou­es­naut.

End­lich kam sie an den Ozean, und zwar an den wei­ten Strand von Beg-Meil.

Hier im Dor­fe ver­brach­te sie zwei Näch­te, ohne dass ihr auf ihre vor­sich­ti­gen Fra­gen eine Ant­wort ge­wor­den wäre. Ei­nes Mor­gens end­lich, nach­dem sie lan­ge Zeit bald zwi­schen Fel­sen, die halb un­ter Was­ser sich längs der Küs­te hin­zie­hen, bald an der nied­ri­gen Fel­sen­küs­te um­her­ge­irrt war, ent­deck­te sie vor ei­nem aus Erde und Zwei­gen ge­bil­de­ten Un­ter­schlupf, der frü­her ein­mal den Grenz­be­am­ten ge­dient ha­ben moch­te, einen klei­nen Men­hir Man nennt Men­hir die aus der Ur­zeit der Bre­ta­gne stam­men­den Denk­mä­ler in der Form ei­ner Säu­le.

Auf die­sem Men­hir stand jene In­schrift mit der Zahl sieb­zehn da­hin­ter.

Kei­ner­lei Pfeil dies­mal … son­dern nur ein ein­fa­cher Punkt da­ne­ben. Das war al­les.

In der Höh­lung drei zer­bro­che­ne Fla­schen und lee­re Kon­ser­ven­büch­sen.

»Hier ist das End­ziel«, sag­te sich Véro­ni­que. »Man hat hier ge­ges­sen, viel­leicht schon auf Vor­rat Le­bens­mit­tel un­ter­ge­bracht.«

In die­sem Au­gen­blick be­merk­te sie, dass gar nicht weit von hier, am Ran­de ei­ner klei­nen Bucht, die sich in­mit­ten der be­nach­bar­ten Fel­sen wie eine Mu­schel run­de­te, ein Mo­tor­boot schau­kel­te.

Sie hör­te Stim­men, die aus dem Dor­fe her­über­dran­gen. Eine Män­ner- und eine Frau­en­stim­me.

Von ih­rem Stand­ort aus konn­te sie vor­erst nur einen ziem­lich be­jahr­ten Mann se­hen, der ein hal­b­es Dut­zend Sä­cke schlepp­te, die er mit fol­gen­den Wor­ten ab­setz­te: »Ihr habt also eine gute Rei­se ge­habt, Mut­ter Ho­no­ri­ne?«

»Aus­ge­zeich­net.«

»Und wo war’t Ihr?«

»In Pa­ris. Acht Tage fort­ge­we­sen. Be­sor­gun­gen für mei­nen Herrn …«

»Zufrie­den, dass Ihr wie­der da seid?«

»Na, das will ich mei­nen!«

»Und seht Ihr wohl, Mut­ter Ho­no­ri­ne? Euer Boot liegt noch an der­sel­ben Stel­le. Alle Tage habe ich da­nach ge­se­hen. Heu­te Mor­gen habe ich end­lich das Se­gel ein­ge­zo­gen; die Scha­lup­pe läuft noch im­mer gut?«

»Wun­der­bar.«

»Ihr ver­steht aber auch et­was vom Steu­ern, Mut­ter Ho­no­ri­ne! Wer hät­te je ge­dacht, dass Ihr ein­mal die­ses Hand­werk be­trei­ben wür­det!«

»Das macht der Krieg. Alle jun­gen Leu­te von un­se­rer In­sel sind fort, die an­de­ren sind auf Fisch­fang, auch gibt es kei­ne Schiffs­ver­bin­dung wie frü­her alle vier­zehn Tage. So ma­che ich eben die Be­sor­gun­gen.«

»Aber das Ben­zin?«

»Da­von ha­ben wir ge­nug. In der Be­zie­hung ist nichts zu fürch­ten.«

»So wäre also al­les in Ord­nung, Mut­ter Ho­no­ri­ne? Kann man geh’n oder soll ich Euch hel­fen, die Sa­chen auf­la­den?«

»Ist nicht nö­tig, Ihr habt es ei­lig.«

»Für heu­te also wäre al­les in Ord­nung«, wie­der­hol­te der bie­de­re Mann, »bis aufs nächs­te Mal, Mut­ter Ho­no­ri­ne. Ich wer­de die Pa­ke­te schon vor­her zu­recht ma­chen«, und er ging da­von, in­dem er im Weiter­schrei­ten noch ein­mal zu­rück­rief:

»Gebt nur acht auf die Klip­pen, die Eure ver­damm­te In­sel um­ge­ben. Sie hat ge­ra­de kei­nen gu­ten Ruf, Eure In­sel. Nicht um­sonst nennt man sie die In­sel mit den drei­ßig Sär­gen. Viel Glück zur Über­fahrt, Mut­ter Ho­no­ri­ne!«

Er ver­schwand hin­ter ei­nem Fel­sen.

Véro­ni­que war zu­sam­men­ge­fah­ren. Die drei­ßig Sär­ge! Die glei­chen Wor­te, die sie am Ran­de der ent­setz­li­chen Zeich­nung ge­le­sen hat­te!

Sie beug­te sich vor. Die alte Frau nä­her­te sich in­zwi­schen dem Boot, und nach­dem sie an­de­re Vor­rä­te, die sie selbst ge­tra­gen hat­te, ver­staut hat­te, wand­te sie sich um. Jetzt sah Véro­ni­que sie von vorn. Sie trug die Tracht der bre­to­ni­schen Frau­en und auf ih­rer Hau­be eine große Schlei­fe aus schwar­zem Samt.

»O mein Gott«, stam­mel­te Véro­ni­que. »Es ist die­sel­be Hau­be wie die der drei Frau­en am Kreuz!«

Die Frau moch­te un­ge­fähr vier­zig Jah­re sein. Ihr großes, ener­gi­sches, von Wind und Wet­ter ge­bräun­tes Ge­sicht hat­te kno­chi­ge Züge und war grob ge­schnit­ten, doch zwei große, schwar­ze und klu­ge Au­gen be­leb­ten es. Eine schwe­re gol­de­ne Ket­te hing an ih­rer Brust. Sie trug ein eng an­lie­gen­des Samt­mie­der.

Wäh­rend sie ihre Pa­ke­te in das Boot trug, wo­bei sie auf einen großen Stein nie­der­kni­en muss­te, an dem es ver­an­kert war, sang sie lei­se vor sich hin. Es war ein lang­sa­mer und ein­tö­ni­ger Sang, eine Art Wie­gen­lied. Wäh­rend sie es sang, lä­chel­te sie, und Véro­ni­que sah ihre schö­nen wei­ßen Zäh­ne leuch­ten.


Sprach die Mut­ter zu dem Kind:
Wei­ne nicht und schlaf ge­schwind!
Wenn sie dich so wei­nen schaut,
Wei­net auch die Him­mels­braut.
Nimm die Händ­chen, fal­te sie:
Bete lä­chelnd zu Ma­rie.

Sie konn­te nicht zu Ende sin­gen, denn plötz­lich stand Véro­ni­que vor ihr, ihr Ge­sicht war bleich und ver­zerrt. Be­stürzt mur­mel­te sie:

»Was ist denn?«

Mit zit­tern­der Stim­me frag­te Véro­ni­que:

»Wer hat Sie die­ses Lied ge­lehrt? … Wo­her ken­nen Sie es? Es ist ein Lied von mei­ner Mut­ter … Es ist aus ih­rer Hei­mat Sa­voy­en … Und seit dem sie tot ist, habe ich es nie mehr ge­hört … Ich möch­te gern …«

Sie ver­stumm­te. Die Frau be­trach­te­te sie mit stum­mem Er­stau­nen, es schi­en, als ob auch sie Lust hät­te, Fra­gen zu stel­len.

Véro­ni­que aber wie­der­hol­te:

»Wer hat es Sie ge­lehrt?«

»Je­mand aus der Ge­gend«, ant­wor­te­te end­lich die Frau, die man Mut­ter Ho­no­ri­ne nann­te.

»Von dort?«

»Ja, je­mand von mei­ner In­sel.«

Mit ei­ner Art schau­ri­ger Ah­nung un­ter­brach sie Véro­ni­que.

»Das ist die In­sel mit den drei­ßig Sär­gen?«

»So nennt man sie, ei­gent­lich heißt sie Sa­rek.«

Stumm sa­hen sie ein­an­der an, mit ei­nem Blick ge­mischt aus Miss­trau­en und Neu­gier, mehr zu er­fah­ren; und plötz­lich fühl­ten sie bei­de, dass sie sich nicht als Fein­de ge­gen­über­stan­den.

»Ver­zei­hen Sie, aber es gibt Din­ge, die einen au­ßer Fas­sung brin­gen!«

Die Frau nick­te zu­stim­mend mit dem Kop­fe, und Véro­ni­que fuhr fort:

»Die uns so aus der Fas­sung brin­gen und so ver­wir­ren … Wis­sen Sie zum Bei­spiel, warum ich hier an die­ser Küs­te bin? Ich muss es Ih­nen sa­gen, und Sie al­lein kön­nen mir viel­leicht eine Auf­klä­rung ge­ben … Der Zu­fall … ein ganz un­schein­ba­rer Zu­fall, von dem sich doch im Grun­de al­les her­lei­tet, hat mich hier­her ge­führt. Ich bin zum ers­ten Male in der Bre­ta­gne, und auf der Tür ei­ner al­ten ver­las­se­nen Hüt­te an ei­nem We­grand sah ich die An­fangs­buch­sta­ben mei­nes Mäd­chen­na­mens, den ich seit vier­zehn bis fünf­zehn Jah­ren nicht mehr füh­re. Als ich wei­ter wan­der­te, be­merk­te ich noch mehr­mals die­sel­be In­schrift in Ver­bin­dung mit ei­ner je­des Mal fort­lau­fen­den Zahl. So bin ich bis hier­her an den Strand von Beg-Meil ge­kom­men. An die­sen Teil der Küs­te, der folg­lich der End­punkt ei­ner be­ab­sich­tig­ten und aus­ge­führ­ten Rei­se ist. Von wem, das weiß ich nicht.«

»Ihr Na­mens­zug steht da?« sag­te Ho­no­ri­ne leb­haft, »wo denn?«

»Auf je­nem Stein dort oben am Ein­gang in die klei­ne Höh­le.«

»Ich kann es von hier aus nicht se­hen, wel­che Buch­sta­ben es sind.«

»V. v. H.«

Die Bre­to­nin un­ter­drück­te ihre Be­we­gung. Sie stieß zwi­schen den Zäh­nen her­vor:

»Véro­ni­que? … Véro­ni­que d’Her­ge­mont?«

»Wie«, rief die Frem­de, »Sie ken­nen mei­nen Na­men, Sie ken­nen ihn?«

Ho­no­ri­ne er­griff ihre bei­den Hän­de und hielt sie fest in den ih­ren. Ein freund­li­ches Lä­cheln zeig­te sich auf ih­rem stren­gen Ge­sicht. Trä­nen tra­ten ihr in die Au­gen, und sie wie­der­hol­te:

»Fräu­lein Véro­ni­que … Frau Véro­ni­que … Sie sind es also, Véro­ni­que? … O mein Gott! ist es denn mög­lich! Hei­li­ge Jung­frau, sei ge­be­ne­deit!«

In höchs­tem Er­stau­nen stam­mel­te Véro­ni­que im­mer wie­der:

»Sie ken­nen mei­nen Na­men … Sie wis­sen, wer ich bin? … So kön­nen Sie mir also die­ses gan­ze Rät­sel er­klä­ren?«

Nach län­ge­rem Schwei­gen ant­wor­te­te Ho­no­ri­ne:

»Er­klä­ren kann ich Ih­nen nichts … Ich ver­ste­he eben­falls nicht … aber viel­leicht kön­nen wir zu­sam­men su­chen … Wie heißt doch das bre­to­ni­sche Dorf?«

»Faouët.«

»Faouët … das ken­ne ich … Wo war die ver­las­se­ne Hüt­te?«

»Zwei Ki­lo­me­ter von dort ent­fernt.«

»Sind Sie drin ge­we­sen?« …

»Ja, und das ist das Schreck­lichs­te von al­lem … In die­ser Hüt­te lag …«

»Spre­chen Sie, was denn?«

»Der Leich­nam ei­nes al­ten Man­nes in bre­to­ni­scher Tracht. Er hat­te lan­ges, wei­ßes Haar und einen grau­en Bart … O, ich wer­de die­sen To­ten nie ver­ges­sen … Er muss wohl er­mor­det wor­den sein … Oder ver­gif­tet, wer weiß.«

Ho­no­ri­ne hör­te ge­spannt zu. Die­ses Ver­bre­chen schi­en ihr je­doch kei­nen Fin­ger­zeig zu bie­ten und so sag­te sie nur:

»Wer war es denn? Hat man die Sa­che un­ter­sucht?«

»Als ich mit den Leu­ten aus dem Dorf zu­rück­kam, war der Leich­nam in­zwi­schen ver­schwun­den.«

»Ver­schwun­den? Wer hat­te ihn denn fort­ge­schafft?«

»Ich weiß es nicht.«

»So wis­sen Sie also gar nichts?«

»Gar nichts, nein. Das ers­te­mal hat­te ich in der Hüt­te eine Zeich­nung ge­fun­den, die ich zer­ris­sen habe, de­ren Erin­ne­rung mir aber noch wie ein Alp auf der Brust liegt … Ich kann die­se Erin­ne­rung nicht los wer­den. Hö­ren Sie … es war ein Blatt, auf dem man of­fen­bar ver­sucht hat­te, ein al­tes Bild wie­der­zu­ge­ben. Das gan­ze stell­te, o, et­was Furcht­ba­res dar, et­was Grau­si­ges … Vier Frau­en am Kreuz! Und die eine Frau war ich selbst, sie trug mei­nen Na­men … die an­de­ren drei tru­gen Hau­ben wie Sie.«

Ho­no­ri­ne hielt Véro­ni­ques Hän­de krampf­haft um­schlos­sen.

»Was sa­gen Sie, vier Frau­en am Kreuz?«

»Ja, es war noch die Rede von drei­ßig Sär­gen, und das be­zog sich folg­lich auf Ihre In­sel.«

Die Frau leg­te Véro­ni­que die Hand auf den Mund.

»Schwei­gen Sie, schwei­gen Sie. Sie dür­fen da­von nicht spre­chen. Nein, spre­chen Sie nicht da­von … Es gibt teuf­li­sche Din­ge! Da­von zu spre­chen … ist Got­tes­läs­te­rung … Wir wol­len nicht da­von spre­chen … Spä­ter wer­den wir se­hen … Nächs­tes Jahr viel­leicht … Spä­ter … Spä­ter …«

Sie schi­en von Schre­cken ge­schüt­telt wie von ei­nem Ge­wit­ter­sturm, der die Bäu­me peitscht und die gan­ze Na­tur in Aufruhr bringt. Plötz­lich knie­te sie auf den Fel­sen nie­der und be­te­te, tief ge­beugt, den Kopf in die Hän­de ver­gra­ben, so ganz dem Ge­bet hin­ge­ge­ben, dass Véro­ni­que kei­ne Fra­ge wei­ter stell­te. End­lich stand sie auf und fuhr fort:

»Ja, all dies ist schreck­lich, aber ich sehe nicht ein, was dies an un­se­rer Pf­licht än­dern könn­te. Wir dür­fen nicht zö­gern.«

In tie­fem Ernst fuhr sie dann fort:

»Sie müs­sen mit mir dort hin­über.«

»Dort hin­über auf Ihre In­sel?« er­wi­der­te Véro­ni­que, ohne ihr Ent­set­zen da­vor zu ver­ber­gen.

Ho­no­ri­ne er­griff von neu­em ihre Hän­de, und in dem­sel­ben et­was fei­er­li­chen Tone, der Véro­ni­que voll ge­hei­mer un­aus­ge­spro­che­ner Ge­dan­ken schi­en, fuhr sie fort:

»Sie hei­ßen wirk­lich Véro­ni­que d’Her­ge­mont?«

»Ja.«

»Und Ihr Va­ter hieß?«

»An­to­i­ne d’Her­ge­mont.«

»Sie ha­ben einen an­geb­li­chen Po­len mit Na­men Vorski ge­hei­ra­tet?«

»Ja, Ale­xis Vorski.«

»Sie ha­ben ihn ge­hei­ra­tet nach ei­ner auf­se­hen­er­re­gen­den Ent­füh­rung und nach ei­nem Bruch mit Ihrem Va­ter?«

»Ja.«

»Sie ha­ben ein Kind von ihm?«

»Ja, einen Sohn François.«

»Den Sie so­zu­sa­gen nicht ge­kannt ha­ben, denn er war Ih­nen von Ihrem Va­ter weg­ge­nom­men wor­den?«

»Ja.«

»Und alle bei­de, Ihr Va­ter und Ihr Sohn, sind bei ei­nem Schiff­bruch ums Le­ben ge­kom­men?«

»Ja, sie sind tot.«

»Wie kön­nen Sie das wis­sen?«

Véro­ni­que, ohne sich über die­se Fra­ge zu wun­dern, ant­wor­te­te:

»Die Nach­for­schun­gen, die ich an­ge­stellt habe, und die ge­richt­li­che Un­ter­su­chung stüt­zen sich bei­de auf das un­an­fecht­ba­re Zeug­nis der vier Ma­tro­sen.«

»Und wer sagt Ih­nen, dass sie nicht ge­lo­gen ha­ben?«

»Wa­rum hät­ten sie lü­gen sol­len?« rief Véro­ni­que er­staunt.

»Ihre Aus­sa­ge kann er­kauft wor­den sein …«

»Von wem?«

»Von Ihrem Va­ter.«

»Welch ein Ein­fall! Und wie denn …? Mein Va­ter war doch tot.«

»Ich fra­ge Sie noch ein­mal: Wie kön­nen Sie das wis­sen?«

Jetzt schi­en Véro­ni­que zu stut­zen.

»Was wol­len Sie da­mit sa­gen?« mur­mel­te sie.

»Ei­nen Au­gen­blick. Ken­nen Sie die Na­men je­ner vier Ma­tro­sen?«

»Ich kann­te sie, aber ich er­in­ne­re mich ih­rer nicht mehr.«

»Sie er­in­nern sich nicht, dass es bre­to­ni­sche Na­men wa­ren?«

»Doch, aber ich be­grei­fe nicht …«

»Wenn Sie selbst nie­mals in der Bre­ta­gne wa­ren, so ist doch Ihr Va­ter oft hier ge­we­sen, schon sei­ner Stu­di­en we­gen. Zu Leb­zei­ten Ih­rer Mut­ter hat er so­gar hier ge­wohnt. Da­durch kam er in Ver­bin­dung mit Leu­ten aus dem Volk. Set­zen wir also den Fall, dass er die vier Ma­tro­sen seit lan­gem kann­te, dass die­se Leu­te ihm er­ge­ben wa­ren, oder dass er sie be­zahlt und sie für sei­ne Zwe­cke ei­gens ge­dun­gen hat­te. Neh­men wir an, dass sie zu­erst Ihren Va­ter und dann Ihren Sohn in ei­nem klei­nen ita­lie­ni­schen Ha­fen an Land ge­setzt ha­ben, dass dann alle vier, gute Schwim­mer wie sie wa­ren, an­ge­sichts der Küs­te die Jacht zum Schei­tern ge­bracht ha­ben. Neh­men wir an …«

»So le­ben die­se Leu­te noch!« rief Véro­ni­que mit im­mer stei­gen­der Er­re­gung. »Man könn­te sie also be­fra­gen?«

»Zwei sind ei­nes na­tür­li­chen To­des ge­stor­ben, schon vor Jah­ren. Der drit­te ist ein ge­wis­ser Ma­guen­noc, ein al­ter Mann, den Sie in Sa­rek fin­den wer­den. Den vier­ten ha­ben Sie viel­leicht eben selbst ge­se­hen. Mit dem Geld, das die­se An­ge­le­gen­heit ihm ein­brach­te, hat er in Beg-Meil einen Krä­mer­la­den auf­ge­macht.«

»Ach, der war es. Den kann ich also gleich spre­chen«, sag­te Véro­ni­que zit­ternd vor Er­re­gung. »Ge­hen wir gleich zu ihm.«

»Wes­halb, ich weiß mehr von der Sa­che als er.«

»Sie wis­sen et­was?«

»Ich weiß al­les, was Sie nicht wis­sen. Ich kann Ih­nen alle Ihre Fra­gen be­ant­wor­ten. Fra­gen Sie nur.«

Véro­ni­que je­doch wag­te nicht die wich­tigs­te Fra­ge an sie zu stel­len. Sie fürch­te­te sich vor ei­ner Wahr­heit, die sie im­mer­hin als mög­lich er­kann­te und die sie dun­kel ahn­te. In schmerz­li­chem Tone stam­mel­te sie:

»Ich be­grei­fe nicht … Wa­rum soll­te denn mein Va­ter so ge­han­delt ha­ben? Wa­rum soll­te er ge­wollt ha­ben, dass man an sei­nen und mei­nes un­glück­li­chen Kin­des Tod glaub­te?«

»Ihr Va­ter hat ge­schwo­ren sich zu rä­chen.«

»An Vorski wohl, aber an mir?« …

»An sei­ner Toch­ter … Und auf die­se Wei­se. Sie lieb­ten Ihren Gat­ten. Sie stan­den un­ter sei­nem Ein­fluss, und an­statt ihn zu flie­hen, ha­ben Sie ein­ge­wil­ligt, ihn zu hei­ra­ten. Au­ßer­dem war die Be­lei­di­gung eine öf­fent­li­che ge­we­sen, und Sie kann­ten Ihren Va­ter als auf­brau­sen­den, rach­süch­ti­gen Cha­rak­ter.«

»Aber seit­her? …«

»Seit­her, ja, seit­her! … Seit­her hat sich mit zu­neh­men­dem Al­ter auch die Reue ein­ge­stellt. Er lieb­te das Kind, und so hat er Sie über­all su­chen las­sen … Was habe ich nicht für Rei­sen ge­macht! Zu­erst nach Char­tres zu den Kar­me­li­te­rin­nen, aber dort wa­ren Sie schon lan­ge nicht mehr … und wo, wo nur soll­te ich Sie fin­den?«

»Wes­halb ha­ben Sie nicht einen Auf­ruf in die Zei­tung ge­setzt?«

»Er hat es ge­tan, aber die­se An­zei­ge war sehr vor­sich­tig ge­hal­ten, schon we­gen des da­ma­li­gen Skan­dals. Es hat sich auch je­mand ge­mel­det. Es wur­de eine Zu­sam­men­kunft ver­ein­bart, und wis­sen Sie, wer sich ein­stell­te? Vorski! Vorski such­te Sie auch, er lieb­te Sie noch im­mer und hass­te Sie auch. Ihr Va­ter wur­de ängst­lich und hat nicht mehr ge­wagt, öf­fent­lich Schrit­te zu tun.«

Véro­ni­que schwieg, sie droh­te um­zu­sin­ken und setz­te sich auf den Stein. Hier blieb sie mit ge­senk­tem Kopf sit­zen.

»Sie spre­chen von mei­nem Va­ter, als ob er noch leb­te«, mur­mel­te sie.

»Er lebt.«

»Und als ob Sie ihn häu­fig sä­hen …«

»Je­den Tag sehe ich ihn …«

Aber Véro­ni­que sprach lei­ser: »Aber Sie re­den kein Wort von mei­nem Sohn … Ich zit­te­re bei dem Ge­dan­ken … Ist er nicht ge­ret­tet wor­den? … Ist er etwa ge­stor­ben? Spre­chen Sie dar­um nicht von ihm?«

Müh­sam wand­te sie Ho­no­ri­ne ihr Ge­sicht zu. Die­se lä­chel­te.

»Oh, ich fle­he Sie an, sa­gen Sie mir die Wahr­heit, es ist ent­setz­lich, sich Hoff­nun­gen hin­zu­ge­ben, die … Ich fle­he Sie an …«

Ho­no­ri­ne leg­te ihr den Arm um den Hals.

»Aber mei­ne lie­be, gute Dame, wür­de ich Ih­nen dies al­les er­zählt ha­ben, wenn er nicht leb­te, mein lie­ber, klei­ner François?«

»Er lebt, er lebt?« rief Véro­ni­que wie von Sin­nen.

»Aber ge­wiss, und es geht ihm gut. Oh, es ist ein kräf­ti­ger Jun­ge, er steht fest auf sei­nen Bei­nen und ich kann mit Recht stolz auf ihn sein, denn ich bin es, die ihn er­zo­gen hat, Ihren François.«

Un­ter der Wucht ih­rer Ge­füh­le, die eben­so­viel Schmerz wie Freu­de in sich bar­gen, lehn­te sich Véro­ni­que an Ho­no­ri­ne, die ihr freund­lich zu­sprach.

»Wei­nen Sie nur, mei­ne Lie­be, das wird Ih­nen wohl­tun. Die­se Trä­nen sind bes­ser als die frü­he­ren, nicht wahr? Wei­nen Sie nur, da­mit Sie all Ihr Elend ver­ges­sen. Ich gehe jetzt ins Dorf. Sie ha­ben si­cher noch einen Kof­fer dort? Man kennt mich. Ich hole ihn, und wir fah­ren ab.«

Als Ho­no­ri­ne eine hal­be Stun­de spä­ter zu­rück­kam, sah sie Véro­ni­que auf­recht im Boot ste­hen, die ihr zu­wink­te und rief:

»Schnell doch, wie lang­sam Sie sind! Wir ha­ben kei­ne Mi­nu­te zu ver­lie­ren.«

Ho­no­ri­ne ging aber trotz­dem nicht schnel­ler, sie ant­wor­te­te nicht. Kein Lä­cheln zeig­te sich auf ih­rem stren­gen Ge­sicht.

»Fah­ren wir denn nicht ab?« rief Véro­ni­que, »wes­halb zö­gern wir, was hin­dert uns? Sie schei­nen mir ver­än­dert.«

»Aber ja, aber ja …«

»Be­ei­len wir uns also.«

Zu­sam­men tru­gen sie den Kof­fer und die Sä­cke mit Vor­rä­ten in das Schiff. Plötz­lich aber trat Ho­no­ri­ne dicht an Véro­ni­que her­an und sag­te:

»Sind Sie wirk­lich si­cher, dass die Frau auf dem Kreuz Sie selbst dar­stell­te?«

»Voll­kom­men si­cher; au­ßer­dem stand mein Na­mens­zug dar­über! …«

»Wie selt­sam«, mur­mel­te Ho­no­ri­ne, »und wie be­un­ru­hi­gend.«

»Wie­so? … Ir­gend­je­mand, der mich viel­leicht kann­te, hat sich ein Ver­gnü­gen dar­aus ge­macht … Ein blo­ßer Zu­fall, ein rät­sel­haf­tes Zu­sam­men­tref­fen hat Ver­gan­ge­nes her­auf­be­schwo­ren.«

»Ach, nicht die Ver­gan­gen­heit ist es, die mir Sor­gen macht, es ist die Zu­kunft.«

»Die Zu­kunft?«

»Erin­nern Sie sich an die Pro­phe­zei­ung?«

»Sie ken­nen sie?«

»Ja, ich ken­ne sie, und es ist gräss­lich, dar­an und an an­de­re Din­ge zu den­ken, die Sie nicht wis­sen und die noch viel ent­setz­li­cher sind.«

Véro­ni­que brach in La­chen aus.

»Und des­halb zö­gern Sie, mich mit­zu­neh­men? … Denn dar­um han­delt es sich doch?«

»La­chen Sie nicht! Wenn man die Höl­le vor sich sieht, ver­geht ei­nem das La­chen!«

Bei die­sen Wor­ten schloss Ho­no­ri­ne die Au­gen und be­kreu­zig­te sich, dann fuhr sie fort:

»Es scheint, dass Sie sich über mich lus­tig ma­chen! Sie glau­ben, ich bin eine Frau, die wie an­de­re in der Bre­ta­gne aber­gläu­bisch ist, an Ge­s­pens­ter und Irr­lich­ter glaubt. Ich leug­ne es nicht durch­aus, aber es gibt noch ganz an­de­re Din­ge. Sie kön­nen mit Ma­guen­noc dar­über spre­chen, wenn Sie sein Ver­trau­en ge­win­nen.«

»Ma­guen­noc?«

»Der eine von den vier Ma­tro­sen. Er ist ein al­ter Freund Ihres Soh­nes, er hat ihn er­zo­gen, Ma­guen­noc weiß mehr als alle Ge­lehr­ten, mehr als Ihr Va­ter.«

»Ja, ja … aber …?«

»Ma­guen­noc hat das Schick­sal her­aus­for­dern wol­len und hat das er­fah­ren wol­len, was man kein recht hat zu wis­sen.«

»Was hat er denn ge­tan?«

»Er woll­te mit ei­ge­ner Hand, wie er mir selbst ge­sagt hat, an das Dunkle rüh­ren.«

»Und was ge­sch­ah?« rief Véro­ni­que, die, ob­wohl sie da­ge­gen an­kämpf­te, ein Angst­ge­fühl über­kam.

»Sei­ne Hand ver­brann­te in den Flam­men. Er trägt eine furcht­ba­re Wun­de, die er mir selbst ge­zeigt hat, die ich mit ei­ge­nen Au­gen ge­se­hen habe, ähn­lich ei­ner Krebs­wun­de. Und er litt der­ar­tig, dass … dass er mit sei­­­­­­­